LULA 2023

Nach dem Putschversuch Räumung des Camps der Bolsonaristas (Foto: Fernando Frazão, Agência Brasil)

Das Jahr 2023 begann in Brasilien mit einem großen Fest der Demokratie. Endlich war die vierjährige Schreckensherrschaft des rechtsradikalen Jair Bolsonaro beendet. Die Feier zum Amtsantritt von Lula da Silva am 1. Januar war voller symbolischer Gesten und ein gelungenes Signal für die Hoffnungen, die die neue Regierung repräsentiert. Acht Menschen, die für die Gesamtheit aller Brasilianer*innen und die Zivilgesellschaft stehen – darunter Raoni Metuktire, indigener Anführer der Kayapó, und Aline Sousa, Wertstoffsammlerin aus Brasília – überreichten Lula die Präsidentenschärpe. Auch die Regierungsbildung ist hoffnungsvoll: Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens gibt es mit Sônia Guajajara eine Ministerin für indigene Völker. Die Schwester der 2018 ermordeten Stadträtin Marielle Franco, Anielle Franco, wird Ministerin für die Gleichstellung ethnischer Gruppen. Mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva zur Umweltministerin zeigt der Präsident, dass es ihm mit dem Kampf gegen Entwaldung ernst ist. Lula gibt damit ein starkes Signal für grundlegende Änderungen – und seine Person verleiht dem Glaubwürdigkeit.

Aber am 8. Januar erreichten ganz andere Bilder aus Brasilien die Welt: Anhänger*innen Bolsonaros stürmten das Parlament, den Obersten Gerichtshof und den Palast Planalto, Sitz aller amtierenden Präsident*innen. Die live übertragenen Bilder waren kaum zu glauben. Denn die radikalen Anhänger*innen Bolsonaros hatten nicht nur praktisch freien Zugang, sie wurden von der Polizei sogar zu den Gebäuden begleitet. Und erst nachdem sie diese gründlich verwüstet hatten, wurden sie schließlich von der Polizei vertrieben, wobei aber der größte Teil der Anti-Demokrat*innen ungehindert in das Protestcamp vor einer Militärkaserne abziehen konnte. Dort verhinderten Militärs jegliche Festnahmen durch die Polizei. Erst Stunden später wurden rund 1 200 von ihnen polizeilich festgenommen, auf Anweisung des Obersten Richters Alexandre de Moraes.

Inzwischen gibt es ein klareres Bild davon, was am 8. Januar passierte

Präsident Lula hielt sich während der Verwüstung des Regierungsviertels im Bundesstaat São Paulo auf. Er reagierte sofort mit einem Dekret für die Intervention der Bundesbehörden und der Entlassung des für öffentliche Sicherheit zuständigen Sekretärs des Hauptstadt-Distriktes Brasília, Anderson Torres. Torres ist inzwischen in Haft, ebenso wie der ebenfalls entlassene Kommandant der Militärpolizei im Regierungsbezirk, Fábio Augusto Vieira. Der Gouverneur von Brasília, Ibanais Rocha, ein Anhänger Bolsonaros, wurde vom Obersten Gerichtshof für 90 Tage von seinem Amt suspendiert.

Inzwischen ist es möglich, ein etwas klareres Bild von den Ereignissen des 8. Januars zu gewinnen. Die Absicht der Anti-Demokrat*innen war es offensichtlich, eine Art Aufstand im gesamten Land anzustacheln und die Militärs zum Eingreifen zu bewegen, um die in ihren Augen illegale Regierung Lula zu stürzen. Dieser Plan ist kläglich gescheitert. Weder gab es landesweit signifikante Unterstützungsaktionen, noch intervenierten die Militärs. Die Polizei reagierte, wenn auch spät, und einige der Vandalen landeten nun sogar hinter Gittern. Nach ersten Umfragen lehnen 93 Prozent der Brasilianer*innen die Aktionen des 8. Januars ab. Kurzfristig kann dies sogar der Regierung Lula nützen: Auch Gouverneur*innen, die mit Unterstützung Bolsonaros gewählt wurden, distanzierten sich. Die Regierung hat nun die Legitimität, gegen radikale Bolsonaristas vorzugehen und die noch verbliebenen Protestcamps zu räumen.

