Stich gegen Stichtagsregelung

Demo in Brasilia Indigene verteidigen ihre Rechte (Foto: Hellen Lourdes, mit freundlicher Genehmigung des CIMI, CC BY-ND2.0 DEED))

„Das ist ein großer Sieg für uns. Unser Land repräsentiert das Leben und die Kultur unseres Volkes“, kommentierte Keli Regina Caxias Popó von der indigenen Gemeinschaft der Xokleng öffentlich die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes Brasiliens (STF) zur Stichtagsregelung des Gesetzes „Marco Temporal“. Die Entscheidung des STF war mit allergrößter Spannung erwartet worden. Seit 2021 hatte der Gerichtshof mehrmals zum „Marco Temporal“ getagt. Wiederholt wurde die finale Entscheidung durch mehrmonatige Vertagungen verzögert, nachdem einzelne der Obersten Richter*innen ihr Urteil abgegeben hatten. Doch auf der Doppelsitzung am 20. und 21. September fiel dann ein überraschend deutliches Grundsatzurteil, das politischen und sozialen Sprengstoff für ganz Brasilien birgt: Mit neun zu zwei Stimmen wiesen die Richter*innen des STF die These der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ zurück.

Diese besagte, dass nur jene indigenen Territorien das verfassungsgemäße Recht auf juristische Anerkennung (Demarkation und Homologation) hätten, bei denen bewiesen werde, dass Indigene auf dem Gebiet zum Tag des Inkrafttretens der brasilianischen Verfassung – dem Stichtag 5. Oktober 1988 – lebten. Dieser Nachweis hätte bei vielen der indigenen Territorien und vor allem bei vielen der noch nicht juristisch anerkannten Gebiete nicht beigebracht werden können. In der Konsequenz – so Kritiker*innen des „Marco Temporal“ – hätte die Gefahr bestanden, dass rückwirkend 500 Jahre Landraub und Vertreibung erneut legalisiert würden.

Unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ versuchen die Zusammenschlüsse der indigenen Völker Brasiliens seit Jahren, in der Öffentlichkeit auf die Absurdität der Stichtagsregelung hinzuweisen. So schätzt der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) die juristische These des „Marco Temporal“ als verfassungswidrig ein, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, ignoriert. Darüber hinaus gab es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Denn qua Gesetzbuch standen Indigene unter staatlicher Vormundschaft, der sogenannten tutela, was erst die neue Verfassung von 1988 beendete. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebietes am 5. Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die nicht bewohnt werden, aber eine besondere kulturelle und spirituelle Bedeutung haben.

Im Urteil des STF ging es konkret um das Gebiet Ibirama La Klãnõ der indigenen Xokleng im Bundesstaat Santa Catarina, aus dem diese – infolge der massiven deutschen Einwanderung in den Süden Brasiliens – gewaltsam, äußerst brutal und menschenverachtend ab den 1850er Jahren bis in die 1930er Jahre vertrieben wurden. Die Landesumweltbehörde des Bundesstaates Santa Catarina forderte ab 2009 vor Gericht die Räumung eines 80.000 Quadratmeter großen Gebietes, auf dem heute indigene Xokleng, Kaingang und Guarani leben. Es grenzt an das im Jahre 1958 vom Staat ausgewiesene (aber noch nicht abschließend demarkierte) Gebiet der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ an. Dieses historisch von den Xokleng einerseits sowie von den Kaingang und Guarani andererseits bewohnte Gebiet wurde Ende der 1980er Jahre zusätzlich durch den Bau des Staudamms Barragem Norte beeinträchtigt, so dass die Indigenen wiederum nur ein kleineres Gebiet als ihr traditionelles Territorium beanspruchen konnten.

Die Landesumweltbehörde von Santa Catarina argumentierte in der Klage, das Gebiet stehe unter Naturschutz und müsse daher von den Indigenen geräumt werden. Auf dem Gelände befinden sich heute aber auch Tabakfarmer*innen und es sind dort Holzfirmen aktiv. Laut der Behörde hielten die Indigenen das Gebiet illegal besetzt und die Anerkennung sei als indigenes Territorium nicht rechtens, da die Indigenen am Stichtag, dem 5. Oktober 1988, nicht in dem Gebiet lebten. Daher gelte die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“. Im Jahr 2013 wandte das Bundesgericht der 4. Region (TRF-4) im Bundesstaat Santa Catarina das Kriterium der Stichtagsregelung an, indem es der Landesumwelt- behörde die Entscheidungshoheit über das Gebiet Ibirama La Klãnõ zusprach. Gegen die Entscheidung des TRF-4 legte die Indigenenbehörde des Bundes, FUNAI, beim STF Berufung ein. Im Jahr 2019 entschied der Oberste Richter Alexandre de Moraes, dass dieser Fall „strahlende Rechtskraft grundlegender Natur“ habe, so dass das vom STF zu entscheidende Urteil Grundsatzcharakter für die bis zu 200 noch anstehenden Rechtsentscheidungen in Bezug auf indigene Territorien Brasiliens entfalte.

Die Vertreter*innen der Xokleng argumentieren stets, dass sie gewaltsam aus ihren Gebieten vertrieben wurden, viele ihrer Vorfahren ermordet wurden und ihnen erst die Verfassung von 1988 das Recht auf ihr angestammtes Gebiet garantierte. Erst ab diesem Zeitpunkt konnten sie ihre historischen Territorien einfordern. „Wenn wir 1988 nicht in einem bestimmten Gebiet waren, dann heißt das nicht, dass es Niemandsland war oder dass wir nicht dort waren, weil wir es nicht wollten. Die Stichtagsregelung verfestigt eine historische Gewalt, die bis heute ihre Spuren hinterlässt“, sagte Brasílio Priprá, Sprecher der Xokleng, im Jahr 2020. Dieser Ansicht folgte nun der Oberste Gerichtshof Brasiliens.

Der Agrobusiness wird sich Enteignungen nicht gefallen lassen

„Wir haben gesiegt!“, jubelte es am 21. September in den sozialen Medien, nachdem beim Stand 5:2 der Oberste Richter Luiz Fux ebenfalls gegen die Stichtagsregelung votierte und damit mit sechs Stimmen die Mehrheit erreicht war.Doch selbst mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung sind die Konflikte nicht beigelegt – vielleicht verschärfen sie sich noch weiter. Denn der STF entschied eine Woche später, dass der Staat Entschädigungen an jene zu enteignenden Grundbesitzer*innen zahlen muss, die in der Vergangenheit in „gutem Glauben“ die Grundstücke von Vorbesitzenden erworben haben. Zudem soll sich die Entschädigung insofern eher am Marktwert orientieren, als nicht nur der bloße Grundbesitz, sondern auch die auf diesem im Lauf von Generationen geleisteten „Aufwertungen“ honoriert werden sollen. Und diese Entschädigungszahlungen sollen sofort und vor der Räumung des Gebietes erfolgen. So befürchten vor allem Indigene, dass es in der Praxis kaum zu Enteignungen kommen wird. Denn wenn es dem brasilianischen Staat im Moment an einem fehlt, sind es finanzielle Spielräume, die durch die große Haushalts- und Schuldenbremse massiv eingeschränkt werden.Dass vor allem Brasiliens Agrobusiness sich eine Enteignung – selbst bei Entschädigung – nicht so einfach gefallen lassen wird, zeigte sich genau am Tag der höchstrichterlichen Entscheidung. Denn bereits wenige Stunden bevor der STF zu seiner entscheidenden Sitzung zum „Marco Temporal“ zusammenkam, debattierte im brasilianischen Senat die Kommission für Verfassung, Justiz und Teilhabe von Bürger*innen über die Gesetzesinitiative PL 2903. Diese war unter dem Kürzel PL 490 im brasilianischen Abgeordnetenhaus am 30. Mai verabschiedet worden und definiert die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ nicht nur in Bezug auf künftige Demarkationen, sondern könnte rückwirkend auch bestehende Demarkationen juristisch angreifbar machen. Zudem beinhalten die PL 2903/PL 490 explizit die Möglichkeit, indigene Territorien gegen die Zahlung von Konzessionen an Indigene wirtschaftlich auszubeuten.

Angesichts der im STF anberaumten Abstimmung beeilten sich die dem Agrobusiness nahestehenden Senator*innen, um möglichst noch vor dem STF zu einer legislativen Entscheidung zu kommen. Dies gelang ihnen zunächst jedoch nicht, da auch im Senat Verzögerungstaktiken wie die Beantragung von Vertagungen üblich sind. Senator Randolfe Rodrigues von der an der Regierungskoalition beteiligten Partei Rede verurteilte diesen Versuch einer legislativen Hauruckaktion scharf: „Nichts rechtfertigt diese Eile, die im Widerspruch zu dem steht, was zwischen den indigenen Anführern und den Senatoren besprochen wurde. Zumal der Oberste Gerichtshof bereits über die Angelegenheit urteilt”, sagte Rodrigues in der Sitzung. Die Entscheidung in der Senatskommission wurde durch den Antrag auf Vertagung seitens der Senatorin Eliziane Gama von der Partei PSD, die ebenfalls der Regierungskoalition Lulas angehört, für sieben Tage unterbrochen. „Es besteht kein Zweifel, dass dieses Gesetz nicht in Kraft treten wird. Wir könnten über ein Gesetz abstimmen, das verfassungswidrig ist”, sagte sie im Hinblick auf die am Nachmittag anstehende Entscheidung im STF.

Doch etliche Senator*innen ließen in der Debatte in der Kommission keinen Zweifel daran, dass sie weiter mit allen Mitteln dafür kämpfen werden, dass es eine Gesetzgebung des Nationalkongresses zu einer Stichtagsregelung indigenen Landes geben werde. So stimmten im Senat genau eine Woche später (wiederum am gleichen Tag wie der STF) sowohl die zuvor vertagte Kommission als auch im Schnellverfahren das Plenum, dass die PL 2903 zum „Marco Temporal“ als Gesetz Gültigkeit habe. Dazu verhalf ihnen die große Mehrheit, die agrobusinessfreundliche Abgeordnete und Senator*innen im Nationalkongress haben. Die parteiübergreifende Fraktion der sogenannten ruralistas der FPA (Frente Parlamentar da Agropecuária) stellt 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus und im Senat zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator*innen. Die ruralistas sind damit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion im Nationalkongress.

Nun muss Präsident Lula entscheiden, ob er das Gesetz PL 2903 zum „Marco Temporal“ unterzeichnet oder ob er sein Veto einlegt. Übt er sein Veto aus und kann der Kongress in einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern das präsidentielle Veto überstimmen, dann würde der „Marco Temporal“ gelten. Etliche Senator*innen erklärten in der Debatte um die PL 2903, dass sie – und nicht der Oberste Gerichtshof – die Herrschaft über die Legislative ausübten. Es scheint, dass die konservativen Abgeordneten und Senator*innen eine schwere Verfassungskrise zwischen den drei Gewalten herbeiführen wollen: Trotz des Grundsatzurteils haben konservative Senator*innen eine Verfassungsänderung eingereicht, die explizit den „Marco Temporal“ mit Stichtag 5. Oktober 1988 als Basis für die Demarkation indigener Territorien in die Verfassung schreiben soll. Allerdings bräuchten sie dafür eine Dreifünftelmehrheit im Nationalkongress. So geht der Kampf der drei Gewalten weiter – aber die indigenen Völker Brasiliens haben gezeigt, dass sie nicht länger nur Zuschauende sein wollen.

“Die Angst ist immer da”

Gerechtigkeit für Sergio Der Aktivist aus Salitre wurde 2019 erschossen (Foto: Alke Jenss)

Costa Rica steht im deutschsprachigen Raum für Vieles: paradiesisches Tourismusziel, Pionier der erneuerbaren Energien, Land ohne Armee, sichere Zone im zentralamerikanischen Chaos. Die Realität ist, wie immer, komplexer. Was aber die Wenigsten mit dem Land verbinden, sind gewaltvolle Landkonflikte.

Im Süden Costa Ricas, in der Provinz Puntarenas, müsste man die Augen jedoch sehr fest verschließen, um diese Konflikte zu übersehen. Viehzucht und Ananasplantagen prägen die Landschaft um das Städtchen Buenos Aires. Die Plantagen grenzen fast unmittelbar an mehrere indigene Territorien an. Pablo Sibar kommt aus Térraba und gehört zur indigenen Bevölkerungsgruppe der Brörán. Er ist Koordinator des nationalen Zusammenschlusses Indigener Gemeinschaften FRENAPI (Frente Nacional de los Pueblos Indígenas).

Pablo und andere Aktivist*innen haben begonnen, sich gegen jahrzehntelang staatlich geduldete illegale Landnahmen zu wehren. Térraba, eigentlich indigenes Territorium, ist ein Flickenteppich privat bewirtschafteter Fincas und industrieller Viehzucht. Viele Nicht-Indigene bewirtschaften das Land hier seit Jahrzehnten ohne rechtliche Grundlage.

2018 haben Aktivistinnen um Pablo eine Finca besetzt, die den Nutzerinnen als Ferienhaus und Jagdgebiet diente. Die Aktivist*innen ließen sich bisher nicht wieder von dort vertreiben und nutzen die Finca, der sie den Namen Crun Shurin gaben, zur Selbstversorgung. 16 Familien teilen sich die 600 Hektar. Zunächst erreichten sie mit dem zuständigen Staatsanwalt und dem Verwalter die Abmachung, der Fall werde im Rahmen der restaurativen Justiz, einem relativ schnellen Schlichtungsverfahren verhandelt. Doch der vormalige Nutzer „konnte immer nicht teilnehmen, nicht unterschreiben, vergaß angeblich die Termine“, erinnert sich Pablo. „Kurz vor dem ersten Jahrestag, also im Januar 2019, erhielten wir den ersten Räumungsbescheid. Der Richter argumentierte, der vorige, unrechtmäßige Nutzer Eladio Ramírez habe das vorrangige Nießrecht auf den Besitz. Es gelang uns, Berufung einzulegen und so blieben wir hier auf der Finca.“ Im Mai 2019 konnten sie die verbliebenen Arbeiter*innen mit dem Vieh vom Gehen überzeugen. „Und ein Jahr später, im Jahr 2020, kamen die Ramírez, um alles zu holen, die Maschinen, die Zäune, die Tore, die Häuser, alles.“

Ein Projekt der Wiederaneignung

Das Projekt der Wiederaneignung ist auch ein Projekt der teilweisen Renaturierung. Aus Viehweiden wird Wald, Wildtiere siedeln sich wieder an. „Aquí hay vida“ („Hier gibt es Leben“), sagt Pablo Síbar. „Man sagt mir, ich sei faul, idiotisch, weil sie sagen, wir hätten die Finca ungenutzt gelassen – tatsächlich lassen wir einen Teil des Landes regenerieren. Weil das Leben etwas wert ist“. Zugleich produziert die Gruppe inzwischen genug Nahrungsmittel auf der Finca, um auch andere zu versorgen. Sie haben Orangen- und Mangobäume gepflanzt, Mais, Maniok und Nutzpflanzen wie Tiquisque. Um die zuvor wegen der Verschmutzung durch Vieh kaum nutzbaren Wasserquellen haben sie Wiederaufforstung betrieben, so dass die Finca mit Wasser versorgt ist. Pablo ist überzeugt davon, dass die langjährige und erfolgreiche Mobilisierung gegen den Diquís-Staudamm (siehe LN 537) einen harten Kern an Leuten zusammengebracht hat. Das costa-ricanische Institut für Elektrizität archivierte das Megaprojekt im Jahr 2018 nach anhaltenden Protesten. Der vorgesehene Stausee hätte an die 10 Prozent der Territorien der Teribe (Brörán) geflutet. Die Aktivist*innen haben jahrzehntelange Erfahrung in der indigenen und Umweltbewegung und kennen die entsprechenden Räume, „sie wissen zu kämpfen”, sagt eine Unterstützerin.

Das Thema der Landkämpfe reicht weit zurück: Im Jahr 1977 hatte das costa-ricanische Parlament das Gesetz zum Schutz der indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes verabschiedet und damit festgeschrieben, dass indigenes Territorium nicht einfach verkauft oder angeeignet werden kann. Die Grenzen der Territorien gelten bereits seit den 1950er Jahren, Térraba erhielt seinen gemeinschaftlichen Landtitel 1956. Keiner der späteren illegitimen Nutzer*innen des Landes kann also behaupten, in gutem Glauben gehandelt zu haben.

Staatliche Maßnahmen, die das Gesetz durchsetzen, gab es jedoch nicht. Im Gegenteil, auch der Staat beschneidet die Territorien. So wurde 2004 der Landtitel Térrabas leicht geändert und verkleinert, ohne Abstimmung mit der dort lebenden Bevölkerung. Besonders problematisch ist Folgendes: Der costa-ricanische Staat vergab die Verwaltung indigener Territorien an die sogenannte Assoziation für indigene Entwicklung ADI (Asociación de Desarrollo Indígena). Die ADI „vertritt“ und „verwaltet“ per Gesetz das indigene Gebiet, untersteht aber faktisch der staatlichen Nationalen Direktion für Entwicklung der Gemeinschaft (DINADECO) und ist somit staatlich eingesetzt. Sie „regiert“ das Territorium also auch dann, wenn eine große Mehrheit der dort Lebenden das ablehnt. In Térraba hat die ADI besonders vehement die staatstreue Idee von Fortschritt und Entwicklung durch Investitionen vertreten und den Bau des Diquís-Staudamms offen befürwortet. „Personen, die den Staudamm stark unterstützen, konnten Machtpositionen in der ADI einnehmen“, heißt es in einem Bericht an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Für die Rückgabe illegitim angeeigneten Landes an die indigene Gemeinschaft hat sich die ADI in Térraba dagegen nie eingesetzt. Ihr Präsident „ist nicht für Kulturinitiativen, er ist nicht für den Schutz der Ressourcen, er ist für nichts, was mit dem Thema Indigene zu tun hat“, sagt Paulino Nájera, der mit seiner Frau Fidelia seit Jahrzehnten Wiederaufforstung betreibt. Offenbar lässt die ADI Viehzüchter*innen auf Landstrichen ihr Vieh weiden, die von Institutionen wie dem staatlichen Wasserversorger oder der Schulverwaltung bezahlt wurden. Sie gilt als korrupt.

