Eine Krise jagt die nächste

Chaco Salteño Wichí-Frauen im Protestcamp von Misión Chaqueña und Carboncito (Foto: Naomi Henning)

Das Waldstück, in dem sich das Protestcamp befindet, wurde im vergangenen Jahr ohne Konsultation mit den indigenen Gemeinden verkauft. Der „sogenannte Eigentümer“ (supuesto dueño), wie ihn die Wichí-Frauen nennen, versucht seither, mit dem Holzverkauf Geld zu verdienen. Mithilfe eines Anwalts soll aufgeklärt werden, woher dieser neue Landnutzer mit einem Besitztitel wie aus dem Nichts erscheinen konnte.

„Wir wollen vor allem verhindern, dass er den Wald einzäunt“ ,so Lucy Gutierrez, eine der Initiator*innen des Protestcamps. Denn das Einzäunen ist der erste sichtbare Schritt hin zur Privatisierung gemeinschaftlich genutzter Ressourcen. Die Frauen des Protestcamps erklären, warum die verschiedenen Bäume und Pflanzen des Waldes und der freie Zugang zu ihnen so existenziell wichtig sind: Das Hartholz wird für den Möbelbau benötigt, das Brennholz zum Kochen. Aus der Chaguar-Pflanze fertigen die Weber*innen der Wichí kunstvolle Textilprodukte. Bäume wie der Mistól und der Algarrobo sind eine wichtige Nahrungsquelle für die indigene Bevölkerung dieses Gebiets, die bis vor wenigen Generationen nomadisch im und vom Wald lebte. Diese Praktiken sind bis heute wichtiger Teil der kulturellen und materiellen Existenz der Wichí. „Der Wald ist unsere Apotheke“, erklärt Lucío Palavesino und zeigt auf verschiedene Büsche und Bäume, deren Blätter gegen Verdauungskrankheiten oder Fieber helfen. Doch diese Ressourcen des Waldes verschwinden nach und nach. Das Wissen über die Pflanzen und Tiere und die nachhaltige Nutzung des Waldes gehe immer weiter verloren, da die jüngere Generation kein Interesse mehr daran habe. Trotzdem würden sie alles tun, um die Zerstörung des Waldes aufzuhalten – wenn nötig mit direkter Aktion und Körpereinsatz.„Wir wollen hier keine Finca, die alles abholzt und uns mit Agrargiften besprüht“, erklärt Lucy. „Wir sehen das in der Umgebung in den anderen Dörfern, wo es Menschen mit Hautproblemen oder Missbildungen gibt.“

Der Einsatz von Pestiziden führt bei Kindern zu Durchfall und Erbrechen

Allein seit dem Jahr 2000 wurde ein Viertel der Waldflächen des Gran Chaco abgeholzt. Ab 2007 trat in Argentinien zwar ein nationales Waldschutzgesetz in Kraft, doch die Abholzung schreitet weiter voran, wenn auch etwas verlangsamt. Was auf den Verlust des gemeinschaftlich genutzten Waldes folgt, lässt sich in der comunidad La Esperanza, einige Kilometer weiter westlich beobachten. Bis hier ist die Abholzungswelle entlang der Nationalstraße 53 vorgedrungen. Das war vor etwa 15 Jahren, berichtet Mario Molina, cacique (indigener Anführer) der kleinen Wichí-Gemeinde. Auf mehreren Seiten seien sie heute von Soja-, Mais- und Erbsenfeldern umgeben. Während der Saatperiode werden hier, nur wenige Meter von der Siedlung entfernt, Pestizide versprüht, die vor allem bei den Kindern zu Reaktionen wie Durchfall und Erbrechen führen. Die Bewohner*innen von La Esperanza leiden unter Haut- und Atemwegsproblemen. In dieser kleinen Siedlung von nur 30 Familien gibt es sieben Fälle von Missbildungen bei Kindern. Immer wieder hätten sie die Pestizidvergiftungen angezeigt, doch bisher habe die Justiz nicht reagiert.

In der kleinen Gemeinde gibt es so gut wie keine medizinische Versorgung und die Familien fühlen sich mit den teils schweren Gesundheitsproblemen völlig allein gelassen. Ihnen sei mit dem Wald auch die Bewegungsfreiheit und ein Teil ihrer Grundversorgung genommen worden, so Molina. Heute seien sie weitaus mehr auf Geld für Lebensmittel und Medikamente angewiesen, doch es gibt keine Arbeit in der industriellen Landwirtschaft. Viele an Ortschaften angrenzende Fincas sind dazu übergegangen, die Pestizide im Schutz der Dunkelheit auf den Feldern auszubringen. Das berichten auch die Bewohner*innen der comunidades O KaPukie und Quebracho am Rand der weiter nördlich gelegenen Stadt Tartagal. Vor Kurzem stellten sich die Menschen hier einem Sprühfahrzeug in den Weg, nachdem der Chemikalien-Gestank vom benachbarten Sojafeld sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Viele der Beteiligten litten danach unter Erbrechen und Schwindel. Auch aus den comunidades in der Umgebung wird immer häufiger über Hautprobleme, Krebskrankheiten sowie Fehl- und Frühgeburten berichtet.

An der Ruta 34 Ein von der Abholzung verschonter Palo Borracho (Foto: Naomi Henning)

Die tropische Stadt Tartagal liegt am Rand der Chaco-Ökoregion, das zweitgrößte Waldgebiet Südamerikas und ein sogenannter Entwaldungs-Hotspot. Knapp 60 Kilometer von der Grenze zu Bolivien entfernt, ist Tartagal eine Durchgangszone für eine Vielzahl legaler und illegaler Güter und zugleich ein Ort von immenser kultureller Vielfalt. Hier leben Nachfahren unterschiedlicher Gruppen von Einwander*innen zusammen mit Menschen aus sieben verschiedenen indigenen Völkern. Die nordsüdlich verlaufende Ruta 34 und die nach Osten aus der Stadt führende Ruta 86 sind zugleich die Achsen, entlang derer sich die Abholzung und das System des Monokulturanbaus in den vergangenen Jahrzehnten vorangeschoben hat. Hier lassen sich der argentinische Agrarextraktivismus,die export- und profitgetriebene Produktion für den Weltmarkt wie unter einem Brennglas beobachten. Entlang der Ausfallstraßen siedeln sich die an, die aus dem Zentrum der Stadt und den traditionell genutzten Territorien im Hinterland verdrängt wurden. So wachsen die informellen Siedlungen um Tartagal, viele ohne Anschluss an die städtische Infrastruktur und Zugriff auf sauberes Trinkwasser, im Zustand einer fortgesetzten Ernährungs -und Gesundheitskrise. Hier folgt eine Krise auf die nächste, berichtet Araceli Gorgal, eine junge Ärztin aus der Provinz Buenos Aires, die in Tartagal ihren sozial-medizinischen Praxisaufenthalt absolviert. Vor allem das Thema Ernährung müsse als erstes angegangen werden.

