LEBENSRAUM UND KOSMOVISION

Auf Tour zur Unterstützung des Yasuní-Volksentscheids Manaí Prado, Ene Nemquino, und Dayuma Nango in Berlin (Foto: Leonard Mikolei)

Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit nehmt, mit uns zu sprechen. Könnt ihr uns ein wenig über euch erzählen?

Dayuma: Mein Name ist Dayuma Nango. Als Vizepräsidentin der Vereinigung der Waorani-Frauen von Ecuador, AMWAE, verteidige ich die Frauen und unseren Regenwald.

Ene: Mein Name ist Ene Nemquimo, Vizepräsidentin der Waorani-Nationalität Ecuadors (NAWE) und Verteidigerin unserer gemeinsamen Heimat. Im Moment bin ich eine politische Führungsperson, obwohl ich die Politik nicht mag. Aber um das Leben der Menschen und das Leben von Yasuní zu garantieren, muss ich mich positionieren, damit mich niemand mit Füßen treten kann.

Manaí: Mein Name ist Manaí Prado und ich komme aus Quito. Ich beschäftige mich seit etwa 11 Jahren mit dem Thema Yasuní, mehr oder weniger seit dem ersten Versuch des Volksentscheids im Jahr 2013. Zurzeit bin ich Teil der NGO Acción Ecológica (Ökologische Aktion) und arbeite auch an anderen Projekten in Zusammenarbeit mit Indigenen Organisationen im Regenwald und in den Anden. Ich bin Historikerin und studiere Soziologie.

Was bedeutet Yasuní für euch?

Ene: Yasuní ist für mich unsere gemeinsame Heimat, meine Welt, meine Kosmovision, er ist unser gemeinsames Zuhause.

Dayuma: Für mich ist Yasuní unser Leben, die Lunge der Welt. Der Ort mit der größten Artenvielfalt auf der Welt. Und genau dafür kämpfen wir.

Manaí: Yasuní steht für mich für das Leben und für einen jahrelangen Kampf. Er ist etwas sehr Wichtiges in meiner Geschichte, auch persönlich. Er steht für diesen ganzen Widerstand, aber vor allem für die Hoffnung.

Wie ist die Situation im Yasuní nach der Volksbefragung?

Ene: Die Menschen mit Interessen im Ölsektor sind diejenigen, die verlieren, wenn die Ölförderung im Yasuní gestoppt wird. Die westliche Welt, die Welt der Interessen, verliert. Deshalb drängen die Investoren und Maschinenbesitzer darauf, weiterzumachen. Wir haben aber auch eine interne Situation unter den Waoranis. Einige wollen, dass die Erdölförderung fortgesetzt wird. Sie sind sich nicht bewusst, welche Folgen das für ihren Lebensraum hat. Es gibt keinen angemessenen Wohnraum, keine Gesundheitsversorgung, keine gute Bildung. So kommen viele schon in jungen Jahren zum Alkohol, und dann wird alles nach und nach zerstört.

Wie sieht die Situation besonders für Kinder und Frauen aus?

Dayuma: Die Lage ist wirklich sehr schwer für die Frauen. Als AMWAE wollen wir sie unterstützen, damit sie sich selbst versorgen können. Wir haben jetzt einen Laden für unser Kunsthandwerk eröffnet, aber wir müssen diesen Laden weltweit sichtbar machen, damit es mehr wirtschaftliche Ressourcen für die Frauen gibt. Wir bringen Lebensmittelpakete und Medizinpakete in die Gemeinden, die lebensnotwendig sind, denn wir haben einige Anführerinnen, die an Krebs sterben, und die Kinder in unserem Gebiet leiden unter akuter Mangelernährung.

Was hat die ecuadorianische Regierung getan, seitdem ihr den Volksentscheid gewonnen habt?

Ene: Die Regierung hat mit den Ministern, sogar mit Petroecuador (staatliches Erdölunternehmen), eine Kommission gegründet, aber sie haben uns nicht eingeladen.

Wer ist Teil dieser Kommission?

Manaí: Das Komitee für die Ausführung des Volksentscheides zu Yasuní ITT besteht aus dem Ministerium für Umwelt, Wasser und Ökologische Transition, dem Ministerium für Energie und Bergbau, dem Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, dem Ministerium für Frauen und Menschenrechte und Petroecuador.

Mit anderen Worten, es gibt nur Mitglieder, die den Staat vertreten. Gibt es jemanden aus der Privatwirtschaft?

Manaí: Nein, auch keine Wissenschaftler*innen und keine Indigenen sozialen Organisationen.

Deshalb habt ihr im August 2024 den Internationalen Gipfel für den Yasuní organisiert?

Ene: Ja, und als wir gerade dabei waren, den Gipfel zu organisieren, rief uns der Geschäftsführer von Petroecuador an. Er sagte: „Wir wissen, dass ihr jetzt eure Stimme auf internationaler Ebene erhebt und den Gipfel abhalten werdet. Stattdessen schlage ich vor: Wir geben 50 Millionen an NAWE als Organisation. Ihr müsst nur unterschreiben. Aber bitte machen Sie diesen Gipfel nicht.“ Daraufhin sagte der Präsident der NAWE: „Vielen Dank, aber ich werde nicht alleine entscheiden. Wir sind ein Rat in der NAWE, in dem wir Entscheidungen im Konsens treffen.” Nach unserer Besprechung ging er dann nach Quito, um den Vertrag zu unterschreiben, den Petroecuador vorbereitet hatte.

Haben sie euch das Dokument vorher gegeben, damit ihr es sehen könnt?

Ene: Nein, sie haben ihm, wie auch in vorherigen Fällen, nur das letzte Unterschriftenblatt gegeben. Aber wir waren clever. Der Präsident der NAWE sagte: „Geben Sie mir den Entwurf. Wir werden ihn Absatz für Absatz mit unseren Anwälten lesen. Und dann werde ich ihn unterschreiben.“ Aber am Ende entschied er: „Wenn ich das unterschreibe, verkaufe ich das Leben von mehr als 4.000 Waorani. Ich beende unseren historischen Kampf. Viele von uns haben Verträge mit staatlichen Unternehmen unterzeichnet, die nicht erfüllt worden sind. Bis jetzt haben sie uns in Armut gelassen. Ich werde nicht unterschreiben.”

Daraufhin habt ihr dann den Gipfel organisiert. Wie ist es dort gelaufen?

Ene: Das Gipfeltreffen wurde von den Waorani mit dem Ziel organisiert, einen gemeinsamen Vorschlag auszuarbeiten. In diesem Rahmen haben wir sieben Thementische zusammengestellt: Einhaltung des Volksentscheids, nachhaltige Wirtschaft, territoriale Selbstbestimmung, Indigene Gemeinschaften in freiwilliger Isolation, Waorani Frauen und Jugend sowie strategische internationale Allianzen für Yasuní. Es kamen viele Verbündete. Jeder wählte einen Thementisch, und wir erarbeiteten verschiedene Vorschläge. Jetzt liegt die Zusammenfassung im Entwurf vor, und wir hoffen, sie bis Ende Januar fertig zu stellen, damit wir einen Aktionsplan haben. Welche Organisationen können mitarbeiten? Wie sollen die Mittel aufgebracht werden? Das Wichtigste ist, ein gutes Team zusammenzustellen.

Wie ist es für euch als Frauen, in Führungspositionen zu sein?

Dayuma: Wir sagen, genug mit dieser Art von Herablassung! Als meine Großmutter − Dayuma Kento − ihre Unterschrift vor 30 Jahren bei Repsol hinterließ, dachte sie, dass wir eine gute Gesundheitsversorgung, eine gute Bildung und ein Zuhause haben würden. Ich glaube, ich war acht Jahre alt, als meine Großmutter unterschrieb. Ich erinnere mich sehr gut daran: Sie sagte zu mir, „Liebling, ich habe unterschrieben und wir werden gut leben.” Ich glaube, dass wir Frauen heute sehen, wie sich die Ölgesellschaft über uns lustig gemacht hat. Jetzt haben wir unsere Stimme, um ihnen die Stirn zu bieten, um diese Dinge zu stoppen, diesen Schaden, den sie uns zugefügt haben.

Ene: Meine Amtszeit beträgt vier Jahre, es bleiben noch zwei Jahre. Danach möchte ich, so Gott will, Präsidentin der NAWE werden und zeigen, dass wir Frauen dazu fähig sind. Es geht auch darum, dass unsere Position und unsere Haltung respektiert wird. Wir können nicht von Gleichberechtigung sprechen, wenn eine Frau die Position der Präsidentin nicht erreicht, sondern Männer weiterhin dominieren. Die Tatsache, dass eine Frau Stellung bezieht, bedeutet nicht, dass die Männer außen vor bleiben, sondern, dass wir zusammen gehen. Aber wir sind auch in Gefahr. Trotzdem, bevor wir schweigen, ist es besser, die Stimme zu erheben.

Dayuma: Wir erhalten direkte Morddrohungen, weil wir gegen die Ölgesellschaft sind: „Wir werden dich zum Schweigen bringen, wir werden dich töten.” Aber ich werde nicht schweigen. Ich stamme aus einer Familie, die für ihr Territorium und für ein gutes Leben gekämpft hat. Wir werden uns nicht zum Schweigen bringen lassen, wir werden uns zusammenschließen und kämpfen, um voranzukommen.

Wie können wir von hier aus unterstützen?

Manaí: Ich denke, dass die konkretesten und dringendsten Bedürfnisse in Bezug auf die technischen Fragen bestehen, wie die Ölfelder geschlossen, wie sie gewartet werden, wie der Reparationsprozess durchgeführt werden soll. Und davon ausgehend brauchen wir natürlich auch Mechanismen, um die Einhaltung des Volksentscheides zu überwachen. Ich glaube nicht, dass es dafür notwendig ist, vor Ort präsent zu sein, sondern wachsam zu sein, um Druck auf den Staat auszuüben, also eher eine mediale und virtuelle Funktion. Es geht nicht darum, ob die Regierung ihn einhält oder nicht, denn sie müssen ihn einhalten, sondern wie sie es tun und wer daran beteiligt ist.

Was ist eure Vision für die Zukunft des Yasuní?

Ene: Meine Vision ist, dass Yasuní ein Ort des Friedens und der Harmonie wird. Dass Yasuní ein Beispiel auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene ist, dass ein Volk nach so vielen Kämpfen den eigenen Lebensraum genießen kann. Wir wurden mehrmals geschlagen, vergewaltigt und misshandelt. Es ist Zeit, dass wir uns ausruhen.

Manaí: Ich sehe Yasuní in der Zukunft als einen Ort, an dem diese Ungleichheit nicht existiert, an dem es eine staatliche Präsenz gibt, um die Rechte der Gemeinschaften zu garantieren, an dem das Leben der Indigenen Gemeinschaften von Yasuní angemessener und würdiger ist. Und ich sehe einen Yasuní, der wiederhergestellt wird.

Dayuma: Ecuador war im Kampf um den Yasuní geeint und wir haben gewonnen. Wir haben für das „gute Leben” gewonnen (El buen vivir ist ein Leitprinzip in Ecuadors Verfassung, Anm.d.Red.). Für unsere Kinder, für die kommenden Generationen. Und auch für unsere Brüder und Schwestern in freiwilliger Isolation, damit sie in Stille leben können, denn im Moment leiden sie unter viel Lärm. Es wird dieser Tag kommen, ohne Lärm, ohne Verschmutzung, ohne dergleichen und ihr unsere Heimat besuchen könnt, unser Land, die Lunge der Welt.


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„Jemand muss darüber sprechen“

Railson Guajajara, Die Guajajara sind eines der größten Indigenen Völker Brasiliens und leben in 10 verschiedenen Indigenen Territorien im Bundesstaat Maranhão (Foto: Theresa Utzig)

Warum hast du begonnen, auch internationalen Aktivismus für deine Gemeinschaft zu betreiben?

Wir leben heute in Brasilien in einer sehr schwierigen Realität aufgrund des Vormarsches der Bergbauindustrie, der Abholzung und der Brände, insbesondere im Bundesstaat Maranhão. Das betrifft alle traditionellen Völker, nicht nur die Guajajara. Es muss jemand darüber sprechen. Das kann ich sein, das kann Sônia (Sônia Guajajara, Ministerin für Indigene Völker Brasiliens, Anm. d. Red.) sein, das können andere sein. Es gibt viele Personen in anderen Regionen, die das Gleiche sagen: Wir müssen den Amazonas verteidigen, wir müssen unser Territorium und unsere Lebensweise verteidigen. Ich sehe das nicht als Aktivismus an, sondern als einen Hilferuf: Heute sind viele Kinder und ältere Menschen in ihren Gemeinschaften direkt betroffen. Wir haben die Guarani-Kaiowá im Bundestaat Mato Grosso do Sul, dort werden jeden Tag Menschen getötet. Wir haben die Awá, die freiwillig isoliert leben. Ein Volk, das vom Aussterben bedroht ist; eines der verletzlichsten Völker der Welt heute. Sie sprechen kein Portugiesisch oder eine andere Sprache, nur ihre eigene. Also ist es unsere Verantwortung, für sie zu sprechen.

Welche Folgen hat die Expansion dieser Industrien für die Indigenen Gebiete?

Der Bergbau im Bundesstaat Maranhão, ebenso wie in vielen anderen Regionen Brasiliens, hat erhebliche Auswirkungen: Speziell in Maranhão, meiner Heimat, findet die Bergbauaktivität entlang der Carajás-Eisenbahnlinie statt, eine der wichtigsten Eisenbahnen des Landes (siehe Infokasten). Diese Linie wurde zwischen 2014 und 2017 verdoppelt und mit dem Vormarsch des Bergbaus traten verschiedene Probleme auf wie Drogenhandel und -konsum, Prostitution, Gewalt sowie Morde an unserem Volk. Die direkten Probleme sind die Wasserverschmutzung, der Lärm und die verschmutzte Luft. In manchen Gegenden von Maranhão kann man nicht einmal draußen im Hof sitzen, um sich in Ruhe zu unterhalten, weil ständig Eisenpartikel vom Himmel fallen. Die Verschmutzung beeinflusst das lokale Leben tiefgreifend. Dies führt auch zur Verlandung des Flusses, an dessen Ufer die Carajás-Eisenbahn gebaut ist. Dieser Fluss ist für Tausende von Gemeinschaften, einschließlich uns, von grundlegender Bedeutung, da von ihm unser Überleben abhängt. Die Gier des weißen Mannes bringt uns viel Blut. Das Eisen, das nach Europa kommt, ist in Blut gebadet.

Welche neuen Projekte bedrohen das Indigene Territorium Caru?

Wir haben in den letzten zwei Jahren begonnen, über den Bau einer neuen Eisenbahn namens Grão-Pará zu diskutieren, die vom Hafen in Alcântara bis nach Açailândia im Bundesstaat Maranhão führen soll. Es werden bisher etwa 10 bis 15 Kilometer gebaut, die 22 Gemeinden durchqueren werden. Dieses Projekt wird uns direkt betreffen, da wir zum Überleben in einem bestimmten Gebiet von angrenzenden Regionen abhängig sind, insbesondere von denen in der Nähe von Gewässern. Die Eisenbahn wird eine der wichtigsten Regionen für ganz Maranhão durchqueren: die sogenannte Baixada Maranhense, die jährlich Tausende Tonnen Fisch produziert. Diese Fische wandern in der Regenzeit durch die Flüsse, die das Bundesland durchziehen. Das wird uns direkt beeinträchtigen. Wir leiden bereits jetzt erheblich unter den Folgen des langen Kontakts mit weißen Menschen. Jetzt stell dir die Awá vor, die keinen Kontakt zu Nicht-Indigenen haben und isoliert im Wald leben. Wie sollen sie damit umgehen? Das wäre die dritte Eisenbahn innerhalb von weniger als zehn Jahren, die Maranhão durchschneidet. Wir merken, dass Länder wie Deutschland und andere europäische Staaten viel in diese Art von Entwicklung investieren. Die Werbung, die diese Unternehmen dort machen, lautet: „Hier wird nichts zerstört, es wird die Amazonasregion nicht beeinträchtigen, es wird keine großen Auswirkungen haben.” Aber in Wirklichkeit sind die Auswirkungen immens und unermesslich. Das macht mich zutiefst wütend. Hinzu kommt das Problem der Quilombola-Gemeinschaften. Der Hafen von Alcântara, der erweitert oder neu gebaut werden soll, wird 87 Prozent des Gebiets dieser Gemeinschaft einnehmen. Wohin sollen sie gehen? Werden sie in unsere Gebiete eindringen? Wo werden diese Menschen leben?

Wie sieht es mit der Präsenz der staatlichen Behörden gegenüber den Problemen, die die Gemeinschaften betreffen, aus?

Heute ist die Präsenz des Staates in unserem Gebiet etwas kompliziert. Diese Präsenz zeigt sich nur unter Druck, wenn wir, die Indigenen Völker, uns organisieren und Proteste durchführen, wie das Blockieren der Autobahn BR oder einer Eisenbahn. Nur in diesen Momenten werden wir ein wenig gehört und auch dann nur vorübergehend. In den letzten Jahren haben wir uns stärker organisiert. Auch jetzt, am 30. Oktober 2024, werden wir die BR-316 blockieren, eine der wichtigsten Autobahnen im Maranhão, um gehört zu werden und Themen wie Gesundheit und Bildung zu besprechen. Beides ist in den Gemeinschaften extrem prekär. Darüber hinaus sind heute, insbesondere in Maranhão, führende Politiker direkt mit großen Unternehmen und Industrien verbunden. Während des Wahlkampfes, wie bei den kürzlich stattgefundenen Bürgermeisterwahlen, investieren diese Unternehmen Tausende von Dollar und Millionen brasilianischer Real, um sicherzustellen, dass bestimmte Kandidaten zum Bürgermeister gewählt werden, damit es keine Probleme oder Widerstände gegen ihre Interessen gibt.

Welche Forderungen hast du an die internationale Gemeinschaft und internationale Aktivist*innen?