Das Recht auf Eigentum setzt der Staat sehr selektiv durch; die Rechte der Indigenen scheinen zweitrangig. Seit den 70er-Jahren versuchen die Gemeinden vor den Gerichten die Durchsetzung des Gesetzes zu erreichen, auch wenn internationale Instrumente wie die ILO-Konvention 169 in der Rechtsprechung zu den Besetzungen langsam Anwendung finden. 2010 hatte die Polizei einige der Aktivist*innen, die heute auf der Finca Crun Shurin leben, aus dem Parlamentsgebäude geworfen, weil sie dieses besetzen wollten bis ein Gesetz für indigene Autonomie verabschiedet würde. „Als der Staat uns aus dem Parlament schleifte, entschieden wir: sollen sie uns doch von unserem Land schleifen, wir holen uns dieses Land zurück“, so Pablo. Eine Räumung von Crun Shurin scheint faktisch noch immer möglich, auch wenn dies eigentlich indigenes Territorium ist: „Die Angst ist immer da.“

Diese Angst ist nicht unbegründet, denn die Aktivist*innen sind immer wieder direkter Gewalt ausgesetzt. 2020 zirkulierte ein Video mit rassistischen Drohungen: „Hoffentlich kommt bald jemand an die Regierung, der die Hosen anhat, um sie zu jagen und ein für alle Mal aus unserem Land zu werfen“, hieß es dort. Am 13. und 14. März 2021 erhielten Pablo und andere Aktivist*innen zum wiederholten Male Morddrohungen und rassistische Verleumdungen. Einer der Accounts, von denen die Drohungen kamen, gehörte einem Mitarbeiter eines Landbesetzers. Im Juli 2020 hatte ein anderer Arbeiter versucht, Pablo umzufahren. Jehry Rivera, ein weiterer Aktivist aus Térraba, war nur ein paar Monate zuvor, am 24. Februar 2020, ermordet worden. Sergio Rojas Ortiz, langjähriger Wegbegleiter von Pablo Síbar aus dem nahen Salitre, wurde am 18. März 2019 in seinem Haus erschossen.

Erst Ende Februar 2023 sprach ein Strafgericht der Region in Pérez Zeledon Juan Eduardo Varela als Mörder von Jehry schuldig. Er habe vorsätzlich gehandelt. Varela hatte im August 2022 öffentlich gesagt: „Ich war es, der ihn umgebracht hat“. Am 17. Juli setzte das Berufungsgericht diesen einzigen Verdächtigen wegen angeblicher Formfehler allerdings wieder auf freien Fuß. Audionachrichten kursierten, in denen Viehzüchter die Annullierung des Urteils feierten. Bei Jehrys Familie und Aktivist*innen wie Pablo Síbar bleibt das Gefühl zurück, dass der costa-ricanische Staat sie nicht vor Gewalt schützt, sondern diese durch Großprojekte eher noch befördert.

Die aktuelle Politik verspricht Verunsicherung

Die aktuelle Regierungspolitik verspricht diese Verunsicherung, die viele Lateinamerikaner*innen teilen, weiter voranzutreiben. Costa Rica durchlebt eine Haushaltskrise, da diverse Schuldenposten 2023 fällig werden. Diese machen über ein Fünftel des Haushaltes aus, für Zinsen ist ein weiteres Fünftel vorgesehen. Präsident Rodrigo Chaves setzt neben Austerität auf liberalisierende Wirtschaftsmaßnahmen. Chaves hat zudem die indigenen Gemeinden dazu aufgerufen, keine Landrücknahmen mehr durchzuführen, da diese eine „feindselige Stimmung schaffen“ würden. Sie „schüren Gewalt“, sagte ausgerechnet der Vizeminister für Gerechtigkeit und Frieden, Sergio Sevilla, im November 2022. Auf einer Reise ins südliche Costa Rica im Februar bestärkte Chaves die ADI als Repräsentationskanal für die indigenen Gemeinden und ignorierte deren Kritik. Der staatliche Plan zur Rückgabe von Land, den es durchaus gibt, hat seit Jahren keine Fortschritte gesehen. Geld gibt es hierfür kaum.

“Morddrohungen gab es im letzten Jahr keine mehr”, sagt Pablo. Er vermutet, die aufgeheizte Stimmung sei etwas abgeflaut, da sie in Térraba keine weiteren Landrücknahmen versucht hätten. Dem Bild von Costa Rica als demokratischer, friedlicher Ausnahmestaat in Zentralamerika verleiht Pablos Geschichte dennoch tiefe Risse.

Der Zeit voraus gewesen

Damals vor dem Ende, heute endlich vor der Volksabstimmung LN-Cover aus 2013 mit Titelspruch zur Yasuní-Itt-Initiative

Ein Viertel der Erdölreserven des Landes im Boden lassen, um CO2-Emissionen zu vermeiden und einen Nationalpark zu schützen – diesen Vorschlag machte im Jahr 2007 Ecuadors damaliger Präsident Rafael Correa. Statt Erdöl zu fördern, wollte er die besondere biologische Vielfalt des Yasuní-Nationalparks und die Heimat mehrerer indigener Gemeinschaften erhalten. Im Gegenzug sollten die Länder des globalen Nordens die Hälfte der prognostizierten Erdöleinnahmen auf ein Treuhandkonto einzahlen. Das Geld wollte Correa in soziale Entwicklung und eine nachhaltige Wirtschaft investieren.

Initiator dieser sogenannten Yasuní-ITT-Initiative war Correas Energieminister Alberto Acosta. Er leitete außerdem zeitweise die Ausarbeitung der 2008 verabschiedeten neuen Verfassung Ecuadors, die das Prinzip des „guten Lebens“ (auf Quechua Sumak kawsay) zum Staatsziel machte. Indigene Konzepte bekamen mit ihr Verfassungsrang und Yasuní-ITT sollte die abstrakten Prinzipien in konkrete Politik umsetzen.

Die Initiative war damals ihrer Zeit voraus. Sie machte die Einschränkung bzw. das Ende des fossilen Extraktivismus zur offiziellen Regierungspolitik eines Landes – Jahre bevor hierzulande Bewegungen wie Fridays for Future oder die Letzte Generation begannen, gegen den Klimawandel zu mobilisieren. Auch die heutigen Vorschläge der Debt for Climate Bewegung nahm Yasuní-ITT vorweg. Die Bewegung fordert, dass der globale Norden, der Jahrhunderte lang auf Kosten der Länder des globalen Südens wuchs, diesen die Schulden erlassen solle. So wäre der globale Süden auch nicht mehr darauf angewiesen, fossile Rohstoffreserven auszubeuten.

Yasuní-ITT war einzigartig und revolutionär, weil es mit dem für Klima- und Naturschutz nachteiligen Wachstumsdenken brach. Es war das „Richtige im Falschen“, wie die LN damals analysierten. Von Deutschland gab es jedoch „kein Geld fürs Nichtstun“, denn der damalige deutsche Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) zog Deutschlands schon erteilte Zusage zum Projekt mit dieser Aussage wieder zurück. 2013 verkündete Präsident Correa, dass die Initiative gescheitert war: Nur 335 Millionen Dollar waren zugesagt und lediglich 13,3 Millionen tatsächlich gezahlt worden. Deutschlands Beitrag hätte einen wesentlichen Unterschied gemacht. Die Mitverantwortung an der vertanen Chance ist peinlich, aus heutiger Sicht noch mehr als damals.

In anderen Ländern kamen linke Regierungen gar nicht erst so weit wie die Regierung Correas: Evo Morales in Bolivien und später Gabriel Boric in Chile hielten am Extraktivismus fest. Ob es bei Gustavo Petros Regierung in Kolumbien anders läuft, bleibt abzuwarten. Doch Skepsis ist angebracht, denn fossile Rohstoffe wie Öl, Lithium, Gas, Kupfer oder Kohle speisen die Staatshaushalte Lateinamerikas und darauf können auch linke Regierungen bisher nicht verzichten.

Dennoch hat die Initiative etwas bewegt. Correas Absage an Yasuní-ITT führte dazu, dass eine breite zivilgesellschaftliche Protestbewegung entstand: die Yasunidos. Obwohl die Regierung sie schikanierte und unterdrückte, sammelte die Organisation über 750.000 Unterschriften für ein Referendum über Yasuní-ITT. Die meisten Stimmen annullierte der politisch nicht unabhängige Wahlrat, doch Anfang Mai 2023 genehmigte das Verfassungsgericht Ecuadors die Volksabstimmung schließlich – nach zehn Jahren des Kampfes. Sie wird zeitgleich mit den von Präsident Lasso angesetzten Neuwahlen im August 2023 stattfinden. Das alles zeigt: Beharrlichkeit fördert zuweilen Gelingen.

Martin Schäfer ist seit 2018 Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für die Kämpfe indigener Bewegungen
Ginette Haußmann ist seit 2023 Mitglied der LN-Redaktion und möchte Menschen durch Sprache begeistern

Eine Krise jagt die nächste

Chaco Salteño Wichí-Frauen im Protestcamp von Misión Chaqueña und Carboncito (Foto: Naomi Henning)

Das Waldstück, in dem sich das Protestcamp befindet, wurde im vergangenen Jahr ohne Konsultation mit den indigenen Gemeinden verkauft. Der „sogenannte Eigentümer“ (supuesto dueño), wie ihn die Wichí-Frauen nennen, versucht seither, mit dem Holzverkauf Geld zu verdienen. Mithilfe eines Anwalts soll aufgeklärt werden, woher dieser neue Landnutzer mit einem Besitztitel wie aus dem Nichts erscheinen konnte.

„Wir wollen vor allem verhindern, dass er den Wald einzäunt“ ,so Lucy Gutierrez, eine der Initiator*innen des Protestcamps. Denn das Einzäunen ist der erste sichtbare Schritt hin zur Privatisierung gemeinschaftlich genutzter Ressourcen. Die Frauen des Protestcamps erklären, warum die verschiedenen Bäume und Pflanzen des Waldes und der freie Zugang zu ihnen so existenziell wichtig sind: Das Hartholz wird für den Möbelbau benötigt, das Brennholz zum Kochen. Aus der Chaguar-Pflanze fertigen die Weber*innen der Wichí kunstvolle Textilprodukte. Bäume wie der Mistól und der Algarrobo sind eine wichtige Nahrungsquelle für die indigene Bevölkerung dieses Gebiets, die bis vor wenigen Generationen nomadisch im und vom Wald lebte. Diese Praktiken sind bis heute wichtiger Teil der kulturellen und materiellen Existenz der Wichí. „Der Wald ist unsere Apotheke“, erklärt Lucío Palavesino und zeigt auf verschiedene Büsche und Bäume, deren Blätter gegen Verdauungskrankheiten oder Fieber helfen. Doch diese Ressourcen des Waldes verschwinden nach und nach. Das Wissen über die Pflanzen und Tiere und die nachhaltige Nutzung des Waldes gehe immer weiter verloren, da die jüngere Generation kein Interesse mehr daran habe. Trotzdem würden sie alles tun, um die Zerstörung des Waldes aufzuhalten – wenn nötig mit direkter Aktion und Körpereinsatz.„Wir wollen hier keine Finca, die alles abholzt und uns mit Agrargiften besprüht“, erklärt Lucy. „Wir sehen das in der Umgebung in den anderen Dörfern, wo es Menschen mit Hautproblemen oder Missbildungen gibt.“

Der Einsatz von Pestiziden führt bei Kindern zu Durchfall und Erbrechen

Allein seit dem Jahr 2000 wurde ein Viertel der Waldflächen des Gran Chaco abgeholzt. Ab 2007 trat in Argentinien zwar ein nationales Waldschutzgesetz in Kraft, doch die Abholzung schreitet weiter voran, wenn auch etwas verlangsamt. Was auf den Verlust des gemeinschaftlich genutzten Waldes folgt, lässt sich in der comunidad La Esperanza, einige Kilometer weiter westlich beobachten. Bis hier ist die Abholzungswelle entlang der Nationalstraße 53 vorgedrungen. Das war vor etwa 15 Jahren, berichtet Mario Molina, cacique (indigener Anführer) der kleinen Wichí-Gemeinde. Auf mehreren Seiten seien sie heute von Soja-, Mais- und Erbsenfeldern umgeben. Während der Saatperiode werden hier, nur wenige Meter von der Siedlung entfernt, Pestizide versprüht, die vor allem bei den Kindern zu Reaktionen wie Durchfall und Erbrechen führen. Die Bewohner*innen von La Esperanza leiden unter Haut- und Atemwegsproblemen. In dieser kleinen Siedlung von nur 30 Familien gibt es sieben Fälle von Missbildungen bei Kindern. Immer wieder hätten sie die Pestizidvergiftungen angezeigt, doch bisher habe die Justiz nicht reagiert.

In der kleinen Gemeinde gibt es so gut wie keine medizinische Versorgung und die Familien fühlen sich mit den teils schweren Gesundheitsproblemen völlig allein gelassen. Ihnen sei mit dem Wald auch die Bewegungsfreiheit und ein Teil ihrer Grundversorgung genommen worden, so Molina. Heute seien sie weitaus mehr auf Geld für Lebensmittel und Medikamente angewiesen, doch es gibt keine Arbeit in der industriellen Landwirtschaft. Viele an Ortschaften angrenzende Fincas sind dazu übergegangen, die Pestizide im Schutz der Dunkelheit auf den Feldern auszubringen. Das berichten auch die Bewohner*innen der comunidades O KaPukie und Quebracho am Rand der weiter nördlich gelegenen Stadt Tartagal. Vor Kurzem stellten sich die Menschen hier einem Sprühfahrzeug in den Weg, nachdem der Chemikalien-Gestank vom benachbarten Sojafeld sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Viele der Beteiligten litten danach unter Erbrechen und Schwindel. Auch aus den comunidades in der Umgebung wird immer häufiger über Hautprobleme, Krebskrankheiten sowie Fehl- und Frühgeburten berichtet.

An der Ruta 34 Ein von der Abholzung verschonter Palo Borracho (Foto: Naomi Henning)

Die tropische Stadt Tartagal liegt am Rand der Chaco-Ökoregion, das zweitgrößte Waldgebiet Südamerikas und ein sogenannter Entwaldungs-Hotspot. Knapp 60 Kilometer von der Grenze zu Bolivien entfernt, ist Tartagal eine Durchgangszone für eine Vielzahl legaler und illegaler Güter und zugleich ein Ort von immenser kultureller Vielfalt. Hier leben Nachfahren unterschiedlicher Gruppen von Einwander*innen zusammen mit Menschen aus sieben verschiedenen indigenen Völkern. Die nordsüdlich verlaufende Ruta 34 und die nach Osten aus der Stadt führende Ruta 86 sind zugleich die Achsen, entlang derer sich die Abholzung und das System des Monokulturanbaus in den vergangenen Jahrzehnten vorangeschoben hat. Hier lassen sich der argentinische Agrarextraktivismus,die export- und profitgetriebene Produktion für den Weltmarkt wie unter einem Brennglas beobachten. Entlang der Ausfallstraßen siedeln sich die an, die aus dem Zentrum der Stadt und den traditionell genutzten Territorien im Hinterland verdrängt wurden. So wachsen die informellen Siedlungen um Tartagal, viele ohne Anschluss an die städtische Infrastruktur und Zugriff auf sauberes Trinkwasser, im Zustand einer fortgesetzten Ernährungs -und Gesundheitskrise. Hier folgt eine Krise auf die nächste, berichtet Araceli Gorgal, eine junge Ärztin aus der Provinz Buenos Aires, die in Tartagal ihren sozial-medizinischen Praxisaufenthalt absolviert. Vor allem das Thema Ernährung müsse als erstes angegangen werden.

Noch immer sterben jedes Jahr Kinder in den indigenen comunidades im Norden Saltas an der Kombination von Mangelernährung und Durchfallerkrankungen. Dies geschieht vor allem in der Regenzeit im Januar und Februar, wenn die Belastung durch Krankheitserreger hoch ist. Die Wasserkrise scheint im dritten und besonders extremen Dürre-Sommer Anfang 2023 auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt. Das betrifft nicht nur die indigene Bevölkerung Saltas, sondern alle Menschen in der Region, die in prekären Konditionen leben und von den staatlichen Institutionen im Stich gelassen werden. Auch die Criollo-Bevölkerung – Nachfahren der aus Europa eingewanderten Siedler*innen – kämpft um den Zugang zu grundlegenden Infrastrukturen wie Trinkwasser, Elektrizität und sichere Landtitel. Die Konstruktion der indigenen Bevölkerung als alleiniges Opfer sehe sie daher kritisch, betont Gorgal.

Zugleich muss jedoch deren besondere Situation in den Blick genommen werden. Viele der Menschen aus den indigenen comunidades im Norden Argentiniens sind mit einem radikalen und plötzlichen kulturellen Wandel durch die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft und den Verlust des Waldes als Subsistenzgrundlage konfrontiert. Die Veränderung in Lebensweise und Ernährung, die damit einherging, bildet den Hintergrund der Gesundheitskrise, die die Menschen in Tartagal und im Umland täglich begleitet.

Entlang der Ruta 86 und in den barrios, in denen Araceli Gorgal unterwegs ist, um den Gesundheitszustand in den comunidades zu dokumentieren, sehe sie viele Kinder mit Übergewicht und gleichzeitig Symptome fortschreitender chronischer Unterernährung. Dies sind überregionale Phänomene von Armut und eines grundlegenden Nährstoffmangels, der oft mit dem übermäßigen Konsum von fett-, zucker- und kohlehydratreicher Ernährung zusammenfällt. „Erst nehmen sie uns das Land weg und jetzt killen sie uns mit Zucker“, so formuliert es Lucy Gutierrez. Die Folgen zeigen sich in einer starken Zunahme von Diabetes Typ 2 und Entzündungen des Verdauungstraktes. Dahinter stehen andere Prozesse wie die Zunahme von häuslicher Gewalt, Schwangerschaften bei Teenagern und eine Welle von Alkohol- und Drogenkonsum, die viele der Jugendlichen mit sich reißt.

Die Regierung von Präsident Fernández befindet sich in einer Zwangssituation

Die Provinz beschränkt sich vor allem darauf, Symptome zu bekämpfen. Lastwagen mit Trinkwasser und Nahrungspaketen rattern über die Landstraßen, um die Grundversorgung der ärmsten Teile der Bevölkerung sicherzustellen. In umgekehrter Richtung werden die gemästeten Rinder des Agrarkonzerns Desdelsur tagtäglich in Richtung Schlachthof abtransportiert. Während der Erntezeit verlassen mit Sojabohnen gefüllte LKWs bei Tag und bei Nacht diese Zone. Ein hochentwickelter und technisierter Agrarsektor produziert hier Proteine für den Weltmarkt, während der Hunger in der argentinischen Bevölkerung allein zwischen 2019 und 2021 um 30 Prozent zugenommen hat. 43 Prozent der Argentinier*innen leben unter der Armutsgrenze. Hier im äußersten Norden des Landes fallen diese immanenten Widersprüche des argentinischen Rohstoff-Exportsystems besonders krass ins Auge.

Die peronistische Regierung von Alberto Fernández befindet sich in einer Zwangssituation. Eine Inflation von 104 Prozent und die erdrückende Dollar-Schuldenlast machen es nicht leichter, ein Agrarsystem zu reformieren, das sich so effizient zur Beschaffung von Devisen ausnutzen lässt. Zum anderen zementieren die seit jeher konservativen lokalen Machtstrukturen die eklatanten Mängel in der strukturellen Versorgung und die soziale Ungleichheit.