Noch immer sterben jedes Jahr Kinder in den indigenen comunidades im Norden Saltas an der Kombination von Mangelernährung und Durchfallerkrankungen. Dies geschieht vor allem in der Regenzeit im Januar und Februar, wenn die Belastung durch Krankheitserreger hoch ist. Die Wasserkrise scheint im dritten und besonders extremen Dürre-Sommer Anfang 2023 auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt. Das betrifft nicht nur die indigene Bevölkerung Saltas, sondern alle Menschen in der Region, die in prekären Konditionen leben und von den staatlichen Institutionen im Stich gelassen werden. Auch die Criollo-Bevölkerung – Nachfahren der aus Europa eingewanderten Siedler*innen – kämpft um den Zugang zu grundlegenden Infrastrukturen wie Trinkwasser, Elektrizität und sichere Landtitel. Die Konstruktion der indigenen Bevölkerung als alleiniges Opfer sehe sie daher kritisch, betont Gorgal.

Zugleich muss jedoch deren besondere Situation in den Blick genommen werden. Viele der Menschen aus den indigenen comunidades im Norden Argentiniens sind mit einem radikalen und plötzlichen kulturellen Wandel durch die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft und den Verlust des Waldes als Subsistenzgrundlage konfrontiert. Die Veränderung in Lebensweise und Ernährung, die damit einherging, bildet den Hintergrund der Gesundheitskrise, die die Menschen in Tartagal und im Umland täglich begleitet.

Entlang der Ruta 86 und in den barrios, in denen Araceli Gorgal unterwegs ist, um den Gesundheitszustand in den comunidades zu dokumentieren, sehe sie viele Kinder mit Übergewicht und gleichzeitig Symptome fortschreitender chronischer Unterernährung. Dies sind überregionale Phänomene von Armut und eines grundlegenden Nährstoffmangels, der oft mit dem übermäßigen Konsum von fett-, zucker- und kohlehydratreicher Ernährung zusammenfällt. „Erst nehmen sie uns das Land weg und jetzt killen sie uns mit Zucker“, so formuliert es Lucy Gutierrez. Die Folgen zeigen sich in einer starken Zunahme von Diabetes Typ 2 und Entzündungen des Verdauungstraktes. Dahinter stehen andere Prozesse wie die Zunahme von häuslicher Gewalt, Schwangerschaften bei Teenagern und eine Welle von Alkohol- und Drogenkonsum, die viele der Jugendlichen mit sich reißt.

Die Regierung von Präsident Fernández befindet sich in einer Zwangssituation

Die Provinz beschränkt sich vor allem darauf, Symptome zu bekämpfen. Lastwagen mit Trinkwasser und Nahrungspaketen rattern über die Landstraßen, um die Grundversorgung der ärmsten Teile der Bevölkerung sicherzustellen. In umgekehrter Richtung werden die gemästeten Rinder des Agrarkonzerns Desdelsur tagtäglich in Richtung Schlachthof abtransportiert. Während der Erntezeit verlassen mit Sojabohnen gefüllte LKWs bei Tag und bei Nacht diese Zone. Ein hochentwickelter und technisierter Agrarsektor produziert hier Proteine für den Weltmarkt, während der Hunger in der argentinischen Bevölkerung allein zwischen 2019 und 2021 um 30 Prozent zugenommen hat. 43 Prozent der Argentinier*innen leben unter der Armutsgrenze. Hier im äußersten Norden des Landes fallen diese immanenten Widersprüche des argentinischen Rohstoff-Exportsystems besonders krass ins Auge.

Die peronistische Regierung von Alberto Fernández befindet sich in einer Zwangssituation. Eine Inflation von 104 Prozent und die erdrückende Dollar-Schuldenlast machen es nicht leichter, ein Agrarsystem zu reformieren, das sich so effizient zur Beschaffung von Devisen ausnutzen lässt. Zum anderen zementieren die seit jeher konservativen lokalen Machtstrukturen die eklatanten Mängel in der strukturellen Versorgung und die soziale Ungleichheit.

Der durch die Dürre verursachte Einbruch der Agrarexporte in der aktuellen Saison zeigt jedoch die Fragilität eines solchen Entwicklungsmodells auf. Eine systematische Förderung der kleinbäuerlichen Produktion, öffentliche Investitionen und die Eindämmung der ökologischen und sozialen Lasten durch die industrielle Landwirtschaft wären dringend notwendig, um den multiplen Krisen im Chaco Salteño zu begegnen. Die Kontinuität der kolonialen Enteignung der ursprünglichen Bevölkerung der Region und die historischen Widersprüche in der argentinischen Klassengesellschaft wären damit jedoch noch lange nicht aufgelöst.

IM „PARADIES DER AGRARGIFTE“

(Foto: Christian Russau)

Larissa Bombardi ist Professorin der Geografie an der Universität von São Paulo. Eigentlich. Eigentlich würde sie, wie seit ihrer Berufung an die international renommierte Universität im Jahr 2007, weiter vor Ort lehren, forschen und ihre Untersuchungen veröffentlichen. So wie sie es 2019 mit ihrer Studie zur Geografie des Pestizid-Einsatzes in Brasilien und dessen Verbindungen zur EU getan hatte. Bombardi ermittelt, in welchen Gemeinden Brasiliens wie viele Pestizide eingesetzt werden. Sie sammelt Daten über Pestizidvergiftungen und darüber, wie hoch die Krankheitsraten zum Beispiel bei Krebserkrankungen in den Gemeinden sind. „Als Geografin lege ich die Daten in Form von Karten übereinander“, erklärte die Wissenschaftlerin bereits 2019 bei ihrem Besuch in Berlin gegenüber LN. Bombardis Karten haben es in sich. Denn sie zeigen deutlich: Wo viele Pestizide versprüht werden, steigen auch die Krankheitsfälle.