Vieles der Arbeit, die ihr hier freiwillig oder anders leistet, hat bereits große Auswirkungen in Brasilien, weil die ganze Welt auf die Europäische Union blickt. Wenn ihr etwas kritisiert, halten die Menschen inne, um zuzuhören und zu verstehen, was in Brasilien passiert. Wenn wir dort etwas kritisieren, ist es nur eine Stimme von vielen, die letztendlich ignoriert wird. Dort sind praktisch alle Medien korrupt und viele haben Angst etwas anzuprangern. Hier in Europa ist es einfacher, eine Beschwerde einzureichen, Berichte, Ankündigungen und Enthüllungen zu machen, die dann bedeutende Auswirkungen auf unser Gebiet haben, als dies direkt in Brasilien zu versuchen, wo es fast keine Resonanz gibt. Die abgebauten Ressourcen gehen nach Europa, China, Deutschland, in die Vereinigten Staaten — diese erwerben immer mehr Mineralien und verbrauchen weiterhin mehr. Und wir bleiben zurück mit Hunger, Tod und Durst. Maranhão zum Beispiel ist einer der ärmsten Bundesstaaten Brasiliens und beherbergt eine der Städte, die an der Spitze der extremen Armut steht. Im Bundesstaat Pará gibt es mehr als 100 Tagebaue, darunter einen der größten der Welt. Aber wenn wir durch die Städte gehen, sehen wir Tausende von Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Gleichzeitig sehen wir Züge mit einer Länge von drei oder vier Kilometern, die 24 Stunden am Tag fahren und Reichtümer transportieren.

Wie arbeitet ihr mit anderen Indigenen Völkern zusammen, die ebenfalls betroffen sind? Ich kann über mein Territorium sprechen, aber mir ist bewusst, dass nicht alle Territorien gleich sind. Wir, die Guajajara, haben eine sehr schwierige Phase in unserer Geschichte durchlebt. In unserem Territorium haben wir beschlossen, uns mit vier nahegelegenen Indigenen Territorien zu vereinen und eine Allianz zu bilden. Wir organisieren uns so, dass ein Territorium für alle spricht und alle für eines sprechen. Wenn wir ein neues Projekt suchen, tun wir das gemeinsam. Dank dieser Zusammenarbeit haben wir in den Territorien große Fortschritte erzielt. Wir konnten die familiäre Landwirtschaft stärken und sind heute in der Lage, Einkommen innerhalb unseres Territoriums zu generieren, ohne Wälder zu roden, Flüsse zu verschmutzen oder die Umwelt zu schädigen. Diese Erfahrung teilen wir nicht nur mit den vier Territorien der Allianz, sondern auch mit 17 weiteren Indigenen Territorien im Bundesstaat Maranhão. Unser Ziel ist es, diese Initiative auf andere Bundesstaaten auszuweiten. Darüber hinaus spielen die Guajajara eine entscheidende Rolle beim Schutz isolierter Indigener Völker. Die große Diskussion, die wir führen, geschieht in ihrem Namen. Im Fall der Awá respektieren wir ihr isoliertes Leben und vermeiden jeglichen Kontakt. Wir haben Wissen über die ungefähre Anzahl der Menschen, die in den Wäldern leben. Im Jahr 2015 wurde geschätzt, dass etwa 60 Personen dort lebten und heute glauben wir, dass diese Zahl deutlich höher ist. Unsere Arbeit hat dazu beigetragen, die Entwaldung in unserem Territorium um mehr als 85 bis 90 Prozent zu reduzieren. Unsere Arbeit dient dem Schutz des Territoriums, der Familien und aller, die vom Wald abhängig sind.


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„Del Monte verletzt die Rechte der Bribri“

Vor der Botschaft von Costa Rica In Berlin protestiert CODIAW gegen Ananasplantagen (Foto: Paul Scheytt)

In kurzen Worten – wer sind die Bribri?

Lesner: Die Bribri sind die ursprünglichen Bewohner*innen des heutigen Costa Rica. Unsere Kosmogonie (Theorie zur Entstehung der Welt, Anm. d. Red.) sagt uns, dass unser Ursprung in der Hauptgebirgskette liegt, die heute Cordillera de Talamanca genannt wird. Es gibt heute vier Bribri-Territorien: Kekoldi, Alta Talamanca Bribri, Cabagra und Salitre. Das sind hispanifizierte Namen, in Bribri haben sie ihre eigenen Bezeichnungen. Wir sind ein matrilineares Volk. Das heißt, wir sind in Clans organisiert, die von Bribri-Müttern abstammen. Das ist die jahrtausendealte Art, wie wir uns organisieren. Ich habe zu ganz Costa Rica keine genauen Daten, aber ich weiß, dass wir ungefähr 1.800 Bribri im Territorium von Salitre sind, woher ich komme. Unsere Gemeinden, vor allem die im Süden, verteidigen seit vielen Jahren das Land und alle anderen Menschenrechte.

Bringt die Matrilinearität der Bribi auch heute noch eine besondere Rolle und Bedeutung der Frauen in den Gemeinden mit sich?

Natürlich! Die Erklärung liegt schon in der jahrtausendealten Kultur unserer Vorfahren, in unserer Schöpfungsgeschichte. Zum Beispiel das Mädchen Iríria, so nennen wir die Erde. Sie ist ein weibliches Lebewesen. Es gibt viele verschiedene solcher Wesen.
In unserer kulturellen Tradition hat die Frau wichtige Aufgaben, genauso wie der Mann. Ihre Aufgaben sind lebenswichtig, die meisten Zeremonien können ohne Frauen nicht durchgeführt werden. Auch im Prozess der Rückgewinnung unserer Territorien (siehe Infokasten) hatten die Bribri-Mütter eine Führungsrolle. Unser Land gehört, wenn man das so ausdrücken will, in erster Linie den Bribri-Müttern, also den Frauen. All das rührt von unserer Schöpfungsgeschichte her. Denn als der Schöpfer uns auf diese Welt brachte, hat er das in der Form getan, dass die Clanzugehörigkeit ausschließlich über die Mütter vererbt wird. Und heute versuchen wir unsere Kultur zu erhalten, unsere Existenz als Bribri zu bewahren. Zum Beispiel, indem wir Paare nur unter Bribri bilden.

Jetzt besuchen Sie das Gebiet der Kolonisator*innen, den europäischen Kontinent. Was ist das Ziel dieser Reise?

Vor allem geht es darum, dass wir schon seit langem mit einem Hindernis zu kämpfen haben, das darin besteht, dass Costa Rica international als „Grünes“ Land bekannt ist: als Land, das die Menschenrechte achtet, das unter dem Slogan pura vida („Pures Leben“) berühmt wurde und in dem alles auf dem Glück seiner Einwohner*innen basiert. Wir erleben als Indigene Gemeinschaften die Realität und wissen, dass dieses Image total falsch ist. Es hat uns daran gehindert, unsere Kämpfe, die Verteidigung der Erde, die Verteidigung unserer Rechte, bekannt zu machen. Deswegen ist das Hauptziel dieser Reise, unsere Kämpfe sichtbarer zu machen. Dann gibt es in jedem Land noch spezielle Themen. Im Fall von Deutschland ist das die Problematik, dass unsere Gemeinschaft von einem transnationalen Unternehmen, Del Monte, betroffen ist. Und Del Monte hat wiederum einen Bezug zur deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Deswegen hoffen wir, hier Druck aufbauen zu können, um die Invasion von Del Monte in unsere Territorien zu stoppen.

Costa Rica ist mit über zwei Millionen Tonnen jährlich der weltgrößte Exporteur von Ananas. Nahe an Salitre gibt es eine Kleinstadt, Buenos Aires. Auf Satellitenbildern im Internet ist gut zu sehen, dass sich von dort aus enorme Ananasplantagen in Richtung Salitre ausdehnen. Wie wirkt sich dieser massive Anbau auf die Bribri aus?

Die Situation mit Del Monte hat mehrere Auswirkungen auf unser Territorium. Ich denke, die wichtigste ist die Invasion in unser Territorium, die schon seit einigen Jahren andauert. Daraus entstehen weitere Probleme. 2014 haben wir zum Beispiel einen Teil unseres Territoriums, etwa 40 Prozent der geraubten Fläche, zurückerobert. Viele compañeros, die daran beteiligt waren, wurden wegen Landbesetzung angeklagt. Nach einem langen Verfahren stellte das Strafgericht fest, dass kein Delikt vorlag. Wir finden es unlogisch, dass wir Bribri strafrechtlich verfolgt werden, weil wir unser Land verteidigen und das Territorium in Besitz genommen haben, das uns seit jeher gehört.

Aber leider geht die Invasion weiter. Auf einem Teil unseres Territoriums wurden neben einem Wald Ananasplantagen angelegt. Und gleich danach beginnt die Savanne. Das ist eine sehr heikle Sache für uns, denn dort liegen unsere heiligen Stätten und die müssen unbedingt frei bleiben. Für uns ist das ein schwerer Eingriff. Es ist bekannt, dass wir den Wald viele, viele Jahre lang geschützt haben, denn wir Indigenen Völker schützen die Natur, die Erde, unsere Mitwelt. Umso beklagenswerter ist es, dass dort nun ein transnationales Unternehmen, übrigens auch gegen jegliche nationale und internationale Gesetzgebung, die Umwelt verseucht. Das deutlichste Beispiel für diese Verschmutzung sehen wir dort an einem kleinen Fluss. Dieser Bach ist so extrem verseucht, dass wir denken, der Schaden ist nicht mehr zu beheben.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass viele Leute für Del Monte arbeiten müssen, weil es in unserem Territorium kaum andere Möglichkeiten für sie gibt. Sie werden ausgebeutet und bekommen Hungerlöhne. Nach Jahren der Schufterei werden die Arbeiter dann einfach entlassen, etliche mit Gesundheitsproblemen. Seit einigen Jahren beobachten wir das. Allem Anschein nach greift der übermäßige Einsatz von Agrochemikalien und Pestiziden die Gesundheit der Arbeiter an. In meiner Gemeinde gibt es mehrere Betroffene.

Wie schafft es das Unternehmen, auf den Bribri-Territorien Ananasplantagen anzulegen? Geht das über Dritte, benutzen sie Strohmänner?

Nein. Es ist so, dass jeder bei uns Del Monte kennt. Und den Leuten bleibt einfach nichts anderes übrig, dort die Arbeit anzunehmen, die es eben gibt. Und dann wird es schwierig. Sie haben keine andere Option und heuern dort an. Das nutzen dann Personen, die zum Unternehmen gehören, aus und sagen den Arbeitern, dass wir Rebellen seien, dass wir Landraub begehen und dass wir das nicht tun dürfen, weil doch Del Monte Arbeitsplätze schafft. Allerdings wissen wir, was für Arbeitsplätze das sind und kennen die Ausbeutung.

Und wie kommt Del Monte an das Land? Besetzen sie es einfach oder haben sie Papiere?

Das ist unterschiedlich. Meiner Auffassung nach hat Del Monte über die Jahre viel Land einfach besetzt, ohne jegliche Dokumente. Später haben sie dann Papiere vorgelegt, die beweisen sollen, dass diese Ländereien außerhalb des Bribri-Territoriums liegen würden. Das ist aber gesetzeswidrig und basiert nur darauf, dass die Regierung absichtlich bestimmte Landstücke außerhalb unseres Territoriums gelassen hat. Das rückgängig zu machen, gehört zu unseren Forderungen an den Staat Costa Rica. Papiere hin oder her, es ist doch bekannt, dass diese Ländereien schon immer zu unserem Territorium gehört haben. Sie lagen in unserem Territorium. Ich muss nicht einmal weit zurückgehen, um festzustellen, dass Buenos Aires in der Vergangenheit ein Ort der Zusammenkunft der in der Umgebung wohnenden Völker war. Aus unserer Sicht ist es total falsch, dass der Staat dieses Gebiet in einem absurden Verwaltungsakt aus unserem Territorium ausgegliedert hat. Und Del Monte nutzt das nun aus und sagt „Das gehört uns.“

Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hat die vergangenen drei Jahre über das Projekt JUNTOS („Gemeinsam“) mit Fresh Del Monte Produce betrieben. Das Unternehmen wurde dafür mit dem Seal Business Sustainability Award für besonders nachhaltiges Wirtschaften ausgezeichnet. In eigenen Veröffentlichungen heißt es, dass Del Monte in Costa Rica die Biodiversität erhalte, dass Naturreservate erhalten würden, Wassereinzugsgebiete geschützt und rund um Bananen- und Ananasplantagen Bildungsprojekte für Gemeinden ins Leben gerufen würden. Was sagen Sie dazu?

Wir gehen von der Realität bei uns vor Ort aus. Im Kanton Buenos Aires, der zur Provinz Puntarenas gehört, sehen wir Hektar um Hektar Ananaspflanzungen, aber keine größeren Wald- oder Urwaldgebiete. Aufforstungen auch nicht. Keine Flächen, auf denen, sagen wir auf zehn Hektar, früher Ananaspflanzungen waren und nun ein neuer Wald wachsen könnte. Das wäre ideal. Aber das ist jahrelang nicht passiert und passiert immer noch nicht. Die Zahlen, die Del Monte angibt, müssen genau untersucht werden. Ich denke, sie könnten manipuliert sein.

Ananas oder anderes in Wassereinzugsgebieten zu pflanzen, ist übrigens gesetzlich verboten. Wir haben den Bach in unserem Territorium inspiziert, den ich zuvor erwähnt habe – die Ananaspflanzungen sind dort nicht weiter als zehn Meter entfernt. Wo bleibt da die Nachhaltigkeit? Wenn man an den Ananasplantagen entlanggeht, ist es dort unerträglich heiß. Außerdem wird auf den Plantagen viel verbrannt, was eine große Umweltverschmutzung verursacht. Ich denke, man muss sich mit der Realität auseinandersetzen und ein bisschen mehr forschen. Genau das haben wir vor.

Del Monte hat sogar in unserer Gemeinde Schilder mit seinem Schriftzug aufgestellt. Welche Beweise braucht es noch, um zu verstehen, dass sie unser Gemeindeland stehlen wollen? Sie verletzen die grundlegenden Menschenrechte der Bribri in Salitre. Wenn es stimmt, was ich sage oder es wenigstens Anlass zu Zweifeln gibt, dann sollte doch keine internationale Institution oder Körperschaft oder irgendwer sonst so ein Unternehmen prämieren.


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Im Kampf gegen die Trockenheit

Einkommen für die Gemeinde Die Frauen stellen mochilas her (Foto: Carmela Daz)

Im Dokumentarfilm Territorio Puloui – Im heiligen Land des Wassers,produziert von Maik Gleitsmann-Frohriep und Carmela Daza, berichten Wayuu-Frauen von ihren erschwerten Lebensbedingungen und wie sie gegen Trockenheit und Armut kämpfen. Doch die größte Bedrohung scheint nicht vom sagenumwobenen weiblichen Wasserwesen Puloui auszugehen, sondern vom Kohleabbau im Steinkohlebergwerk El Cerrejón.

Regisseurin Carmela Daza begibt sich in die Heimat ihres Vaters, nach La Guajira. Die im Nordosten von Kolumbien liegende Region leidet unter extremer Trockenheit, umso mehr, seit der Kohletagebau El Cerrejón zur Austrocknung von Gewässern beiträgt. Besonders schwer davon betroffen sind die Wayuu, ein Indigenes Volk, das auch „Volk der Sonne und des Sandes“ genannt wird.

In enger Zusammenarbeit Die Wayuu Frauen als Protagonistinnen (Foto: Carmela Daz)

Seit mehr als 40 Jahren wird in El Cerrejón auf einer Fläche so groß wie Hamburg ununterbrochen Kohle abgebaut. In der Region um den Tagebau leben mehrere Indigene Gemeinden der Wayuu in rancherías (kleine landwirtschaftliche Dörfer), die Carmela Daza im Laufe der Dokumentation besucht. Dabei spricht sie mit Vertreterinnen der einzelnen Gemeinden, die ihr eindrücklich von den Auswirkungen des Kohleabbaus berichten. Zwischen den Berichten der Wayuu-Frauen sind Sequenzen mit mystisch-animierten Zeichnungen des spirituellen Universums der Wayuu-Kultur eingefügt. Sie erklären auf Wayuu das Zusammenspiel von Wasser, Erde, Sonne und Wind sowie die Entstehung des Volkes.

El Cerrejón bedroht die Lebensgrundlage der Wayuu: In den Flüssen fließt weniger Wasser und es gibt weniger Fische. “Eine Sache ist, als Volk auszusterben. Eine andere, dass multinationale Konzerne und lokale Machthaber Hand in Hand versuchen, uns auszulöschen”, prangert Aleida aus der ranchería Patsuaralii an. “Wir bleiben durstig”, sagt Doña Susana aus der ranchería Iparu. Es wächst kaum noch Gemüse, Tiere verdursten. “Es macht mich traurig, wenn ich heimkomme, und kein Feuer im Ofen brennt. Dann weiß ich, es gibt kein Mittagessen”, erzählt Yorlei unter Tränen. Aber die Wayuu kämpfen, wie beispielsweise der Bericht der ranchería Iparu zeigt. Die Gemeinde engagiert einen Geologen, der ihre Böden auf Wasservorkommen untersucht, um herauszufinden, ob ein Brunnen gegraben werden kann.

Hier verfehlt der Film die Möglichkeit, die Auswirkungen des Extraktivismus und den Kohleabbau erneut anzuprangern, denn er verschlimmert nicht nur die Dürre, sondern steht auch im Widerspruch mit dem Glauben der Wayuu. Sie betonen, dass der Mensch der Natur nur so viele Rohstoffe entnehmen sollte, wie sie abgeben kann, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Absehbar ist somit auch, dass ein Brunnen die fortschreitende Austrocknung der Region nicht verhindern kann, sondern eine Einzellösung darstellt.

Drohnenaufnahmen von La Guajira mit ihren eintönigen und sandigen Flächen stehen im Kontrast zu den bunten mochilas (Taschen), die die Wayuu-Frauen herstellen, um Geld für ihre Gemeinde zu verdienen. Sowohl visuell als auch auditiv und emotional zeichnen Carmela Daza und Maik Gleitsmann-Frohriep in der rund 90-minütigen Dokumentation über das Wasser im Nordosten Kolumbiens ein beeindruckendes und zugleich verheerendes Bild eines Indigenen Volkes, das mit dieser Art von Bedrohung auf der Welt nicht alleine dasteht.

“Das Monster” wird der Tagebau im Film immer wieder genannt eine Metapher, die angesichts der bewegenden Erzählungen der Wayuu-Frauen die Bedrohung deutlich macht. Dramaturgisch führt die Dokumentation von einer ranchería zur nächsten und stellt dabei den Kontrast zwischen dem jetzt erschwerten Leben der Indigenen, die tief spirituell verwurzelt sind, und dem industriellen Abbau von Ressourcen durch den schweizer Konzern Glencore im großen Maßstab dar. So hält die Dokumentation bildhaft eine jahrhundertealte Kultur fest, die im Begriff ist, wegen 40 Jahren Extraktivismus auszusterben.