Dennoch bestehen Gründe zur Besorgnis. Denn die Ereignisse des 8. Januars werfen auch ein Licht auf die enge Verbindung von Teilen der Streitkräfte mit dem Bolsonarismo. Militärs waren massiv an der Regierung Bolsonaro beteiligt und unterstützen diesen offensichtlich aktiv und aus voller Überzeugung. Nicht zuletzt das Bekenntnis Bolsonaros zur Militärdiktatur als einer positiven Epoche Brasiliens und seine Huldigung von Foltergenerälen fanden Zustimmung bei vielen Militärs, die die Einrichtung einer Wahrheits- kommission über die Verbrechen der Militärdiktatur unter der Regierung von Dilma Rousseff als Demütigung empfanden und diese mit allen Mitteln bekämpften.

Die Regierung Bolsonaro war mit einem enormen Anwachsen der politischen Rolle der Militärs verbunden. Aber die Bedeutung des Militärs fußt auf dem Artikel 142 der Verfassung von 1988, der als Rolle der Streitkräfte eben nicht nur die Landesverteidigung, sondern auch die Garantie der Verfassung definiert. Auf diesen Artikel berufen sich die Bolsonaristas, wenn sie eine Intervention der Militärs fordern. In der Praxis ist in den vergangenen Jahren aber etwas anderes relevanter, nämlich die „Garantie von Gesetz und Ordnung” (GLO). Dieses Instrument ermöglichte es dem Präsidenten oder der Präsidentin, die Militärs für innenpolitische Aufgaben einzusetzen. Unter der Regierung Dilma Rousseff wurde dies häufig praktiziert, zum Beispiel bei Unterdrückung der Proteste im Jahre 2013 oder im Vorfeld der Mega-Events der Fifa-WM (2014) und den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro (2016). Das GLO diente aber auch bei einer militärpolizeilichen Intervention in der Favela Maré in Rio de Janeiro zur Repression. Einen weiteren Schritt zum Aufstieg der Militärs leitete Präsident Michel Temer (2016-2018) ein, als dieser eine Militärintervention im Bundesstaat Rio de Janeiro dekretierte und den General Braga Neto mit umfassenden Vollmachten ausstattete. Braga Neto wurde später zu einem engen Verbündeten Bolsonaros und dessen Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Bolsonaro schließlich brach mit der republikanischen Tradition, das Verteidigungsministerium mit einem zivilen Politiker zu besetzen.

Die Absicht war, eine Art Aufstand im gesamten Land anzustacheln

Die Aufgabe der Regierung Lula ist es nun, diesen unguten Geist der politisierten Militärs wieder einzufangen. „Das Problem ist, dass wir jetzt wissen, wie sie denken und wie sie agieren – und dass dies völlig anders ist als das, was die demokratische Allianz denkt. Es wird eine schwierige Beziehung werden“, kommentierte der Militärspezialist Martins Filho die jüngsten Ereignisse gegenüber den Medien. Dennoch gehen praktisch alle Beobachter*innen davon aus, dass kurzfristig keine Gefahr eines Putsches besteht. Lulas selbst hat den Oberkommandeur des Heeres zügig ersetzt. Der neue General hat zumindest die unpolitische Rolle der Streitkräfte betont. Bolsonaristas und die verbündeten Militärs bereiten jetzt vermutlich eine längerfristige Strategie vor, die bereits beim Sturz der Regierung Dilmas erfolgreich war: systematische Delegitimierung der Regierung und Rückeroberung der Straße mit andauernden Protesten. Dagegen gibt es nur eine wirksame Gegenwehr – den Erfolg der Regierung Lula.

Angesichts der politischen Wirren rund um den 8. Januar sind andere Themen in den Hintergrund getreten. Aber mit seinen ersten Aktionen zeigt Lula, dass jetzt ganz andere Zeiten begonnen haben. Nach Meldungen über die katastrophale Lage im Gebiet der indigenen Yanomami, die besonders schwer von der Invasion des illegalen Goldbergbaus betroffen sind, reiste er in das indigene Gebiet und versprach Sofortmaßnahmen gegen Hunger, Gesundheitsnotstand und zur Verbesserung der medizinischen Versorgung. Brasilien hat wieder einen Präsidenten, der zu Empathie fähig ist. Zumindest im Kampf gegen Abholzung und Klimawandel hat ein klarer Kurswechsel bereits begonnen. Es sei möglich, bis 2030 die Entwaldung auf null zu senken (Desmatamento Zero), so Lula.