Die Wissenschaftlerin stellte diese Informationen im Jahr 2019 auch in Europa vor. Nachdem darüber in den Medien berichtet wurde, erhielt sie erste anonyme Telefonanrufe, indirekte Drohungen. Ihre Kompetenz wurde öffentlich in Abrede gestellt, sie wurde beschimpft und diffamiert. Und die Drohungen nahmen zu. Bis im August 2020 bei ihr eingebrochen wurde. Gestohlen wurden ein Fernseher und ein Laptop. „Ich kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass dies ein weiterer Einschüchterungsversuch war, ob dies mit meinen Forschungen über Agrargifte zu tun hatte“, sagt Bombardi. Aber ihre Entscheidung stand am nächsten Tag fest. Zur Sicherheit ihrer Kinder und ihrer selbst ging sie ins Exil, nach Brüssel. Dort lebt sie jetzt von einem kleinen Stipendium. Doch die Rückkehr nach Brasilien ist für sie keine Option. „Lieber eine lebendige Mutter in Belgien als eine tote in Brasilien“, sagte sie im Oktober 2021 in einem Interview mit Zeit Online.

Während Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen wie Bombardi eingeschüchtert und bedroht werden oder ins Ausland gehen, verfestigt die Bolsonaro-Regierung Brasiliens Führungsrolle beim Pestizidverbrauch: Neuesten Erhebungen des Professors Marcos Pedlowski von der staatlichen Universität in Campos dos Goytacazes im Bundesstaat Rio de Janeiro wurden in den 36 Monaten der Bolsonaro-Regierung bis Ende 2021 insgesamt 1.558 neue Agrargifte zugelassen. Zum Vergleich: In den Regierungsjahren der Arbeiterpartei PT (2003-2016) lag der jährliche Durchschnitt für Neuzulassungen bei 140 Pestiziden, die Temer-Regierung steigerte diese Zahl 2017 und 2018 auf 341 pro Jahr. Bolsonaro hob das Dreijahresmittel auf 519 Zulassungen. Und das brasilianische Agrobusiness sprüht, was das Zeug hält. Es sind dabei meist die ins Ausland exportierten Cash Crops wie Soja, Mais, Baumwolle, Kaffee und Zitrusfrüchte, die am meisten Agrarchemikalien ausgesetzt werden.

Krebsraten liegen in Agrar-Gemeinden neun Mal höher

Seit in Brasilien im Jahr 2010 erstmals mehr als eine Million Tonnen der agrotóxicos in der Landwirtschaft versprüht wurden, trägt es den unrühmlichen Titel des größten Agrargiftver- brauchers weltweit. Mit Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias ist eine erklärte Lobbyistin in Sachen Agrarchemikalien Bolsonaros Landwirtschaftsministerin. Selbst die liberale Tageszeitung Folha de São Paulo bezeichnete die Ministerin als „Muse des Giftes“. All dies hat Folgen. „Seit Anfang der 2000er Jahre wird viel genmodifiziertes Saatgut verkauft, das nicht stirbt, wenn man beispielsweise großflächig mit Glyphosat spritzt. Die industrielle Landwirtschaft in Brasilien ist total abhängig von Agrargiften“, konstatiert der Aktivist Alan Tygel von der brasilianischen Kampagne gegen Agrargifte.

Eine Studie der Bundesuniversität von Mato Grosso stellte bei einer Untersuchung fest, dass es in 13 Gemeinden mit 644.746 Einwohner*innen (laut des letzten Zensus von 2015), in denen zwischen 1992 und 2014 Soja, Mais und Baumwolle angebaut wurde, 1.442 Fälle von Magen-, Speiseröhren- und Bauchspeicheldrüsenkrebs gab. In den 13 Vergleichsgemeinden mit 219.801 Einwohner*innen , wo eine vorwiegend touristische Nutzung stattfand, lag die Zahl der Krebsfälle bei 53. Daraus errechnet sich in agrarwirtschaftlich genutzten Gemeinden, wo intensiv Pestizide eingesetzt werden, statistisch eine neun Mal höhere Krebsrate.


Seit Bolsonaros Amtsantritt wurden 1558 Agrargifte zugelassen

Hinzu kommt: In Brasilien werden jedes Jahr Tausende von Menschen durch Pestizide vergiftet. Ihre Zahl steigt Jahr für Jahr an: 2007 lag sie bei 2.726 Fällen, 2017 schon bei 7.200, ein Anstieg um mehr als 160 Prozent. Die für die Datensammlung der Vergiftungsfälle zuständige nationale Behörde für Gesundheitsüberwachung (ANVISA) musste auf Geheiß der Bolsonaro-Regierung die Erhebungsmethode ändern. Bei einer Anhörung im brasilianischen Senat vergangenen September warf die Wissenschaftlerin Silvia do Amaral Rigon der Regierung daher vor, dass neuere Statistiken nicht mehr die Realität abbilden.

Auch nicht-landwirtschaftlich genutzte Regionen sind von den Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden betroffen. Dies betrifft zum einen die Fälle, in denen verspritzte Agrarchemikalien als Rückstände auf den konsumierten Nahrungsmitteln verbleiben. Laut den jüngsten vorliegenden Zahlen der ANVISA (2017/18) wurden bei Stichprobenüberprüfungen 14 gängiger landwirtschaftlicher Produkte (darunter Ananas, Knoblauch, Reis, Süßkartoffeln und Karotten) in 23 Prozent der Fälle die zulässigen Grenzwerte überschritten.
Ein weiterer äußerst kritischer Bereich ist das Trinkwasser. Das Gesundheitsministerium prüft bislang auf 27 Stoffe, die teils schwere Gesundheitsgefährdungen bei Kontakt bewirken können. Laut ANVISA gelten 16 dieser Substanzen als „extrem toxisch“ oder „hoch toxisch“, 11 werden in Zusammenhang mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Missbildungen oder reproduktiven Störungen gebracht. Was die brasilianische Öffentlichkeit im April 2019 vor allem schockte: Im Jahr 2014 wurden in 75 Prozent der Tests Rückstände von Agrarchemikalien im Trinkwasser gefunden, 2017 waren es 92 Prozent der Tests. Bolsonaro erließ im Mai 2021 ein Dekret, das die zu untersuchenden Stoffe im Trinkwasser auf insgesamt 40 erhöhte, aber die großzügigen Grenzwerte nicht antastete.