Es ist kaum möglich, als Zuschauer*in neutral zu bleiben und keine Sympathie für die Frauen der Wayuu zu entwickeln, die ihre Situation nicht hinnehmen, sondern sich aktiv für ihre Gemeinschaft einsetzen. Wie eine Märchenerzählerin schaffen es Carmen Daza und Maik Gleitsmann-Frohriep unterhaltsam Spannung in einer Geschichte aufzubauen, deren trauriges Ende bereits erzählt scheint. Während sich die Wayuu als düstere Vorboten einer sich zuspitzenden Entwicklung bereits heute mit Wassermangel beschäftigen müssen, erahnt das Publikum, was der Menschheit früher oder später in noch viel größerem Maßstab drohen könnte. Dennoch leistet die Doku einen konstruktiven Beitrag zur Darstellung der fatalen Realität der Wayuu und lässt die Zuschauer*innen nicht nur mit einem Kloß im Hals vor dem Bildschirm zurück.


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Stich gegen Stichtagsregelung

Demo in Brasilia Indigene verteidigen ihre Rechte (Foto: Hellen Lourdes, mit freundlicher Genehmigung des CIMI, CC BY-ND2.0 DEED))

„Das ist ein großer Sieg für uns. Unser Land repräsentiert das Leben und die Kultur unseres Volkes“, kommentierte Keli Regina Caxias Popó von der indigenen Gemeinschaft der Xokleng öffentlich die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes Brasiliens (STF) zur Stichtagsregelung des Gesetzes „Marco Temporal“. Die Entscheidung des STF war mit allergrößter Spannung erwartet worden. Seit 2021 hatte der Gerichtshof mehrmals zum „Marco Temporal“ getagt. Wiederholt wurde die finale Entscheidung durch mehrmonatige Vertagungen verzögert, nachdem einzelne der Obersten Richter*innen ihr Urteil abgegeben hatten. Doch auf der Doppelsitzung am 20. und 21. September fiel dann ein überraschend deutliches Grundsatzurteil, das politischen und sozialen Sprengstoff für ganz Brasilien birgt: Mit neun zu zwei Stimmen wiesen die Richter*innen des STF die These der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ zurück.

Diese besagte, dass nur jene indigenen Territorien das verfassungsgemäße Recht auf juristische Anerkennung (Demarkation und Homologation) hätten, bei denen bewiesen werde, dass Indigene auf dem Gebiet zum Tag des Inkrafttretens der brasilianischen Verfassung – dem Stichtag 5. Oktober 1988 – lebten. Dieser Nachweis hätte bei vielen der indigenen Territorien und vor allem bei vielen der noch nicht juristisch anerkannten Gebiete nicht beigebracht werden können. In der Konsequenz – so Kritiker*innen des „Marco Temporal“ – hätte die Gefahr bestanden, dass rückwirkend 500 Jahre Landraub und Vertreibung erneut legalisiert würden.

Unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ versuchen die Zusammenschlüsse der indigenen Völker Brasiliens seit Jahren, in der Öffentlichkeit auf die Absurdität der Stichtagsregelung hinzuweisen. So schätzt der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) die juristische These des „Marco Temporal“ als verfassungswidrig ein, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, ignoriert. Darüber hinaus gab es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Denn qua Gesetzbuch standen Indigene unter staatlicher Vormundschaft, der sogenannten tutela, was erst die neue Verfassung von 1988 beendete. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebietes am 5. Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die nicht bewohnt werden, aber eine besondere kulturelle und spirituelle Bedeutung haben.

Im Urteil des STF ging es konkret um das Gebiet Ibirama La Klãnõ der indigenen Xokleng im Bundesstaat Santa Catarina, aus dem diese – infolge der massiven deutschen Einwanderung in den Süden Brasiliens – gewaltsam, äußerst brutal und menschenverachtend ab den 1850er Jahren bis in die 1930er Jahre vertrieben wurden. Die Landesumweltbehörde des Bundesstaates Santa Catarina forderte ab 2009 vor Gericht die Räumung eines 80.000 Quadratmeter großen Gebietes, auf dem heute indigene Xokleng, Kaingang und Guarani leben. Es grenzt an das im Jahre 1958 vom Staat ausgewiesene (aber noch nicht abschließend demarkierte) Gebiet der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ an. Dieses historisch von den Xokleng einerseits sowie von den Kaingang und Guarani andererseits bewohnte Gebiet wurde Ende der 1980er Jahre zusätzlich durch den Bau des Staudamms Barragem Norte beeinträchtigt, so dass die Indigenen wiederum nur ein kleineres Gebiet als ihr traditionelles Territorium beanspruchen konnten.

Die Landesumweltbehörde von Santa Catarina argumentierte in der Klage, das Gebiet stehe unter Naturschutz und müsse daher von den Indigenen geräumt werden. Auf dem Gelände befinden sich heute aber auch Tabakfarmer*innen und es sind dort Holzfirmen aktiv. Laut der Behörde hielten die Indigenen das Gebiet illegal besetzt und die Anerkennung sei als indigenes Territorium nicht rechtens, da die Indigenen am Stichtag, dem 5. Oktober 1988, nicht in dem Gebiet lebten. Daher gelte die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“. Im Jahr 2013 wandte das Bundesgericht der 4. Region (TRF-4) im Bundesstaat Santa Catarina das Kriterium der Stichtagsregelung an, indem es der Landesumwelt- behörde die Entscheidungshoheit über das Gebiet Ibirama La Klãnõ zusprach. Gegen die Entscheidung des TRF-4 legte die Indigenenbehörde des Bundes, FUNAI, beim STF Berufung ein. Im Jahr 2019 entschied der Oberste Richter Alexandre de Moraes, dass dieser Fall „strahlende Rechtskraft grundlegender Natur“ habe, so dass das vom STF zu entscheidende Urteil Grundsatzcharakter für die bis zu 200 noch anstehenden Rechtsentscheidungen in Bezug auf indigene Territorien Brasiliens entfalte.

Die Vertreter*innen der Xokleng argumentieren stets, dass sie gewaltsam aus ihren Gebieten vertrieben wurden, viele ihrer Vorfahren ermordet wurden und ihnen erst die Verfassung von 1988 das Recht auf ihr angestammtes Gebiet garantierte. Erst ab diesem Zeitpunkt konnten sie ihre historischen Territorien einfordern. „Wenn wir 1988 nicht in einem bestimmten Gebiet waren, dann heißt das nicht, dass es Niemandsland war oder dass wir nicht dort waren, weil wir es nicht wollten. Die Stichtagsregelung verfestigt eine historische Gewalt, die bis heute ihre Spuren hinterlässt“, sagte Brasílio Priprá, Sprecher der Xokleng, im Jahr 2020. Dieser Ansicht folgte nun der Oberste Gerichtshof Brasiliens.

Der Agrobusiness wird sich Enteignungen nicht gefallen lassen

„Wir haben gesiegt!“, jubelte es am 21. September in den sozialen Medien, nachdem beim Stand 5:2 der Oberste Richter Luiz Fux ebenfalls gegen die Stichtagsregelung votierte und damit mit sechs Stimmen die Mehrheit erreicht war.Doch selbst mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung sind die Konflikte nicht beigelegt – vielleicht verschärfen sie sich noch weiter. Denn der STF entschied eine Woche später, dass der Staat Entschädigungen an jene zu enteignenden Grundbesitzer*innen zahlen muss, die in der Vergangenheit in „gutem Glauben“ die Grundstücke von Vorbesitzenden erworben haben. Zudem soll sich die Entschädigung insofern eher am Marktwert orientieren, als nicht nur der bloße Grundbesitz, sondern auch die auf diesem im Lauf von Generationen geleisteten „Aufwertungen“ honoriert werden sollen. Und diese Entschädigungszahlungen sollen sofort und vor der Räumung des Gebietes erfolgen. So befürchten vor allem Indigene, dass es in der Praxis kaum zu Enteignungen kommen wird. Denn wenn es dem brasilianischen Staat im Moment an einem fehlt, sind es finanzielle Spielräume, die durch die große Haushalts- und Schuldenbremse massiv eingeschränkt werden.Dass vor allem Brasiliens Agrobusiness sich eine Enteignung – selbst bei Entschädigung – nicht so einfach gefallen lassen wird, zeigte sich genau am Tag der höchstrichterlichen Entscheidung. Denn bereits wenige Stunden bevor der STF zu seiner entscheidenden Sitzung zum „Marco Temporal“ zusammenkam, debattierte im brasilianischen Senat die Kommission für Verfassung, Justiz und Teilhabe von Bürger*innen über die Gesetzesinitiative PL 2903. Diese war unter dem Kürzel PL 490 im brasilianischen Abgeordnetenhaus am 30. Mai verabschiedet worden und definiert die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ nicht nur in Bezug auf künftige Demarkationen, sondern könnte rückwirkend auch bestehende Demarkationen juristisch angreifbar machen. Zudem beinhalten die PL 2903/PL 490 explizit die Möglichkeit, indigene Territorien gegen die Zahlung von Konzessionen an Indigene wirtschaftlich auszubeuten.

Angesichts der im STF anberaumten Abstimmung beeilten sich die dem Agrobusiness nahestehenden Senator*innen, um möglichst noch vor dem STF zu einer legislativen Entscheidung zu kommen. Dies gelang ihnen zunächst jedoch nicht, da auch im Senat Verzögerungstaktiken wie die Beantragung von Vertagungen üblich sind. Senator Randolfe Rodrigues von der an der Regierungskoalition beteiligten Partei Rede verurteilte diesen Versuch einer legislativen Hauruckaktion scharf: „Nichts rechtfertigt diese Eile, die im Widerspruch zu dem steht, was zwischen den indigenen Anführern und den Senatoren besprochen wurde. Zumal der Oberste Gerichtshof bereits über die Angelegenheit urteilt”, sagte Rodrigues in der Sitzung. Die Entscheidung in der Senatskommission wurde durch den Antrag auf Vertagung seitens der Senatorin Eliziane Gama von der Partei PSD, die ebenfalls der Regierungskoalition Lulas angehört, für sieben Tage unterbrochen. „Es besteht kein Zweifel, dass dieses Gesetz nicht in Kraft treten wird. Wir könnten über ein Gesetz abstimmen, das verfassungswidrig ist”, sagte sie im Hinblick auf die am Nachmittag anstehende Entscheidung im STF.

Doch etliche Senator*innen ließen in der Debatte in der Kommission keinen Zweifel daran, dass sie weiter mit allen Mitteln dafür kämpfen werden, dass es eine Gesetzgebung des Nationalkongresses zu einer Stichtagsregelung indigenen Landes geben werde. So stimmten im Senat genau eine Woche später (wiederum am gleichen Tag wie der STF) sowohl die zuvor vertagte Kommission als auch im Schnellverfahren das Plenum, dass die PL 2903 zum „Marco Temporal“ als Gesetz Gültigkeit habe. Dazu verhalf ihnen die große Mehrheit, die agrobusinessfreundliche Abgeordnete und Senator*innen im Nationalkongress haben. Die parteiübergreifende Fraktion der sogenannten ruralistas der FPA (Frente Parlamentar da Agropecuária) stellt 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus und im Senat zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator*innen. Die ruralistas sind damit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion im Nationalkongress.

Nun muss Präsident Lula entscheiden, ob er das Gesetz PL 2903 zum „Marco Temporal“ unterzeichnet oder ob er sein Veto einlegt. Übt er sein Veto aus und kann der Kongress in einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern das präsidentielle Veto überstimmen, dann würde der „Marco Temporal“ gelten. Etliche Senator*innen erklärten in der Debatte um die PL 2903, dass sie – und nicht der Oberste Gerichtshof – die Herrschaft über die Legislative ausübten. Es scheint, dass die konservativen Abgeordneten und Senator*innen eine schwere Verfassungskrise zwischen den drei Gewalten herbeiführen wollen: Trotz des Grundsatzurteils haben konservative Senator*innen eine Verfassungsänderung eingereicht, die explizit den „Marco Temporal“ mit Stichtag 5. Oktober 1988 als Basis für die Demarkation indigener Territorien in die Verfassung schreiben soll. Allerdings bräuchten sie dafür eine Dreifünftelmehrheit im Nationalkongress. So geht der Kampf der drei Gewalten weiter – aber die indigenen Völker Brasiliens haben gezeigt, dass sie nicht länger nur Zuschauende sein wollen.


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“Die Angst ist immer da”

Gerechtigkeit für Sergio Der Aktivist aus Salitre wurde 2019 erschossen (Foto: Alke Jenss)

Costa Rica steht im deutschsprachigen Raum für Vieles: paradiesisches Tourismusziel, Pionier der erneuerbaren Energien, Land ohne Armee, sichere Zone im zentralamerikanischen Chaos. Die Realität ist, wie immer, komplexer. Was aber die Wenigsten mit dem Land verbinden, sind gewaltvolle Landkonflikte.

Im Süden Costa Ricas, in der Provinz Puntarenas, müsste man die Augen jedoch sehr fest verschließen, um diese Konflikte zu übersehen. Viehzucht und Ananasplantagen prägen die Landschaft um das Städtchen Buenos Aires. Die Plantagen grenzen fast unmittelbar an mehrere indigene Territorien an. Pablo Sibar kommt aus Térraba und gehört zur indigenen Bevölkerungsgruppe der Brörán. Er ist Koordinator des nationalen Zusammenschlusses Indigener Gemeinschaften FRENAPI (Frente Nacional de los Pueblos Indígenas).

Pablo und andere Aktivist*innen haben begonnen, sich gegen jahrzehntelang staatlich geduldete illegale Landnahmen zu wehren. Térraba, eigentlich indigenes Territorium, ist ein Flickenteppich privat bewirtschafteter Fincas und industrieller Viehzucht. Viele Nicht-Indigene bewirtschaften das Land hier seit Jahrzehnten ohne rechtliche Grundlage.

2018 haben Aktivistinnen um Pablo eine Finca besetzt, die den Nutzerinnen als Ferienhaus und Jagdgebiet diente. Die Aktivist*innen ließen sich bisher nicht wieder von dort vertreiben und nutzen die Finca, der sie den Namen Crun Shurin gaben, zur Selbstversorgung. 16 Familien teilen sich die 600 Hektar. Zunächst erreichten sie mit dem zuständigen Staatsanwalt und dem Verwalter die Abmachung, der Fall werde im Rahmen der restaurativen Justiz, einem relativ schnellen Schlichtungsverfahren verhandelt. Doch der vormalige Nutzer „konnte immer nicht teilnehmen, nicht unterschreiben, vergaß angeblich die Termine“, erinnert sich Pablo. „Kurz vor dem ersten Jahrestag, also im Januar 2019, erhielten wir den ersten Räumungsbescheid. Der Richter argumentierte, der vorige, unrechtmäßige Nutzer Eladio Ramírez habe das vorrangige Nießrecht auf den Besitz. Es gelang uns, Berufung einzulegen und so blieben wir hier auf der Finca.“ Im Mai 2019 konnten sie die verbliebenen Arbeiter*innen mit dem Vieh vom Gehen überzeugen. „Und ein Jahr später, im Jahr 2020, kamen die Ramírez, um alles zu holen, die Maschinen, die Zäune, die Tore, die Häuser, alles.“

Ein Projekt der Wiederaneignung

Das Projekt der Wiederaneignung ist auch ein Projekt der teilweisen Renaturierung. Aus Viehweiden wird Wald, Wildtiere siedeln sich wieder an. „Aquí hay vida“ („Hier gibt es Leben“), sagt Pablo Síbar. „Man sagt mir, ich sei faul, idiotisch, weil sie sagen, wir hätten die Finca ungenutzt gelassen – tatsächlich lassen wir einen Teil des Landes regenerieren. Weil das Leben etwas wert ist“. Zugleich produziert die Gruppe inzwischen genug Nahrungsmittel auf der Finca, um auch andere zu versorgen. Sie haben Orangen- und Mangobäume gepflanzt, Mais, Maniok und Nutzpflanzen wie Tiquisque. Um die zuvor wegen der Verschmutzung durch Vieh kaum nutzbaren Wasserquellen haben sie Wiederaufforstung betrieben, so dass die Finca mit Wasser versorgt ist. Pablo ist überzeugt davon, dass die langjährige und erfolgreiche Mobilisierung gegen den Diquís-Staudamm (siehe LN 537) einen harten Kern an Leuten zusammengebracht hat. Das costa-ricanische Institut für Elektrizität archivierte das Megaprojekt im Jahr 2018 nach anhaltenden Protesten. Der vorgesehene Stausee hätte an die 10 Prozent der Territorien der Teribe (Brörán) geflutet. Die Aktivist*innen haben jahrzehntelange Erfahrung in der indigenen und Umweltbewegung und kennen die entsprechenden Räume, „sie wissen zu kämpfen”, sagt eine Unterstützerin.

Das Thema der Landkämpfe reicht weit zurück: Im Jahr 1977 hatte das costa-ricanische Parlament das Gesetz zum Schutz der indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes verabschiedet und damit festgeschrieben, dass indigenes Territorium nicht einfach verkauft oder angeeignet werden kann. Die Grenzen der Territorien gelten bereits seit den 1950er Jahren, Térraba erhielt seinen gemeinschaftlichen Landtitel 1956. Keiner der späteren illegitimen Nutzer*innen des Landes kann also behaupten, in gutem Glauben gehandelt zu haben.

Staatliche Maßnahmen, die das Gesetz durchsetzen, gab es jedoch nicht. Im Gegenteil, auch der Staat beschneidet die Territorien. So wurde 2004 der Landtitel Térrabas leicht geändert und verkleinert, ohne Abstimmung mit der dort lebenden Bevölkerung. Besonders problematisch ist Folgendes: Der costa-ricanische Staat vergab die Verwaltung indigener Territorien an die sogenannte Assoziation für indigene Entwicklung ADI (Asociación de Desarrollo Indígena). Die ADI „vertritt“ und „verwaltet“ per Gesetz das indigene Gebiet, untersteht aber faktisch der staatlichen Nationalen Direktion für Entwicklung der Gemeinschaft (DINADECO) und ist somit staatlich eingesetzt. Sie „regiert“ das Territorium also auch dann, wenn eine große Mehrheit der dort Lebenden das ablehnt. In Térraba hat die ADI besonders vehement die staatstreue Idee von Fortschritt und Entwicklung durch Investitionen vertreten und den Bau des Diquís-Staudamms offen befürwortet. „Personen, die den Staudamm stark unterstützen, konnten Machtpositionen in der ADI einnehmen“, heißt es in einem Bericht an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Für die Rückgabe illegitim angeeigneten Landes an die indigene Gemeinschaft hat sich die ADI in Térraba dagegen nie eingesetzt. Ihr Präsident „ist nicht für Kulturinitiativen, er ist nicht für den Schutz der Ressourcen, er ist für nichts, was mit dem Thema Indigene zu tun hat“, sagt Paulino Nájera, der mit seiner Frau Fidelia seit Jahrzehnten Wiederaufforstung betreibt. Offenbar lässt die ADI Viehzüchter*innen auf Landstrichen ihr Vieh weiden, die von Institutionen wie dem staatlichen Wasserversorger oder der Schulverwaltung bezahlt wurden. Sie gilt als korrupt.