Der durch die Dürre verursachte Einbruch der Agrarexporte in der aktuellen Saison zeigt jedoch die Fragilität eines solchen Entwicklungsmodells auf. Eine systematische Förderung der kleinbäuerlichen Produktion, öffentliche Investitionen und die Eindämmung der ökologischen und sozialen Lasten durch die industrielle Landwirtschaft wären dringend notwendig, um den multiplen Krisen im Chaco Salteño zu begegnen. Die Kontinuität der kolonialen Enteignung der ursprünglichen Bevölkerung der Region und die historischen Widersprüche in der argentinischen Klassengesellschaft wären damit jedoch noch lange nicht aufgelöst.

“KÖNNEN WIR NOCH WEITERE VIER JAHRE SO LEBEN?”

Foto: Katie Mähler @katie_maehler

Anfang Oktober sind Wahlen in Brasilien. Welche Erwartungen habt ihr mit Blick auf dieses Ereignis?
Alice: Ich hoffe sehr, dass ein anderer Kandidat als Bolsonaro gewinnt. Ich habe natürlich meine Präferenzen und konkrete Vorstellungen für die Zukunft, aber wie heißt es so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch wenn ein Kandidat erklärt, die indigenen Völker zu unterstützen, bedeutet das nicht unbedingt viel. Wir benötigen konkrete Aktionen. Während der Vorgängerregierungen hatten wir bereits bemerkt, dass es zwischen der indigenen Bewegung und der brasilianischen Politik eine tiefe Spaltung gibt. Und das müssen wir ein für alle Mal verändern. Ich hoffe wirklich sehr, dass die neue Regierung kompromissbereit sein wird und Verantwortung übernimmt. Denn bei Wahlkundgebungen ist es sehr einfach, Unterstützung zu zeigen. Doch sie in die Praxis umzusetzen und das Leben der Indigenen etwas zu erleichtern sowie endlich die Anerkennung der indigenen Territorien umzusetzen, das wäre für uns alle ideal.

Wie sind eure Erfahrungen als indigene Frauen und politische Führungspersönlichkeiten der Pataxó und der Uru Eu Wau Wau?
Tejubi: Bisher ist das eine gute Erfahrung für mich. Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ich als Vertreterin meines Volkes so weit gereist bin. Dass meine Tochter so weit weg ist, macht mir etwas Angst, weil ich oft an die Invasionen in unser Land denke und weiß, dass immer etwas Schlimmes passieren kann. Ich muss aber sagen, dass es nicht immer einfach war, mein Volk zu vertreten, denn ich wurde häufig diskriminiert und habe gehört, dass Frauen diese Aufgaben nicht übernehmen können. Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass wir es doch können.
Alice: Das ist ein extrem komplexes Thema. Wir sprechen von indigenen Völkern, die immer noch vom Patriarchat und gewissermaßen auch vom Machismo dominiert werden. Die Pataxós haben heute eine größere Offenheit, so sehe ich es, da es seit vielen Jahren Frauen gibt, die Führungspersönlichkeiten und Caciques sind. Diese Entwicklung nimmt zu. Heute sehe ich mehr Mädchen, die sich in politischen Räumen beteiligen und ihre Communities vertreten können. Das ist auch für uns sehr wichtig, denn wir bewegen uns von einer Position, in der wir nur als Frauen oder Mütter gesehen werden, zu einer anderen, in der wir eine politische, individuelle Person sein dürfen. Dabei geht es nicht nur um Zugang zur Politik, sondern auch um andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Studium. Das stärkt alle indigenen Frauen.

Wie blickt ihr auf die indigenen Kämpfe der letzten Jahre, in denen die Regierung Bolsonaro die territorialen Besetzungen und den Genozid an den indigenen Völkern vorangetrieben hat?
Alice: Der Genozid ist das Hauptmerkmal der Regierung von Bolsonaro. Ich habe noch nie eine solche Gesetzlosigkeit erlebt, sie erstickt die indigene Bevölkerung langsam. Die Suizidrate von Indigenen ist gestiegen, ebenso wie die von LGBT. Die Lage ist chaotisch, vor allem in Bezug auf die Pandemie. Es macht uns extrem traurig – umso mehr, wenn wir daran denken, dass Bolsonaro erneut kandidieren will. Falls er gewinnt, was werden wir tun, um mit seiner Politik umgehen zu können? Denn ehrlich gesagt, ist der Schaden nach vier Jahren seiner Regierung äußerst groß. Ich frage mich, ob wir noch weitere vier Jahre so leben können.
Tejubi: Seit Bolsonaro an der Macht ist, stellen alle fest, dass die Besetzungen in den indigenen Territorien beträchtlich zugenommen haben. Ich denke gerade an eine Geschichte, die bei uns passiert ist. Einige Invasoren sind in unser Land eingedrungen. Meine Verwandten sind zu ihnen gegangen und haben von ihnen gehört: „Das ist ein Befehl von oben. Wichtige Menschen haben uns erlaubt, das Land hier zu besetzen”. Wir Indigene und viele andere Brasilianer haben nur Probleme seit dem Beginn von Bolsonaros Amtszeit. Aber manche nehmen die Katastrophe nicht wahr, denn die Mehrheit seiner Unterstützer besitzen Land und Vieh und befürworten die Abschaffung indigener Territorien völlig.
Alice: Die Regierung Bolsonaro verfolgt eine politische Agenda, die sich gegen die indigenen Völker richtet und gegen die Menschen aus Favelas. Es ist für uns sehr schwer zu akzeptieren, dass das bestehende brasilianische System nur weiße Personen berücksichtigt, die über Privilegien und Ressourcen verfügen. Alle Vorstellungen von Entwicklung, die aktuell von der Regierung vertreten werden, basieren darauf. Auf Geld, auf Entwaldung, kurz: auf allem, was wir bekämpfen und seit langem versuchen zu verändern.

Welche Rolle spielte der digitale Aktivismus in euren politischen Kämpfen?
Alice: Ich arbeite heutzutage mit sozialen Medien. Sie sind ein Werkzeug mit großem Potenzial, das der indigenen Bewegung viel geben kann, denn sie dienen dazu, Menschen, die keinen Zugang zu unseren Communities haben, über unsere Bewegung und unsere Realität zu infor-*mieren. Es gibt eine riesige, nicht nur geographische, Distanz zwischen indigenen Dörfern und den Städten in Brasilien und dies hat natürlich Konsequenzen. Wir müssen aber gut aufpassen, denn dieses Werkzeug hat andererseits auch negative Effekte. Es gibt eine neue Generation, die langsam diesen virtuellen Raum besetzt, der ursprünglich nicht für uns geschaffen worden ist. Hier in Deutschland und Europa ist das Engagement über die sozialen Medien sehr stark, viele zeigen großes Interesse für die indigene Bewegung in Brasilien. Diese Annäherung wurde nur dank des Internets ermöglicht.
Tejubi: Alice ist die Influencerin von uns beiden (Gelächter).
Alice: Ich sehe mich nicht als Influencerin, denn ich beeinflusse Menschen nicht. Vielmehr kläre ich sie auf, denn das interessiert mich. Ich will nicht sagen, was die anderen tun sollten. “Influence” ist ein Begriff, der für die Kommerzialisierung konzipiert wurde und ich denke einfach anders.
Tejubi: Das Internet war für uns von Uru Eu Wau Wau sehr wichtig, denn so konnten wir etwas bekannter werden. Wir haben gelernt, Drohnen und GPS zu nutzen, um ein Harpyie-Nest (seltener, tropischer Greifvogel, der in den höchsten Baumkronen nistet, Anm. d. Red.) zu beobachten. Dies haben wir der FUNAI (Nationale Behörde für Indigene, Anm. d. Red.) gezeigt, um zu dokumentieren, dass dort Entwaldung stattfindet. Obwohl sie dem widersprochen haben – sie wären dort gewesen und hätten nichts gefunden, sagten sie – haben wir angefangen zu posten, was in unserem Territorium geschieht, und hoffen nun, dass uns dies helfen kann.

Wie stellt ihr euch das Engagement der jungen Generationen gegen die Entwaldung und für die Umwelt vor?
Alice: Junge Menschen können etwas tun, auch auf autonome Art und Weise. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass die Jugendlichen von heute die Führungsfiguren von morgen sein werden. In dieser Hinsicht ist unsere Bewegung sehr gewachsen und das ist extrem positiv. Ich hoffe, dass wir mehr Zugang zu Möglichkeiten erhalten sowie weniger Vorurteile und Diskriminierungen erleben werden, denn wir sind dagegen nicht immun. Unsere Jugend braucht auch mehr Engagement der neuen Generationen anderer Länder, um die echten Probleme besser angehen zu können.

In Bezug auf eure Reise nach Europa: Wie schätzt ihr die Möglichkeiten ein, mit internationalen Akteuren zu kooperieren?
Tejubi: Ich hoffe, dass unsere Reise nach Europa positive Folgen haben wird. Mein Volk würde sich sehr darüber freuen, wenn ich mit konkreten Ergebnissen zurückkehren könnte. Ich denke dabei an die Ermordung zweier meiner Onkel, die keine juristischen Konsequenzen hatte. Der eine war Lehrer und Mitglied einer Monitoring-Gruppe, er wurde vor zwei Jahren ermordet. Der andere erst vor drei Monaten, wahrscheinlich von einem Goldgräber in Guajará-Mirim. Wir haben dazu noch nichts erfahren, weder von Seiten der FUNAI, noch der Polizei. Es ist sehr schwierig für mich, wenn mich meine Großmutter fragt, ob ich hier schon etwas erreichen konnte, um die Verbrechen aufzuklären.
Alice: Ich finde es auf jeden Fall positiv und notwendig, die Realität unseres Kampfes in einem internationalen Kontext darstellen zu können. Beispielsweise können durch Kunst unsere Gefühle und andere Aspekte unserer Bewegung sehr effektiv kommuniziert werden. Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr Raum in der nationalen wie internationalen Politik einnehmen konnten, kommen wir in vielerlei Hinsicht immer noch zuletzt, was sehr schade ist.

DER KAMPF UM HARMONIE

CRIC „Wir befreien das Land für alle Lebewesen“ (Foto: Katherine Rodriguez)

Für die Sicherheit in der Gemeinschaft ist die Guardia Indígena (indigene Selbstverteidigung) zuständig, die in den indigenen Gemeinden die Polizei ersetzt: Die Guardia ist unbewaffnet und gewaltfrei, viele ihrer Mitglieder sind Kinder und Jugendliche, die auch unter den Älteren große Autorität genießen. Jede Familie stellt ein Mitglied, so dass der CRIC 20.000 Guardias zählt.

Bei der Jubiläumsveranstaltung schickt die Guardia nachts die Partygäste ins Bett, damit der Lärm die Ruhebedürftigen nicht stört und morgens um sechs Uhr weckt sie die gesamte versammelte Gemeinde mit Musik und lauten Rufen. Die Guardia steht als erstes auf und geht als letztes ins Bett, sie ist ein Vorbild an Disziplin und Einsatz für die Gemeinschaft.

Das Geld aus der Schattenökonomie ist der Treibstoff des Konflikts in Kolumbien

Die Guardia ist auch für die Verteidigung der Gemeinde nach außen zuständig: Im Cauca streiten sich das staatliche Militär, paramilitärische Gruppen und Deserteur*innen der FARC-Guerrilla, die sich wieder bewaffnet haben, um die Kontrolle der für den Drogenhandel strategisch wichtigen Region. Zum einen eignen sich die klimatischen Bedingungen hervorragend zum Anbau von Koka, Marihuana und Mohn, zum anderen ist besonders der nördliche Cauca ein wichtiger Schmuggelkorridor zum Hafen von Buenaventura, über den die Drogen in die Welt exportiert werden.

Das Geld aus der Schattenökonomie ist der Treibstoff des Konflikts in Kolumbien. Alle Konfliktparteien sind auf der Suche nach jugendlichen Kämpfer*innen, die sie auf aggressive Weise in den ländlichen Gemeinden rekrutieren – teilweise mit Zwang, teilweise mit Geld. Der Hunger und mangelnde Perspektiven treiben Massen von Minderjährigen und jungen Erwachsenen in die Hände der Todeskommandos.

Die unbewaffnete Guardia Indígena ist der radikalste Versuch, der Gewalt entgegenzutreten. Mit einem Holzstab gegen eine AK-47.

Die Menschen im CRIC sterben für ihre Überzeugung zur Gewaltfreiheit: 107 ihrer Anführer*innen wurden allein 2020 ermordet.

Während der Geburtstagsfeier des CRIC kreisen Hubschrauber der kolumbianischen Armee über dem Gelände und vor der nächstgelegenen Polizeistation stehen Panzerfahrzeuge der Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD; so als seien die unbewaffneten Indigenen die Bedrohung.

Stattdessen ist die Rolle des Staates fraglich: Wie kann es sein, dass täglich tausende Kilo Marihuana unbehelligt über die Landstraße an den Militär- und Polizeistationen vorbei transportiert werden?

Stück für Stück droht der Drogenanbau und die damit verbundene Gewalt das autonome indigene Projekt von innen auszuhöhlen. Besonders schmerzhaft ist, dass manche Anführer der bewaffneten Gruppen selbst Nasa sind, die in den Gemeinden aufwuchsen. Nachts leuchten an den Hängen in den Reservaten hunderte Laternen zur künstlichen Belichtung der Cannabisplantagen.

Fredy Campo hat die Nase voll und ruft mit seiner Gemeinde zur Selbstverteidigung und zu einer klaren Haltung gegen den Drogenhandel auf. Sein Territorium Sa’th Tama Kiwe hat sämtliche Cannabispflanzen zerstört und damit den Zorn der Bewaffneten auf sich gezogen. Gemeindemitglieder wurden bedroht, verfolgt und ermordet, aber sie haben sich gewehrt. „Wenn ein bewaffneter Akteur unser Gebiet betritt, dann kommt er nicht mehr heraus“, erklärt Ex-Gouverneur Fredy Campo kämpferisch. Als zuletzt ein Gemeindemitglied ermordet wurde, ermittelte die Guardia Indígena den Täter und nahm ihn fest, so dass er von der Gemeinde verurteilt werden konnte. Ein anderes Mal verfolgte die gesamte Gemeinde – knapp 1.000 Menschen – eine Gruppe von acht bewaffneten FARC-Deserteur*innen, die sich gegenüber der Masse ergaben. Die Gemeinde schmolz ihre Waffen ein und schickte die Indigenen unter ihnen in ein eigenes Rehabilitationszentrum, wo sie Gemeinschaftsarbeit leisten müssen und Impulse für eine politische und spirituelle Orientierung erhalten, um sich später wieder in die Gemeinschaft integrieren zu können. Die anderen Festgenommenen übergab die Gemeinde an staatliche Gefängnisse.

Die Rolle des Staates ist fraglich

„Wenn jemand schießt, erschrecken wir uns nicht, sondern begehren umso mehr auf, die Kraft liegt in der Basis“, beschreibt Campo die Selbstverteidigung. Er selbst wurde bereits zehnmal mit Pamphleten offen von verschiedenen illegalen Gruppen mit dem Tod bedroht.

So sehr sich die Menschen in Sa’th Tama Kiwe wehrten, so alleingelassen fühlten sie sich vom Dachverband CRIC.

„In anderen Reservaten wurden Anführende umgebracht und es gab quasi keine Reaktion. Andere wurden bedroht und flohen. Wie kann es sein, dass Anführende ihre Gemeinde und ihr Land verlassen?“, kritisiert Campo. „Viele haben heute Angst und lassen zu, dass die bewaffneten Gruppen die eigentlichen Herrscher des Territoriums sind. Das darf nicht sein.“ Mit einem offenen Brief wandte sich Campos Gemeinde an den CRIC und rief zu einer Reflexion über die eigenen Werte auf. Zu viele indigene Autoritäten tolerierten den Drogenanbau in ihren Gemeinden oder seien im Zuge der Institutionalisierung zu bequem geworden, um für ihr Territorium zu kämpfen.

Campo und seine Leute wollten bei einer Sitzung die höchsten CRIC-Autoritäten vom geschlossenen Kampf gegen den Drogenanbau überzeugen.

Doch stattdessen wurden zwei der Anwesenden, die eine besonders radikale Position gegen den Drogenhandel bezogen, nach dem Treffen von Unbekannten bedroht. Ein Hinweis darauf, dass die Infiltration durch bewaffnete Gruppen bis in die Führungsebene des CRIC hineinreicht.

Für Fredy Campo läuft der CRIC damit Gefahr, seine eigenen Werte zu verraten – in einer Zeit, in der die Einheit der Bewegung für die Verteidigung der Autonomie elementar wichtig ist. Mit den jüngsten Entdeckungen von Gold, Nickel und Coltanvorräten auf dem Empera Gebiet der Nasa und dem staatlichen Interesse an der Förderung des Bergbaus ist eine weiteres Schlachtfeld hinzugekommen.

Abseits der zunehmend institutionalisierten Strukturen des CRIC hat sich eine weitere Gruppe gebildet, die mittlerweile große Teile der Bewegung vereint: La Liberación de la Madre Tierra (Die Befreiung der Mutter Erde). Während die CRIC-Führungsebene mittlerweile vor allem auf Verhandlung zur Landrückgewinnung setzt, orientieren sich die Mutter-Erde-Befreier*innen an den Anfängen der Bewegung und besetzen Land, das einst den Nasa gehörte und heute von der Zuckerrohrindustrie ausgebeutet werden. Denn die fruchtbare Erde im Caucatal muss riesige Monokulturen aushalten, die so groß sind, dass sie mit Kleinstflugzeugen aus der Luft mit Pestiziden bespritzt werden. Wenige Großgrundbesitzer*innen scheffeln hier Gewinne mit dem Export von Ethanol für Biosprit. Die harte Arbeit auf den Feldern verrichtet im Wesentlichen die afrokolumbianische Bevölkerung zu Niedriglöhnen. Die Agrarindustrie verschmutzt das Wasser und vertreibt Tiere und deswegen erklärt Ana* von der Liberación: „Wir befreien das Land für alle Lebewesen.“

Angefangen haben sie damit 2014 auf einer geschichtsträchtigen Finca in der Nähe von Caloto im Norden des Caucas mit dem Namen La Empera Triste. Von hier starteten Paramilitärs im Dezember 1991, um im Auftrag von Großgrundbesitzer*innen auf der benachbarten Finca El Nilo 21 Nasa zu massakrieren, die dort Land besetzt hatten.

Heute ist La Empera Triste selbst besetzt. Auf einem grün-roten Schild im Eingangsbereich steht: „Wir sind tausendjährige Krieger“, daneben reiten zwei Jungs in Richtung eines kleinen Holzhauses. Sie gehören zu einer der Familien, die das Land besetzt haben und nun hier leben. „Zuckerrohr roden, um Essen zu pflanzen“ ist ihr Motto.