Das Gift deutscher Konzerne bleibt in Brasilien

„Eure Firmen aus Deutschland exportieren Pestizide und Deutschland importiert billige Agrarrohstoffe. Das Gift bleibt in Brasilien zurück“, sagt Larissa Bombardi Ende 2020 bei einem Gespräch mit LN in Berlin. Und sie erinnert daran, dass die Grenzwerte in Brasilien deutlich höher seien als in der EU. Bei Glyphosat ist der brasilianische Toleranzwert 1.000-mal höher als der in der EU gültige Wert. Dies trifft letztlich auch die Konsument*innen in Europa: Im Mai vergangenen Jahres hatte Greenpeace Früchte aus Brasilien auf Rückstände von Agrargiften getestet. Das Ergebnis: „Die Laboruntersuchungen der 70 Früchte belegen Rückstände von insgesamt 35 verschiedenen Pestizidwirkstoffen. Insgesamt viermal wurden die gesetzlichen Höchstmengen überschritten. Die analysierten Proben bestehen sowohl aus Schale als auch aus Fruchtfleisch.“

Zu den größten Verkäufern von Pestiziden in Brasilien zählen zwei Firmen aus Deutschland: Bayer und BASF. Diese verkaufen in Brasilien auch Pestizide mit Wirkstoffen, die in der EU verboten sind. Die Zahl der von Bayer in Brasilien vertriebenen, aber laut der Pestizid-Datenbank der EU in Europa nicht zugelassenen Wirkstoffe, hat von 8 im Jahr 2016 auf 12 im Jahr 2019 zugenommen, bei BASF ist eine Zunahme von 9 (2016) auf 13 (2019) festzustellen.

Und die europäische Politik? Die setzt weiter auf, beispielsweise, das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen. Greenpeace warnt: „Wird das geplante EU-Mercosur-Abkommen abgeschlossen, sinken die Zölle auf Pestizide. Dies dürfte deren Absatz und den giftigen Handel noch steigern.“ Larissa Bombardi empört dieses Vorgehen: „Es kann nicht sein, dass bestimmte Stoffe in der EU verboten sind, aber Bayer und BASF sie an Brasilien verkaufen.“ Dass solchen Exporten ein Ende gemacht wird, will sie auch auf der nächsten Hauptversammlung der Bayer AG Ende April fordern.

GIFT UND ZUCKER

Cortina Martínez Eine betroffene Kleinbäuerin, Foto: Isabel Nordhausen, INKOTA-netzwerk

Die letzten verlässlichen, aus dem Jahr 2013 stammenden Zahlen sind alarmierend: In Nicaragua und El Salvador wurden 43 bzw. 42 Todesfälle pro 100.000 Einwohner*innen infolge von chronischem Nierenversagen gemeldet. Da die Menschen in den Zuckerrohranbauregionen oft nur eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben und häufig keine notwendige Maßnahmen wie Dialyse und Transplantationen in Anspruch nehmen können, führen fortgeschrittene Stadien von chronischer Niereninsuffizienz meist zu einem schnellen Tod.

Vertreter*innen der Vereinigung für die integrale Entwicklung von Frauen (APADEIM), die im Landkreis El Viejo im Nordwesten von Nicaragua kleinbäuerliche Familien unterstützt, beschreiben eindrücklich die Lebenssituation der dortigen Bevölkerung. So berichtet die Kleinbäuerin Cortina Martínez, deren Ehemann an chronischer Niereninsuffizienz leidet und die seit mehreren Jahren an Projekten und Organisationsprozessen von APADEIM teilnimmt: „Die Zuckerrohrplantagen, die Monte Rosa hier im unmittelbaren Umfeld unserer Gemeinde angelegt hat, schädigen uns in allen Lebensbereichen. Alle zwei Wochen, manchmal auch öfter, werden Pestizide versprüht. Meist mit einem Flugzeug, manchmal auch mit Traktoren. Unser Wasser ist vergiftet. Aus unserem Brunnen trinke ich schon lange kein Wasser mehr. Hier in meiner Gemeinde ist die Mehrheit der Menschen erkrankt, sowohl Männer als auch Frauen und Kinder.“ Auch María Luisa Mercado, die 14 Jahre lang Zuckerrohr geschnitten hat und selbst von Nierenversagen betroffen ist, erzählt: „Man erfährt immer wieder von anderen Personen, die gestorben sind und dann denkt man, dass es in jedem Augenblick auch einen selber treffen kann.“

Seit einigen Jahren ist unter internationalen Wissenschaftler*innen eine rege Debatte über die Ursachen der chronischen Niereninsuffizienz in landwirtschaftlich geprägten Gemeinden entflammt. Dabei stehen sich im Kern zwei Theorien gegenüber: Einige vertreten die These, das Auftreten von chronischer Niereninsuffizienz unter Zuckerrohrarbeiter*innen werde vor allem durch die starke Hitze in Kombination mit schwerer körperlicher Arbeit und der daraus resultierenden Austrocknung des Körpers verursacht. Dabei fällt auf: Mindestens eine Untersuchung von 2019 wurde von der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) sowie der größten nicaraguanischen Zuckermühle Ingenio San Antonio (ISA) finanziert, die sich aufgrund massiver Beschwerden seit einigen Jahren um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie der Gesundheitsversorgung in den Zuckerrohranbaugebieten bemüht. Ob die Zuckerindustrie dabei direkt auf die Studienergebnisse Einfluss genommen hat, bleibt unklar − offensichtlich ist jedoch, dass die präsentierten Lösungen wie mobile Schattenspender und Trink- wasserstationen auf den Plantagen einen vergleichsweise geringen Eingriff in die Produktionsstrukturen darstellen, was die Industrie begrüßen dürfte.

Andere Wissenschaftler*innen halten die Hitzestress-Theorie jedoch nicht für haltbar. So sei damit nicht erklärbar, warum die Sterblichkeitsrate in El Salvador und Nicaragua 17 Mal höher ist als etwa in Kuba, wo auch Zuckerrohr angebaut wird und ein ebenso heißes Klima herrscht. Gleichzeitig wurden in Sri Lanka, das ebenfalls stark unter dem vermehrten Auftreten von chronischer Niereninsuffizienz leidet, im Vergleich die wenigsten Fälle in der heißesten ariden Zone registriert. Jüngste epidemiologische Untersuchungen eines internationalen Forscher*innenteams um den salvadorianischen Nephrologen Carlos Orantes und den belgischen Nierenfacharzt Marc De Broe legen indes nahe, dass das vermehrte Auftreten von chronischer Niereninsuffizienz mit dem gesteigerten Einsatz von Pestiziden – vor allem Herbiziden – einhergeht. Diese werden unter anderem als Wachstumshemmer eingesetzt, um das Zuckerrohr am Ende der Anbausaison besser ernten zu können. Zum Teil ersetzen Herbizide heute auch die früher gängige und aufgrund der extremen Gesundheits- und Umweltschädlichkeit inzwischen weitgehend verbotene Praxis, das Zuckerrohr vor der Ernte abzubrennen. Durch den Vergleich von Gewebeproben stehen nun vor allem Glyphosat und Paraquat im Verdacht, maßgeblich zum Auftreten von chronischer Niereninsuffizienz beizutragen − sowohl unter Plantagenarbeiter*innen als auch unter Bewohner*innen von Gemeinden, deren Trinkwasser aus Brunnen stammt, die mit Glyphosat verunreinigt sind.