Das Recht auf Eigentum setzt der Staat sehr selektiv durch; die Rechte der Indigenen scheinen zweitrangig. Seit den 70er-Jahren versuchen die Gemeinden vor den Gerichten die Durchsetzung des Gesetzes zu erreichen, auch wenn internationale Instrumente wie die ILO-Konvention 169 in der Rechtsprechung zu den Besetzungen langsam Anwendung finden. 2010 hatte die Polizei einige der Aktivist*innen, die heute auf der Finca Crun Shurin leben, aus dem Parlamentsgebäude geworfen, weil sie dieses besetzen wollten bis ein Gesetz für indigene Autonomie verabschiedet würde. „Als der Staat uns aus dem Parlament schleifte, entschieden wir: sollen sie uns doch von unserem Land schleifen, wir holen uns dieses Land zurück“, so Pablo. Eine Räumung von Crun Shurin scheint faktisch noch immer möglich, auch wenn dies eigentlich indigenes Territorium ist: „Die Angst ist immer da.“

Diese Angst ist nicht unbegründet, denn die Aktivist*innen sind immer wieder direkter Gewalt ausgesetzt. 2020 zirkulierte ein Video mit rassistischen Drohungen: „Hoffentlich kommt bald jemand an die Regierung, der die Hosen anhat, um sie zu jagen und ein für alle Mal aus unserem Land zu werfen“, hieß es dort. Am 13. und 14. März 2021 erhielten Pablo und andere Aktivist*innen zum wiederholten Male Morddrohungen und rassistische Verleumdungen. Einer der Accounts, von denen die Drohungen kamen, gehörte einem Mitarbeiter eines Landbesetzers. Im Juli 2020 hatte ein anderer Arbeiter versucht, Pablo umzufahren. Jehry Rivera, ein weiterer Aktivist aus Térraba, war nur ein paar Monate zuvor, am 24. Februar 2020, ermordet worden. Sergio Rojas Ortiz, langjähriger Wegbegleiter von Pablo Síbar aus dem nahen Salitre, wurde am 18. März 2019 in seinem Haus erschossen.

Erst Ende Februar 2023 sprach ein Strafgericht der Region in Pérez Zeledon Juan Eduardo Varela als Mörder von Jehry schuldig. Er habe vorsätzlich gehandelt. Varela hatte im August 2022 öffentlich gesagt: „Ich war es, der ihn umgebracht hat“. Am 17. Juli setzte das Berufungsgericht diesen einzigen Verdächtigen wegen angeblicher Formfehler allerdings wieder auf freien Fuß. Audionachrichten kursierten, in denen Viehzüchter die Annullierung des Urteils feierten. Bei Jehrys Familie und Aktivist*innen wie Pablo Síbar bleibt das Gefühl zurück, dass der costa-ricanische Staat sie nicht vor Gewalt schützt, sondern diese durch Großprojekte eher noch befördert.

Die aktuelle Politik verspricht Verunsicherung

Die aktuelle Regierungspolitik verspricht diese Verunsicherung, die viele Lateinamerikaner*innen teilen, weiter voranzutreiben. Costa Rica durchlebt eine Haushaltskrise, da diverse Schuldenposten 2023 fällig werden. Diese machen über ein Fünftel des Haushaltes aus, für Zinsen ist ein weiteres Fünftel vorgesehen. Präsident Rodrigo Chaves setzt neben Austerität auf liberalisierende Wirtschaftsmaßnahmen. Chaves hat zudem die indigenen Gemeinden dazu aufgerufen, keine Landrücknahmen mehr durchzuführen, da diese eine „feindselige Stimmung schaffen“ würden. Sie „schüren Gewalt“, sagte ausgerechnet der Vizeminister für Gerechtigkeit und Frieden, Sergio Sevilla, im November 2022. Auf einer Reise ins südliche Costa Rica im Februar bestärkte Chaves die ADI als Repräsentationskanal für die indigenen Gemeinden und ignorierte deren Kritik. Der staatliche Plan zur Rückgabe von Land, den es durchaus gibt, hat seit Jahren keine Fortschritte gesehen. Geld gibt es hierfür kaum.

“Morddrohungen gab es im letzten Jahr keine mehr”, sagt Pablo. Er vermutet, die aufgeheizte Stimmung sei etwas abgeflaut, da sie in Térraba keine weiteren Landrücknahmen versucht hätten. Dem Bild von Costa Rica als demokratischer, friedlicher Ausnahmestaat in Zentralamerika verleiht Pablos Geschichte dennoch tiefe Risse.


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Der Zeit voraus gewesen

Damals vor dem Ende, heute endlich vor der Volksabstimmung LN-Cover aus 2013 mit Titelspruch zur Yasuní-Itt-Initiative

Ein Viertel der Erdölreserven des Landes im Boden lassen, um CO2-Emissionen zu vermeiden und einen Nationalpark zu schützen – diesen Vorschlag machte im Jahr 2007 Ecuadors damaliger Präsident Rafael Correa. Statt Erdöl zu fördern, wollte er die besondere biologische Vielfalt des Yasuní-Nationalparks und die Heimat mehrerer indigener Gemeinschaften erhalten. Im Gegenzug sollten die Länder des globalen Nordens die Hälfte der prognostizierten Erdöleinnahmen auf ein Treuhandkonto einzahlen. Das Geld wollte Correa in soziale Entwicklung und eine nachhaltige Wirtschaft investieren.

Initiator dieser sogenannten Yasuní-ITT-Initiative war Correas Energieminister Alberto Acosta. Er leitete außerdem zeitweise die Ausarbeitung der 2008 verabschiedeten neuen Verfassung Ecuadors, die das Prinzip des „guten Lebens“ (auf Quechua Sumak kawsay) zum Staatsziel machte. Indigene Konzepte bekamen mit ihr Verfassungsrang und Yasuní-ITT sollte die abstrakten Prinzipien in konkrete Politik umsetzen.

Die Initiative war damals ihrer Zeit voraus. Sie machte die Einschränkung bzw. das Ende des fossilen Extraktivismus zur offiziellen Regierungspolitik eines Landes – Jahre bevor hierzulande Bewegungen wie Fridays for Future oder die Letzte Generation begannen, gegen den Klimawandel zu mobilisieren. Auch die heutigen Vorschläge der Debt for Climate Bewegung nahm Yasuní-ITT vorweg. Die Bewegung fordert, dass der globale Norden, der Jahrhunderte lang auf Kosten der Länder des globalen Südens wuchs, diesen die Schulden erlassen solle. So wäre der globale Süden auch nicht mehr darauf angewiesen, fossile Rohstoffreserven auszubeuten.

Yasuní-ITT war einzigartig und revolutionär, weil es mit dem für Klima- und Naturschutz nachteiligen Wachstumsdenken brach. Es war das „Richtige im Falschen“, wie die LN damals analysierten. Von Deutschland gab es jedoch „kein Geld fürs Nichtstun“, denn der damalige deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) zog Deutschlands schon erteilte Zusage zum Projekt mit dieser Aussage wieder zurück. 2013 verkündete Präsident Correa, dass die Initiative gescheitert war: Nur 335 Millionen Dollar waren zugesagt und lediglich 13,3 Millionen tatsächlich gezahlt worden. Deutschlands Beitrag hätte einen wesentlichen Unterschied gemacht. Die Mitverantwortung an der vertanen Chance ist peinlich, aus heutiger Sicht noch mehr als damals.

In anderen Ländern kamen linke Regierungen gar nicht erst so weit wie die Regierung Correas: Evo Morales in Bolivien und später Gabriel Boric in Chile hielten am Extraktivismus fest. Ob es bei Gustavo Petros Regierung in Kolumbien anders läuft, bleibt abzuwarten. Doch Skepsis ist angebracht, denn fossile Rohstoffe wie Öl, Lithium, Gas, Kupfer oder Kohle speisen die Staatshaushalte Lateinamerikas und darauf können auch linke Regierungen bisher nicht verzichten.

Dennoch hat die Initiative etwas bewegt. Correas Absage an Yasuní-ITT führte dazu, dass eine breite zivilgesellschaftliche Protestbewegung entstand: die Yasunidos. Obwohl die Regierung sie schikanierte und unterdrückte, sammelte die Organisation über 750.000 Unterschriften für ein Referendum über Yasuní-ITT. Die meisten Stimmen annullierte der politisch nicht unabhängige Wahlrat, doch Anfang Mai 2023 genehmigte das Verfassungsgericht Ecuadors die Volksabstimmung schließlich – nach zehn Jahren des Kampfes. Sie wird zeitgleich mit den von Präsident Lasso angesetzten Neuwahlen im August 2023 stattfinden. Das alles zeigt: Beharrlichkeit fördert zuweilen Gelingen.

Martin Schäfer ist seit 2018 Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für die Kämpfe indigener Bewegungen
Ginette Haußmann ist seit 2023 Mitglied der LN-Redaktion und möchte Menschen durch Sprache begeistern


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Eine Krise jagt die nächste

Chaco Salteño Wichí-Frauen im Protestcamp von Misión Chaqueña und Carboncito (Foto: Naomi Henning)

Das Waldstück, in dem sich das Protestcamp befindet, wurde im vergangenen Jahr ohne Konsultation mit den indigenen Gemeinden verkauft. Der „sogenannte Eigentümer“ (supuesto dueño), wie ihn die Wichí-Frauen nennen, versucht seither, mit dem Holzverkauf Geld zu verdienen. Mithilfe eines Anwalts soll aufgeklärt werden, woher dieser neue Landnutzer mit einem Besitztitel wie aus dem Nichts erscheinen konnte.

„Wir wollen vor allem verhindern, dass er den Wald einzäunt“ ,so Lucy Gutierrez, eine der Initiator*innen des Protestcamps. Denn das Einzäunen ist der erste sichtbare Schritt hin zur Privatisierung gemeinschaftlich genutzter Ressourcen. Die Frauen des Protestcamps erklären, warum die verschiedenen Bäume und Pflanzen des Waldes und der freie Zugang zu ihnen so existenziell wichtig sind: Das Hartholz wird für den Möbelbau benötigt, das Brennholz zum Kochen. Aus der Chaguar-Pflanze fertigen die Weber*innen der Wichí kunstvolle Textilprodukte. Bäume wie der Mistól und der Algarrobo sind eine wichtige Nahrungsquelle für die indigene Bevölkerung dieses Gebiets, die bis vor wenigen Generationen nomadisch im und vom Wald lebte. Diese Praktiken sind bis heute wichtiger Teil der kulturellen und materiellen Existenz der Wichí. „Der Wald ist unsere Apotheke“, erklärt Lucío Palavesino und zeigt auf verschiedene Büsche und Bäume, deren Blätter gegen Verdauungskrankheiten oder Fieber helfen. Doch diese Ressourcen des Waldes verschwinden nach und nach. Das Wissen über die Pflanzen und Tiere und die nachhaltige Nutzung des Waldes gehe immer weiter verloren, da die jüngere Generation kein Interesse mehr daran habe. Trotzdem würden sie alles tun, um die Zerstörung des Waldes aufzuhalten – wenn nötig mit direkter Aktion und Körpereinsatz.„Wir wollen hier keine Finca, die alles abholzt und uns mit Agrargiften besprüht“, erklärt Lucy. „Wir sehen das in der Umgebung in den anderen Dörfern, wo es Menschen mit Hautproblemen oder Missbildungen gibt.“

Der Einsatz von Pestiziden führt bei Kindern zu Durchfall und Erbrechen

Allein seit dem Jahr 2000 wurde ein Viertel der Waldflächen des Gran Chaco abgeholzt. Ab 2007 trat in Argentinien zwar ein nationales Waldschutzgesetz in Kraft, doch die Abholzung schreitet weiter voran, wenn auch etwas verlangsamt. Was auf den Verlust des gemeinschaftlich genutzten Waldes folgt, lässt sich in der comunidad La Esperanza, einige Kilometer weiter westlich beobachten. Bis hier ist die Abholzungswelle entlang der Nationalstraße 53 vorgedrungen. Das war vor etwa 15 Jahren, berichtet Mario Molina, cacique (indigener Anführer) der kleinen Wichí-Gemeinde. Auf mehreren Seiten seien sie heute von Soja-, Mais- und Erbsenfeldern umgeben. Während der Saatperiode werden hier, nur wenige Meter von der Siedlung entfernt, Pestizide versprüht, die vor allem bei den Kindern zu Reaktionen wie Durchfall und Erbrechen führen. Die Bewohner*innen von La Esperanza leiden unter Haut- und Atemwegsproblemen. In dieser kleinen Siedlung von nur 30 Familien gibt es sieben Fälle von Missbildungen bei Kindern. Immer wieder hätten sie die Pestizidvergiftungen angezeigt, doch bisher habe die Justiz nicht reagiert.

In der kleinen Gemeinde gibt es so gut wie keine medizinische Versorgung und die Familien fühlen sich mit den teils schweren Gesundheitsproblemen völlig allein gelassen. Ihnen sei mit dem Wald auch die Bewegungsfreiheit und ein Teil ihrer Grundversorgung genommen worden, so Molina. Heute seien sie weitaus mehr auf Geld für Lebensmittel und Medikamente angewiesen, doch es gibt keine Arbeit in der industriellen Landwirtschaft. Viele an Ortschaften angrenzende Fincas sind dazu übergegangen, die Pestizide im Schutz der Dunkelheit auf den Feldern auszubringen. Das berichten auch die Bewohner*innen der comunidades O KaPukie und Quebracho am Rand der weiter nördlich gelegenen Stadt Tartagal. Vor Kurzem stellten sich die Menschen hier einem Sprühfahrzeug in den Weg, nachdem der Chemikalien-Gestank vom benachbarten Sojafeld sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Viele der Beteiligten litten danach unter Erbrechen und Schwindel. Auch aus den comunidades in der Umgebung wird immer häufiger über Hautprobleme, Krebskrankheiten sowie Fehl- und Frühgeburten berichtet.

An der Ruta 34 Ein von der Abholzung verschonter Palo Borracho (Foto: Naomi Henning)

Die tropische Stadt Tartagal liegt am Rand der Chaco-Ökoregion, das zweitgrößte Waldgebiet Südamerikas und ein sogenannter Entwaldungs-Hotspot. Knapp 60 Kilometer von der Grenze zu Bolivien entfernt, ist Tartagal eine Durchgangszone für eine Vielzahl legaler und illegaler Güter und zugleich ein Ort von immenser kultureller Vielfalt. Hier leben Nachfahren unterschiedlicher Gruppen von Einwander*innen zusammen mit Menschen aus sieben verschiedenen indigenen Völkern. Die nordsüdlich verlaufende Ruta 34 und die nach Osten aus der Stadt führende Ruta 86 sind zugleich die Achsen, entlang derer sich die Abholzung und das System des Monokulturanbaus in den vergangenen Jahrzehnten vorangeschoben hat. Hier lassen sich der argentinische Agrarextraktivismus,die export- und profitgetriebene Produktion für den Weltmarkt wie unter einem Brennglas beobachten. Entlang der Ausfallstraßen siedeln sich die an, die aus dem Zentrum der Stadt und den traditionell genutzten Territorien im Hinterland verdrängt wurden. So wachsen die informellen Siedlungen um Tartagal, viele ohne Anschluss an die städtische Infrastruktur und Zugriff auf sauberes Trinkwasser, im Zustand einer fortgesetzten Ernährungs -und Gesundheitskrise. Hier folgt eine Krise auf die nächste, berichtet Araceli Gorgal, eine junge Ärztin aus der Provinz Buenos Aires, die in Tartagal ihren sozial-medizinischen Praxisaufenthalt absolviert. Vor allem das Thema Ernährung müsse als erstes angegangen werden.

Noch immer sterben jedes Jahr Kinder in den indigenen comunidades im Norden Saltas an der Kombination von Mangelernährung und Durchfallerkrankungen. Dies geschieht vor allem in der Regenzeit im Januar und Februar, wenn die Belastung durch Krankheitserreger hoch ist. Die Wasserkrise scheint im dritten und besonders extremen Dürre-Sommer Anfang 2023 auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt. Das betrifft nicht nur die indigene Bevölkerung Saltas, sondern alle Menschen in der Region, die in prekären Konditionen leben und von den staatlichen Institutionen im Stich gelassen werden. Auch die Criollo-Bevölkerung – Nachfahren der aus Europa eingewanderten Siedler*innen – kämpft um den Zugang zu grundlegenden Infrastrukturen wie Trinkwasser, Elektrizität und sichere Landtitel. Die Konstruktion der indigenen Bevölkerung als alleiniges Opfer sehe sie daher kritisch, betont Gorgal.

Zugleich muss jedoch deren besondere Situation in den Blick genommen werden. Viele der Menschen aus den indigenen comunidades im Norden Argentiniens sind mit einem radikalen und plötzlichen kulturellen Wandel durch die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft und den Verlust des Waldes als Subsistenzgrundlage konfrontiert. Die Veränderung in Lebensweise und Ernährung, die damit einherging, bildet den Hintergrund der Gesundheitskrise, die die Menschen in Tartagal und im Umland täglich begleitet.

Entlang der Ruta 86 und in den barrios, in denen Araceli Gorgal unterwegs ist, um den Gesundheitszustand in den comunidades zu dokumentieren, sehe sie viele Kinder mit Übergewicht und gleichzeitig Symptome fortschreitender chronischer Unterernährung. Dies sind überregionale Phänomene von Armut und eines grundlegenden Nährstoffmangels, der oft mit dem übermäßigen Konsum von fett-, zucker- und kohlehydratreicher Ernährung zusammenfällt. „Erst nehmen sie uns das Land weg und jetzt killen sie uns mit Zucker“, so formuliert es Lucy Gutierrez. Die Folgen zeigen sich in einer starken Zunahme von Diabetes Typ 2 und Entzündungen des Verdauungstraktes. Dahinter stehen andere Prozesse wie die Zunahme von häuslicher Gewalt, Schwangerschaften bei Teenagern und eine Welle von Alkohol- und Drogenkonsum, die viele der Jugendlichen mit sich reißt.