Dies ist für die internationale Wahrnehmung der Regierung sicherlich von großer Bedeutung. Für den innenpolitischen Erfolg Lulas werden aber die Ergebnisse von Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheidend sein. Für eine wichtige Aufgabe gibt es sogar gute Gründe für Optimismus: Lula hat bereits in seinen ersten Regierungen bewiesen, mit welchen Maßnahmen der Kampf gegen den Hunger erfolgreich sein kann. Bewährte Programme wie die Förderung von Schulspeisungen und den Aufkauf der Produktion von Kleinbäuer*innen können jetzt wieder aufgenommen werden. Aber eine große sozialpolitische Transformation ist von der Regierung Lula und der breiten und heterogenen Koalition, die sie trägt, kaum zu erwarten. Es erweist sich als schwierig, für dringende sozialpolitische Maßnahmen Ausnahmen von der per Gesetz definierten Haushaltsbremse mit einem ziemlich konservativen Kongress auszuhandeln. Dies zeigte sich bei den Verhandlungen um die Fortsetzung der Sozialzahlungen an infolge der Pandemie besonders Bedürftige. Aber auch an der Erhöhung der Mindestlöhne, die geringer ausgefallenen ist als von Sozialverbänden erhofft wurde, trotz der Reallohnverluste während der vier Jahre unter Bolsonaro. Haushaltspolitisch ist das Budget auf Kante genäht. Aber die dauerhafte Konsolidierung demokratischer Strukturen, Erfolge im Kampf gegen Hunger und Entwaldung, die politische Marginalisierung des Bolsonarismo, all das ist möglich und wäre nicht wenig.

SCHLUCHZEN, BETEN, AUTOBAHN BLOCKIEREN

Bolsonarist*innen blockieren Autobahnen Sie fordern ein Eingreifen des Militärs (Foto: Agência Brasil)

Wie der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro auf einen Wahlsieg seines Kontrahenten Lula da Silva reagieren würde, war die bange Frage vieler Brasilianer*innen vor und nach der Präsidentschaftswahl am 30. Oktober. Nicht wenige erwarteten zumindest einen ähnlichen Putschversuch, wie ihn Bolsonaros Vorbild Donald Trump am 6. Januar 2021 mit dem Marsch auf das Kapitol in Washington initiiert hatte. Doch nach dem Sieg von Lula passierte erst einmal: nichts. Keine Gratulation an den politischen Gegner, keine Stellungnahme des amtierenden Präsidenten am Wahlabend, nicht einmal Vorwürfe des Wahlbetrugs. Stattdessen meldete Bolsonaros Sprecher, lange nach Lulas Siegesrede, der Präsident sei nach der amtlichen Bekanntgabe der Ergebnisse „zu Bett gegangen”.

Danach: wieder nichts. Zwei lange Tage und Nächte wartete das Land, bis der Präsident sich erklärte. Seine Stellungnahme dauerte dann insgesamt unter zwei Minuten. In wenigen dürren Worten dankte er seinen 58 Millionen Wählern und erklärte, immer innerhalb der Verfassung gehandelt zu haben. Die „aktuellen Proteste einer sozialen Bewegung“ seien Ausdruck der Empörung darüber, wie der Wahlprozess verlaufen sei. Friedliche Proteste seien immer willkommen. Es sei jedoch wichtig, sich nicht „wie die Linke“ zu verhalten, die Eigentum zerstöre und das Recht einschränke, sich frei zu bewegen.

Von der offiziellen Anerkennung seiner Wahlniederlage kein Wort. Die Zusicherung der Machtübergabe überließ er seinem Kanzleramtsminister Ciro Nogueira, der noch weniger sagte. Voraussichtlich wird Bolsonaro im Januar nicht an der offiziellen Amtseinführung von Lula teilnehmen und auch darauf verzichten, ihm die Präsidentenschärpe umzulegen: ein symbolischer Akt des friedlichen Machttransfers. Auch Vizepräsident Hamilton Mourão, ein ehemaliger General, wird für die Zeremonie vermutlich nicht zur Verfügung stehen. Die Rechte verlegt sich auf Symbolpolitik.