In der härtesten Zeit der Pandemie haben die Landbefreier*innen von hieraus mehrere Busse mit Lebensmitteln in die marginalisiertesten Viertel der Millionenstadt Cali gebracht und sie dort an Bedürftige verschenkt, erzählt Ana stolz. Damit taten sie das, was der kolumbianische Staat nur versprach. Dabei nehmen die Landbefreier*innen im Gegensatz zum CRIC keinerlei externe finanzielle Mittel an.

Dann lädt Ana in ihre Heimatgemeinde ein. Im Eingangszimmer ihres Hauses hat sie große Mengen an Kräutern zum Trocknen ausgebreitet, aus denen sie medizinische Getränke herstellt. „Wenn es einem Kind im Dorf nicht so gut geht, dann schicken sie es zu mir und ich bereite ihnen etwas zu“, sagt Ana, die noch etwas außergewöhnliches über die eigene Wasserversorgung des indigenen Reservats zu berichten hat: „Für fließendes Wasser zahle ich im Monat 50 Pesos (1 Cent)“, so hat es die Vollversammlung beschlossen.

Mit einem Holzstab gegen eine AK-47

Wenige Minuten von Anas Haus entfernt ist ein weiteres befreites Stück Land.

Wo vor fünf Jahren noch genmanipuliertes Zuckerrohr stand, tummeln sich nun zwischen Yucawurzeln und Mais die Insekten, Eichhörnchen und Vögel auf den Feldern. Als sie damals das Land befreiten, erhielten die bedürftigen Familien, die sich in die Befreiung eingebracht haben, jeweils einige Hektar, mit denen sie sich selbst versorgen konnten. Der größte Teil der befreiten Finca ist aber kollektives Land, auf dem wechselnde Arbeitsgruppen Lebensmittel für die Gemeinschaft produzieren. Jeden Samstag steht das gesamte Dorf auf dem Feld und packt gemeinsam an. So ist auch ein kleiner Dorfplatz entstanden und in einem offenen Haus aus Bambus ein Versammlungsort. Vor einem anderen Haus wirft eine Frau ein paar Maiskörner auf den Weg, um die sich Enten, Hühner, Schafe und kleine Schweine streiten, während ihre Mutter zwei Pferde anbindet und ihnen eine Ladung Yuca vom Rücken nimmt.

Dann sagt Ana „Ich zeig euch noch was“ und führt zu einem weiteren riesigen Stück Land, das sie befreit und dann der afrokolumbianischen Gemeinschaft aus dem angrenzenden Dorf übergeben haben. Ein Vorzeigeprojekt. Denn der große Teil der Afrokolumbianer*innen sieht in den Plantagenbesetzer*innen eine Gefahr für ihre Arbeitsplätze; statt Verbündete sind sie Gegner*innen der indigenen Befreiungsbewegung. „Die Regierung erklärt der afrokolumbianischen Community, dass sie Anspruch auf das Land hätte”, sagt Ana. Also versuchen die Befreier*innen auf sie zuzugehen; hier, in der Nähe von Caloto klappt das.

In der Nähe eines kollektiven Yucafeldes ruht sich eine kleine Familie in Hängematten im Schatten eines kleinen Bambushauses von der getanen Arbeit aus. Früher habe er Cannabis angebaut, erklärt der Familienvater. Das sei harte Arbeit gewesen und pro Kilogramm Marihuana habe der Händler ihm 8.000 Pesos, nicht ganz zwei Euro bezahlt. Dann schloss er sich den Mutter-Erde-Befreier*innen an und baut nun auf dem befreiten Land Lebensmittel an. Bald möchte er mit seiner Familie auch hierhin ziehen. Trotz der dauernden Bedrohung durch den kolumbianischen Staat. Für alle befreiten Fincas gibt es Räumungstitel. Jederzeit könnte das Militär oder die polizeiliche Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD auftauchen und mit Gewalt die Menschen von ihren Feldern und Häusern vertreiben. Mehr als 600 Räumungen auf 13 befreiten Fincas im Norden des Caucas gab es bereits, doch die Landbefreier*innen kamen immer zurück. „Und wenn es zehn, 20 oder 30 Jahre dauert – irgendwann ist es unser Land. Wir haben Zeit”, sagt Ana und fügt dann hinzu: „Wir haben in sechs Jahren 4.500 Hektar Land zurückerobert. Es fehlen aber noch weitere 400.000 Hektar Zuckerrohr-Monokulturen, die es in der Region gibt“. Sie schmunzelt.

Der Kampf der Nasa wird weitergehen. Auf der Jubiläumsveranstaltung des CRIC spielte am letzten Abend eine Band die Hymne der Guardia Indígena live. Tausende von Menschen reckten den Holzstab der Guardia Indígena in die Luft und sangen aus voller Seele: „Wir verteidigen unsere Rechte, auch wenn es uns das Leben kostet“ und „Für jeden toten Indio werden 1000 weitere geboren“. Die größtmögliche Liebeserklärung an die Bewegung.

*Name geändert

Secuestrados por más de 40 horas

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

Los miembros secuestrados del Frayba Victorico Gálvez Pérez y Lázaro Sánchez Gutiérrez (Foto: Frayba)

El 12 de abril, aproximadamente a las siete de la mañana, Lázaro Sánchez Gutiérrez y Victorico Gálvez Pérez salen de la oficina del Frayba en San Cristóbal de Las Casas a bordo de una camioneta blanca hacia Palenque. El motivo del viaje es una reunion con integrantes de la organización Pueblos Autónomos por la Defensa de los Usos y Costumbres (PADUC) y con familiares de presos. Cerca de las 21 horas, el Frayba recibe un aviso de que Sánchez Gutiérrez había llamado a su familia desde un número desconocido informando que él y Gálvez Pérez estaban bien, que se encontraban en San Felipe en el municipio de Ocosingo y que pedían que algunx de sus familiares llevara una maleta con dinero en un vehículo particular a las ocho de la mañana del día siguiente.

Gracias a un amplio movimiento de solidaridad entre organizaciones de derechos humanos, grupos políticos, comunidades indígenas e iglesias, se logró liberar a los dos defensores de derechos humanos el 14 de abril por la mañana. Después de más de 40 horas de privación arbitraria de la libertad, los secuestrados regresaron en buen estado de salud. Frayba ya ha tomado medidas de seguridad. Como parte de éstas medidas, los recién liberados y otros miembros de la organización no pueden hacer declaraciones frente a la prensa.

Sin duda, el secuestro  está relacionado con su trabajo. En la zona de Ocosingo, donde fueron secuestrados, el Frayba trabaja visibilizando la violencia ejercida por los paramilitares. Según el portal periodístico Pie de Página, desde agosto de 2020 el Frayba ha documentado por lo menos cinco agresiones por parte de la Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo (ORCAO), un grupo armado de cafeticultores, hacia la comunidad zapatista de Moisés Gandhi en el municipio autónomo de Lucio Cabañas. Y el pueblo San Felipe, en el que se llevó a cabo el secuestro , está habitado en su mayoría por integrantes de la ORCAO.

“Desmentimos categóricamente la información difundida por el Estado de Chiapas, en donde se ha señalado que el motivo de la detención de Lázaro y Vico se debió a un accidente de tránsito en Ocosingo”, escribe el Frayba en su boletín de prensa. La versión oficial no solamente minimiza la violencia y las violaciones de derechos humanos en la región por parte del Estado mexicano, sino que también contribuye a la criminalización del trabajo de lxs defensorxs de derechos humanos.

En el lugar del secuestro, Frayba documentó agresiones por grupos armados

En Chiapas, donde viven en su mayoría poblaciones indígenas, los derechos humanos son violados en gran parte por medio del despojo de la tierra, el territorio y el desplazamiento forzado. Además, proyectos extractivistas y despojo de recursos de agua destruyen el medio ambiente en la zona La política neoliberal del presidente mexicano Andrés Manuel López Obrador acepta la destrucción del entorno de comunidades indígenas para el llamado despegue económico en Chiapas que presenta altos niveles de pobreza.

La instalación de la Guardía Nacional en Chiapas, creada en el 2019 (veáse LN 560), empeoró los problemas de violencia estructural y de violencia de género, tanto como el de la impunidad. El esclarecimiento de violaciones de derechos humanos como la desaparición de lxs 43 estudiantes en Ayotzinapa hace seis años y medio (veáse LN 538), ha quedado en gran medida una promesa vacía del gobierno. La militarización de Chiapas es un resultado del discurso de seguridad del Estado y se dirige contra las comunidades indígenas, la población rural y migrantes de Centroamérica, que intentan llegar a México cruzando la frontera con Guatemala.

También la Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH) denuncia las violaciones de derechos humanos en México y la   ausencia de las instituciones del Estado. A finales de abril emitió la Resolución 35/2021, mediante la cual otorgó medidas cautelares a favor de familias en 12 comunidades indígenas tsotsiles en Chiapas. La Comisión consideró que las familias se encontraban en riesgo de desplazamiento por las agresiones de grupos armados. Con su declaración la CIDH se dirige al gobierno mexicano y solicita medidas para proteger a las familias tsotsiles.

Según la red TDT son 45 los defensorxs de derechos humanos que fueron asesinados en México entre 2019 y 2020, y 5 de ellxs en Chiapas. La impunidad de los crímenes aumenta el peligro. Mientras intervenciones militares dificultan el trabajo de lxs defensorxs de derechos humanos, las autoridades retrasan el esclarecimiento de los crímenes. En el caso de los miembros secuestrados del Frayba, por ejemplo, “es importante resaltar que desde el primer momento las autoridades estatales y federales” han tenido “conocimiento de los hechos”, pero no dieron información clara sobre la situación, como dice el comunicado del Frayba.

Aparte de promesas vacías, el gobierno no ha presentado mucho hasta ahora

Frente a este contexto alarmante, la ausencia del Estado mexicano es un boicot al trabajo de los defensorxs de derechos humanos. Además la pandemia de coronavirus ha agravado el discurso de seguridad del gobierno. En nombre de la seguridad nacional se legitimó un aumento de  la presencia militar en Chiapas, la cual intensificó las dinámicas de despojo de tierra, violencia y agresiones en contra de comunidades indígenas. Más que nunca se necesitan a lxs defensorxs de derechos humanos y organizaciones como el Frayba, para luchar al lado del pueblo pobre y organizado, denunciando las injusticias y acompañando a las víctimas de la violencia estatal.

DER KAMPF UM HARMONIE

50 Jahre CRIC Mehr als 20.000 Menschen kommen zur Jubiläumsveranstaltung zusammen (Fotos: Katherine Rodriguez)

Dort, wo der Dorfweg von El Pital endet, ist das Eingangstor einer riesigen Finca. Über mehrere Hügel erstrecken sich in diesen Tagen kleine und große Zelte mit schwarzem Plastikdach gegen den Regen. Menschen schlendern über die schlammigen Wege dazwischen, die meisten in Richtung des größten Zeltes, das auf dem höchsten Hügel gelegen ist. Dort steht auch eine riesige Bühne mit Veranstaltungstechnik. Auf den ersten Blick sieht es aus wie auf einem Musikfestival. Hier, im kolumbianischen Departement Cauca, wo der bewaffnete Konflikt derzeit so viele Opfer fordert wie in keinem anderen Teil des Landes.

Auf der Bühne steht ein Mann mit braun-beigem Poncho und einem Strohhut, der mit grünem und rotem Stoff umkleidet ist, am Mikrofon. Jetzt ruft er aus voller Kehle in die Menge: „Wo ist das Volk der Yanacona?“ „Hier“ schreit es ihm von hinten rechts im Publikum entgegen. „Wo ist das Volk der Nisak?“ „Hier“ kommt das Echo etwas leiser von der linken Seite. „Und wo ist das große Volk der Nasa?“ Jetzt wird es richtig laut: „Hier!“

Dann tritt eine Band auf die Bühne. Als die Musiker mit grün-rotem Halstuch und Panflöte loslegen, klingt das ein bisschen nach andinem Schlager. Doch der Text hat es in sich: „Wir leisten weiter Widerstand gegen die Invasion und verteidigen unsere Rechte im Kampf gegen die Unterdrückung“, singen sie auf Spanisch.

Es ist die Veranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des Regionalen Indigenen Rates im Cauca, in dem sich die indigenen Gemeinden der Region organisieren, landesweit besser bekannt unter seinem Kürzel CRIC. Dazu sind mehr als 20.000 Menschen gekommen, um die wohl stärkste indigene Autonomiebewegung Südamerikas zu feiern. Diese umfasst unter dem Dach des CRIC zehn indigene Gemeinschaften, unter denen die prägendste die der Nasa sind, die seit 500 Jahren im Südwesten Kolumbiens Widerstand gegen die Kolonialisierung leisten. Damals wollten die spanischen Eroberer den Indigenen der Region Steuern aufzwingen und ermordeten einen Kaziken (höchstrangige indigene Adlige oder Anführer*innen, Anm. d. Red.), der sich widersetzte. Daraufhin führte die Kazikin Gaitana 1539 eine erfolgreiche Revolte gegen die Kolonisatoren an, die den Indigenen ein knappes Jahrhundert Freiheit verschaffte, bevor die Rache der Spanier sie fast vollständig ausrottete. Die Nasa sehen sich heute als Erben der 600 Überlebenden.

Es ist ein Gänsehautmoment, als der Moderator auf der Bühne, der gerade noch die Party animierte, eine Schweigeminute für „die vielen Toten und Ahnen, ohne die wir heute nicht hier wären“ einleitet.

Auch nach der Unabhängigkeit Kolumbiens Anfang des 19. Jahrhunderts wurde den Nasa weiter der Krieg aufgezwungen. Sie lebten in der Region mit der fruchtbarsten Erde Kolumbiens, das die Begierde der Großgrundbesitzer weckte, die die Nasa gewaltsam immer weiter zurück in die Berge in steiles und wenig produktives Land drängten.

Die jüngste Etappe des Widerstands leitete die Gründung des CRIC 1971 ein. Es war die Zeit, in der die kolumbianische Regierung den letzten ernsthaften Versuch einer Agrarreform in einem der Staaten mit der ungerechtesten Landverteilung der Welt ins Leere laufen ließ. Es war aber auch die Zeit, in der die Befreiungstheologie den Samen des Widerstands der Ausgebeuteten säte. So schlossen sich die Indigenen der Region zusammen, um für ihr Recht auf Land und Selbstbestimmung zu streiten. Sie besetzten Land, das einst ihnen gehört hatte, und erkämpften so Hektar für Hektar, stets unter großer Repression, die den Schmerz über ermordete Familienmitglieder dem Gedächtnis der indigenen Gemeinden eingebrannt hat. Dabei verfolgte die Bewegung verschiedene Strategien, um Land und damit die Möglichkeit der Versorgung zurückzugewinnen: besetzen, kaufen, juristisch erstreiten. Letzteres funktionierte besonders gut, seit in der Verfassung von 1991 umfassende indigene Rechte festgeschrieben wurden. So folgte der Legitimität auch die Legalität und die formale Anerkennung indigener Selbstverwaltung.

Das eigene Land ist dabei für die Nasa viel mehr als nur Anbaufläche. Das Leben beginnt mit der Verbindung zum Territorium, mit den Tieren und Pflanzen, mit der gesamten Umwelt, mit der zusammengelebt wird. Die Nasa nennen das: Harmonie. Ein allumfassender Begriff, der das Leben zwischen den Menschen und mit der Natur beschreibt. Den Weg dorthin weisen die Ältesten und Ahnen der Gemeinschaft, die mayores genannt werden. Der westliche Kapitalismus hingegen mit seinem Raubbau an Natur und Mensch erzeugt Disharmonie in den Beziehungen; das erklärt mayor Julio, wie er liebevoll genannt wird. Julio Cesar Caldón, so sein vollständiger Name, trägt eine Brille mit dicken Gläsern und dunklem Rand; er hat ein auffallend rundes Gesicht. Vor dem Interview pustet er Tabakrauch in die Luft und gen Erde und wiederholt das mehrfach. Er sei in Verbindung mit den Wolken getreten, um sich über den anstehenden Regen auszutauschen, erklärt er und im Gespräch wird deutlich, wie die Nasa die Welt denken. Der 53-Jährige ist dabei einer jener hochgeschätzten Älteren der Bewegung, die wesentliche Weichen des Autonomieprozesses mitgeprägt haben. 20 Jahre lang war er „Gouverneur“, gewählte Führungspersönlichkeit seines Cabildos, wie die Indigenen ihren Gemeinderat nennen. Über den Cabildos steht nur die Asamblea, die Vollversammlung, in der die wesentlichen Entscheidungen von allen Gemeindemitgliedern getroffen werden. Ein eigenes Regierungssystem erfordert auch ein eigenes Bildungssystem und so half mayor Julio dabei mit, die erste staatlich anerkannte indigene Universität Lateinamerikas aufzubauen: die UAIIN.

Es ist die Antwort auf ein Unbehagen: „Das staatliche Bildungssystem wurde uns aufgezwungen und wir haben 1.000 Dinge dadurch verloren. Wenn ich heute an einer Schule als Lehrer Koka kaue, dann werde ich schief angesehen. Außerdem wurden wir genötigt, Spanisch zu lernen und unsere eigenen Sprachen zu vergessen.“

Mayor Julios Stimme senkt sich etwas: „Ich spreche zum Beispiel keine unserer Sprachen und nur schlechtes Spanisch, weil es mich nicht ausdrückt in meiner Essenz, sondern ich das Gefühl habe, in einer fremden Sprache zu sprechen.“

Aber die Kritik geht noch tiefer: „Die staatliche Form von Bildung basiert auf Lehrplänen, die von oben nach unten funktionieren: vorgegebene Bücher lesen, Hefte führen, Tabellen ausfüllen“, erklärt Julio. „Es gab nie eine Schule, die wirklich anders funktionierte. Die Klassenzimmer hatten immer vier rechtwinklige Wände und eine Tür. Es sind Orte, die einen einsperren und nicht darüber hinaus denken lassen.“ Menschen Wege zu versperren und ihnen eine Richtung vorzugeben, erzeuge Disharmonie.