Die Regierung von Präsident Fernández befindet sich in einer Zwangssituation

Die Provinz beschränkt sich vor allem darauf, Symptome zu bekämpfen. Lastwagen mit Trinkwasser und Nahrungspaketen rattern über die Landstraßen, um die Grundversorgung der ärmsten Teile der Bevölkerung sicherzustellen. In umgekehrter Richtung werden die gemästeten Rinder des Agrarkonzerns Desdelsur tagtäglich in Richtung Schlachthof abtransportiert. Während der Erntezeit verlassen mit Sojabohnen gefüllte LKWs bei Tag und bei Nacht diese Zone. Ein hochentwickelter und technisierter Agrarsektor produziert hier Proteine für den Weltmarkt, während der Hunger in der argentinischen Bevölkerung allein zwischen 2019 und 2021 um 30 Prozent zugenommen hat. 43 Prozent der Argentinier*innen leben unter der Armutsgrenze. Hier im äußersten Norden des Landes fallen diese immanenten Widersprüche des argentinischen Rohstoff-Exportsystems besonders krass ins Auge.

Die peronistische Regierung von Alberto Fernández befindet sich in einer Zwangssituation. Eine Inflation von 104 Prozent und die erdrückende Dollar-Schuldenlast machen es nicht leichter, ein Agrarsystem zu reformieren, das sich so effizient zur Beschaffung von Devisen ausnutzen lässt. Zum anderen zementieren die seit jeher konservativen lokalen Machtstrukturen die eklatanten Mängel in der strukturellen Versorgung und die soziale Ungleichheit.

Der durch die Dürre verursachte Einbruch der Agrarexporte in der aktuellen Saison zeigt jedoch die Fragilität eines solchen Entwicklungsmodells auf. Eine systematische Förderung der kleinbäuerlichen Produktion, öffentliche Investitionen und die Eindämmung der ökologischen und sozialen Lasten durch die industrielle Landwirtschaft wären dringend notwendig, um den multiplen Krisen im Chaco Salteño zu begegnen. Die Kontinuität der kolonialen Enteignung der ursprünglichen Bevölkerung der Region und die historischen Widersprüche in der argentinischen Klassengesellschaft wären damit jedoch noch lange nicht aufgelöst.


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“KÖNNEN WIR NOCH WEITERE VIER JAHRE SO LEBEN?”

Foto: Katie Mähler @katie_maehler

Anfang Oktober sind Wahlen in Brasilien. Welche Erwartungen habt ihr mit Blick auf dieses Ereignis?
Alice: Ich hoffe sehr, dass ein anderer Kandidat als Bolsonaro gewinnt. Ich habe natürlich meine Präferenzen und konkrete Vorstellungen für die Zukunft, aber wie heißt es so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch wenn ein Kandidat erklärt, die indigenen Völker zu unterstützen, bedeutet das nicht unbedingt viel. Wir benötigen konkrete Aktionen. Während der Vorgängerregierungen hatten wir bereits bemerkt, dass es zwischen der indigenen Bewegung und der brasilianischen Politik eine tiefe Spaltung gibt. Und das müssen wir ein für alle Mal verändern. Ich hoffe wirklich sehr, dass die neue Regierung kompromissbereit sein wird und Verantwortung übernimmt. Denn bei Wahlkundgebungen ist es sehr einfach, Unterstützung zu zeigen. Doch sie in die Praxis umzusetzen und das Leben der Indigenen etwas zu erleichtern sowie endlich die Anerkennung der indigenen Territorien umzusetzen, das wäre für uns alle ideal.

Wie sind eure Erfahrungen als indigene Frauen und politische Führungspersönlichkeiten der Pataxó und der Uru Eu Wau Wau?
Tejubi: Bisher ist das eine gute Erfahrung für mich. Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ich als Vertreterin meines Volkes so weit gereist bin. Dass meine Tochter so weit weg ist, macht mir etwas Angst, weil ich oft an die Invasionen in unser Land denke und weiß, dass immer etwas Schlimmes passieren kann. Ich muss aber sagen, dass es nicht immer einfach war, mein Volk zu vertreten, denn ich wurde häufig diskriminiert und habe gehört, dass Frauen diese Aufgaben nicht übernehmen können. Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass wir es doch können.
Alice: Das ist ein extrem komplexes Thema. Wir sprechen von indigenen Völkern, die immer noch vom Patriarchat und gewissermaßen auch vom Machismo dominiert werden. Die Pataxós haben heute eine größere Offenheit, so sehe ich es, da es seit vielen Jahren Frauen gibt, die Führungspersönlichkeiten und Caciques sind. Diese Entwicklung nimmt zu. Heute sehe ich mehr Mädchen, die sich in politischen Räumen beteiligen und ihre Communities vertreten können. Das ist auch für uns sehr wichtig, denn wir bewegen uns von einer Position, in der wir nur als Frauen oder Mütter gesehen werden, zu einer anderen, in der wir eine politische, individuelle Person sein dürfen. Dabei geht es nicht nur um Zugang zur Politik, sondern auch um andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Studium. Das stärkt alle indigenen Frauen.

Wie blickt ihr auf die indigenen Kämpfe der letzten Jahre, in denen die Regierung Bolsonaro die territorialen Besetzungen und den Genozid an den indigenen Völkern vorangetrieben hat?
Alice: Der Genozid ist das Hauptmerkmal der Regierung von Bolsonaro. Ich habe noch nie eine solche Gesetzlosigkeit erlebt, sie erstickt die indigene Bevölkerung langsam. Die Suizidrate von Indigenen ist gestiegen, ebenso wie die von LGBT. Die Lage ist chaotisch, vor allem in Bezug auf die Pandemie. Es macht uns extrem traurig – umso mehr, wenn wir daran denken, dass Bolsonaro erneut kandidieren will. Falls er gewinnt, was werden wir tun, um mit seiner Politik umgehen zu können? Denn ehrlich gesagt, ist der Schaden nach vier Jahren seiner Regierung äußerst groß. Ich frage mich, ob wir noch weitere vier Jahre so leben können.
Tejubi: Seit Bolsonaro an der Macht ist, stellen alle fest, dass die Besetzungen in den indigenen Territorien beträchtlich zugenommen haben. Ich denke gerade an eine Geschichte, die bei uns passiert ist. Einige Invasoren sind in unser Land eingedrungen. Meine Verwandten sind zu ihnen gegangen und haben von ihnen gehört: „Das ist ein Befehl von oben. Wichtige Menschen haben uns erlaubt, das Land hier zu besetzen”. Wir Indigene und viele andere Brasilianer haben nur Probleme seit dem Beginn von Bolsonaros Amtszeit. Aber manche nehmen die Katastrophe nicht wahr, denn die Mehrheit seiner Unterstützer besitzen Land und Vieh und befürworten die Abschaffung indigener Territorien völlig.
Alice: Die Regierung Bolsonaro verfolgt eine politische Agenda, die sich gegen die indigenen Völker richtet und gegen die Menschen aus Favelas. Es ist für uns sehr schwer zu akzeptieren, dass das bestehende brasilianische System nur weiße Personen berücksichtigt, die über Privilegien und Ressourcen verfügen. Alle Vorstellungen von Entwicklung, die aktuell von der Regierung vertreten werden, basieren darauf. Auf Geld, auf Entwaldung, kurz: auf allem, was wir bekämpfen und seit langem versuchen zu verändern.

Welche Rolle spielte der digitale Aktivismus in euren politischen Kämpfen?
Alice: Ich arbeite heutzutage mit sozialen Medien. Sie sind ein Werkzeug mit großem Potenzial, das der indigenen Bewegung viel geben kann, denn sie dienen dazu, Menschen, die keinen Zugang zu unseren Communities haben, über unsere Bewegung und unsere Realität zu infor-*mieren. Es gibt eine riesige, nicht nur geographische, Distanz zwischen indigenen Dörfern und den Städten in Brasilien und dies hat natürlich Konsequenzen. Wir müssen aber gut aufpassen, denn dieses Werkzeug hat andererseits auch negative Effekte. Es gibt eine neue Generation, die langsam diesen virtuellen Raum besetzt, der ursprünglich nicht für uns geschaffen worden ist. Hier in Deutschland und Europa ist das Engagement über die sozialen Medien sehr stark, viele zeigen großes Interesse für die indigene Bewegung in Brasilien. Diese Annäherung wurde nur dank des Internets ermöglicht.
Tejubi: Alice ist die Influencerin von uns beiden (Gelächter).
Alice: Ich sehe mich nicht als Influencerin, denn ich beeinflusse Menschen nicht. Vielmehr kläre ich sie auf, denn das interessiert mich. Ich will nicht sagen, was die anderen tun sollten. “Influence” ist ein Begriff, der für die Kommerzialisierung konzipiert wurde und ich denke einfach anders.
Tejubi: Das Internet war für uns von Uru Eu Wau Wau sehr wichtig, denn so konnten wir etwas bekannter werden. Wir haben gelernt, Drohnen und GPS zu nutzen, um ein Harpyie-Nest (seltener, tropischer Greifvogel, der in den höchsten Baumkronen nistet, Anm. d. Red.) zu beobachten. Dies haben wir der FUNAI (Nationale Behörde für Indigene, Anm. d. Red.) gezeigt, um zu dokumentieren, dass dort Entwaldung stattfindet. Obwohl sie dem widersprochen haben – sie wären dort gewesen und hätten nichts gefunden, sagten sie – haben wir angefangen zu posten, was in unserem Territorium geschieht, und hoffen nun, dass uns dies helfen kann.

Wie stellt ihr euch das Engagement der jungen Generationen gegen die Entwaldung und für die Umwelt vor?
Alice: Junge Menschen können etwas tun, auch auf autonome Art und Weise. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass die Jugendlichen von heute die Führungsfiguren von morgen sein werden. In dieser Hinsicht ist unsere Bewegung sehr gewachsen und das ist extrem positiv. Ich hoffe, dass wir mehr Zugang zu Möglichkeiten erhalten sowie weniger Vorurteile und Diskriminierungen erleben werden, denn wir sind dagegen nicht immun. Unsere Jugend braucht auch mehr Engagement der neuen Generationen anderer Länder, um die echten Probleme besser angehen zu können.

In Bezug auf eure Reise nach Europa: Wie schätzt ihr die Möglichkeiten ein, mit internationalen Akteuren zu kooperieren?
Tejubi: Ich hoffe, dass unsere Reise nach Europa positive Folgen haben wird. Mein Volk würde sich sehr darüber freuen, wenn ich mit konkreten Ergebnissen zurückkehren könnte. Ich denke dabei an die Ermordung zweier meiner Onkel, die keine juristischen Konsequenzen hatte. Der eine war Lehrer und Mitglied einer Monitoring-Gruppe, er wurde vor zwei Jahren ermordet. Der andere erst vor drei Monaten, wahrscheinlich von einem Goldgräber in Guajará-Mirim. Wir haben dazu noch nichts erfahren, weder von Seiten der FUNAI, noch der Polizei. Es ist sehr schwierig für mich, wenn mich meine Großmutter fragt, ob ich hier schon etwas erreichen konnte, um die Verbrechen aufzuklären.
Alice: Ich finde es auf jeden Fall positiv und notwendig, die Realität unseres Kampfes in einem internationalen Kontext darstellen zu können. Beispielsweise können durch Kunst unsere Gefühle und andere Aspekte unserer Bewegung sehr effektiv kommuniziert werden. Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr Raum in der nationalen wie internationalen Politik einnehmen konnten, kommen wir in vielerlei Hinsicht immer noch zuletzt, was sehr schade ist.


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DER KAMPF UM HARMONIE

CRIC „Wir befreien das Land für alle Lebewesen“ (Foto: Katherine Rodriguez)

Für die Sicherheit in der Gemeinschaft ist die Guardia Indígena (indigene Selbstverteidigung) zuständig, die in den indigenen Gemeinden die Polizei ersetzt: Die Guardia ist unbewaffnet und gewaltfrei, viele ihrer Mitglieder sind Kinder und Jugendliche, die auch unter den Älteren große Autorität genießen. Jede Familie stellt ein Mitglied, so dass der CRIC 20.000 Guardias zählt.

Bei der Jubiläumsveranstaltung schickt die Guardia nachts die Partygäste ins Bett, damit der Lärm die Ruhebedürftigen nicht stört und morgens um sechs Uhr weckt sie die gesamte versammelte Gemeinde mit Musik und lauten Rufen. Die Guardia steht als erstes auf und geht als letztes ins Bett, sie ist ein Vorbild an Disziplin und Einsatz für die Gemeinschaft.

Das Geld aus der Schattenökonomie ist der Treibstoff des Konflikts in Kolumbien

Die Guardia ist auch für die Verteidigung der Gemeinde nach außen zuständig: Im Cauca streiten sich das staatliche Militär, paramilitärische Gruppen und Deserteur*innen der FARC-Guerrilla, die sich wieder bewaffnet haben, um die Kontrolle der für den Drogenhandel strategisch wichtigen Region. Zum einen eignen sich die klimatischen Bedingungen hervorragend zum Anbau von Koka, Marihuana und Mohn, zum anderen ist besonders der nördliche Cauca ein wichtiger Schmuggelkorridor zum Hafen von Buenaventura, über den die Drogen in die Welt exportiert werden.

Das Geld aus der Schattenökonomie ist der Treibstoff des Konflikts in Kolumbien. Alle Konfliktparteien sind auf der Suche nach jugendlichen Kämpfer*innen, die sie auf aggressive Weise in den ländlichen Gemeinden rekrutieren – teilweise mit Zwang, teilweise mit Geld. Der Hunger und mangelnde Perspektiven treiben Massen von Minderjährigen und jungen Erwachsenen in die Hände der Todeskommandos.

Die unbewaffnete Guardia Indígena ist der radikalste Versuch, der Gewalt entgegenzutreten. Mit einem Holzstab gegen eine AK-47.

Die Menschen im CRIC sterben für ihre Überzeugung zur Gewaltfreiheit: 107 ihrer Anführer*innen wurden allein 2020 ermordet.

Während der Geburtstagsfeier des CRIC kreisen Hubschrauber der kolumbianischen Armee über dem Gelände und vor der nächstgelegenen Polizeistation stehen Panzerfahrzeuge der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD; so als seien die unbewaffneten Indigenen die Bedrohung.

Stattdessen ist die Rolle des Staates fraglich: Wie kann es sein, dass täglich tausende Kilo Marihuana unbehelligt über die Landstraße an den Militär- und Polizeistationen vorbei transportiert werden?

Stück für Stück droht der Drogenanbau und die damit verbundene Gewalt das autonome indigene Projekt von innen auszuhöhlen. Besonders schmerzhaft ist, dass manche Anführer der bewaffneten Gruppen selbst Nasa sind, die in den Gemeinden aufwuchsen. Nachts leuchten an den Hängen in den Reservaten hunderte Laternen zur künstlichen Belichtung der Cannabisplantagen.

Fredy Campo hat die Nase voll und ruft mit seiner Gemeinde zur Selbstverteidigung und zu einer klaren Haltung gegen den Drogenhandel auf. Sein Territorium Sa’th Tama Kiwe hat sämtliche Cannabispflanzen zerstört und damit den Zorn der Bewaffneten auf sich gezogen. Gemeindemitglieder wurden bedroht, verfolgt und ermordet, aber sie haben sich gewehrt. „Wenn ein bewaffneter Akteur unser Gebiet betritt, dann kommt er nicht mehr heraus“, erklärt Ex-Gouverneur Fredy Campo kämpferisch. Als zuletzt ein Gemeindemitglied ermordet wurde, ermittelte die Guardia Indígena den Täter und nahm ihn fest, so dass er von der Gemeinde verurteilt werden konnte. Ein anderes Mal verfolgte die gesamte Gemeinde – knapp 1.000 Menschen – eine Gruppe von acht bewaffneten FARC-Deserteur*innen, die sich gegenüber der Masse ergaben. Die Gemeinde schmolz ihre Waffen ein und schickte die Indigenen unter ihnen in ein eigenes Rehabilitationszentrum, wo sie Gemeinschaftsarbeit leisten müssen und Impulse für eine politische und spirituelle Orientierung erhalten, um sich später wieder in die Gemeinschaft integrieren zu können. Die anderen Festgenommenen übergab die Gemeinde an staatliche Gefängnisse.

Die Rolle des Staates ist fraglich

„Wenn jemand schießt, erschrecken wir uns nicht, sondern begehren umso mehr auf, die Kraft liegt in der Basis“, beschreibt Campo die Selbstverteidigung. Er selbst wurde bereits zehnmal mit Pamphleten offen von verschiedenen illegalen Gruppen mit dem Tod bedroht.

So sehr sich die Menschen in Sa’th Tama Kiwe wehrten, so alleingelassen fühlten sie sich vom Dachverband CRIC.

„In anderen Reservaten wurden Anführende umgebracht und es gab quasi keine Reaktion. Andere wurden bedroht und flohen. Wie kann es sein, dass Anführende ihre Gemeinde und ihr Land verlassen?“, kritisiert Campo. „Viele haben heute Angst und lassen zu, dass die bewaffneten Gruppen die eigentlichen Herrscher des Territoriums sind. Das darf nicht sein.“ Mit einem offenen Brief wandte sich Campos Gemeinde an den CRIC und rief zu einer Reflexion über die eigenen Werte auf. Zu viele indigene Autoritäten tolerierten den Drogenanbau in ihren Gemeinden oder seien im Zuge der Institutionalisierung zu bequem geworden, um für ihr Territorium zu kämpfen.

Campo und seine Leute wollten bei einer Sitzung die höchsten CRIC-Autoritäten vom geschlossenen Kampf gegen den Drogenanbau überzeugen.

Doch stattdessen wurden zwei der Anwesenden, die eine besonders radikale Position gegen den Drogenhandel bezogen, nach dem Treffen von Unbekannten bedroht. Ein Hinweis darauf, dass die Infiltration durch bewaffnete Gruppen bis in die Führungsebene des CRIC hineinreicht.

Für Fredy Campo läuft der CRIC damit Gefahr, seine eigenen Werte zu verraten – in einer Zeit, in der die Einheit der Bewegung für die Verteidigung der Autonomie elementar wichtig ist. Mit den jüngsten Entdeckungen von Gold, Nickel und Coltanvorräten auf dem Empera Gebiet der Nasa und dem staatlichen Interesse an der Förderung des Bergbaus ist eine weiteres Schlachtfeld hinzugekommen.