Auch Umweltaktivist*innen in Nicaragua und El Salvador sind überzeugt: Das Problem sind die Pestizide. Aus Sicht von Adalberto Blanco von dem salvadorianischen Kooperativenverband der Agrarreform in der Zentralregion (FECORACEN) ist der Einsatz teils hochgefährlicher Pestizide eins der zentralen Hindernisse, die einer Transformation der Landwirtschaft hin zu einer nachhaltigen, agrarökologischen Nahrungsmittel- produktion und zum Erreichen von Ernährungssouveränität im Weg stehen. Vor allem die gesundheitlichen Auswirkungen sind frappierend: Dem salvadorianischen Gesundheitsinstitut zufolge wurden zwischen 2011 und 2015 jährlich rund 1.500 akute Pestizidvergiftungen registriert. Gut ein Drittel davon ist auf Versuche von Bäuerinnen und Bauern zurückzuführen, sich mit Pestiziden das Leben zu nehmen, der Rest wurde durch die tägliche Arbeit oder Unfälle verursacht.

Auf internationaler Ebene wurden seit 30 Jahren keine globalen Daten mehr zu den Pestizid-Opferzahlen erhoben. Nach letzten Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beziehungsweise der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) werden jährlich drei Millionen Menschen weltweit wegen einer akuten Pestizidvergiftung behandelt und 25 Millionen Menschen erleiden weniger akute Vergiftungen, während 20.000 bis 40.000 Menschen dadurch am Arbeitsplatz sterben. Ein Großteil dieser Pestizidvergiftungen ereignet sich in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Deutlich schwieriger zu erfassen sind die langfristigen gesundheitlichen Schäden, die durch Pestizide verursacht werden. Medizinische Untersuchungen in Argentinien aus den Anbauregionen von Ackerpflanzen wie Soja, die meist unter Einsatz von Pestiziden angebaut werden, dokumentieren die dramatischen Auswirkungen: Dort wurden unter anderem eine deutlich höhere Fehlgeburtsrate, häufigere Missbildungen bei Säuglingen und fast doppelt so viele Krebserkrankungen im Vergleich zum nationalen Durchschnitt bemessen.

Wissenschaftler*innen sind sich uneinig über Krankheitsursachen


Zuckerrohr ist eine der wichtigsten so genannten flex crops, also Pflanzen, deren Anbau als Nahrung, aber auch zu anderen Zwecken dienen kann. Der Anbau solcher Pflanzen wurde in den letzten Jahrzehnten in vielen Regionen der Welt massiv ausgeweitet. So hat sich die Anbaufläche für Zuckerrohr in Zentralamerika zwischen 1990 und 2018 mittlerweile verdoppelt. Die Zuckerproduktion teilt sich auf in die Herstellung und den Export von Zucker, Alkohol und Bioethanol als Kraftstoff. Letzteres wird als Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit verkauft. So schreibt etwa die Zuckermühle San Antonio, der größte nicaraguanische Exporteur von Agrarkraftstoffen mit einer Produktionskapazität von 340.000 Litern pro Tag, auf ihrer Webseite: „Durch diese Investitionen [in die Produktion von Agrartreibstoffen] trägt das Unternehmen zur Schaffung von ökologischen und sozialen Vorteilen bei, die mit dem Produkt in Zusammenhang gebracht werden.“

Gleichzeitig steht fest: Ob für Bioethanol, industriellen Zucker oder neuerdings auch für so genanntes Bio-Plastik − die Produktion von Zuckerrohr trägt nicht zur Ernährungssicherung bei. Angesichts der inzwischen zum fünften Mal in Folge gestiegenen Hungerzahlen und der gleichzeitig wachsenden Zahl an mangel- oder überernährten Menschen stellt der Zuckerrohranbau eine mehr als fragliche Nutzung von Anbauflächen dar. Denn Exportpflanzen wie Zuckerrohr, Sojabohnen oder Baumwolle ersetzen zunehmend Nahrungsmittelpflanzen. In Bolivien zum Beispiel ist die Produktion von Getreide, Gemüse, Früchten, Knollen und Futtermitteln in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 27 Prozent zurückgegangen, was zu einer Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten führt und die Ernährungssicherheit und -souveränität stark beeinträchtigt.

Um das Problem der Niereninsuffizienz wirksam zu bekämpfen, müssen die Plantagenarbeiter*innen, unabhängig von der wissenschaftlichen Debatte um die genauen Ursachen der Erkrankung, umfassend geschützt werden: Kürzere Arbeitszeiten und längere Pausen im Schatten sind dabei ein genauso wichtiger erster Schritt wie das Einsatzverbot von hochgefährlichen Pestiziden wie Glyphosat und Paraquat.

Darüber hinaus braucht es Strategien für einen Umbau der Plantagenstrukturen. Denn in vielen Ländern des globalen Südens verdrängen Zuckerrohr-Plantagen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die stattdessen auf agrarökologische Weise vielfältig und ausgewogen für sich, ihre Familien und lokale Märkte Nahrung produzieren könnten. Agrarökologie beruht auf den Prinzipien des ökologischen Landbaus und ermöglicht Nahrungsmittelproduzent*innen, durch eine geschickte Fruchtfolge, selbsthergestellte botanische Pestizide und den Anbau in Mischkulturen auf den Einsatz von chemischen Pestiziden zu verzichten – und damit die Gesundheit von Menschen und Umwelt besser zu schützen. Dafür braucht es sowohl förderliche Politiken, die unter anderem auch kleinbäuerlichen Landbesitz erleichtern, als auch finanzielle Anreize, um eine ernsthafte Transformation des Ernährungssystems Realität werden zu lassen.