„Machen statt kopieren.“

Die Schulen des CRIC und die seit 2018 staatlich anerkannte Universität wollen es jetzt anders machen. Es gibt keine Lehrenden, sondern alle Beteiligten sind dinamizadores, etwa „Impulsgebende“. Die Universität hat keinen festen Standort, sondert wandert in die verschiedenen Reservate, wo der Unterricht stattfindet. „Wir haben immer gesagt: Die Universität sollte zu den Leuten in die Dörfer gehen und nicht anders herum, denn unser Ziel ist nicht, dass die jungen Leute ihre Dörfer verlassen, sondern sie darin zu bestärken, dass sie dort bleiben, während die anderen Universitäten die jungen Menschen in die Stadt locken, um dort dem Kapitalismus zu dienen.“

Die Klassenräume in den Dörfern haben nur ein Dach, aber keine Wände: „So kann die Bildung hinein und hinaus gehen.“ Überhaupt findet das Lernen aber eher unterwegs statt als an einem festen Ort. „Wir lernen bei der Gemeinschaftsarbeit oder bei jeder Begegnung.“ In der Schule wird Mathematik anhand des Webens von Stoffen gelehrt. Bei Reisen sollen die Studierenden die verschiedenen Reservate kennenlernen und so eine Einheit formen. Mayor Julio fasst das so zusammen: „Sprechen und machen statt kopieren.“

Aber: „Wir bilden uns zuerst zu 200 Prozent mit unserer eigenen Bildung und dann in der westlichen Form. Erst lernen wir, wo wir selbst herkommen und dann, was es außerhalb noch gibt. Aber das darf uns nicht von unserem eigenen Weg abbringen.“ So umfasst die Universität zehn Studienrichtungen, die hier „Gewebe“ genannt werden, zum Beispiel: Wiederbelebung der Mutter Erde, Indigene Justiz oder Buen Vivir („Gutes Leben“). Letzteres ist das Äquivalent zu Politikwissenschaft. „Dabei steht im Zentrum die Frage: Wie erträumen wir uns unser Leben und Land? Wie können wir in Kontakt mit Erde, Wasser und Sonne leben?“, erklärt Julio.

Der CRIC hat darauf in den letzten Jahren einige Antworten gefunden. So wurde eine eigene Krankenkasse gegründet, die mittlerweile staatlich so subventioniert ist, dass sie allen Indigenen kostenlose schulmedizinische Versorgung ebenso wie traditionelle Behandlungsmethoden und Rituale ermöglicht. Dazu kommt ein eigenes Rechtssystem: Mitglieder der Gemeinden, die gegen die Regeln des Zusammenlebens verstoßen, werden nicht vor einen Richter geführt oder gar ins Gefängnis gesteckt. Stattdessen berät die gesamte Gemeinschaft, welche Maßnahmen eine Veränderung des Straffälligen ermöglichen. Dabei leisten sie Gemeinschaftsarbeit oder erhalten in Rehabilitationszentren spirituelle Unterstützung.

Zunehmend versucht der CRIC auch auf eigenen wirtschaftlichen Beinen zu stehen. Manche indigene Gemeinden haben nach Jahrhunderten von Vertreibung nicht mehr genug fruchtbares Land, um sich selbst mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen. Außerdem schützen die Menschen im CRIC Wälder und Wasserläufe, sodass 60 Prozent ihres Territoriums Naturschutzgebiet sind. „Ökonomisch betrachtet ist das aber eine Herausforderung“, erklärt Aparicio Rios, Spezialist für indigene Ökonomie aus dem Reservat Paniquita. Seine Idee: „Wir müssen uns in dieser Welt mit anderen sozialen Bewegungen organisieren, um eine eigene Ökonomie aufzubauen.“ So organisierte er vor einigen Jahren mit der Zentralen Kooperative des CRIC den Import von 35 Tonnen Salz von den indigenen Wayuu im Nordosten des Landes um so einen solidarischen Handel zwischen indigenen Völkern aufzubauen. Mittlerweile sei das Projekt aber eingeschlafen. Alle zwei Jahre wechseln aus demokratischen Gründen alle Funktionsträger*innen im CRIC. „Aus administrativer Sicht ist das nicht gut. Alle zwei Jahre neue Leute auszubilden, die dann effizient arbeiten, ist schwierig“, bemängelt Rios mit Blick auf sein Ziel: „In dieser Welt ist die Wirtschaft der entscheidende Machtfaktor, damit wir dem kolumbianischen Staat wirklich auf Augenhöhe entgegentreten können.“ Noch hängen die Reservate am Tropf staatlicher Finanzierung oder ausländischer Fördermittel, welche die formalisierten Organisationen und Verbände akquirieren.

Wie es in Zukunft vielleicht einmal anders funktionieren könnte, zeigen die Stände unterhalb des großen Bühnenzeltes. Hier bewerben Kooperativen aus den indigenen Gemeinden ihre eigenen Produkte: Wein aus der Andenblaubeere, Öl aus der Inka-Erdnuss Sacha Inchi und Koka-Bier.

Während Neugierige hier unten die Produkte begutachten, schallt von der Hauptbühne der Lautsprecher über das Festgelände: „Compañeros, kauft lieber unsere eigenen Getränke als Coca-Cola.“ Es folgen weitere Hinweise für das Gemeinschaftsleben: „Compañeros, gestern Abend haben Leute mit Schuhen auf den Stühlen getanzt und jetzt sind die voll mit Schlamm.“ oder „Compañeros, der Chirrincho (Schnaps) ist lecker, aber wer nachts zu viel trinkt, verpasst morgens die politischen Diskussionen.“ Es wird kollektiv gedacht, nicht individuell. Dazu passend: Kaum jemand läuft unbegleitet über die Veranstaltungsfinca und auch alle Zelte sind in großen Gruppen mit Gemeinschaftsküchen organisiert.

Doch nicht alles ist harmonisch innerhalb der Gemeinschaft, darüber spricht Luciana Velazco, Regionalkoordinatorin des Programms für Frauen des CRIC. „Wir machen seit 26 Jahren Arbeit gegen patriarchale Gewalt, aber innerhalb der Organisation sind wir kaum sichtbar“, kritisiert sie. „Die Mehrheit unserer Frauen leiden unter psychischer und physischer Gewalt. Das wissen wir schon sehr lange. Aber wenn Frauen Vorfälle melden, hören ihnen die Autoritäten kaum zu.“ Deswegen organisieren Luciana und ihre Mitstreiterinnen Bildungsangebote für Frauen, um patriarchale Gewalt als solche zu erkennen und melden zu können. Doch es geht um mehr: „Dass andere wissen, dass ich misshandelt werde, erzeugt oft Scham. Aber in unseren Treffen schaffen wir einen vertrauensvollen Raum, in dem die Frauen von ihren Erfahrungen berichten“, erklärt Luciana. Eines der zentralen Probleme sei das fehlende Verständnis unter den gewählten Autoritäten, von denen ein Großteil Männer sind. Hinzu kommt: „Wir sind im CRIC nur drei Regionalkoordinatorinnen und das reicht einfach nicht aus, um mit allen Autoritäten ins Gespräch zu kommen.“

So wäre auch eine Weiterentwicklung des autonomen Justizsystems notwendig, „denn viele der Autoritäten sind der Meinung, dass häusliche Gewalt ein Problem ist, dass im Privaten gelöst werden muss und nicht von der gesamten Gesellschaft. Es gibt auch nicht wirklich eine Strategie für die Unterstützung von betroffenen Frauen, zum Beispiel durch psychologische Hilfe.“ Dazu komme es nach einer Anzeige oft zu einer Reviktimisierung durch den Ehemann, der Rache an seiner Frau übt. […]


Mayora Blanca Eine der ältesten und weiterhin aktiven CRIC-Mitglieder

Mayora Blanca Andrade: Die alte Radikale

Die mayora Blanca kommt nur langsam voran beim Gang durch die Menge. Ständig fragen sie Menschen, ob sie ein Foto mit ihr machen können. Dabei fällt auf: Es sind vor allem Jugendliche, die ein Bild mit einer der Gründer*innen des CRIC ergattern möchten. Die mayora Blanca nickt dann und lächelt, sie hat eine sehr zarte und liebevolle Art. Aber sie nimmt kein Blatt vor den Mund wenn es darum geht, die Jugend zu kritisieren: „Manchmal denke ich heute darüber nach, wie es damals war und dann denke ich: Heute ist der Kampf viel einfacher geworden. Viele Menschen kommen, um das bereits fertig gekochte Essen zu verspeisen.“ Sie meint die Früchte des jahrelangen schwierigen Kampfes der Vorgängergenerationen. Dank ihnen verfügen die Gemeinden heute über mehr Land und Ressourcen.

Die mayora Blanca nahm nach der Ermordung ihres Ehemanns 1982 eine Führungsposition im CRIC ein, während sie sich weiter um ihre drei Kinder kümmerte. „Wir haben nichts einfach so erreicht. Alles war ein Kampf und wir mussten laut sagen: Das sind unsere Rechte!“ Wer im CRIC war, hatte es schwer. Die Stigmatisierung war groß, berichtet die mayora. „Heute wollen alle Anführer des CRIC sein. Die Leute haben ihre Technik und ihre Autos. Sie laufen nicht mehr, deswegen sind die Anführer von heute dick geworden.“ Dabei ist klar, dass die mayora Blanca mit jedem Satz eine tiefere Bedeutung als das Profane ausspricht. Noch etwas passt ihr nicht von der aktuellen Linie mancher CRIC-Anführer*innen: „Früher hatten wir eine starke Abneigung gegen Verhandlungen mit dem Staat. Ich glaube, dass wir hier an Kraft verlieren. Ich hab immer gesagt: Wir als Indigene sind keine Bettler. Wir brauchen keine Legalität, weil wir Legitimität haben. Sie müssen uns zurückgeben, was sie uns über die vielen Jahre gestohlen haben, dafür braucht es keine Verhandlungen.“

Was sie sich für die nächsten 50 Jahre CRIC wünscht? „Manchmal denke ich: Warum sollte Kolumbien nicht auch mal einen indigenen Präsidenten haben so wie Bolivien?“

Fortsetzung aus unserer Juni-Ausgabe hier

„DIESES KOMPLOTT MUSS AUFGEKLÄRT WERDEN“

„Der Fluss hat es mir gesagt“ Treppenbild zur Erinnerung an Berta Cáceres in Cantarranas Fotos: (COPINH)

David Castillo ist als bisher einziger Auftraggeber des Mordes an Berta Cáceres angeklagt. Wird er verurteilt werden? Welche Szenarien sind wahrscheinlich?
Die Verteidigung von David Castillo hat Verzögerungen erwirkt, um den Prozess zu umgehen und ihm und den anderen, die erst noch angeklagt werden müssten, Straffreiheit zu verschaffen. Dennoch denke ich, dass es überzeugende und unwiderlegbare Beweise gibt, die zu seiner Verurteilung führen werden. Das ist für uns das wahrscheinlichste Szenario. Uns geht es nicht um eine Verurteilung um der Verurteilung willen, stattdessen möchten wir in dem Gerichtsverfahren deutlich machen, wie systematisch die Angriffe auf Verteidigerinnen der indigenen Territorien sind. Es geht um den Kontext, in dem der Mord an Berta Cáceres stattgefunden hat. Ohne den Kontext ist es unmöglich, die Ereignisse der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 zu verstehen. Und es geht darum, dass Berta Cáceres eine weibliche Führungspersönlichkeit war, der indigenen Gemeinschaft und der sozialen Bewegungen in Honduras.

Das zweite mögliche Szenario wäre katastrophal: Es könnte einen außergerichtlichen Deal mit den Beschützern von David Castillo geben, also mit Mitgliedern der Familie Atala Zablah (Der größte Teil von DESA gehört dieser in Honduras wirtschaftlich und politisch sehr einflussreichen Familie Anm. d. Red.). Das wäre nicht verwunderlich, denn in Honduras werden viele Abkommen zur Straffreiheit durch Bestechung geschlossen. Um das zu verhindern, ist die internationale und nationale Prozessbeobachtung sehr wichtig, ebenso wie Maßnahmen, die den Prozess der Rechtsfindung schützen. Allerdings sind wir eben in Honduras, einem Land der Straflosigkeit, einem Land, in dem Dinge passieren, von denen wir manchmal denken, dass sie nicht passieren können.

Falls Castillo verurteilt wird: Gibt es dann die Chance, auch gegen weitere Auftraggeber*innen vorzugehen?
Diese Möglichkeit besteht aufgrund der internen Hierarchien des Unternehmens und der Unterordnung Castillos unter die Mehrheitsaktionäre. Allerdings hatte der Staat nie den politischen Willen, diese Ebene anzugehen. Mitglieder der Familie Atala Zablah wurden ja nicht einmal vernommen. Solange der Staat keinen politischen Willen zeigt, werden keine Beweise gesammelt, keine weiteren Untersuchungen durchgeführt. Für den Staat ist Castillo derjenige, der geopfert wird. Er wird als der Autor des Verbrechens präsentiert, als die Person, die allein über den Mord entschieden hat. Das macht uns Sorgen. Wir haben in den vergangenen Jahren Informationen über die Finanzen des Unternehmens, die wir eingefordert hatten und wofür wir im vorherigen Prozess ausgeschlossen wurden, analysiert. Wir sehen klare Auffälligkeiten, Anzeichen von Korruption, sogar von Geldwäsche. Dazu müsste viel mehr ermittelt werden. Dann könnten auch die vielen Fragen zur Realisierung des Wasserkraftwerks Agua Zarca aufgeklärt werden.

Die betrügerischen Machenschaften in Bezug auf Agua Zarca sind Teil eines weiteren Verfahrens, das als „Betrug am Gualcarque-Fluss“ bekannt ist. Gibt es einen Zusammenhang mit dem jetzigen Prozess gegen David Castillo?
Wir haben immer betont, dass die Ermordung von Berta Cáceres mit der illegalen und illegitimen Konzession für das Wasserkraftwerk Agua Zarca zusammenhing. Und genau das bringt der Fall „Betrug am Gualcarque“ ans Tageslicht: Unregelmäßigkeiten innerhalb des Konzessionsverfahrens und die Verletzung von Grundrechten bei der Umsetzung des Projekts. Eine Staatsanwaltschaft, die wirklich an einer umfassenden Gerechtigkeit interessiert wäre, hätte die Möglichkeit, neben dem Mord weitere Verbrechen aufzudecken. Es sind dieselben Eigentümer, es sind dieselben Leute, die über ihr „politisches Kapital“ sprachen und davon, dass sie Deals mit staatlichen Institutionen gemacht haben, um zu bekommen, was sie wollten.

Wird es gelingen, neben dem wirtschaftlichen auch das politisch-militärische Geflecht hinter dem Mord aufzudecken?
Viele Informationen aus Telefongesprächen fehlen in den derzeitigen Verfahren, weil sie gar nicht ausgewertet wurden. Es besteht sogar der Verdacht, dass weitere Militärs am Mord an meiner Mutter beteiligt waren. Die Ermittlungsakte des Majors Mariano Díaz Chávez wird geheim gehalten. Der Staat hat eine große Bringschuld, dieses Komplott aufzuklären, auch was die eigene Verantwortung betrifft. Zweifelsohne wurden die Auftraggeber des Mordes geschützt. Wir von COPINH meinen, dass es mindestens eine schweigende Zustimmung von Präsident Hernández gegeben haben muss.
Angesichts des Ausmaßes der Beteiligung des militärischen Nachrichtendienstes und Generalstabs an diesem Verbrechen muss er davon gewusst haben.

Was bedeutet Bertas Vermächtnis heute, wo noch viel offensichtlicher ist, dass Honduras sich in einen autoritären, diktatorischen Narco-Staat verwandelt hat und kurz davor ist, ein failed state zu werden? Welche Möglichkeiten haben die indigenen, kleinbäuerlichen und sozialen Bewegungen in dieser Situation?
Unser Land ist in einer sehr schwierigen Lage, die von großen Frustrationen und von einer sehr tiefen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise geprägt ist. Wir von COPINH bemühen uns weiter, die Kämpfe der Gemeinden zu stärken. Das ist unsere Hauptaufgabe und Verpflichtung, gerade angesichts eines Verbrechens, das uns auf organisatorischer Ebene sehr getroffen hat. Die Kämpfe zur Verteidigung der Territorien gehen auch während der Pandemie weiter. Es gab sogar lokale Aktionen, um den Bau weiterer Projekte zu verhindern oder vor der drohenden Remilitarisierung in den Gemeinden zu warnen. Gleichzeitig müssen wir etwas gegen die akute Nahrungsmittelkrise und die soziale Krise tun. Zudem versuchen wir, landesweite Bündnisse zu schmieden, was eines der Hauptanliegen meiner Mutter war. Nur dadurch können wir heute überhaupt von einer honduranischen sozialen Bewegung sprechen. Wir leisten unseren Beitrag, sagen unsere Meinung, schauen, wo es hingehen könnte, versuchen, politisches Vertrauen wiederherzustellen, das soziale Gefüge wieder aufzubauen und auch die Probleme der Gewalt anzusprechen, die so viele Organisationsräume zerstört hat.

Ich glaube, dass meine Mutter immer ein Bezugspunkt dafür sein wird, wie man verschiedene Kämpfe zusammenbringt, sowohl in territorialen als auch in großen sozialen und politischen Fragen. Sie wusste, wie wir gleichzeitig lokal Widerstand leisten, das soziale Gefüge der Menschen wieder aufbauen und landesweite und sogar internationale Aktionen planen. Wir gehen das sehr langsam an, um das Land wieder auf Kurs zu bringen. Viele Menschen denken gerade darüber nach, wie wir den fortdauernden Putsch und den diktatorischen Staat praktisch überwinden können. Vor allem auch angesichts dessen, wie die Wahlen dieses Jahr ablaufen werden und was dann übrigbleibt. Denn es ist klar, dass bei diesen Wahlen nichts wesentlich anderes herauskommen wird als bisher. Obwohl das Szenario sehr entmutigend ist, müssen wir unser Engagement mittel- und langfristig aufrechterhalten. Nur so können wir der Vision einer Neugründung von Honduras wieder näherkommen, für die Berta Cáceres stand.

Du hast deine Mutter verloren, kämpfst für umfassende Gerechtigkeit und gleichzeitig bist du ihre Nachfolgerin als Generalkoordinatorin von COPINH mit allen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die das mit sich bringt. Bleibt da noch Raum für Persönliches oder Zeit, mal durchzuatmen?
Wir versuchen immer, für unser emotionales und mentales Wohlergehen zu sorgen, denn manchmal wird die Erschöpfung einfach zu groß. Also versuchen wir, Momente des Ausgleichs zu finden. Ohne die könnten wir gar nicht mehr richtig denken. Wir machen kleine Wanderungen auf dem Land, in den Gemeinden, suchen uns ein Pferd zum Reiten. Aber es ist schon schwierig. Es ist ein sehr hektisches Leben. Ich bewundere meine Mutter jeden Tag mehr. Wie hat sie das nur gemacht, sich immer um alles zu kümmern, alles im Blick zu haben und obendrein vier Kinder zu haben? Meine jetzige Aufgabe ist das Schwerste, was ich je in meinem Leben angepackt habe. Von wegen Abschlussarbeit an der Uni… Was für eine Uni überhaupt? Aber wir gehen unseren Weg. Das Gute ist, dass mich viele Leute unterstützen. Das hilft sehr. COPINH wäre schon mehrmals am Ende gewesen, wenn ich alles allein stemmen müsste.