Abseits der zunehmend institutionalisierten Strukturen des CRIC hat sich eine weitere Gruppe gebildet, die mittlerweile große Teile der Bewegung vereint: La Liberación de la Madre Tierra (Die Befreiung der Mutter Erde). Während die CRIC-Führungsebene mittlerweile vor allem auf Verhandlung zur Landrückgewinnung setzt, orientieren sich die Mutter-Erde-Befreier*innen an den Anfängen der Bewegung und besetzen Land, das einst den Nasa gehörte und heute von der Zuckerrohrindustrie ausgebeutet werden. Denn die fruchtbare Erde im Caucatal muss riesige Monokulturen aushalten, die so groß sind, dass sie mit Kleinstflugzeugen aus der Luft mit Pestiziden bespritzt werden. Wenige Großgrundbesitzer*innen scheffeln hier Gewinne mit dem Export von Ethanol für Biosprit. Die harte Arbeit auf den Feldern verrichtet im Wesentlichen die afrokolumbianische Bevölkerung zu Niedriglöhnen. Die Agrarindustrie verschmutzt das Wasser und vertreibt Tiere und deswegen erklärt Ana* von der Liberación: „Wir befreien das Land für alle Lebewesen.“

Angefangen haben sie damit 2014 auf einer geschichtsträchtigen Finca in der Nähe von Caloto im Norden des Caucas mit dem Namen La Empera Triste. Von hier starteten Paramilitärs im Dezember 1991, um im Auftrag von Großgrundbesitzer*innen auf der benachbarten Finca El Nilo 21 Nasa zu massakrieren, die dort Land besetzt hatten.

Heute ist La Empera Triste selbst besetzt. Auf einem grün-roten Schild im Eingangsbereich steht: „Wir sind tausendjährige Krieger“, daneben reiten zwei Jungs in Richtung eines kleinen Holzhauses. Sie gehören zu einer der Familien, die das Land besetzt haben und nun hier leben. „Zuckerrohr roden, um Essen zu pflanzen“ ist ihr Motto.

In der härtesten Zeit der Pandemie haben die Landbefreier*innen von hieraus mehrere Busse mit Lebensmitteln in die marginalisiertesten Viertel der Millionenstadt Cali gebracht und sie dort an Bedürftige verschenkt, erzählt Ana stolz. Damit taten sie das, was der kolumbianische Staat nur versprach. Dabei nehmen die Landbefreier*innen im Gegensatz zum CRIC keinerlei externe finanzielle Mittel an.

Dann lädt Ana in ihre Heimatgemeinde ein. Im Eingangszimmer ihres Hauses hat sie große Mengen an Kräutern zum Trocknen ausgebreitet, aus denen sie medizinische Getränke herstellt. „Wenn es einem Kind im Dorf nicht so gut geht, dann schicken sie es zu mir und ich bereite ihnen etwas zu“, sagt Ana, die noch etwas außergewöhnliches über die eigene Wasserversorgung des indigenen Reservats zu berichten hat: „Für fließendes Wasser zahle ich im Monat 50 Pesos (1 Cent)“, so hat es die Vollversammlung beschlossen.

Mit einem Holzstab gegen eine AK-47

Wenige Minuten von Anas Haus entfernt ist ein weiteres befreites Stück Land.

Wo vor fünf Jahren noch genmanipuliertes Zuckerrohr stand, tummeln sich nun zwischen Yucawurzeln und Mais die Insekten, Eichhörnchen und Vögel auf den Feldern. Als sie damals das Land befreiten, erhielten die bedürftigen Familien, die sich in die Befreiung eingebracht haben, jeweils einige Hektar, mit denen sie sich selbst versorgen konnten. Der größte Teil der befreiten Finca ist aber kollektives Land, auf dem wechselnde Arbeitsgruppen Lebensmittel für die Gemeinschaft produzieren. Jeden Samstag steht das gesamte Dorf auf dem Feld und packt gemeinsam an. So ist auch ein kleiner Dorfplatz entstanden und in einem offenen Haus aus Bambus ein Versammlungsort. Vor einem anderen Haus wirft eine Frau ein paar Maiskörner auf den Weg, um die sich Enten, Hühner, Schafe und kleine Schweine streiten, während ihre Mutter zwei Pferde anbindet und ihnen eine Ladung Yuca vom Rücken nimmt.

Dann sagt Ana „Ich zeig euch noch was“ und führt zu einem weiteren riesigen Stück Land, das sie befreit und dann der afrokolumbianischen Gemeinschaft aus dem angrenzenden Dorf übergeben haben. Ein Vorzeigeprojekt. Denn der große Teil der Afrokolumbianer*innen sieht in den Plantagenbesetzer*innen eine Gefahr für ihre Arbeitsplätze; statt Verbündete sind sie Gegner*innen der indigenen Befreiungsbewegung. „Die Regierung erklärt der afrokolumbianischen Community, dass sie Anspruch auf das Land hätte”, sagt Ana. Also versuchen die Befreier*innen auf sie zuzugehen; hier, in der Nähe von Caloto klappt das.

In der Nähe eines kollektiven Yucafeldes ruht sich eine kleine Familie in Hängematten im Schatten eines kleinen Bambushauses von der getanen Arbeit aus. Früher habe er Cannabis angebaut, erklärt der Familienvater. Das sei harte Arbeit gewesen und pro Kilogramm Marihuana habe der Händler ihm 8.000 Pesos, nicht ganz zwei Euro bezahlt. Dann schloss er sich den Mutter-Erde-Befreier*innen an und baut nun auf dem befreiten Land Lebensmittel an. Bald möchte er mit seiner Familie auch hierhin ziehen. Trotz der dauernden Bedrohung durch den kolumbianischen Staat. Für alle befreiten Fincas gibt es Räumungstitel. Jederzeit könnte das Militär oder die polizeiliche Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD auftauchen und mit Gewalt die Menschen von ihren Feldern und Häusern vertreiben. Mehr als 600 Räumungen auf 13 befreiten Fincas im Norden des Caucas gab es bereits, doch die Landbefreier*innen kamen immer zurück. „Und wenn es zehn, 20 oder 30 Jahre dauert – irgendwann ist es unser Land. Wir haben Zeit”, sagt Ana und fügt dann hinzu: „Wir haben in sechs Jahren 4.500 Hektar Land zurückerobert. Es fehlen aber noch weitere 400.000 Hektar Zuckerrohr-Monokulturen, die es in der Region gibt“. Sie schmunzelt.

Der Kampf der Nasa wird weitergehen. Auf der Jubiläumsveranstaltung des CRIC spielte am letzten Abend eine Band die Hymne der Guardia Indígena live. Tausende von Menschen reckten den Holzstab der Guardia Indígena in die Luft und sangen aus voller Seele: „Wir verteidigen unsere Rechte, auch wenn es uns das Leben kostet“ und „Für jeden toten Indio werden 1000 weitere geboren“. Die größtmögliche Liebeserklärung an die Bewegung.

*Name geändert


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Secuestrados por más de 40 horas

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

Los miembros secuestrados del Frayba Victorico Gálvez Pérez y Lázaro Sánchez Gutiérrez (Foto: Frayba)

El 12 de abril, aproximadamente a las siete de la mañana, Lázaro Sánchez Gutiérrez y Victorico Gálvez Pérez salen de la oficina del Frayba en San Cristóbal de Las Casas a bordo de una camioneta blanca hacia Palenque. El motivo del viaje es una reunion con integrantes de la organización Pueblos Autónomos por la Defensa de los Usos y Costumbres (PADUC) y con familiares de presos. Cerca de las 21 horas, el Frayba recibe un aviso de que Sánchez Gutiérrez había llamado a su familia desde un número desconocido informando que él y Gálvez Pérez estaban bien, que se encontraban en San Felipe en el municipio de Ocosingo y que pedían que algunx de sus familiares llevara una maleta con dinero en un vehículo particular a las ocho de la mañana del día siguiente.

Gracias a un amplio movimiento de solidaridad entre organizaciones de derechos humanos, grupos políticos, comunidades indígenas e iglesias, se logró liberar a los dos defensores de derechos humanos el 14 de abril por la mañana. Después de más de 40 horas de privación arbitraria de la libertad, los secuestrados regresaron en buen estado de salud. Frayba ya ha tomado medidas de seguridad. Como parte de éstas medidas, los recién liberados y otros miembros de la organización no pueden hacer declaraciones frente a la prensa.

Sin duda, el secuestro  está relacionado con su trabajo. En la zona de Ocosingo, donde fueron secuestrados, el Frayba trabaja visibilizando la violencia ejercida por los paramilitares. Según el portal periodístico Pie de Página, desde agosto de 2020 el Frayba ha documentado por lo menos cinco agresiones por parte de la Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo (ORCAO), un grupo armado de cafeticultores, hacia la comunidad zapatista de Moisés Gandhi en el municipio autónomo de Lucio Cabañas. Y el pueblo San Felipe, en el que se llevó a cabo el secuestro , está habitado en su mayoría por integrantes de la ORCAO.

“Desmentimos categóricamente la información difundida por el Estado de Chiapas, en donde se ha señalado que el motivo de la detención de Lázaro y Vico se debió a un accidente de tránsito en Ocosingo”, escribe el Frayba en su boletín de prensa. La versión oficial no solamente minimiza la violencia y las violaciones de derechos humanos en la región por parte del Estado mexicano, sino que también contribuye a la criminalización del trabajo de lxs defensorxs de derechos humanos.

En el lugar del secuestro, Frayba documentó agresiones por grupos armados

En Chiapas, donde viven en su mayoría poblaciones indígenas, los derechos humanos son violados en gran parte por medio del despojo de la tierra, el territorio y el desplazamiento forzado. Además, proyectos extractivistas y despojo de recursos de agua destruyen el medio ambiente en la zona La política neoliberal del presidente mexicano Andrés Manuel López Obrador acepta la destrucción del entorno de comunidades indígenas para el llamado despegue económico en Chiapas que presenta altos niveles de pobreza.

La instalación de la Guardía Nacional en Chiapas, creada en el 2019 (veáse LN 560), empeoró los problemas de violencia estructural y de violencia de género, tanto como el de la impunidad. El esclarecimiento de violaciones de derechos humanos como la desaparición de lxs 43 estudiantes en Ayotzinapa hace seis años y medio (veáse LN 538), ha quedado en gran medida una promesa vacía del gobierno. La militarización de Chiapas es un resultado del discurso de seguridad del Estado y se dirige contra las comunidades indígenas, la población rural y migrantes de Centroamérica, que intentan llegar a México cruzando la frontera con Guatemala.

También la Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH) denuncia las violaciones de derechos humanos en México y la   ausencia de las instituciones del Estado. A finales de abril emitió la Resolución 35/2021, mediante la cual otorgó medidas cautelares a favor de familias en 12 comunidades indígenas tsotsiles en Chiapas. La Comisión consideró que las familias se encontraban en riesgo de desplazamiento por las agresiones de grupos armados. Con su declaración la CIDH se dirige al gobierno mexicano y solicita medidas para proteger a las familias tsotsiles.

Según la red TDT son 45 los defensorxs de derechos humanos que fueron asesinados en México entre 2019 y 2020, y 5 de ellxs en Chiapas. La impunidad de los crímenes aumenta el peligro. Mientras intervenciones militares dificultan el trabajo de lxs defensorxs de derechos humanos, las autoridades retrasan el esclarecimiento de los crímenes. En el caso de los miembros secuestrados del Frayba, por ejemplo, “es importante resaltar que desde el primer momento las autoridades estatales y federales” han tenido “conocimiento de los hechos”, pero no dieron información clara sobre la situación, como dice el comunicado del Frayba.

Aparte de promesas vacías, el gobierno no ha presentado mucho hasta ahora

Frente a este contexto alarmante, la ausencia del Estado mexicano es un boicot al trabajo de los defensorxs de derechos humanos. Además la pandemia de coronavirus ha agravado el discurso de seguridad del gobierno. En nombre de la seguridad nacional se legitimó un aumento de  la presencia militar en Chiapas, la cual intensificó las dinámicas de despojo de tierra, violencia y agresiones en contra de comunidades indígenas. Más que nunca se necesitan a lxs defensorxs de derechos humanos y organizaciones como el Frayba, para luchar al lado del pueblo pobre y organizado, denunciando las injusticias y acompañando a las víctimas de la violencia estatal.


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DER KAMPF UM HARMONIE

50 Jahre CRIC Mehr als 20.000 Menschen kommen zur Jubiläumsveranstaltung zusammen (Fotos: Katherine Rodriguez)

Dort, wo der Dorfweg von El Pital endet, ist das Eingangstor einer riesigen Finca. Über mehrere Hügel erstrecken sich in diesen Tagen kleine und große Zelte mit schwarzem Plastikdach gegen den Regen. Menschen schlendern über die schlammigen Wege dazwischen, die meisten in Richtung des größten Zeltes, das auf dem höchsten Hügel gelegen ist. Dort steht auch eine riesige Bühne mit Veranstaltungstechnik. Auf den ersten Blick sieht es aus wie auf einem Musikfestival. Hier, im kolumbianischen Departement Cauca, wo der bewaffnete Konflikt derzeit so viele Opfer fordert wie in keinem anderen Teil des Landes.

Auf der Bühne steht ein Mann mit braun-beigem Poncho und einem Strohhut, der mit grünem und rotem Stoff umkleidet ist, am Mikrofon. Jetzt ruft er aus voller Kehle in die Menge: „Wo ist das Volk der Yanacona?“ „Hier“ schreit es ihm von hinten rechts im Publikum entgegen. „Wo ist das Volk der Nisak?“ „Hier“ kommt das Echo etwas leiser von der linken Seite. „Und wo ist das große Volk der Nasa?“ Jetzt wird es richtig laut: „Hier!“

Dann tritt eine Band auf die Bühne. Als die Musiker mit grün-rotem Halstuch und Panflöte loslegen, klingt das ein bisschen nach andinem Schlager. Doch der Text hat es in sich: „Wir leisten weiter Widerstand gegen die Invasion und verteidigen unsere Rechte im Kampf gegen die Unterdrückung“, singen sie auf Spanisch.

Es ist die Veranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des Regionalen Indigenen Rates im Cauca, in dem sich die indigenen Gemeinden der Region organisieren, landesweit besser bekannt unter seinem Kürzel CRIC. Dazu sind mehr als 20.000 Menschen gekommen, um die wohl stärkste indigene Autonomiebewegung Südamerikas zu feiern. Diese umfasst unter dem Dach des CRIC zehn indigene Gemeinschaften, unter denen die prägendste die der Nasa sind, die seit 500 Jahren im Südwesten Kolumbiens Widerstand gegen die Kolonialisierung leisten. Damals wollten die spanischen Eroberer den Indigenen der Region Steuern aufzwingen und ermordeten einen Kaziken (höchstrangige indigene Adlige oder Anführer*innen, Anm. d. Red.), der sich widersetzte. Daraufhin führte die Kazikin Gaitana 1539 eine erfolgreiche Revolte gegen die Kolonisatoren an, die den Indigenen ein knappes Jahrhundert Freiheit verschaffte, bevor die Rache der Spanier sie fast vollständig ausrottete. Die Nasa sehen sich heute als Erben der 600 Überlebenden.

Es ist ein Gänsehautmoment, als der Moderator auf der Bühne, der gerade noch die Party animierte, eine Schweigeminute für „die vielen Toten und Ahnen, ohne die wir heute nicht hier wären“ einleitet.

Auch nach der Unabhängigkeit Kolumbiens Anfang des 19. Jahrhunderts wurde den Nasa weiter der Krieg aufgezwungen. Sie lebten in der Region mit der fruchtbarsten Erde Kolumbiens, das die Begierde der Großgrundbesitzer weckte, die die Nasa gewaltsam immer weiter zurück in die Berge in steiles und wenig produktives Land drängten.

Die jüngste Etappe des Widerstands leitete die Gründung des CRIC 1971 ein. Es war die Zeit, in der die kolumbianische Regierung den letzten ernsthaften Versuch einer Agrarreform in einem der Staaten mit der ungerechtesten Landverteilung der Welt ins Leere laufen ließ. Es war aber auch die Zeit, in der die Befreiungstheologie den Samen des Widerstands der Ausgebeuteten säte. So schlossen sich die Indigenen der Region zusammen, um für ihr Recht auf Land und Selbstbestimmung zu streiten. Sie besetzten Land, das einst ihnen gehört hatte, und erkämpften so Hektar für Hektar, stets unter großer Repression, die den Schmerz über ermordete Familienmitglieder dem Gedächtnis der indigenen Gemeinden eingebrannt hat. Dabei verfolgte die Bewegung verschiedene Strategien, um Land und damit die Möglichkeit der Versorgung zurückzugewinnen: besetzen, kaufen, juristisch erstreiten. Letzteres funktionierte besonders gut, seit in der Verfassung von 1991 umfassende indigene Rechte festgeschrieben wurden. So folgte der Legitimität auch die Legalität und die formale Anerkennung indigener Selbstverwaltung.

Das eigene Land ist dabei für die Nasa viel mehr als nur Anbaufläche. Das Leben beginnt mit der Verbindung zum Territorium, mit den Tieren und Pflanzen, mit der gesamten Umwelt, mit der zusammengelebt wird. Die Nasa nennen das: Harmonie. Ein allumfassender Begriff, der das Leben zwischen den Menschen und mit der Natur beschreibt. Den Weg dorthin weisen die Ältesten und Ahnen der Gemeinschaft, die mayores genannt werden. Der westliche Kapitalismus hingegen mit seinem Raubbau an Natur und Mensch erzeugt Disharmonie in den Beziehungen; das erklärt mayor Julio, wie er liebevoll genannt wird. Julio Cesar Caldón, so sein vollständiger Name, trägt eine Brille mit dicken Gläsern und dunklem Rand; er hat ein auffallend rundes Gesicht. Vor dem Interview pustet er Tabakrauch in die Luft und gen Erde und wiederholt das mehrfach. Er sei in Verbindung mit den Wolken getreten, um sich über den anstehenden Regen auszutauschen, erklärt er und im Gespräch wird deutlich, wie die Nasa die Welt denken. Der 53-Jährige ist dabei einer jener hochgeschätzten Älteren der Bewegung, die wesentliche Weichen des Autonomieprozesses mitgeprägt haben. 20 Jahre lang war er „Gouverneur“, gewählte Führungspersönlichkeit seines Cabildos, wie die Indigenen ihren Gemeinderat nennen. Über den Cabildos steht nur die Asamblea, die Vollversammlung, in der die wesentlichen Entscheidungen von allen Gemeindemitgliedern getroffen werden. Ein eigenes Regierungssystem erfordert auch ein eigenes Bildungssystem und so half mayor Julio dabei mit, die erste staatlich anerkannte indigene Universität Lateinamerikas aufzubauen: die UAIIN.