VON KÜHEN, KAROSSEN UND KOLONIALISMUS

Teil der Vereinbarung Rindfleisch gegen Autos // Foto: Flickr, Pablo Gonzalez, (CC BY-SA 2.0)

Ende Juni 2019 erzielten die EU und die Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay eine Grundsatzvereinbarung über ein Handelsabkommen. Nach fast 20 jähriger Verhandlungsphase wollen sie das größte Handelsabkommen der EU abschließen. Jorge Faurie, der argentinische Außenminister, verkündete seinem Präsidenten Mauricio Macri unter Schluchzern per Whatsapp von dem Verhandlungserfolg. Hohe EU- Vertreter*innen wie der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Handelskommissarin Cecilia Malmström überschlugen sich in ihren Lobpreisungen. Es sei ein „historischer Moment“ hieß es da. Das Abkommen sei ein weiteres Zeichen dafür, dass die EU ein Vorbild für freien und nachhaltigen Handel sei.
Diese Trommelwirbel lenken jedoch davon ab, dass die Verhandlungen noch nicht komplett beendet sind. Tatsächlich liegt bislang kein fertiger Vertragstext vor. Und die Ratifizierung liegt in weiter Ferne, zumal einige Länder wie Frankreich, Irland und Polen bereits Bedenken angekündigt haben. Doch politisch war es für beide Vertragsparteien wichtig, gerade jetzt einen ersten Verhandlungserfolg zu verkünden. Denn zum einen finden im Oktober Wahlen in Argentinien statt. Ein Sieg des neoliberalen Freihandelsapologeten Mauricio Macri ist nicht sicher. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro kämpft nach sieben Monaten Amtszeit mit erdrutschartigen Popularitätsverlusten, unter anderem auf Grund immer neuer Korruptionsvorwürfe. Er brauchte dringend eine Erfolgsnachricht. Zum anderen findet derzeit eine Neuaufstellung der europäischen Kommission statt. Auch der immer wieder aufwallende Handelskonflikt zwischen den USA und China sowie mögliche US-Zölle gegen europäische Waren dürften die Verhandlungen angespornt haben.


Gut für die Agrarlobby, schlecht für die bäuerliche Landwirtschaft


Die EU importiert jährlich landwirtschaftliche Güter in Höhe von 20 Milliarden Euro aus dem Mercosur. Die Importe werden mit Inkrafttreten des Abkommens weiter anwachsen. Laut Grundsatzvereinbarung wird die EU ihren Agrarsektor zu 82 Prozent sofort öffnen, sprich ihre Zölle dort auf Null senken. Dies gilt unter anderem für Soja, eine Reihe von Früchten wie Äpfeln und Birnen, Gemüse, einige Fischarten und Gewürze. In sensiblen Bereichen wie Fleisch, Zucker, Reis, Honig und Agrarethanol wurden Quoten festgelegt, die die Einfuhr über den Zeitraum von einigen Jahren nach wie vor beschränken. Insgesamt könnte der Anteil des Mercosur an den gesamten Lebensmittelimporten der EU durch das Abkommen bis 2025 von derzeit 17 auf 25 Prozent anschwellen, so die Berechnungen des EU-Forschungsdienstes.
Um die ausländische Nachfrage nach Soja und anderen Agrarerzeugnissen zu decken, sind bereits jetzt Großteile der Mercosur-Länder mit Monokulturen gentechnisch veränderter Pflanzen bedeckt. In Argentinien beispielsweise sind 60 Prozent der gesamten Ackerfläche mit überwiegend gentechnisch manipuliertem Soja bepflanzt, welches regelmäßig mit Pestiziden wie Glyphosat besprüht wird. 94 Prozent des Sojaschrots und mehr als die Hälte der Sojabohnen, die die EU auf dem Weltmarkt einkauft, und die dann in den Futtertrögen der europäischen Tierfabriken landen, stammen aus dem Mercosur.
Geht es nach den Verhandlungsparteien werden zukünftig auch europäische Autos vermehrt mit „Bioethanol“ aus südamerikanischem Zuckerrohr betankt. 200.000 Tonnen sollen mit geringeren Zöllen in die EU eingeführt werden dürfen. Zum Vergleich, Brasilien, das derzeit der wichtigste Mercosur-Exporteur von Ethanol ist, führte 2017 nur knapp 15.000 Tonnen in die EU aus. Zuckerrohr bedeckt bereits jetzt 9 Millionen Hektar des brasilianischen Ackerlandes. Das entspricht mehr als Dreivierteln der gesamten Ackerfläche Deutschlands.
Mit dem Abkommen werden also Anreize geschaffen, die landwirtschaftlichen Monokulturen in den südamerikanischen Ländern auszubauen. Große, industriell bewirtschaftete Flächen verdrängen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, die Nahrungsmittel für den lokalen Markt produzieren. Bodenerosion und -kontamination, Verlust von Biodiversität und die Verseuchung des Trinkwassers sind nur einige der Konsequenzen dieses Produktionsmodells.

Pferdestärken gegen Kühe


Auch die Einfuhr von Fleisch soll noch einmal gesteigert werden. Bereits jetzt stammen 73 Prozent der Rindfleischimporte und 56 Prozent der Hühnerfleischimporte in die EU aus dem südamerikanischen Verbund. Die Grundsatzvereinbarung sieht vor, dass zukünftig 99.000 Tonnen Rindfleisch, 180.000 Tonnen Hühnerfleisch und 25.000 Tonnen Schweinefleisch teilweise komplett zollfrei, teilweise gering bezollt, in die EU kommen dürfen. Im Gegenzug senken die Länder des Mercosur die Zölle für mehr als 90 Prozent aller EU-Exporte von Autos, Autoteilen, Maschinen, chemischen Produkten und Medikamenten. Dies ist ein herber Rückschlag für die Industrie, vor allem in Brasilien und Argentinien, die nicht in gleichem Maße wettbewerbsfähig ist wie die europäische. Guillermo Moretti, Vizepräsident des argentinischen Industrieverbandes, sagte kurz nach Bekanntgabe der Grundsatzvereinbarung: „Ich bin besorgt. Die Länder, die dieses Abkommen ausgehandelt haben, weisen ein Handelsbilanzdefizit mit der Europäischen Union auf. Das Bruttoinlandsprodukt der EU ist fünf Mal so groß wie das des Mercosur und dort werden zehn Mal so viele Patente angemeldet wie bei uns. Die Auswirkungen des Abkommens auf den internen Markt werden massiv sein.“
Auf der anderen Seite des Atlantiks sind vor allem die Bauern und Bäuerinnen besorgt. Selbst Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbandes, der sich bislang positiv gegenüber Handelsabkommen ausgesprochen hatte, erklärte: „Es ist nicht zu akzeptieren, dass die EU-Kommission diese völlig unausgewogene Vereinbarung unterzeichnet. Dieses Handelsabkommen ist Doppelmoral pur. Die Landwirtschaft darf nicht zugunsten der Automobilindustrie geopfert werden.“ Berit Thomsen, Handelsreferentin der deutschen Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) wies zudem auf die schlechte Öko- und Klimabilanz des Abkommens hin. „Wir importieren aus diesen Ländern künftig nicht nur Rindfleisch, sondern die mit der industriellen Produktion verbundenen Klimaschäden und menschenunwürdigen Produktionsbedingungen.“
Tatsächlich führen die Ausbreitung der Rinderherden, aber auch der Anbauflächen von Monokulturen in den südamerikanischen Ländern zu einer Vertreibung von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen und indigener Bevölkerung von ihrem Land. In Brasilien etwa registrierte die Landpastorale CPT (Commissão Pastoral da Terra) in den vergangenen drei Jahren eine Verdopplung der Landkonflikte. So kam es 2017 zu 70 Morden an Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, Indigenen und Aktivist*innen, die sich gegen das vordringende Agrobusiness verteidigten. Die CPT dokumentiert ebenfalls die grassierende Straflosigkeit. Im Zeitraum 1985 bis 2017 wurden demnach über 1.900 Menschen in Landkonflikten ermordet. Doch nur in acht Prozent der Fälle kam es zu Verurteilungen.
Zudem sind die Entwaldungsraten in allen vier Ländern des Mercosur extrem hoch. Argentinien gehört zu den zehn Ländern, die weltweit am meisten von Entwaldung betroffen sind. In Brasilien verschwand in weniger als einem Jahr eine Fläche des Regenwaldes, die etwa fünf Mal so groß ist wie London. Das Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU würde den Druck auf die Produktion landwirtschaftlicher Güter weiter erhöhen. Denn um die Verluste aus Zolleinnahmen von 4 Milliarden Euro, die das Handelsabkommen für die Mercosur-Staaten bedeuten würde, zu kompensieren, müssten sie wesentlich mehr exportieren. Da die industriellen Produkte der Länder nicht wettbewerbsfähig sind, bleiben nur noch die Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion und der Abbau natürlicher Rohstoffe. Eine weiter voranschreitende Abholzung des so dringend für die Bekämpfung der Klimakrise benötigten Amazonas-Regenwaldes und anderer Urwälder ist die Folge. Da hilft es auch nichts, dass sich die Vertragsparteien dazu verpflichten, dass Pariser Klimaabkommen effektiv umzusetzen. Denn gerade diese „Verpflichtung“ fällt unter das Nachhaltigkeitskapitel, das, anders als die anderen Kapitel, über keine verbindlichen Durchsetzungsmechanismen verfügt.