40 STUNDEN ENTFÜHRT

Wieder frei Die entführten Frayba-Mitarbeiter Victorico Gálvez Pérez (links) und Lázaro Sánchez Gutiérrez (rechts) (Foto: Frayba)

Am 12. April gegen sieben Uhr morgens verlassen Lázaro Sánchez Gutiérrez und Victorico Gálvez Pérez das Frayba-Büro in San Cristóbal de Las Casas, um in einem weißen Pickup in Richtung Palenque aufzubrechen. Anlass der Reise ist ein Treffen mit Mitgliedern der indigenen Menschenrechtsorganisation PADUC und Familienangehörigen von Inhaftierten. Um ungefähr 21 Uhr abends erhält Frayba die Information, dass Sánchez Gutiérrez seine Familie von einer unbekannten Nummer aus angerufen hat. In dem Anruf teilte er mit, dass es ihm und Gálvez Pérez gute gehe, sie sich in San Felipe im Landkreis Ocosingo befänden und dass eine*r ihrer Verwandten am darauffolgenden Tag um acht Uhr morgens einen Koffer mit einer vorgegebenen Summe Geld in einem bestimmten Fahrzeug abliefern solle.

Dank einer breiten Solidaritätsbewegung aus Menschenrechtsorganisationen, politischen Gruppen, indigenen Gemeinden und Kirchen, gelingt es, die beiden Menschenrechtsverteidiger am Morgen des 14. April zu befreien. Nach über 40 Stunden der Freiheitsberaubung kehren die Entführten unversehrt zurück. Frayba hat inzwischen Sicherheitsmaßnahmen zum Selbstschutz eingeleitet. Dazu gehört auch, dass sich die kürzlich Entführten und andere Mitglieder der Organisation nicht persönlich gegenüber der Presse äußern.

Außer Frage steht, dass die jüngste Entführung zweier Menschenrechtsverteidiger mit ihrer Arbeit zusammenhängt. In der Region Ocosingo, in der die Entführung stattfand, macht Frayba die von Paramilitärs ausgeübte Gewalt sichtbar. Laut dem Rechercheportal Pie de Página dokumentierte Frayba seit August 2020 mindestens fünf Angriffe der regionalen Organisation ORCAO, einer bewaffneten Gruppe von Kaffeebauern, auf die zapatistische Gemeinde Moisés Gandhi im autonomen Landkreis Lucio Cabañas. Und das kleine Dorf San Felipe, in dem die Frayba-Mitarbeiter entführt wurden, wird mehrheitlich von ORCAO-Mitgliedern bewohnt.

„Die vom Bundesstaat Chiapas veröffentliche Angabe, bei der Freiheitsberaubung von Lázaro und Vico habe es sich um einen Verkehrsunfall in Ocosingo gehandelt, weisen wir vehement zurück“, schreibt Frayba in einer Pressemitteilung. Die offizielle Version verharmlost nicht nur Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in der Region, sondern trägt auch zur Kriminalisierung der Menschenrechtsarbeit durch den mexikanischen Staat bei.

Frayba dokumentierte am Ort der Entführung Angriffe bewaffneter Gruppen

In Chiapas, wo überwiegend indigene Bevölkerungsgruppen leben, werden Menschenrechte vor allem durch Landraub und Zwangsvertreibung verletzt. Zudem zerstören Extraktivismusprojekte und Raub von Wasserressourcen die Umwelt. Die neoliberale Politik des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador nimmt für den sogenannten wirtschaftlichen Aufschwung im sehr armen Chiapas die Zerstörung des Lebensraumes indigener Gemeinden in Kauf.

Der Einzug der 2019 gegründeten Nationalgarde in Chiapas (siehe LN 560) verschärfte Probleme der strukturellen und sexualisierten Gewalt sowie der Straflosigkeit. Die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen wie dem Verschwinden der 43 Studierenden in Ayotzinapa vor sechseinhalb Jahren (siehe LN 538) blieb hingegen ein weitgehend leeres Versprechen der Regierung. Die an den staatlichen Sicherheitsdiskurs anknüpfende Militarisierung in Chiapas richtet sich stattdessen gegen indigene Gemeinden, Landbevölkerung und zentralamerikanische Migrant*innen, die versuchen, das Land über die Grenze zu Guatemala zu erreichen.

Auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) prangert die Menschenrechtsverletzungen in Mexiko und die Untätigkeit der staatlichen Institutionen an. Ende April verabschiedete sie die Resolution 35/2021, die Familien in zwölf indigenen Tsotsil-Gemeinden in Chiapas Schutzmaßnahmen gewährt. Die Kommission befand, dass die Familien angesichts der Angriffe bewaffneter Gruppen von Vertreibung bedroht sind. Mit ihrer Erklärung richtet sich die CIDH an die mexikanische Regierung und fordert Maßnahmen, um die Tsotsil-Familien zu schützen.

45 Menschenrechtsverteidiger*innen wurden laut dem Netzwerk TDT in Mexiko allein zwischen 2019 und 2020 umgebracht, fünf davon in Chiapas. Die Straflosigkeit der Verbrechen verstärkt die Gefahr. Während Interventionen des Militärs Menschenrechtsarbeit erschweren, verzögern die Behörden die Aufklärung von Verbrechen. Im Falle der entführten Frayba-Mitarbeiter etwa hatten die „(…) zuständigen Landes- und Bundesbehörden von Anfang an exakte Informationen über die Fakten des Geschehens”, kommunizierten diese aber nicht, wie es in der Mitteilung von Frayba heißt.

Außer leeren Versprechen kann die Regierung bis jetzt wenig vorweisen

In diesem alarmierenden Kontext kommt die Untätigkeit des mexikanischen Staates einem Boykott der Menschenrechtsarbeit gleich. Dabei hat die Coronavirus-Pandemie den Sicherheitsdiskurs der Regierung noch verschärft. Im Namen der nationalen Sicherheit wurde eine höhere Militärpräsenz in Chiapas legitimiert, die die Dynamiken von Landraub, Gewalt und Angriffe auf indigene Gemeinden verstärkt. Menschenrechtler*innen und Organisationen wie Frayba werden in Chiapas also mehr denn je gebraucht, wenn es darum geht, an der Seite der indigenen Gemeinschaften und der ärmeren Landbevölkerung zu kämpfen, Ungerechtigkeiten anzuzeigen und Opfern von Menschenrechtsverletzungen beizustehen.

PRIVATES PARADIES

„Sie haben uns zu keinem Zeitpunkt über die ZEDE Próspera konsultiert. Sie sprachen nur von einem Tourismuskomplex mit dem Namen North Bay, wo die Anwohner*innen aus der Gemeinde als Erste Arbeit finden würden. Aber als sie mit dem Bau des Projektes begannen, mussten wir vor dessen Einfahrt protestieren, damit die Leute von hier Arbeit bekamen“, erklärt Luisa Connor.

Luisa Connor ist Gemeinderatsvorsitzende von Crawfish Rock, ein Fischerdorf mit knapp 1.000 Einwohner*innen an der Nordküste der Insel Roatán. Connors Familie lebt wie die meisten seit Generationen hier. „Wir leben hier völlig vergessen von der Zentralregierung, aber es geht uns gut und wir sind zufrieden. Wir verlangen nichts von der Regierung, aber wir sind auch nicht damit einverstanden, dass man uns das wenige wegnehmen will, was wir haben“, so Connor. Seit die Einwohner*innen von Crawfish Rock, aber auch von anderen Orten auf Roatán verstanden haben, welche Art von Projekt auf der Insel entsteht, befürchten sie Enteignung und Vertreibung.

Zunächst hielten Crawfish Rocks Einwohner*innen North Bay (später in Próspera umbenannt) für einen weiteren touristischen Komplex, auf der Karibikinsel Roatán nichts Ungewöhnliches. Als Sonderzone für Entwicklung und Beschäftigung (ZEDE) ist Próspera jedoch in jeder Hinsicht ein neues politisch-ökonomisches Konstrukt. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Schaffung der Sonderzonen wurden im September 2013 vom Parlament beschlossen, rund ein Jahr nachdem ein ähnliches Vorgängerprojekt vom Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt worden war. Da dies nicht im Sinne der Regierung war, wurden in Folge vier von fünf Richter*innen des Obersten Gerichtshofs ersetzt.

Die ZEDE sind, wie auch das vorherige, als Ciudades Modelos („Modellstädte“) bekannte Konstrukt, als halbautonome Investor*innen-Enklaven im Staat zu betrachten. Sie haben den Status von Rechtspersönlichkeiten und sind mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, zum Beispiel bezüglich der Gestaltung von Steuern, Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialsystemen. Zudem können die ZEDE ihre eigenen Gerichte und eigenen Sicherheitskräfte einsetzen. Befürchtungen, dass ein konkretes Gebiet in Honduras zur ZEDE deklariert würde, hat es in den vergangenen Jahren schon mehrfach gegeben. Eine Zeitlang war der Ort Amapala an der Pazifikküste im Gespräch. Nun scheinen die Befürchtungen aber auf Roatán zum ersten Mal wahr zu werden. Hier haben seit dem Sommer erste Bauarbeiten begonnen.

Vier von fünf Richter*innen des Obersten Gerichtshofs wurden ersetzt

Die Sonderzonen werden von Unternehmen gemanagt, im Fall von Próspera auf Roátan ist das das im US-Staat Delaware ansässige Unternehmen Honduras Próspera LLC mit dem Geschäftsführer Erick Brimen. Die Regeln der ZEDE – Charta genannt – werden vom Unternehmen selbst, beziehungsweise einem von ihm bestimmten „Technischen Sekretär“ und einem „Council“ aufgestellt und von einem Komitee für die Übernahme der besten Praktiken (CAMP) genehmigt. Letzteres ist ebenso wenig demokratisch legitimiert wie die Verwaltungsorgane der ZEDE. Das CAMP wurde vom honduranischen Präsidenten ernannt und besteht aus Personen aus dem In- und Ausland, die ebenfalls neoliberalen bis rechtslibertären Thinktanks angehören, unter ihnen die Vizepräsidentin der österreichischen Nationalbank, ehemalige FPÖ-Politikerin und Leiterin des Hayek-Instituts Barbara Kolm.

Mitbestimmung der lokalen Bevölkerung ist nicht beabsichtigt, denn die ZEDE folgen maßgeblich der Idee, Gesellschaft ließe sich besser über Marktkräfte organisieren denn über demokratische Teilhabe. Die Anthropologin Beth Geglia, die intensiv zu den ZEDE recherchiert hat, bezeichnet das politische Umfeld als „Start-up-City-Bewegung“. „In dieser Ideologie wird Regierungsführung selbst zu einer Industrie, Territorialität wird Marktbegriffen entsprechend umgestaltet. Nationalstaatliche Souveränität gilt als ein Kapital, das als Konzession an private Akteure vergeben werden kann. Regierung ist ein Service, der von einer privaten Körperschaft angeboten wird und nicht eine kollektive, von den Bürger*innen gestaltete Konstruktion. Bürger*innen werden zu Konsument*innen dieses Service und können theoretisch ‚mit ihren Füßen abstimmen‘“, erklärt Geglia. An dem Punkt, wo Territorien bereits bewohnt sind, lässt sich die vorhandene Bevölkerung allerdings schlecht in dieses Konzept einfügen. Denn wenn diese mit den Füßen abstimmt, ist das mit Vertreibung gleichzusetzen. Schon allein die Expansionspläne von Próspera, die auf der Projektseite im Internet als eine dreistufige Entwicklung präsentiert werden, werfen die Frage auf, woher all dieses Land kommen soll, wenn nicht von den Menschen, die es heute bewohnen und bewirtschaften. Die räumliche Entwicklung ist in drei Phasen geplant, in einer ersten soll auf 23,5 Hektar das Dorf Próspera mit ersten Wohnungen entstehen – hölzerne Luxusbauten, entworfen vom Londoner Architekturbüro Zaha Hadid, die auf den Bildern quasi organisch ins Meer zu fließen scheinen. Die Grundstücke für Próspera Village sind laut Projektseite bereits an die ZEDE transferiert worden. In einer zweiten und dritten Phase soll sich Próspera dann zu einer Stadt entwickeln, die neben Wohngebieten touristische Ressorts, Bildungseinrichtungen, ein Krankenhaus und Handelszentren umfassen soll. Zu dem Zeitrahmen und der geplanten Fläche der weiteren Expansion ist auf der Seite nichts zu lesen. Nach Informationen der Gemeinderatsvorsitzenden Luisa Connor sowie der Vizevorsitzenden Venessa Cardenas umfasst der Masterplan für Próspera 303 Hektar. „Woher wollen sie die weiteren Grundstücke nehmen?“ fragt Venessa Cardenas. „Wir werden ihnen unser Land nicht verkaufen.“

Das politische Umfeld gleicht einer „Start-up-City-Bewegung“

Auf dem Masterplan von Próspera sei die Gemeinde Crawfish Rock derzeit nicht mehr verzeichnet. Doch selbst wenn Prósperas Geschäftsführer Erick Brimen heute versichern würde, dass niemand enteignet werden solle, könnte das schon in ein paar Jahren anders aussehen. „Sie haben ein Gesetz, das ihnen das Privileg gibt, mein Land zu enteignen, wenn sie es brauchen. Und ihrem Plan zufolge werden sie es brauchen“, so Cardenas. Dabei könnte der honduranische Staat im Interesse der Investor*innen auftreten, sagt die Anthropologin Beth Geglia: „Das Recht zu enteignen wird Staaten normalerweise vorbehalten, wenn es um Dinge geht, die dem öffentlichen Wohl dienen. Im Gesetz über die ZEDE selbst wird alles, was mit der Entwicklung der ZEDE in Zusammenhang steht, zum öffentlichen Wohl erklärt und das beinhaltet die Expansion der ZEDE. (…) Selbst wenn die honduranische Regierung jetzt erklärt, keine Enteignungen vornehmen zu wollen, gibt es keine Garantie, dass sie das im weiteren Verlauf nicht tun wird.“

Und auch Erick Brimen macht in Bezug auf mögliche Enteignungen widersprüchliche Aussagen. Versicherte er zunächst, niemanden enteignen zu wollen, war er im September 2020 in Crawfish Rock mit den Worten zu hören: „Der honduranische Staat kann über die ZEDE als Mittler die Enteignung anordnen.“ Gegen internationales Recht würde dies allemal verstoßen, wie es auch schon die Konstitution der ZEDE auf Roatán tut. Die Einwohner*innen von Crawfish Rock gelten als Black Indigenous People of Color (BIPoC) – und genießen laut ILO-Konvention 169 besonderen Schutz und besondere Rechte. Dazu gehört das Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung, wenn es um Projekte geht, die ihre Territorien und Lebensgrundlagen betreffen. „Sie wussten, dass dies eine indigene Gemeinde ist, und dass sie uns hätten vorher konsultieren müssen, aber sie haben es nicht getan. Die Regierung hat ein Projekt in unserer Gemeinde genehmigt, mit dem Wissen, dass dies eine indigene Gemeinde ist, und sie hat uns nicht einmal darüber informiert“, sagt Cardenas. Um sich besser gegen die Pläne der Regierung und der Investor*innen zur Wehr setzen zu können, haben mehrere Gemeinden von Roatán und zivilgesellschaftliche Organisationen den Runden Tisch zur Verteidigung der Territorien der Islas de Bahía gegründet. Dieser fordert in einer öffentlichen Erklärung unter anderem eine Intervention gegen die ZEDE Próspera sowie eine öffentliche Untersuchung, wie es zu deren Genehmigung gekommen ist. Außerdem wird Aufklärung darüber gefordert, ob und wie viele weitere ZEDE auf den Islas de Bahía genehmigt worden sind.

„Unsere Gemeinde steht nicht zum Verkauf“

Die Frage nach weiteren ZEDE kommt nicht von ungefähr. Die Internetseite von Próspera bezeichnet die ZEDE auf Roatán als einen „hub“, einen Knotenpunkt in einem Netzwerk. Ein zweiter solcher Knotenpunkt könnte in der Küstenstadt La Ceiba entstehen, zumindest wenn man einer Darstellung der TUM International GmbH folgt. Die TUM International GmbH, eine Ausgründung der Technischen Universität München, und ihr Tochterunternehmen Insite Bavaria sind Partnerunternehmen des Próspera-Projekts. So lud die TUM International im Juni 2019 zu einer internationalen Investorenkonferenz über den St. Isidore Prosperity Hub nach München ein. Dieser soll nach Darstellung der TUM International auf Roatán wie auch in La Ceiba entstehen. Über feststehende und potenzielle Investor*innen der ZEDE, deren Kosten in die Milliarden gehen dürften, lassen sich indes kaum Informationen herausfinden. Diese Intransparenz scheint gewollt zu sein, erschwert sie doch gezielte Protestaktionen.

Für Luisa Connor bleibt derweil klar: „Unsere Gemeinde steht nicht zum Verkauf, die Insel steht nicht zum Verkauf und die honduranische Souveränität steht auch nicht zum Verkauf.“

“EIN OFFENES GEHEIMNIS”

Luis Betancourt Montenegro
forscht im Bereich sozio-ökologische Rechtslage des Amazonasgebietes und ist Aktivist für die Rechte der indigenen Bevölkerung. Er untersucht die gesundheitliche, sozio-kulturelle und Bildungssituation der Indigenen im venezolanischen Amazonasgebiet.
Seit 2019 koordiniert er die Amazonas-Forschungsgruppe (Grupo de Investigaciones sobre la Amazonía), die Forschung zu den Rechten der indigenen Bevölkerung und den Umweltrechten im Süden Venezuelas durchführt.
(Foto: privat)


Wie ist die aktuelle Situation in Puerto Ayacucho und im Süden Venezuelas?
Puerto Ayacucho hat eine sehr schwache Wirtschaft, die hauptsächlich auf illegalem Benzinverkauf, Bergbau und Schmuggel beruht. Früher, Ende der 1990er Jahre, war das anders, da gab es eine starke Tourismusindustrie mit Restaurants und einer Service-Infrastruktur. Durch die wirtschaftliche und politische Krise im Land hat sich das aber alles verändert. In der Umgebung von Puerto Ayacucho gibt es außerdem viele indigene Gemeinschaften, z.B. die Piaroa, Jivi und Kurripako.

Wie ist die Ernährungslage der indigenen Gemeinschaften?
Ob sie sich selbst versorgen können, hängt von der Region ab, in der sie leben. In der Nähe von Puerto Ayacucho zum Beispiel ist das Land sehr fruchtbar, im Südosten gibt es viel landwirtschaftliche Produktion und die dort lebenden indigenen Gemeinschaften können alles zu ihrer Selbstversorgung anbauen. Die Yanomami aber, die mit ca. 16.000 Personen die größte indigene Gruppe des venezolanischen Amazonasgebietes bilden, besiedeln Gebiete in der Kommune Alto Orinoco und dort sind die Böden eher sauer und dadurch nicht besonders fruchtbar. Aussaat oder Ernte ist hier fast unmöglich. Sie sind daher von wirtschaftlicher Unterstützung und den sehr unregelmäßigen Lieferungen der Regierung abhängig.