Es ist die Antwort auf ein Unbehagen: „Das staatliche Bildungssystem wurde uns aufgezwungen und wir haben 1.000 Dinge dadurch verloren. Wenn ich heute an einer Schule als Lehrer Koka kaue, dann werde ich schief angesehen. Außerdem wurden wir genötigt, Spanisch zu lernen und unsere eigenen Sprachen zu vergessen.“

Mayor Julios Stimme senkt sich etwas: „Ich spreche zum Beispiel keine unserer Sprachen und nur schlechtes Spanisch, weil es mich nicht ausdrückt in meiner Essenz, sondern ich das Gefühl habe, in einer fremden Sprache zu sprechen.“

Aber die Kritik geht noch tiefer: „Die staatliche Form von Bildung basiert auf Lehrplänen, die von oben nach unten funktionieren: vorgegebene Bücher lesen, Hefte führen, Tabellen ausfüllen“, erklärt Julio. „Es gab nie eine Schule, die wirklich anders funktionierte. Die Klassenzimmer hatten immer vier rechtwinklige Wände und eine Tür. Es sind Orte, die einen einsperren und nicht darüber hinaus denken lassen.“ Menschen Wege zu versperren und ihnen eine Richtung vorzugeben, erzeuge Disharmonie.

„Machen statt kopieren.“

Die Schulen des CRIC und die seit 2018 staatlich anerkannte Universität wollen es jetzt anders machen. Es gibt keine Lehrenden, sondern alle Beteiligten sind dinamizadores, etwa „Impulsgebende“. Die Universität hat keinen festen Standort, sondert wandert in die verschiedenen Reservate, wo der Unterricht stattfindet. „Wir haben immer gesagt: Die Universität sollte zu den Leuten in die Dörfer gehen und nicht anders herum, denn unser Ziel ist nicht, dass die jungen Leute ihre Dörfer verlassen, sondern sie darin zu bestärken, dass sie dort bleiben, während die anderen Universitäten die jungen Menschen in die Stadt locken, um dort dem Kapitalismus zu dienen.“

Die Klassenräume in den Dörfern haben nur ein Dach, aber keine Wände: „So kann die Bildung hinein und hinaus gehen.“ Überhaupt findet das Lernen aber eher unterwegs statt als an einem festen Ort. „Wir lernen bei der Gemeinschaftsarbeit oder bei jeder Begegnung.“ In der Schule wird Mathematik anhand des Webens von Stoffen gelehrt. Bei Reisen sollen die Studierenden die verschiedenen Reservate kennenlernen und so eine Einheit formen. Mayor Julio fasst das so zusammen: „Sprechen und machen statt kopieren.“

Aber: „Wir bilden uns zuerst zu 200 Prozent mit unserer eigenen Bildung und dann in der westlichen Form. Erst lernen wir, wo wir selbst herkommen und dann, was es außerhalb noch gibt. Aber das darf uns nicht von unserem eigenen Weg abbringen.“ So umfasst die Universität zehn Studienrichtungen, die hier „Gewebe“ genannt werden, zum Beispiel: Wiederbelebung der Mutter Erde, Indigene Justiz oder Buen Vivir („Gutes Leben“). Letzteres ist das Äquivalent zu Politikwissenschaft. „Dabei steht im Zentrum die Frage: Wie erträumen wir uns unser Leben und Land? Wie können wir in Kontakt mit Erde, Wasser und Sonne leben?“, erklärt Julio.

Der CRIC hat darauf in den letzten Jahren einige Antworten gefunden. So wurde eine eigene Krankenkasse gegründet, die mittlerweile staatlich so subventioniert ist, dass sie allen Indigenen kostenlose schulmedizinische Versorgung ebenso wie traditionelle Behandlungsmethoden und Rituale ermöglicht. Dazu kommt ein eigenes Rechtssystem: Mitglieder der Gemeinden, die gegen die Regeln des Zusammenlebens verstoßen, werden nicht vor einen Richter geführt oder gar ins Gefängnis gesteckt. Stattdessen berät die gesamte Gemeinschaft, welche Maßnahmen eine Veränderung des Straffälligen ermöglichen. Dabei leisten sie Gemeinschaftsarbeit oder erhalten in Rehabilitationszentren spirituelle Unterstützung.

Zunehmend versucht der CRIC auch auf eigenen wirtschaftlichen Beinen zu stehen. Manche indigene Gemeinden haben nach Jahrhunderten von Vertreibung nicht mehr genug fruchtbares Land, um sich selbst mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem schützen die Menschen im CRIC Wälder und Wasserläufe, sodass 60 Prozent ihres Territoriums Naturschutzgebiet sind. „Ökonomisch betrachtet ist das aber eine Herausforderung“, erklärt Aparicio Rios, Spezialist für indigene Ökonomie aus dem Reservat Paniquita. Seine Idee: „Wir müssen uns in dieser Welt mit anderen sozialen Bewegungen organisieren, um eine eigene Ökonomie aufzubauen.“ So organisierte er vor einigen Jahren mit der Zentralen Kooperative des CRIC den Import von 35 Tonnen Salz von den indigenen Wayuu im Nordosten des Landes um so einen solidarischen Handel zwischen indigenen Völkern aufzubauen. Mittlerweile sei das Projekt aber eingeschlafen. Alle zwei Jahre wechseln aus demokratischen Gründen alle Funktionsträger*innen im CRIC. „Aus administrativer Sicht ist das nicht gut. Alle zwei Jahre neue Leute auszubilden, die dann effizient arbeiten, ist schwierig“, bemängelt Rios mit Blick auf sein Ziel: „In dieser Welt ist die Wirtschaft der entscheidende Machtfaktor, damit wir dem kolumbianischen Staat wirklich auf Augenhöhe entgegentreten können.“ Noch hängen die Reservate am Tropf staatlicher Finanzierung oder ausländischer Fördermittel, welche die formalisierten Organisationen und Verbände akquirieren.

Wie es in Zukunft vielleicht einmal anders funktionieren könnte, zeigen die Stände unterhalb des großen Bühnenzeltes. Hier bewerben Kooperativen aus den indigenen Gemeinden ihre eigenen Produkte: Wein aus der Andenblaubeere, Öl aus der Inka-Erdnuss Sacha Inchi und Koka-Bier.

Während Neugierige hier unten die Produkte begutachten, schallt von der Hauptbühne der Lautsprecher über das Festgelände: „Compañeros, kauft lieber unsere eigenen Getränke als Coca-Cola.“ Es folgen weitere Hinweise für das Gemeinschaftsleben: „Compañeros, gestern Abend haben Leute mit Schuhen auf den Stühlen getanzt und jetzt sind die voll mit Schlamm.“ oder „Compañeros, der Chirrincho (Schnaps) ist lecker, aber wer nachts zu viel trinkt, verpasst morgens die politischen Diskussionen.“ Es wird kollektiv gedacht, nicht individuell. Dazu passend: Kaum jemand läuft unbegleitet über die Veranstaltungsfinca und auch alle Zelte sind in großen Gruppen mit Gemeinschaftsküchen organisiert.

Doch nicht alles ist harmonisch innerhalb der Gemeinschaft, darüber spricht Luciana Velazco, Regionalkoordinatorin des Programms für Frauen des CRIC. „Wir machen seit 26 Jahren Arbeit gegen patriarchale Gewalt, aber innerhalb der Organisation sind wir kaum sichtbar“, kritisiert sie. „Die Mehrheit unserer Frauen leiden unter psychischer und physischer Gewalt. Das wissen wir schon sehr lange. Aber wenn Frauen Vorfälle melden, hören ihnen die Autoritäten kaum zu.“ Deswegen organisieren Luciana und ihre Mitstreiterinnen Bildungsangebote für Frauen, um patriarchale Gewalt als solche zu erkennen und melden zu können. Doch es geht um mehr: „Dass andere wissen, dass ich misshandelt werde, erzeugt oft Scham. Aber in unseren Treffen schaffen wir einen vertrauensvollen Raum, in dem die Frauen von ihren Erfahrungen berichten“, erklärt Luciana. Eines der zentralen Probleme sei das fehlende Verständnis unter den gewählten Autoritäten, von denen ein Großteil Männer sind. Hinzu kommt: „Wir sind im CRIC nur drei Regionalkoordinatorinnen und das reicht einfach nicht aus, um mit allen Autoritäten ins Gespräch zu kommen.“

So wäre auch eine Weiterentwicklung des autonomen Justizsystems notwendig, „denn viele der Autoritäten sind der Meinung, dass häusliche Gewalt ein Problem ist, dass im Privaten gelöst werden muss und nicht von der gesamten Gesellschaft. Es gibt auch nicht wirklich eine Strategie für die Unterstützung von betroffenen Frauen, zum Beispiel durch psychologische Hilfe.“ Dazu komme es nach einer Anzeige oft zu einer Reviktimisierung durch den Ehemann, der Rache an seiner Frau übt. […]


Mayora Blanca Eine der ältesten und weiterhin aktiven CRIC-Mitglieder

Mayora Blanca Andrade: Die alte Radikale

Die mayora Blanca kommt nur langsam voran beim Gang durch die Menge. Ständig fragen sie Menschen, ob sie ein Foto mit ihr machen können. Dabei fällt auf: Es sind vor allem Jugendliche, die ein Bild mit einer der Gründer*innen des CRIC ergattern möchten. Die mayora Blanca nickt dann und lächelt, sie hat eine sehr zarte und liebevolle Art. Aber sie nimmt kein Blatt vor den Mund wenn es darum geht, die Jugend zu kritisieren: „Manchmal denke ich heute darüber nach, wie es damals war und dann denke ich: Heute ist der Kampf viel einfacher geworden. Viele Menschen kommen, um das bereits fertig gekochte Essen zu verspeisen.“ Sie meint die Früchte des jahrelangen schwierigen Kampfes der Vorgängergenerationen. Dank ihnen verfügen die Gemeinden heute über mehr Land und Ressourcen.

Die mayora Blanca nahm nach der Ermordung ihres Ehemanns 1982 eine Führungsposition im CRIC ein, während sie sich weiter um ihre drei Kinder kümmerte. „Wir haben nichts einfach so erreicht. Alles war ein Kampf und wir mussten laut sagen: Das sind unsere Rechte!“ Wer im CRIC war, hatte es schwer. Die Stigmatisierung war groß, berichtet die mayora. „Heute wollen alle Anführer des CRIC sein. Die Leute haben ihre Technik und ihre Autos. Sie laufen nicht mehr, deswegen sind die Anführer von heute dick geworden.“ Dabei ist klar, dass die mayora Blanca mit jedem Satz eine tiefere Bedeutung als das Profane ausspricht. Noch etwas passt ihr nicht von der aktuellen Linie mancher CRIC-Anführer*innen: „Früher hatten wir eine starke Abneigung gegen Verhandlungen mit dem Staat. Ich glaube, dass wir hier an Kraft verlieren. Ich hab immer gesagt: Wir als Indigene sind keine Bettler. Wir brauchen keine Legalität, weil wir Legitimität haben. Sie müssen uns zurückgeben, was sie uns über die vielen Jahre gestohlen haben, dafür braucht es keine Verhandlungen.“

Was sie sich für die nächsten 50 Jahre CRIC wünscht? „Manchmal denke ich: Warum sollte Kolumbien nicht auch mal einen indigenen Präsidenten haben so wie Bolivien?“

Fortsetzung aus unserer Juni-Ausgabe hier


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„DIESES KOMPLOTT MUSS AUFGEKLÄRT WERDEN“

„Der Fluss hat es mir gesagt“ Treppenbild zur Erinnerung an Berta Cáceres in Cantarranas Fotos: (COPINH)

David Castillo ist als bisher einziger Auftraggeber des Mordes an Berta Cáceres angeklagt. Wird er verurteilt werden? Welche Szenarien sind wahrscheinlich?
Die Verteidigung von David Castillo hat Verzögerungen erwirkt, um den Prozess zu umgehen und ihm und den anderen, die erst noch angeklagt werden müssten, Straffreiheit zu verschaffen. Dennoch denke ich, dass es überzeugende und unwiderlegbare Beweise gibt, die zu seiner Verurteilung führen werden. Das ist für uns das wahrscheinlichste Szenario. Uns geht es nicht um eine Verurteilung um der Verurteilung willen, stattdessen möchten wir in dem Gerichtsverfahren deutlich machen, wie systematisch die Angriffe auf Verteidigerinnen der indigenen Territorien sind. Es geht um den Kontext, in dem der Mord an Berta Cáceres stattgefunden hat. Ohne den Kontext ist es unmöglich, die Ereignisse der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 zu verstehen. Und es geht darum, dass Berta Cáceres eine weibliche Führungspersönlichkeit war, der indigenen Gemeinschaft und der sozialen Bewegungen in Honduras.

Das zweite mögliche Szenario wäre katastrophal: Es könnte einen außergerichtlichen Deal mit den Beschützern von David Castillo geben, also mit Mitgliedern der Familie Atala Zablah (Der größte Teil von DESA gehört dieser in Honduras wirtschaftlich und politisch sehr einflussreichen Familie Anm. d. Red.). Das wäre nicht verwunderlich, denn in Honduras werden viele Abkommen zur Straffreiheit durch Bestechung geschlossen. Um das zu verhindern, ist die internationale und nationale Prozessbeobachtung sehr wichtig, ebenso wie Maßnahmen, die den Prozess der Rechtsfindung schützen. Allerdings sind wir eben in Honduras, einem Land der Straflosigkeit, einem Land, in dem Dinge passieren, von denen wir manchmal denken, dass sie nicht passieren können.

Falls Castillo verurteilt wird: Gibt es dann die Chance, auch gegen weitere Auftraggeber*innen vorzugehen?
Diese Möglichkeit besteht aufgrund der internen Hierarchien des Unternehmens und der Unterordnung Castillos unter die Mehrheitsaktionäre. Allerdings hatte der Staat nie den politischen Willen, diese Ebene anzugehen. Mitglieder der Familie Atala Zablah wurden ja nicht einmal vernommen. Solange der Staat keinen politischen Willen zeigt, werden keine Beweise gesammelt, keine weiteren Untersuchungen durchgeführt. Für den Staat ist Castillo derjenige, der geopfert wird. Er wird als der Autor des Verbrechens präsentiert, als die Person, die allein über den Mord entschieden hat. Das macht uns Sorgen. Wir haben in den vergangenen Jahren Informationen über die Finanzen des Unternehmens, die wir eingefordert hatten und wofür wir im vorherigen Prozess ausgeschlossen wurden, analysiert. Wir sehen klare Auffälligkeiten, Anzeichen von Korruption, sogar von Geldwäsche. Dazu müsste viel mehr ermittelt werden. Dann könnten auch die vielen Fragen zur Realisierung des Wasserkraftwerks Agua Zarca aufgeklärt werden.

Die betrügerischen Machenschaften in Bezug auf Agua Zarca sind Teil eines weiteren Verfahrens, das als „Betrug am Gualcarque-Fluss“ bekannt ist. Gibt es einen Zusammenhang mit dem jetzigen Prozess gegen David Castillo?
Wir haben immer betont, dass die Ermordung von Berta Cáceres mit der illegalen und illegitimen Konzession für das Wasserkraftwerk Agua Zarca zusammenhing. Und genau das bringt der Fall „Betrug am Gualcarque“ ans Tageslicht: Unregelmäßigkeiten innerhalb des Konzessionsverfahrens und die Verletzung von Grundrechten bei der Umsetzung des Projekts. Eine Staatsanwaltschaft, die wirklich an einer umfassenden Gerechtigkeit interessiert wäre, hätte die Möglichkeit, neben dem Mord weitere Verbrechen aufzudecken. Es sind dieselben Eigentümer, es sind dieselben Leute, die über ihr „politisches Kapital“ sprachen und davon, dass sie Deals mit staatlichen Institutionen gemacht haben, um zu bekommen, was sie wollten.

Wird es gelingen, neben dem wirtschaftlichen auch das politisch-militärische Geflecht hinter dem Mord aufzudecken?
Viele Informationen aus Telefongesprächen fehlen in den derzeitigen Verfahren, weil sie gar nicht ausgewertet wurden. Es besteht sogar der Verdacht, dass weitere Militärs am Mord an meiner Mutter beteiligt waren. Die Ermittlungsakte des Majors Mariano Díaz Chávez wird geheim gehalten. Der Staat hat eine große Bringschuld, dieses Komplott aufzuklären, auch was die eigene Verantwortung betrifft. Zweifelsohne wurden die Auftraggeber des Mordes geschützt. Wir von COPINH meinen, dass es mindestens eine schweigende Zustimmung von Präsident Hernández gegeben haben muss.
Angesichts des Ausmaßes der Beteiligung des militärischen Nachrichtendienstes und Generalstabs an diesem Verbrechen muss er davon gewusst haben.

Was bedeutet Bertas Vermächtnis heute, wo noch viel offensichtlicher ist, dass Honduras sich in einen autoritären, diktatorischen Narco-Staat verwandelt hat und kurz davor ist, ein failed state zu werden? Welche Möglichkeiten haben die indigenen, kleinbäuerlichen und sozialen Bewegungen in dieser Situation?
Unser Land ist in einer sehr schwierigen Lage, die von großen Frustrationen und von einer sehr tiefen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise geprägt ist. Wir von COPINH bemühen uns weiter, die Kämpfe der Gemeinden zu stärken. Das ist unsere Hauptaufgabe und Verpflichtung, gerade angesichts eines Verbrechens, das uns auf organisatorischer Ebene sehr getroffen hat. Die Kämpfe zur Verteidigung der Territorien gehen auch während der Pandemie weiter. Es gab sogar lokale Aktionen, um den Bau weiterer Projekte zu verhindern oder vor der drohenden Remilitarisierung in den Gemeinden zu warnen. Gleichzeitig müssen wir etwas gegen die akute Nahrungsmittelkrise und die soziale Krise tun. Zudem versuchen wir, landesweite Bündnisse zu schmieden, was eines der Hauptanliegen meiner Mutter war. Nur dadurch können wir heute überhaupt von einer honduranischen sozialen Bewegung sprechen. Wir leisten unseren Beitrag, sagen unsere Meinung, schauen, wo es hingehen könnte, versuchen, politisches Vertrauen wiederherzustellen, das soziale Gefüge wieder aufzubauen und auch die Probleme der Gewalt anzusprechen, die so viele Organisationsräume zerstört hat.

Ich glaube, dass meine Mutter immer ein Bezugspunkt dafür sein wird, wie man verschiedene Kämpfe zusammenbringt, sowohl in territorialen als auch in großen sozialen und politischen Fragen. Sie wusste, wie wir gleichzeitig lokal Widerstand leisten, das soziale Gefüge der Menschen wieder aufbauen und landesweite und sogar internationale Aktionen planen. Wir gehen das sehr langsam an, um das Land wieder auf Kurs zu bringen. Viele Menschen denken gerade darüber nach, wie wir den fortdauernden Putsch und den diktatorischen Staat praktisch überwinden können. Vor allem auch angesichts dessen, wie die Wahlen dieses Jahr ablaufen werden und was dann übrigbleibt. Denn es ist klar, dass bei diesen Wahlen nichts wesentlich anderes herauskommen wird als bisher. Obwohl das Szenario sehr entmutigend ist, müssen wir unser Engagement mittel- und langfristig aufrechterhalten. Nur so können wir der Vision einer Neugründung von Honduras wieder näherkommen, für die Berta Cáceres stand.