Faire und nachhaltige Handelspolitik sieht anders aus


Die hier aufgeführten Aspekte sind nur einige der zu erwartenden sozialen und ökologischen Folgen dieses unausgewogenen Abkommens, das Umwelt, Klima und Menschenrechte wirtschaftlichen Interessen unterordnet. Die durch das Abkommen vorangetriebene Liberalisierungsstrategie erschwert die Förderung ökologischer Landwirtschaft und die effektive Bekämpfung der Klimakrise auf beiden Seiten des Atlantiks. Gleichzeitig schreibt das Abkommen die Position der Südländer als Rohstoff- und Lebensmittellieferanten in der internationalen Arbeitsteilung fest – und damit auch ihre Abhängigkeit von den Industrieländern. Deswegen ist es eben kein Beweis für die nachhaltige und faire Handelspolitik der EU.
Noch ist das Abkommen nicht ratifiziert, die zurückhaltenden Positionen einiger EU-Länder lassen darauf schließen, dass dies auch noch dauern könnte. Diese Zeit sollten die Organisationen, die sich bereits in der Vergangenheit gegen klima-und umweltschädliche Handels­abkommen ausgesprochen haben, nutzen, um öffentliche Aufmerksamkeit für die desaströsen Konsequenzen dieses Abkommens zu generieren. Angesichts der Klimakrise, des massiven Verlustes an Biodiversität, der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, dürfen keine weiteren Abkommen verabschiedet werden, die dieser Realität keine Rechnung tragen. TTIP konnte gestoppt werden – warum nicht auch EU-Mercosur?

„UNSERE STIMME NACH EUROPA BRINGEN“

Indigenes Protestcamp 2019 Jedes Jahr findet mit dem Acampamento Terra Livre die größte indigene Versammlung mit tausenden Teilnehmer*innen in Brasilia statt // Foto: Edu Marin / Flickr (CC BY 2.0)

Es sind nun sechs Monate vergangen, seitdem Jair Bolsonaro die Präsidentschaft übernommen hat – hat sich in dieser Zeit die Lebenssituation der Guarani Kaiowá verändert?
Alenir Ximendes: Diese Veränderung findet seit der Regierung des vorherigen Präsidenten Temer statt. Temer hat begonnen, was Bolsonaro jetzt fortsetzt. In den sechs Monaten, in denen Bolsonaro an der Macht ist, haben wir das Gefühl, dass er die Rechte der Guarani Kaiowá zerstört. Und nicht nur unsere Rechte, sondern auch die Rechte der ganzen Gesellschaft mit seinen präsidialen Initiativen zu Bildung, Gesundheit und Altersversorgung.
Janete Ferreira: Die brasilianische Politik war gegenüber indigenen Angelegenheiten niemals wohlwollend. Um etwas zu erreichen, mussten wir indigenen Völker immer Druck auf die Regierungen ausüben und auf die Straße gehen. Auch wenn wir nicht parteipolitisch orientiert sind, sind wir doch ein Volk, das wählt, wir haben Ideen, wir schaffen Neues und wir verteidigen, was uns wichtig ist. Wir machen unsere Politik, die unserer Art zu leben entspringt. Wir sind nicht verpflichtet, die Politik anzunehmen, die von den brasilianischen Politikern kommt, wir haben unsere eigene. Und meistens wird das, was wir wollen, von der brasilianischen Politik nicht akzeptiert, für sie ist das ohne Bedeutung: das Recht auf Land, die Verteidigung der Natur. Sie übersehen dabei, dass wir die Humanität verteidigen, das Leben. Weil ihnen das nichts bedeutet.

Was ist das Ziel Ihrer Reise durch Europa?
A.X.: Wir können uns mit unseren Anliegen nicht an die politischen Repräsentanten wenden, sei es der Präsident, der Gouverneur oder lokale Abgeordnete. Im April sind wir zum jährlichen Protestcamp Acampamento Terra Livre nach Brasília gefahren, wir haben demonstriert, Gespräche mit Politikern geführt und ein gemeinsames Dokument übergeben. Bisher haben wir keine Antwort erhalten, nichts hat sich geändert.
Ende letzten Jahres hat uns eine Delegation der Euopäischen Union besucht. Seitdem haben wir nichts mehr von der EU gehört und es ist kein Bericht erschienen, der unseren Präsidenten unter Druck setzen könnte. Es beunruhigt uns sehr, dass dieser Prozess so langsam ist, denn während wir warten, bleiben die großen Landbesitzer nicht untätig. Wir wollen die Stimme der Indigenen nach Europa bringen, um zu erreichen, dass das Ausland sich ebenfalls dafür verantwortlich fühlt, dass die Rechte der Indigenen in Brasilien respektiert werden.