Bevor es solche Unterstützung durch die Nationalregierung gab, haben sie doch auch dort gelebt.
Ja, das Gebiet Alto Orinoco ist schon immer ihr Lebensraum. Und aufgrund der Unfruchtbarkeit der Böden sind sie nur teilweise sesshaft. Das heißt, dass sie oft weiter ziehen und sich in Gegenden niederlassen, die etwas fruchtbarer sind. Wenn dann nach einiger Zeit die Böden eines Gebiets ausgelaugt sind, ziehen sie wieder weiter in Gegenden mit besseren Bedingungen. So bewegen sie sich durch den gesamten Raum des Alto Orinoco.

Wie ist die Beziehung zwischen der Regierung und den indigenen Gemeinschaften?
Vor 1999 wurden die indigenen Gruppen Venezuelas weitgehend unsichtbar gemacht. Als es 1999 den revolutionären Verfassungsprozess gab, wurden die Indigenen zu Verbündeten von Hugo Chávez und der neuen Verfassung, an deren Ausarbeitung sie auch beteiligt waren. So sehr, dass das Kapitel VIII ausschließlich den Rechten der indigenen Bevölkerung gewidmet ist. Es gibt also eine sehr wichtige Anerkennung der indigenen Gruppen Venezuelas auf verfassungsmäßiger und rechtlicher Ebene. Ihnen wird das Recht auf eigene Bildung, Selbstbestimmung, auf ihr Territorium und interkulturelle Gesundheitsversorgung (die Berücksichtigung der Kultur der Patient*innen im Behandlungsprozess unter Einbeziehung ihres spezifischen medizinischen Wissens, Anm. d. Red.) garantiert. Diese Rechte wurden bis zum Jahr 2010 auch umgesetzt, danach begann es aber zu bröckeln, das heißt, alle Programme, die in den ersten zehn Jahren entwickelt worden waren, wurden immer mehr vernachlässigt. Vor allem die Gesundheits­pro­gramme, die ein sehr wichtiger Teil waren, weil sie auch die entferntesten Ecken des venezolanischen Amazonasgebiets erreichten, um die indigene Bevölkerung zu versorgen, gingen zurück. Ein Gesundheitsprogramm, der sogenannte Plan de Salud Yanomami, wurde mittlerweile leider eingestellt, weil es keine staatliche Unterstützung mehr gibt.

Mit Ihrer Amazonas-Forschungsgruppe haben Sie den illegalen Bergbau angeprangert. Wie ist die aktuelle Situation im Bundesstaat Amazonas?
Es gibt den legalen Bergbau, der durch ein Gesetz oder einen Erlass geregelt ist und vom Staat oder demjenigen, dem er die Konzession erteilt, verwaltet wird. Es gibt aber auch das Dekret 269 aus dem Jahr 1989, welches jegliche Bergbauaktivitäten im Bundesstaat Amazonas verbietet. Das bedeutet, dass alle diese Aktivitäten dort illegal sind. Das heißt nicht, dass es keinen Bergbau gibt, sondern lediglich, dass er illegal betrieben wird.

Wer ist daran beteiligt und was wird abgebaut?
Soweit bekannt, handelt es sich hauptsächlich um Gold und die Akteure, die es dort abbauen, sind einzelne bewaffnete Gruppen. In den meisten Fällen kommen sie aus Kolumbien, in anderen aus Brasilien und nur in ganz wenigen Fällen aus Venezuela selbst. Es ist ein offenes Geheimnis. Alle wissen, was sich dort abspielt, aber die Regierung hat durch ihre Nachlässigkeit zugelassen, dass sich diese Gruppen dort etablieren. Sie hat es versäumt, sich ihnen entgegenzustellen.

Gibt es eine Verbindung zwischen der Regierung oder den Polizei- und Militärbehörden und den illegalen Gruppen, die im Amazonasgebiet Bergbau betreiben?
Objektiv gesehen kann ich Ihnen nicht im Detail sagen, worin die Verbindung besteht, aber wenn ich mir ansehe, wie der venezolanische Staat über alle seine Institutionen hinweg eine nachlässige, nahezu einvernehmliche Haltung gegenüber den illegalen Bergbaugruppen einnimmt, ist es offensichtlich, dass es irgendeine Art der Komplizenschaft geben muss. Ich würde sagen, dass es das vor 1999 nicht gab. Die Justiz ging noch Anfang der 2000er Jahre sehr entschieden gegen die illegalen Gruppen vor. Es wurden Dekrete gegen ihre Präsenz erlassen und das Militär bekämpfte sie, aber seit etwa 2010 wurde nichts mehr gegen sie unternommen. Vielmehr glaube ich, dass ihnen der Zugang zu den Gebieten noch erleichtert wurde.

Indigene arbeiten auch im illegalen Bergbau…
Von der schweren politischen und wirtschaftlichen Krise, die das Land durchlebt, sind die Indigenen mit am stärksten betroffen. Das Fehlen von Treibstoff im gesamten venezolanischen Amazonasgebiet birgt große Probleme für sie, weil sie ihre Produkte nicht mehr nach Puerto Ayacucho bringen können, um sie dort zu verkaufen, so wie sie es immer getan haben. Daher sahen sich die meisten von ihnen in Ermangelung dieses wirtschaftlichen Austausches leider dazu gezwungen, im Bergbau zu arbeiten, um den Lebensunterhalt ihrer Familien zu bestreiten.

Welche Auswirkungen hat der Bergbau auf die Gemeinden im Amazonasgebiet?
Die Folgen sind sehr ernst. Am meisten leidet die indigene Bevölkerung, denn durch das Eindringen des Bergbaus und der bewaffneten Gruppen in ihr Territorium werden ihre sozio-ökonomischen und politischen Strukturen beeinträchtigt. Es hat sich eine Abhängigkeit entwickelt, denn die Lebensgrundlage wird jetzt nicht mehr durch die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse erwirtschaftet, sondern durch den Abbau von Gold und dem Handel damit bzw. mit allem, was mit dem Bergbau zu tun hat.

Gibt es Indigene, die aus ihren Gebieten vertrieben werden?
Natürlich. Es gab Fälle, in denen ganze Gemeinschaften ihr Gebiet verlassen mussten auf der Flucht vor der Gewalt, die von den bewaffneten Gruppen ausgeht. Es ist aber nicht nur die Gewalt, sondern es gibt auch gesundheitliche Gefahren, denn die Bergleute kommen aus städtischen Gebieten und bringen eine Reihe von Krankheitserregern mit, die für die Indigenen neu sind und damit eine Gesundheitsgefahr für sie darstellen.

Gab es Widerstand in der Region?
Ja, einige indigene Organisationen im Amazonasgebiet haben Erklärungen abgegeben, in denen sie die Präsenz der bewaffneten Gruppen in ihren Gebieten verurteilen und die Beendigung des Bergbaus fordern. Es geht ihnen darum, ihre Territorien und heiligen Stätten zu erhalten und zu schützen. Genau in diesen Gebieten agieren diese Gruppen. Bislang haben die Organisationen noch keine Antwort vom venezolanischen Staat erhalten. Hier zeigt sich die Komplizenschaft zwischen dem Staat und diesen illegalen Gruppen.

„DIE GEWALT IST ÜBERALL“

Para leer en español, haga clic aquí.

CARLOS GONZÁLEZ GARCÍA
ist Anwalt und gehört der Koordinierungskommission des CNI an. Er ist seit der Gründung des Kongresses im Jahr 1996 durch die inzwischen verstorbene Comandanta Ramona der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in der landesweiten Struktur organisiert.(Foto: Heriberto Paredes)


Jede Woche beklagen indigene Gemeinden, die im CNI organisiert sind, Angriffe und Attacken. Woher kommt diese Gewalt?
Die andauernde Gewalt hat mit dem Raub und der Plünderung zu tun. Nationale und transnationale Unternehmen sind an den Rohstoffvorkommen in den indigenen Territorien interessiert. Raub und Plünderung verstehen wir als Vorgehen, die zur Zerstörung, Vertreibung und Auflösung unserer Strukturen führen, um unsere Territorien neu zu besetzen. Wir verstehen das als kontinuierlichen Krieg, der gegen unsere Gemeinden geführt wird.

Was Sie beschreiben, ist gewaltvoll und kriminell. Müssen Unternehmen nicht gesetzeskonform handeln?
In vielen Fällen beobachten wir, dass sich die kriminellen Interessen der Kartelle mit denen der Unternehmen überschneiden: entweder durch direkte Verbindungen oder ein zufälliges Überlappen der Interessen, die wiederum mit denen unterschiedlicher Regierungsebenen verbunden sind.

Was heißt das konkret?
Konkret geht es um die polizeilichen und militärischen Strukturen, die sich am Vorgehen der Kartelle beteiligen. Sei es direkt oder weil sie deren Agieren nicht unterbinden. Am deutlichsten ist der Fall Ostula, eine kleine indigene Gemeinde an der Pazifikküste des Bundesstaates Michoacán. Dort entbrannte ein Kampf um das Territorium mit der Firma Ternium, eine der größten Eisenfirmen der Welt (siehe LN 543/544). Das Kartell der Tempelritter konnte dort seine Präsenz just in dem Moment verfestigen, als die Marine sich entlang der Küste neu aufstellte. Mit der Neupositionierung wuchs auch die logistische und militärische Kapazität der Kriminellen. Ein anderes Beispiel ist der Bundesstaat Morelos. Die alte und aktuelle Regierung haben wesentlich dazu beigetragen, dass dort das Proyecto Integral Morelos (ein Megaprojekt zur Energieerzeugung durch Erdgas, das regionalen bäuerlichen und indigenen Widerstand hervorgerufen hat, Anm. d. Red.) umgesetzt werden konnte. Mit dem Projekt erstarkte auch das organisierte Verbrechen. Es muss nicht zwangsläufig ein gemeinsames Handeln oder Absprachen zwischen Kartellen und Regierung gegeben haben, aber wir sehen sehr wohl eine Gleichzeitigkeit.

Im Februar 2019 wurde Samir Flores Soberanes, CNI-Mitglied und zentrale Figur einer regionalen Protestbewegung gegen das Proyecto Integral Morelos, erschossen…
Samir war Gründer und Teil des lokalen indigenen Radiosenders. Ich kannte ihn persönlich. Er war einer, der motivieren konnte. Wir wissen nicht, wer ihn ermordet hat. Wir wissen aber sehr wohl, dass er wegen seines Kampfes erschossen wurde. Nach seiner Ermordung ging der Widerstand weiter. Der Kampf ist immer der einer ganzen Gemeinde. Selbstverständlich haben einzelne Personen ein Gewicht, aber die Gemeinde und das Kollektiv gehen vor. Es gibt Angst und Verunsicherung, aber der Kampf geht weiter.

Inzwischen wurde die Verfassung geändert und die umstrittene Nationalgarde geschaffen (siehe LN 539). Spielt der neue Militärkörper bei den genannten Projekten eine Rolle?
Bis jetzt sehen wir keine Bestätigung dafür, dass die Nationalgarde direkt an der Umsetzung der Projekte beteiligt war. Aber sie ist genau dort am stärksten präsent, wo das Interesse an Megaprojekten wie dem Abbau von Gas und Erdöl oder dem Ausbau von Infrastruktur am größten ist. Anders ist es im Bundesstaat Chiapas, wo sich die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) befindet. Das Problem der organisierten Kriminalität ist dort sekundär und dennoch sind in Chiapas die meisten Soldaten der Nationalgarde stationiert. Ein Beleg dafür, dass das Militär eingesetzt wird, um Großprojekte auf Biegen und Brechen durchzuführen.

Warum schafft es die Regierung nicht, die Attacken gegen indigene Gemeinden zu beenden?
Die Gewalt richtet sich nicht allein gegen Indigene. Sie ist überall. In ländlichen Gebieten, in der Stadt, in allen Regionen. Die Situation ist außer Kontrolle. Die Regierung ist nicht in der Lage, der Gewalt Einhalt zu bieten. Sowohl das Militär als auch die Justiz sind aufs tiefste von der organisierten Kriminalität durchdrungen.

Der CNI hat sich vor über drei Jahren dagegen entschieden, sich der heutigen Regierungspartei MORENA anzuschließen, wie es die EZLN vorgeschlagen hatte. War das ein Fehler?
Der CNI folgt keiner Parteilinie. Er ist ein Ort der indigenen Gemeinschaften, in dem verschiedene Meinungen Platz haben, sogar die von parteinahen Personen. Es gibt aber Prinzipien, die uns von Parteien fernhalten. Es wäre nicht schlüssig gewesen, wegen temporären Gemeinsamkeiten Wahlallianzen zu schließen. Die Bündnisse, die López Obrador für den Wahlsieg eingegangen ist, sehen wir sehr kritisch, etwa den Pakt mit der evangelikalen Partei der Sozialen Begegnung (PES). Genauso kritisieren wir weite Teile des Regierungsprogramms, zum Beispiel die Megaprojekte oder die Energiepolitik.

Wie wird die Antwort des CNI auf die Angriffe ausfallen?
Die Angriffe werden weitergehen, denn das Problem ist global. Der Kapitalismus reproduziert sich über Kriege, der Krieg gegen die kurdische Bewegung ist ein Beispiel dafür. Es liegt nicht in der Macht der Regierungen oder Nationalstaaten, die Gewalt zu stoppen, denn es sind die Unternehmen, die die globale Wirtschaft kontrollieren. Uns bleibt nichts übrig, als unseren Weg zu gehen, Autonomien auszubauen und neue kulturelle und ökonomische Räume zu schaffen, die mit Organisationen verknüpft sind, die gegen den Kapitalismus kämpfen.

KAMPF UMS ÜBERLEBEN

Miriam Miranda
ist eine prominente Menschenrechtsaktivistin in Honduras. Sie ist Koordinatorin der Garífuna-Organisation OFRANEH. Im November 2019 erhielt sie den Menschenrechtspreis der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie setzt sich seit 30 Jahren für die Rechte der Garífuna ein. Neben der unermüdlichen Arbeit, Fälle von Landraub, Menschenrechtsverletzungen und Korruption anzuzeigen und diesen nachzugehen, arbeitet sie an der Verwirklichung einer Vision vieler Garífuna mit. Gemeinsam haben sie das selbstverwaltete Dorf Vallecito, Dpto. Colón inmitten von Ölpalmenplantagen aufgebaut. Für sie ist die Arbeit in Vallecito eine konkrete Strategie, Land zu verteidigen und zum Erhalt der Kultur der Garífuna beizutragen.
Im Sommer 2020 findet eine Solidaritätsreise nach Vallecito statt. Interessent*innen finden weitere Informationen auf der Webseite der HondurasDelegation. (Foto: HondurasDelegation)


Mirna Teresa Suazo wurde am 8. September 2019 von Unbekannten in ihrem Restaurant in Masca (Dpt. Cortés) erschossen. Die Täter flohen mit einem Motorrad. Suazo war Gemeinderatspräsidentin in Masca. Die Gemeinde hatte sich zweimal erfolgreich dem Bau von Wasserkraftwerken am gleichnamigen Fluss entgegengestellt.

María Digna Montero war Lehrerin und Mitglied des Komitees für interkulturelle zweisprachige (Spanisch und Garífuna) Bildung bei OFRANEH (Organización Fraternal Negra Hondureña). Am 12. Oktober 2019 saß sie vor ihrem Haus in der Gemeinde Cusuna (Dpt. Colón), als Unbekannte auf sie schossen und mit einem Motorrad flohen. Die Morde liefen nach ähnlichem Muster ab; genau wie bei den anderen 15 Opfern waren es Ortsfremde, die die Taten ausübten.

„Für die Regierung existieren wir nicht“

„Das ist ein Plan, uns Garífuna auszurotten“, sagt Miriam Miranda, Koordinatorin der Organisation OFRANEH. Die afro-indigenen Garífuna leben seit ihrer Deportation von St. Vincent in der Karibik im Jahre 1797 durch England an der Atlantikküste von Zentralamerika, die meisten von ihnen in 46 Gemeinden in Honduras. Ihre Lebensgrundlage, das Land, die natürlichen Ressourcen und das Meer, wird jedoch immer stärker bedroht und die, die sie verteidigen, werden umgebracht.

Auch Miriam Miranda lebt mit ständigen Bedrohungen und Einschüchterungen, vor allem seitdem sie vor 10 Jahren Koordinatorin von OFRANEH geworden ist.

Das Territorium der Garífuna in Honduras ist von großem wirtschaftlichem Interesse von in- und ausländischem Kapital. Die Garífuna bewohnen das für Investor*innen attraktive Land an der karibischen Küste mit schönen Stränden und fruchtbarem Boden. Weiter im Landesinneren gibt es etliche Naturschutzgebiete, um den einzigartigen Waldbestand und die Biodiversität zu schützen.

Doch die neoliberalen Pläne der Regierung vertreiben die Garífuna von ihrem angestammten Land. OFRANEH klagt auf Grundlage der an die Garífuna vergebenen Landtitel, diese werden jedoch von korrupten Behörden meist missachtet.

Tourismusprojekte wie in der Bucht von Tela und der Bucht von Trujillo, Bergbauvorhaben und die geplante Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen (sogenannten Charter Cities nach einem Modell des Harvard-Ökonomen Paul Romer, siehe LN 535), in Honduras unter dem Namen ZEDEs (Zonas Especiales de Desarollo y Empleo) bekannt, stellen ernsthafte Bedrohungen für das Land dar. „Für die Regierung existieren wir nicht. Wenn die Regierung die ZEDEs im Ausland anpreist, sagen sie, dass die Gebiete unbesiedelt seien. Aus diesem Grund ist jedes Projekt für uns eine Gefahr“, so Miriam Miranda.

Unter den Mordopfern sind viele Frauen

Es ist kein Zufall, dass sechs Frauen unter den Ermordeten sind. Frauen kommt eine große Bedeutung bei der Verteidigung des Garífuna-Territoriums zu. „Frauen haben eine enge Bindung ans Land, sie sind der Erde verbundener als Männer, denn sie bauen Maniok an und schützen die Saat. Frauen kennen aus erster Hand die Notwendigkeit, das Land und die Natur zu schützen“, führt Miranda aus.

Doch auch wenn Frauen bei den Garífuna eine starke Position haben, sind auch sie von der dominanten Machismo-Kultur in Honduras betroffen, denn das Rechtssystem ist von patriarchalen Strukturen geprägt. Miranda sagt, dass Frauen per se erst einmal schuldig sind, egal, was vorgefallen ist. Frauen, die sich für die Rechte der Garífuna einsetzen, müssen sich anhören, dass sie besser am Herd stehen sollten. Sie seien selbst schuld, dass sie vor Gericht stehen, wenn sie sich in „Männerangelegenheiten“ einmischten.