Du hast deine Mutter verloren, kämpfst für umfassende Gerechtigkeit und gleichzeitig bist du ihre Nachfolgerin als Generalkoordinatorin von COPINH mit allen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die das mit sich bringt. Bleibt da noch Raum für Persönliches oder Zeit, mal durchzuatmen?
Wir versuchen immer, für unser emotionales und mentales Wohlergehen zu sorgen, denn manchmal wird die Erschöpfung einfach zu groß. Also versuchen wir, Momente des Ausgleichs zu finden. Ohne die könnten wir gar nicht mehr richtig denken. Wir machen kleine Wanderungen auf dem Land, in den Gemeinden, suchen uns ein Pferd zum Reiten. Aber es ist schon schwierig. Es ist ein sehr hektisches Leben. Ich bewundere meine Mutter jeden Tag mehr. Wie hat sie das nur gemacht, sich immer um alles zu kümmern, alles im Blick zu haben und obendrein vier Kinder zu haben? Meine jetzige Aufgabe ist das Schwerste, was ich je in meinem Leben angepackt habe. Von wegen Abschlussarbeit an der Uni… Was für eine Uni überhaupt? Aber wir gehen unseren Weg. Das Gute ist, dass mich viele Leute unterstützen. Das hilft sehr. COPINH wäre schon mehrmals am Ende gewesen, wenn ich alles allein stemmen müsste.


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40 STUNDEN ENTFÜHRT

Wieder frei Die entführten Frayba-Mitarbeiter Victorico Gálvez Pérez (links) und Lázaro Sánchez Gutiérrez (rechts) (Foto: Frayba)

Am 12. April gegen sieben Uhr morgens verlassen Lázaro Sánchez Gutiérrez und Victorico Gálvez Pérez das Frayba-Büro in San Cristóbal de Las Casas, um in einem weißen Pickup in Richtung Palenque aufzubrechen. Anlass der Reise ist ein Treffen mit Mitgliedern der indigenen Menschenrechtsorganisation PADUC und Familienangehörigen von Inhaftierten. Um ungefähr 21 Uhr abends erhält Frayba die Information, dass Sánchez Gutiérrez seine Familie von einer unbekannten Nummer aus angerufen hat. In dem Anruf teilte er mit, dass es ihm und Gálvez Pérez gute gehe, sie sich in San Felipe im Landkreis Ocosingo befänden und dass eine*r ihrer Verwandten am darauffolgenden Tag um acht Uhr morgens einen Koffer mit einer vorgegebenen Summe Geld in einem bestimmten Fahrzeug abliefern solle.

Dank einer breiten Solidaritätsbewegung aus Menschenrechtsorganisationen, politischen Gruppen, indigenen Gemeinden und Kirchen, gelingt es, die beiden Menschenrechtsverteidiger am Morgen des 14. April zu befreien. Nach über 40 Stunden der Freiheitsberaubung kehren die Entführten unversehrt zurück. Frayba hat inzwischen Sicherheitsmaßnahmen zum Selbstschutz eingeleitet. Dazu gehört auch, dass sich die kürzlich Entführten und andere Mitglieder der Organisation nicht persönlich gegenüber der Presse äußern.

Außer Frage steht, dass die jüngste Entführung zweier Menschenrechtsverteidiger mit ihrer Arbeit zusammenhängt. In der Region Ocosingo, in der die Entführung stattfand, macht Frayba die von Paramilitärs ausgeübte Gewalt sichtbar. Laut dem Rechercheportal Pie de Página dokumentierte Frayba seit August 2020 mindestens fünf Angriffe der regionalen Organisation ORCAO, einer bewaffneten Gruppe von Kaffeebauern, auf die zapatistische Gemeinde Moisés Gandhi im autonomen Landkreis Lucio Cabañas. Und das kleine Dorf San Felipe, in dem die Frayba-Mitarbeiter entführt wurden, wird mehrheitlich von ORCAO-Mitgliedern bewohnt.

„Die vom Bundesstaat Chiapas veröffentliche Angabe, bei der Freiheitsberaubung von Lázaro und Vico habe es sich um einen Verkehrsunfall in Ocosingo gehandelt, weisen wir vehement zurück“, schreibt Frayba in einer Pressemitteilung. Die offizielle Version verharmlost nicht nur Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in der Region, sondern trägt auch zur Kriminalisierung der Menschenrechtsarbeit durch den mexikanischen Staat bei.

Frayba dokumentierte am Ort der Entführung Angriffe bewaffneter Gruppen

In Chiapas, wo überwiegend indigene Bevölkerungsgruppen leben, werden Menschenrechte vor allem durch Landraub und Zwangsvertreibung verletzt. Zudem zerstören Extraktivismusprojekte und Raub von Wasserressourcen die Umwelt. Die neoliberale Politik des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador nimmt für den sogenannten wirtschaftlichen Aufschwung im sehr armen Chiapas die Zerstörung des Lebensraumes indigener Gemeinden in Kauf.

Der Einzug der 2019 gegründeten Nationalgarde in Chiapas (siehe LN 560) verschärfte Probleme der strukturellen und sexualisierten Gewalt sowie der Straflosigkeit. Die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen wie dem Verschwinden der 43 Studierenden in Ayotzinapa vor sechseinhalb Jahren (siehe LN 538) blieb hingegen ein weitgehend leeres Versprechen der Regierung. Die an den staatlichen Sicherheitsdiskurs anknüpfende Militarisierung in Chiapas richtet sich stattdessen gegen indigene Gemeinden, Landbevölkerung und zentralamerikanische Migrant*innen, die versuchen, das Land über die Grenze zu Guatemala zu erreichen.

Auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) prangert die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und die Untätigkeit der staatlichen Institutionen an. Ende April verabschiedete sie die Resolution 35/2021, die Familien in zwölf indigenen Tsotsil-Gemeinden in Chiapas Schutzmaßnahmen gewährt. Die Kommission befand, dass die Familien angesichts der Angriffe bewaffneter Gruppen von Vertreibung bedroht sind. Mit ihrer Erklärung richtet sich die CIDH an die mexikanische Regierung und fordert Maßnahmen, um die Tsotsil-Familien zu schützen.

45 Menschenrechtsverteidiger*innen wurden laut dem Netzwerk TDT in Mexiko allein zwischen 2019 und 2020 umgebracht, fünf davon in Chiapas. Die Straflosigkeit der Verbrechen verstärkt die Gefahr. Während Interventionen des Militärs Menschenrechtsarbeit erschweren, verzögern die Behörden die Aufklärung von Verbrechen. Im Falle der entführten Frayba-Mitarbeiter etwa hatten die „(…) zuständigen Landes- und Bundesbehörden von Anfang an exakte Informationen über die Fakten des Geschehens”, kommunizierten diese aber nicht, wie es in der Mitteilung von Frayba heißt.

Außer leeren Versprechen kann die Regierung bis jetzt wenig vorweisen

In diesem alarmierenden Kontext kommt die Untätigkeit des mexikanischen Staates einem Boykott der Menschenrechtsarbeit gleich. Dabei hat die Coronavirus-Pandemie den Sicherheitsdiskurs der Regierung noch verschärft. Im Namen der nationalen Sicherheit wurde eine höhere Militärpräsenz in Chiapas legitimiert, die die Dynamiken von Landraub, Gewalt und Angriffe auf indigene Gemeinden verstärkt. Menschenrechtler*innen und Organisationen wie Frayba werden in Chiapas also mehr denn je gebraucht, wenn es darum geht, an der Seite der indigenen Gemeinschaften und der ärmeren Landbevölkerung zu kämpfen, Ungerechtigkeiten anzuzeigen und Opfern von Menschenrechtsverletzungen beizustehen.


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PRIVATES PARADIES

„Sie haben uns zu keinem Zeitpunkt über die ZEDE Próspera konsultiert. Sie sprachen nur von einem Tourismuskomplex mit dem Namen North Bay, wo die Anwohner*innen aus der Gemeinde als Erste Arbeit finden würden. Aber als sie mit dem Bau des Projektes begannen, mussten wir vor dessen Einfahrt protestieren, damit die Leute von hier Arbeit bekamen“, erklärt Luisa Connor.

Luisa Connor ist Gemeinderatsvorsitzende von Crawfish Rock, ein Fischerdorf mit knapp 1.000 Einwohner*innen an der Nordküste der Insel Roatán. Connors Familie lebt wie die meisten seit Generationen hier. „Wir leben hier völlig vergessen von der Zentralregierung, aber es geht uns gut und wir sind zufrieden. Wir verlangen nichts von der Regierung, aber wir sind auch nicht damit einverstanden, dass man uns das wenige wegnehmen will, was wir haben“, so Connor. Seit die Einwohner*innen von Crawfish Rock, aber auch von anderen Orten auf Roatán verstanden haben, welche Art von Projekt auf der Insel entsteht, befürchten sie Enteignung und Vertreibung.

Zunächst hielten Crawfish Rocks Einwohner*innen North Bay (später in Próspera umbenannt) für einen weiteren touristischen Komplex, auf der Karibikinsel Roatán nichts Ungewöhnliches. Als Sonderzone für Entwicklung und Beschäftigung (ZEDE) ist Próspera jedoch in jeder Hinsicht ein neues politisch-ökonomisches Konstrukt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Schaffung der Sonderzonen wurden im September 2013 vom Parlament beschlossen, rund ein Jahr nachdem ein ähnliches Vorgängerprojekt vom Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt worden war. Da dies nicht im Sinne der Regierung war, wurden in Folge vier von fünf Richter*innen des Obersten Gerichtshofs ersetzt.

Die ZEDE sind, wie auch das vorherige, als Ciudades Modelos („Modellstädte“) bekannte Konstrukt, als halbautonome Investor*innen-Enklaven im Staat zu betrachten. Sie haben den Status von Rechtspersönlichkeiten und sind mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, zum Beispiel bezüglich der Gestaltung von Steuern, Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialsystemen. Zudem können die ZEDE ihre eigenen Gerichte und eigenen Sicherheitskräfte einsetzen. Befürchtungen, dass ein konkretes Gebiet in Honduras zur ZEDE deklariert würde, hat es in den vergangenen Jahren schon mehrfach gegeben. Eine Zeitlang war der Ort Amapala an der Pazifikküste im Gespräch. Nun scheinen die Befürchtungen aber auf Roatán zum ersten Mal wahr zu werden. Hier haben seit dem Sommer erste Bauarbeiten begonnen.

Vier von fünf Richter*innen des Obersten Gerichtshofs wurden ersetzt

Die Sonderzonen werden von Unternehmen gemanagt, im Fall von Próspera auf Roátan ist das das im US-Staat Delaware ansässige Unternehmen Honduras Próspera LLC mit dem Geschäftsführer Erick Brimen. Die Regeln der ZEDE – Charta genannt – werden vom Unternehmen selbst, beziehungsweise einem von ihm bestimmten „Technischen Sekretär“ und einem „Council“ aufgestellt und von einem Komitee für die Übernahme der besten Praktiken (CAMP) genehmigt. Letzteres ist ebenso wenig demokratisch legitimiert wie die Verwaltungsorgane der ZEDE. Das CAMP wurde vom honduranischen Präsidenten ernannt und besteht aus Personen aus dem In- und Ausland, die ebenfalls neoliberalen bis rechtslibertären Thinktanks angehören, unter ihnen die Vizepräsidentin der österreichischen Nationalbank, ehemalige FPÖ-Politikerin und Leiterin des Hayek-Instituts Barbara Kolm.

Mitbestimmung der lokalen Bevölkerung ist nicht beabsichtigt, denn die ZEDE folgen maßgeblich der Idee, Gesellschaft ließe sich besser über Marktkräfte organisieren denn über demokratische Teilhabe. Die Anthropologin Beth Geglia, die intensiv zu den ZEDE recherchiert hat, bezeichnet das politische Umfeld als „Start-up-City-Bewegung“. „In dieser Ideologie wird Regierungsführung selbst zu einer Industrie, Territorialität wird Marktbegriffen entsprechend umgestaltet. Nationalstaatliche Souveränität gilt als ein Kapital, das als Konzession an private Akteure vergeben werden kann. Regierung ist ein Service, der von einer privaten Körperschaft angeboten wird und nicht eine kollektive, von den Bürger*innen gestaltete Konstruktion. Bürger*innen werden zu Konsument*innen dieses Service und können theoretisch ‚mit ihren Füßen abstimmen‘“, erklärt Geglia. An dem Punkt, wo Territorien bereits bewohnt sind, lässt sich die vorhandene Bevölkerung allerdings schlecht in dieses Konzept einfügen. Denn wenn diese mit den Füßen abstimmt, ist das mit Vertreibung gleichzusetzen. Schon allein die Expansionspläne von Próspera, die auf der Projektseite im Internet als eine dreistufige Entwicklung präsentiert werden, werfen die Frage auf, woher all dieses Land kommen soll, wenn nicht von den Menschen, die es heute bewohnen und bewirtschaften. Die räumliche Entwicklung ist in drei Phasen geplant, in einer ersten soll auf 23,5 Hektar das Dorf Próspera mit ersten Wohnungen entstehen – hölzerne Luxusbauten, entworfen vom Londoner Architekturbüro Zaha Hadid, die auf den Bildern quasi organisch ins Meer zu fließen scheinen. Die Grundstücke für Próspera Village sind laut Projektseite bereits an die ZEDE transferiert worden. In einer zweiten und dritten Phase soll sich Próspera dann zu einer Stadt entwickeln, die neben Wohngebieten touristische Ressorts, Bildungseinrichtungen, ein Krankenhaus und Handelszentren umfassen soll. Zu dem Zeitrahmen und der geplanten Fläche der weiteren Expansion ist auf der Seite nichts zu lesen. Nach Informationen der Gemeinderatsvorsitzenden Luisa Connor sowie der Vizevorsitzenden Venessa Cardenas umfasst der Masterplan für Próspera 303 Hektar. „Woher wollen sie die weiteren Grundstücke nehmen?“ fragt Venessa Cardenas. „Wir werden ihnen unser Land nicht verkaufen.“

Das politische Umfeld gleicht einer „Start-up-City-Bewegung“

Auf dem Masterplan von Próspera sei die Gemeinde Crawfish Rock derzeit nicht mehr verzeichnet. Doch selbst wenn Prósperas Geschäftsführer Erick Brimen heute versichern würde, dass niemand enteignet werden solle, könnte das schon in ein paar Jahren anders aussehen. „Sie haben ein Gesetz, das ihnen das Privileg gibt, mein Land zu enteignen, wenn sie es brauchen. Und ihrem Plan zufolge werden sie es brauchen“, so Cardenas. Dabei könnte der honduranische Staat im Interesse der Investor*innen auftreten, sagt die Anthropologin Beth Geglia: „Das Recht zu enteignen wird Staaten normalerweise vorbehalten, wenn es um Dinge geht, die dem öffentlichen Wohl dienen. Im Gesetz über die ZEDE selbst wird alles, was mit der Entwicklung der ZEDE in Zusammenhang steht, zum öffentlichen Wohl erklärt und das beinhaltet die Expansion der ZEDE. (…) Selbst wenn die honduranische Regierung jetzt erklärt, keine Enteignungen vornehmen zu wollen, gibt es keine Garantie, dass sie das im weiteren Verlauf nicht tun wird.“

Und auch Erick Brimen macht in Bezug auf mögliche Enteignungen widersprüchliche Aussagen. Versicherte er zunächst, niemanden enteignen zu wollen, war er im September 2020 in Crawfish Rock mit den Worten zu hören: „Der honduranische Staat kann über die ZEDE als Mittler die Enteignung anordnen.“ Gegen internationales Recht würde dies allemal verstoßen, wie es auch schon die Konstitution der ZEDE auf Roatán tut. Die Einwohner*innen von Crawfish Rock gelten als Black Indigenous People of Color (BIPoC) – und genießen laut ILO-Konvention 169 besonderen Schutz und besondere Rechte. Dazu gehört das Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung, wenn es um Projekte geht, die ihre Territorien und Lebensgrundlagen betreffen. „Sie wussten, dass dies eine indigene Gemeinde ist, und dass sie uns hätten vorher konsultieren müssen, aber sie haben es nicht getan. Die Regierung hat ein Projekt in unserer Gemeinde genehmigt, mit dem Wissen, dass dies eine indigene Gemeinde ist, und sie hat uns nicht einmal darüber informiert“, sagt Cardenas. Um sich besser gegen die Pläne der Regierung und der Investor*innen zur Wehr setzen zu können, haben mehrere Gemeinden von Roatán und zivilgesellschaftliche Organisationen den Runden Tisch zur Verteidigung der Territorien der Islas de Bahía gegründet. Dieser fordert in einer öffentlichen Erklärung unter anderem eine Intervention gegen die ZEDE Próspera sowie eine öffentliche Untersuchung, wie es zu deren Genehmigung gekommen ist. Außerdem wird Aufklärung darüber gefordert, ob und wie viele weitere ZEDE auf den Islas de Bahía genehmigt worden sind.

„Unsere Gemeinde steht nicht zum Verkauf“

Die Frage nach weiteren ZEDE kommt nicht von ungefähr. Die Internetseite von Próspera bezeichnet die ZEDE auf Roatán als einen „hub“, einen Knotenpunkt in einem Netzwerk. Ein zweiter solcher Knotenpunkt könnte in der Küstenstadt La Ceiba entstehen, zumindest wenn man einer Darstellung der TUM International GmbH folgt. Die TUM International GmbH, eine Ausgründung der Technischen Universität München, und ihr Tochterunternehmen Insite Bavaria sind Partnerunternehmen des Próspera-Projekts. So lud die TUM International im Juni 2019 zu einer internationalen Investorenkonferenz über den St. Isidore Prosperity Hub nach München ein. Dieser soll nach Darstellung der TUM International auf Roatán wie auch in La Ceiba entstehen. Über feststehende und potenzielle Investor*innen der ZEDE, deren Kosten in die Milliarden gehen dürften, lassen sich indes kaum Informationen herausfinden. Diese Intransparenz scheint gewollt zu sein, erschwert sie doch gezielte Protestaktionen.

Für Luisa Connor bleibt derweil klar: „Unsere Gemeinde steht nicht zum Verkauf, die Insel steht nicht zum Verkauf und die honduranische Souveränität steht auch nicht zum Verkauf.“


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