Denken Sie da zum Beispiel an einen Boykott von brasilianischem Soja, solange die Rechte der Indigenen verletzt werden?
A. X.: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber deutsche Firmen exportieren Pestizide in unsere Region, die in Deutschland verboten sind. Sie sagen, dass sie für den Einsatz nicht verantwortlich sind, aber das stimmt nicht. Denn immerhin geht es um die Gesundheit von Menschen. Sie verkaufen in Mato Grosso, was sie in der EU nicht mehr verkaufen dürfen.
J.F.: Die Politik der Regierung Bolsonaro, jetzt noch mehr Pestizide zu erlauben, wird viele Indigene aus unseren Gemeinden töten. Schon jetzt verursachen die Pestizide viele Krankheiten, auch in meiner Familie: Hautausschläge, Übelkeit und Erbrechen, verschiedene Formen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Und wir wissen nicht, welche Heilmittel gegen die Vergiftungen helfen, deshalb müssen wir dann ins Krankenhaus. Gleichzeitig ist unser Land durch die Ackergifte wie eine Wüste, so dass wir gar keine Heilkräuter mehr sammeln können. Also müssen wir auch bei anderen Krankheiten ins Krankenhaus. Und es gibt in unseren sieben Gemeinden nur ein einziges Auto, das Kranke dorthin bringen kann. Es dauert lange, bis es kommt, wenn wir es brauchen, denn die Gemeinden liegen alle zehn Kilometer von einander entfernt.

Foto: Wolfgang Günzel, Weltkulturen Museum Frankfurt

ALENIR XIMENDES TEHOKÁ UND JANETE FERREIRA
Alenir Ximendes Tehoká (rechts) ist Repräsentantin der vier Versammlungen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul und Lehrerin in der Gemeinde Antonio João. Jenete Ferreira (links) ist eine der Führungspersönlichkeiten der Kaiowá aus Guapo’Y Amombai in Mato Grosso do Sul. Beide sind in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv. 

 

Hat die Repression gegen die indigenen Gemeinden in ihrer Region in den letzten sechs Monaten zugenommen?
A.X.: Die Situation war schon vorher sehr schlecht, es gibt sehr viel Gewalt in unserer Region. Viele Guarani Kaiowá werden ermordet und es wird als „Unfall“ getarnt. Meistens sind es Viehtransporter, die die Menschen auf der Straße einfach überfahren. Das ist wirklich sehr schmerzhaft für die Familien, weil sie die Körper ihrer Angehörigen meistens nicht einmal mehr sehen können und die Blutflecken auf den Straßen nicht beseitigt werden. Sie werden getötet wie Tiere. Und wir haben niemanden, an den wir uns wenden und um Hilfe bitten können.
J.F.: Das sind keine „Unfälle“, in den retomadas (s. Infokasten, Anm. d. Red.) werden viele Menschen aus Hass oder Wut getötet. Wenn sie alleine auf der Straße sind – umso besser. In den Medien heißt es dann, die Opfer wären betrunken gewesen oder hätten Drogen genommen. Aber wenn wir uns die Fälle anschauen, dann ist das sehr unwahrscheinlich. Und die staatlichen Organe interessiert das überhaupt nicht. Ohne konkrete Fakten wie ein Foto oder ein Handyvideo können wir gar nichts machen. Die Polizei untersucht die Fälle nicht, denn meistens sind sie Familienangehörige, Freunde oder sonstwie mit den Mördern verbandelt.

Sie sind beide in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv, wie ist die Situation der Frauen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul?
J. F.: Es ist für Frauen besonders schwierig an den Orten, an denen sie keinen Zugang zu irgendetwas haben, zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung oder Bildung. Dort, wo sie keine Form der Unterstützung erhalten, auch nicht für ihre Kinder. Oft werden sie auch in Krankenhäusern nicht richtig behandelt und sterben. Indigene Frauen aus den retomadas werden als Invasorinnen betrachtet, sie verdienen keine Aufmerksamkeit und keine Unterstützung.
Und viele Frauen verstehen es nicht, für sich zu sprechen, zu diskutieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie bleiben in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrem Haus, sie sprechen nicht öffentlich. Kuñangue Aty Guasu ist eine Gruppe von Frauen, die andere Frauen dabei unterstützt, lauter zu sprechen, Mut zu haben und mit allem fertig zu werden.

Sie leben in zwei unterschiedlichen Regionen, die rund 200 Kilometer von einander entfernt sind. Wie verläuft jeweils in Ihrer Region der Prozess der Anerkennung der indigenen Territorien? Welche Erwartungen haben Sie in Bezug auf die Politik von Bolsonaro, wird er alle Demarkierungen stoppen können?
A.X.: Der Prozess der Demarkierung ist in unserer Region doch schon gestoppt worden! Seit 2005 passiert gar nichts. Und in vielen indigenen Gemeinden ist es genauso. Insofern erwarten wir gar nichts von diesem Präsidenten. Bolsonaro hat ja sehr deutlich gemacht, dass er nicht vorhat, irgendetwas zu tun. Aber das kann sich auch ändern – durch Druck aus dem Ausland. Wenn sie in den ausländischen Medien darüber berichten, wie er die Indigenen behandelt, wie er die Guarani Kaiowá in ihrem eigenen Bundesstaat abwertet, dann ist das schlecht für ihn. Deshalb bitten wir hier um Hilfe.
J.F.: Wir erwarten keinen guten Willen von Bolsonaro, um unser Land zu demarkieren. Die Anerkennung der indigenen Territorien war immer ein sehr langsamer Prozess und so haben sie uns dazu gebracht, selbst die Demarkierung durchzuführen. Eigentlich haben sie die retomadas provoziert. Sie sprechen über „Eindringen in Privatbesitz“, aber eigentlich hätten die Behörden die Probleme mit den lokalen Landbesitzern lösen  müssen. In vielen Fällen haben die Behörden die Konflikte zwischen den Indigenen und den lokalen Landwirten erst entstehen lassen. Sie nähren Streit und Hass in allen nicht-indigenen Familien. Das Interesse an den Demarkierungen ist indigen, es ist kein staatliches Interesse. Das Land sichert unser Überleben, wir nehmen uns nur das, was uns gehört. Wir fordern von diesem Präsidenten, dass er uns endlich die Dokumente über unser traditionelles Land ausstellt.

 

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