Deshalb ist es für OFRANEH wichtig, sich neben der Verteidigung des Landes auch mit Genderfragen und frauenspezifischen Bedürfnissen auseinanderzusetzen. „Wir Frauen müssen uns selbst schützen und heilen, heilen vor allem vom Schuldgefühl, mit dem wir permanent konfrontiert sind, wir brauchen unsere Organisationsformen und unseren Platz für Heilung, der Selbstentdeckung; und vor allem müssen wir uns bewusst machen, dass die Gewalt nicht normal ist, auch wenn sie in einem Land voller Gewalt als normal erscheint“, erklärt Miranda die Arbeit von OFRANEH in Bezug auf Frauen.

„Wir beziehen das Recht am eigenen Körper genauso in die Arbeit ein wie das Recht auf eine intakte Natur.“ Dies ist für OFRANEH wichtig, da es Frauen sind, die vor allem durch die Kindererziehung die kulturelle Identität prägen und hierbei mit dem patriarchalen Schulsystem in Konkurrenz stehen. „Wenn Frauen selbst Land bebauen, erziehen sie ihre Kinder anders.“

Denn die landwirtschaftliche Praxis der Garífuna, so Miranda, stehe im Widerspruch mit der hegemonialen Wirtschaftslogik, die an Gewinnmaximierung orientiert ist, während die Garífuna Flächennutzung mit Brachzeiten abwechseln, damit sich das Land während der Brache regenerieren kann. Diese kulturelle Praxis wird durch die Gesetzgebung unterlaufen, die besagt, dass brach liegendes Land von den Personen in Besitz genommen werden kann, die es bebauen. Nach drei Jahren Landnutzung können die Landtitel dann geändert werden.

Bedrohung durch staatliche Interessen

Die Garífuna können sich bei der Verteidigung ihres Landes nur auf das von Honduras ratifizierte ILO Abkommen 169 berufen. Doch auch dieses soll untergraben werden.

Ein Entwurf für ein nationales Konsultationsgesetz ist mit Unterstützung internationaler Institutionen, wie dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), erarbeitet worden. Der Entwurf sieht kein Vetorecht für indigene Gemeinden vor. Momentan liegt das Gesetz jedoch auf Eis.

Miranda führt diesen Umstand auch auf die Arbeit von OFRANEH zurück, die Beschwerdebriefe an die ILO geschrieben hat. In Anbetracht anderer neu erlassener Gesetze in Honduras ist die ILO Konvention 169 für Indigene extrem wichtig.

So räumt das 2017 erlassene Gesetz zur Tourismusförderung die Möglichkeit ein, für Tourismusprojekte die Ausdehnung von Naturschutzgebieten bis zu ihren Kernzonen zu verkleinern. Miranda fürchtet, dass auf Tourismusvorhaben später Bergbauprojekte folgen, für die Naturschutzgebiete reduziert werden, wie es bisher auch schon in Guapinol im Departamento Colón für ein Bergbauprojekt und in der Garífuna-Gemeinde Sambo Creek für ein geplantes Wärmekraftwerk geschehen ist.

Viele Garífuna- Gemeinden grenzen an Schutzgebiete und sehen ihr Territorium durch diese Gesetzgebung zusätzlich gefährdet.

Die Ermordung von María Montero in Cusuna geschah ausgerechnet am lateinamerikaweiten Tag des Widerstandes, am 12. Oktober – eine Warnung an alle, die sich der aktuellen Regierung und deren Politik widersetzen.

Die Gemeinde Masca hat dies 2019 besonders deutlich zu spüren bekommen: Das Jahr endete mit zwei Attentaten in Masca gegen Amada Martínez, Vorstandsmitglied von OFRANEH und spirituelle Führerin der Garífuna, am 12. Dezember, dem Tag des Schutzheiligen von Masca, und am 29. Dezember.

Amada Martínez blieb zwar unbeschadet, zwei ihr nahstehende Personen wurden jedoch zum Teil schwer verletzt. Die Zeichen sind deutlich. Die Morde an den Menschenrechtsverteidiger*innen und Umweltaktivist*innen unter den Garífuna haben im Jahr 2019 einen traurigen Rekord erreicht. Doch aufgeben werden die Garífuna und vor allem die Frauen nicht.

„DIE WAHLEN SIND EINE FALLE“

Para leer en español, haga clic aquí.

Adriana Guzmán Arroyo
ist Aymara, lesbisch und Feministin. Sie gehört der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Anti­patriar­chaler Feminismus) an, die sich in Folge des Massakers im Gas-Krieg 2003 gebildet hat. Die Organisation verortet sich in den Protestbewegungen der Straße und kämpft gegen geschlechterbasierte Gewalt und für die Verteidigung indigener Territorien. (Foto: privat)


Wie würden Sie die aktuelle Situation in Bolivien beschreiben?
Wir erleben in Bolivien einen rassistischen Staatsstreich und Putsch gegen die sozialen Organisationen. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es sich um einen Putsch handelt, weil wir andernfalls eine Regierung akzeptieren würden, die sich als demokratisch ausgibt, sich aber mittels Massakern, Kugeln, illegalen Festnahmen und Prozessen durchsetzt, die zu politischen Gefangenen führen. Die De-facto-Regierung hat erzwungen, dass die Geschäfte wieder öffnen und die Kinder wieder zur Schule gehen, um zu zeigen, dass Normalität herrscht. Gemeinsam mit den von ihr kontrollierten Medien hat die De-facto-Regierung eine Kampagne gestartet, in der die sozialen Organisationen, vor allem die Frauen und Indigenen, als diejenigen dargestellt werden, die Konflikte und Chaos wollen. Das stimmt nicht. Wir wollen Gerechtigkeit. Es gibt keine Normalität, nicht nachdem mindestens 34 Menschen ermordet wurden und Straffreiheit herrscht.

Welche Formen der Repression gibt es derzeit durch die De-facto-Regierung?
Das Militär hat sich nicht vollständig zurückgezogen. In bestimmten Stadtvierteln und Gemeinden führen Polizisten viele Kontrollen durch. Polizisten in Zivil, die Mitgliedern von sozialen Organisationen die ganze Zeit folgen, die uns fotografieren, die beobachten, mit wem wir in der Öffentlichkeit sprechen. Sogar heute noch, am 9. Dezember, können sie dich anhalten, dein Handy durchsuchen und dich in eine Gefängniszelle stecken. Viele politische Anführerinnen und Anführer wurden unter erfundenen Vorwänden festgenommen. Wir leben in permanenter Angst und müssen uns ständig überlegen, worüber wir im Bus oder auf der Straße sprechen. Das betrifft sowohl indigene Frauen als auch Männer, aber besonders indigene Frauen.

Inwiefern sind indigene Frauen besonders betroffen?
Nur einen Monat nach dem Putsch haben wir als Frauen bereits viel verloren. Die Angriffe, die Gewalt, die Erniedrigung von indigenen Frauen, die pollera [Anm. der Redaktion: Rock der Aymara- und Quechua-Frauen] tragen. Aufgrund eines neuen Dekrets darf im Außenministerium zum Beispiel niemand mehr in pollera oder mit aguayo [Anm. der Redaktion: Umschlag- und Tragetuch aus gewebter Wolle] arbeiten, alle müssen Anzug und Krawatte tragen.

Die Frauen, die sich gegen Faschismus und Rassismus stellen, wurden dafür bestraft. Vor allem Aymara-Frauen, sowohl in der Stadt als auch in den indigenen Gemeinden. Wir können nicht mehr ohne Angst durch die Straßen laufen wie vor zwei Monaten, weil sich der Rassismus verschärft hat. Vor dem Putsch hat auch Rassismus existiert, aber er war nicht straffrei. Da es einen plurinationalen Staat gab, konnten sie dir nicht einfach sagen „scheiß India“ oder „geh studieren, bevor du mit mir sprichst“. Heute können sie dich voller Abscheu anschauen und den Sitzplatz wechseln. Heute können sie dich überall misshandeln und demütigen. Viele Menschen, die den Putsch nicht direkt unterstützen, nutzen den Moment, um ihren zuvor unterdrückten Rassismus herauszulassen. Heute Morgen ging ich zur Bank und hatte dort einen Streit, weil sie mir sagten, dass ich mit meinen umgebundenen Tragetüchern nicht in der Bank sein darf. Sie fragten mich, warum ich nicht lernen würde, wie man zur Bank geht? Schon jetzt hat sich unser Leben grundlegend geändert.

Welche Rolle spielt die Justiz in dieser Situation?
In dieser Zeit des Putsches mit bewaffneten Gruppen und illegalen Verhaftungen gibt es kein Gesetz. Sie, der Putsch, sind das Gesetz. Du hast niemanden, bei dem du dich beschweren kannst. Wenn ich zum Beispiel verfolgt werde, wen soll ich dann anzeigen und wo? Die Polizei, die tötet? Das Militär? Bei der Justiz, die zu Unrecht Menschen ins Gefängnis bringt? Zwei unserer Genossinnen sind im Gefängnis und werden wegen Terrorismus verfolgt. Eine von ihnen hat mit einer wiphala, der Flagge der indigenen Völker, an einem Protestmarsch teilgenommen, die andere ist ohne Anlass auf der Straße verhaftet worden.

Diese Justiz hat zum Beispiel die Mitglieder des Wahlgerichtshofes inhaftiert, obwohl noch keine Untersuchung einen Wahlbetrug nachgewiesen hat. Die Präsidentin des Wahlgerichts, María Eugenia Choque, eine indigene Aymara, die die pollera trägt, wurde verhaftet, gefoltert und im Fernsehen in Handschellen vorgeführt, so als ob sie eine große Kriminelle wäre, und ohne Recht auf Verteidigung direkt ins Gefängnis gebracht. Andererseits wurden Anfang Dezember zwei verurteilte Frauenmörder freigelassen, ein weiterer steht kurz davor. Zwölf Vergewaltiger sind straffrei geblieben. Da es kein Gesetz gibt, sind die Richter nun vermutlich korrupt. Schon vorher war die Gerechtigkeit für uns Frauen eine schwierige Sache, aber jetzt ist es schlimmer. Wenn du eine Anzeige machst, wirst du verhaftet.

Die De-facto-Regierung hat Neuwahlen versprochen …
Ich und meine Organisation denken, dass die Wahlen eine Falle sind. Entweder die Wahlen werden gar nicht stattfinden oder sie werden unter den Bedingungen realisiert werden, die die De-facto-Regierung diktiert. Momentan gibt es keine Demonstrationen und keine Straßenblockaden mehr. Das hat die De-facto-Regierung erreicht, indem sie eine Vereinbarung mit dem Gewerkschaftsdachverband COB und verschiedenen sozialen Organisationen zur Befriedung des Landes abgeschlossen und Neuwahlen versprochen hat. In dieser Vereinbarung steht, dass die Anführer der Proteste nicht verfolgt werden, aber die Regierung hält sich nicht an ihr Wort.

Wie ist angesichts dessen die Strategie der sozialen Organisationen hinsichtlich der Wahlen?
Manche meinen, dass wir gar nicht an den Wahlen teilnehmen sollten. Andere denken, dass die Partei der Bewegung zum Sozialismus (MAS, Partei des aus dem Amt geputschten Präsidenten Evo Morales, Anm. d. Red.) verschwinden sollte, aber die meisten planen sie wieder als politisches Instrument zu nutzen, denn letztendlich ist es die einzige Möglichkeit, um an den Wahlen teilzunehmen.

Im ersten Moment nach dem Putsch herrschte ein allgemeiner Terror, in dem sich unsere politischen Anführerinnen und Anführer versteckt haben. Nun sind wir in einem zweiten Moment, in dem wir verstehen, dass es uns lähmt, wenn wir uns von der Angst fressen lassen. Also streiten wir auch wieder auf den Straßen. Derzeit gibt es zwei Dimensionen des Kampfes. Zum einen Versammlungen und Diskussionen zwischen den verschiedenen Organisationen, um den Widerstand vorzubereiten. Zum anderen müssen auch die Wahlen vorbereitet und Kandidaten gesucht werden. Für uns als antipatriarchale gemeinschaftliche Feministinnen ist wichtig, dass ein Mann und eine Frau gemeinsam antreten. Wir glauben, dass Bündnisse mit der Mittelschicht nicht mehr funktionieren. Als Evo und Álvaro García Linares (ehemaliger Vizepräsident, Anm. der Red.) Kandidaten waren, repräsentierte Álvaro García die Mittelschicht. Aber die Mittelschicht ist rassistisch und erträgt nicht, dass wir nicht mehr ihre Angestellten sind. Deshalb sind sie auf die Straße gegangen und haben gesagt, dass Evo ein Diktator ist.

Als Wahlen angekündigt wurden, haben die Protestierenden die Blockaden aufgegeben. Sie haben gesagt, dass Sie die Wahlen für eine Falle halten. Wird darüber nachgedacht, wieder zu mobilisieren?
Es war ein Fehler die Blockaden aufzugeben, aber es gab auch einen sehr starken Druck und außerdem fehlende Einigkeit. Es ist nicht wie 2003 während des Gaskrieges, den wir auf der Straße durchstehen konnten. Die Organisationen sind jetzt geschwächter. Wären wir auf der Straße geblieben, wären wir allerdings gestärkt worden, denke ich. Es gibt zwei kritische Momente, die sicher zu einer erneuten Mobilisierung führen werden, weil sie nicht durch Dialog gelöst werden können: Erstens wenn sie versuchen, der MAS unter dem Vorwand von Betrug und Unregelmäßigkeiten die Zulassung als politische Partei zu entziehen – denn das ist einer der Pläne der De-facto-Regierung. Und dann am Tag nach den Wahlen, falls sie durch Stimmen oder Betrug gewinnen.

Dazu kommt noch die wachsende Empörung und Wut über die Toten, über die Straffreiheit und über die Erniedrigung durch die Gewährung einer Entschädigung von 7.000 Dollar pro Toten seitens der Regierung, wenn die Familien unterschreiben, dass sie niemals eine juristische Untersuchung anstrengen werden.

Wer sind die Gruppen im Widerstand? Sind sie sich einig in ihren Forderungen?
Es gibt verschiedene Organisationen im Widerstand gegen den Putsch: Die Kleinbauernvereinigung, indigene Organisationen, Arbeiterorganisationen und Frauenorganisationen. Natürlich gibt es Uneinigkeit. Das hängt auch damit zusammen, dass wir mehr als 13 Jahre Teil des Staates gewesen sind, in denen es große Machtkämpfe und sehr viel Konkurrenz gab, etwa um Ministerämter. Viele Anführerinnen und Anführer repräsentieren die Basis nicht mehr. Aber es gibt Gemeinsamkeiten, zum Beispiel dass die Massaker nicht hingenommen werden und die Verantwortlichen für die Toten nicht straffrei bleiben dürfen. Wir von Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Antipatriarchaler Feminismus) gehören zum Beispiel nicht zur MAS. Aber wir kämpfen gegen den Staatsstreich, gegen den Faschismus, gegen den Fundamentalismus, gegen die Zwang zur Bibel.

Gleichzeitig müssen wir auch Selbstkritik üben. Uns Feministinnen ist es wichtig, die patriarchalen Pakte von Evos Regierungszeit überwinden zu helfen. Wir haben es nicht geschafft, den Staat zu kontrollieren, die extraktivistische Politik zu beenden, den Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen zur Priorität zu machen. Wir haben es auch nicht geschafft, den Bergbau zu verstaatlichen, denn transnationale US-Unternehmen nehmen sich weiterhin das gesamte Erz des Landes. Ich erzähle das, weil es eine reduzierte Sichtweise des Feminismus gibt, der strukturelle Aspekte ausklammert.

Können Sie das näher ausführen?
Der Feminismus verwechselt oft die Konzepte des Patriarchats und des Machismus. Das hat auch mit der Theorie zu tun, die vor allem in Europa entwickelt wurde, wo zum Beispiel von machistischer Gewalt gesprochen wird. Luis Fernando Camacho etwa, der den Staatsstreich anführt und die reichsten Unternehmer des Landes, die Großgrundbesitzer, vertritt: Menschen wie er haben Kapital und Land, in ihrer täglichen Praxis leben sie von der Ausbeutung von Frauen in ihren Territorien, in ihren Ländern, in ihren Unternehmen, in ihren Fabriken. Sie fördern die Kultur der Gewalt der Bosse; sie vermeiden es Steuern zu zahlen, machen im Bergbau Geschäfte, haben Holzfirmen, fördern den Faschismus. So jemand ist ein Patriarch, auch wenn er wie etwa Camacho in seinen Äußerungen Frauen gegenüber sehr respektvoll ist. Evo Morales ist dagegen bekanntermaßen ein Macho: Er macht Witze über Frauen und glaubt, dass wir Frauen uns doppelt oder dreifach anstrengen müssen, um zu beweisen, dass wir fähig sind. Das ist schlimm für einen Präsidenten, aber dennoch stellt ihn das nicht auf die gleiche Stufe wie die Putschisten. Letztlich ist das Patriarchat etwas Strukturelles, das mit dem Kapitalismus in Verbindung steht, während der Machismus ein Verhalten ist.

Kann der Putsch auch eine Gelegenheit bieten, um Kritiken an Evo Morales‘ Regierung, die aus der indigenen Basis kommen, umzusetzen?
Durch den Putsch haben sich die Organisationen im Kampf, im Widerstand gegen die Unterdrückung auf der Straße getroffen. Dadurch haben wir unsere Zersplitterung erkannt. Es war auch ein Moment der Autonomie, denn nicht alle Protestierenden unterstützten Evo. Wir haben versäumt, die Führungsperson zu wechseln, auch wenn Evo ein wichtiges Symbol in diesem Prozess ist, als indigener Präsident, der von der Straße, aus der Gewerkschaft kommt. Viele haben gesagt, es geht hier nicht nur um Evo, sondern darum, unsere Organisationen wiederaufzubauen, uns wieder zu vereinen mit dem Ziel, den Staatsstreich rückgängig zu machen.

Was können wir von hier aus tun, um Sie zu unterstützen? Was erwarten Sie von Aktivist*innen und den Regierungen in Europa?
Den Putschisten ist es egal, wenn wir im Land protestieren und wenn sie uns töten. Aber die De-facto-Regierung besteht aus Geschäftsleuten, die Rohstoffe durch transnationale Unternehmen aus Europa und den USA ausbeuten lassen wollen. Der internationale Druck tangiert sie. Es ist nötig, dass ihr in Europa und USA gegen diese Unternehmen kämpft, die hier durch Bergbau und Wasserkraftwerke die Wälder zerstören. Mehr noch als uns hier zu unterstützen, brauchen wir, dass ihr dort kämpft, damit diese Unternehmen nicht mehr herkommen. Es ist wichtig, dass der Putsch und die Verbrechen auf internationaler Ebene verurteilt werden und dass die Gewerkschaften, sozialen Organisationen, politischen Parteien, Regierungen, das EU-Parlament und der US-Kongress die De-facto-Regierung als solche betrachten und nicht als demokratisch gewählte. Dieser Druck ist wichtig.

Newsletter abonnieren