Seit dem 1. November hat Bolsonaro nicht ein einziges Mal öffentlich gesprochen und nur sehr wenige offizielle Termine wahrgenommen. So wird seine Teilnahme an einer Zeremonie für Militärs am 5. Dezember selbst bei CNN Brasil zur Nachricht: „Bolsonaro hat geweint!“ In den sozialen Medien zirkuliert ein Video von einer öffentlichen Veranstaltung, bei der Hamilton Mourão ihn auffordert: „Sprich zu deinen Leuten!“ und Bolsonaro nur den Kopf schüttelt.

Vom „Mythos“ allein gelassen

Den ohnehin reichlich kursierenden Verschwörungstheorien gibt dieses Verhalten täglich neuen Stoff für Spekulationen. Eine der häufigeren: Der echte Präsident sei ersetzt worden durch einen Klon / einen Doppelgänger / einen Außerirdischen. Dass Bolsonaro praktisch von der Bildfläche verschwunden ist, seine Anhänger*innen weder in seinem eigenen Videokanal noch öffentlich anstachelt, tröstet, ermutigt oder zum Putsch aufruft, ist für sie Beweis genug für diese Theorie. Könnte ihr „Mythos“ sie so alleinlassen?

Bereits am Wahlabend wurden Szenen der abgrundtiefen Verzweiflung von Bolsonaros Anhängerschaft überall geteilt. Gruppen in gelben Trikots beteten schluchzend und auf Knien: „Herr erlöse dieses Land, hilf uns!“ Später teilten Einzelpersonen unter Tränen ihre Enttäuschung, oft religiös verbrämt, oft absurd. Wie im vielfach geteilten Video einer Frau, die zunächst den – auch zu dieser Jahreszeit nicht unüblichen – Regen filmte und dann erklärte, dass Gott über das Wahlergebnis weine. Lulas Aufrufen zur nationalen Versöhnung zum Trotz wurden die Verzweiflungsakte von PT-Anhänger*innen und auf Youtube voller Freude hämisch und erleichtert kommentiert.

Bolsonarist*innen blockieren Autobahnen Sie fordern ein Eingreifen des Militärs (Foto: Agência Brasil)

Weniger harmlos als die Betenden in gelben Trikots waren die zeitweise mehr als 190 Straßenblockaden durch Lkws, die in fast allen Bundesstaaten von Bolsonarist*innen nach der Wahl auf den Bundesstraßen errichtet wurden. Die Blockaden wurden von der Autobahnpolizei (PRF) zunächst geduldet, obwohl sie als Protest gegen eine legitime Wahl illegal waren und dort auch offen zum Putsch des Militärs aufgerufen oder der Hitlergruß gezeigt wurde. Die PRF hatte bereits am Wahltag versucht, tausende von Wähler*innen im Nordosten des Landes von den Wahlurnen fernzuhalten, indem sie stundenlang Kontrollen auf den Autobahnen durchführte. Erst eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes (STF), der die PRF dazu verpflichtete, die Lkws innerhalb von 24 Stunden zu räumen, und den Leiter der PRF, Silvinei Vasques, persönlich mit einer Strafe von 100.000 Reais pro Stunde dafür haftbar machte, versetzte die Autobahnpolizei in Aktion.

Obwohl die Straßensperren langfristig Versorgungsengpässe hervorgerufen hätten, überwog in der Öffentlichkeit das Gespött. So lachte zumindest das halbe Land über den Bolsonaro-Fan im gelben T-Shirt, der sich an der Front eines Lkws festklammerte, während dieser mit erheblicher Geschwindigkeit aus einer Blockade herausfuhr. Das spektakuläre Handyvideo des Lkw-Fahrers ging bei Twitter viral und die Produktion zahlreicher Memes folgte sofort.

Aktuell hat sich der harte Kern der Bolsonarist*innen auf Mahnwachen vor Kasernen verlegt, bei denen – zeitweise von Tausenden, gerne auch auf Knien und begleitet von Vaterunser und Ave Maria – eine militärische Intervention gefordert wird. Dass das Militär sich bis heute „nicht loyal und patriotisch verhalte“, sondern die Legitimität der Wahl bestätigt hat, wird unter anderem damit erklärt, dass Saddam Hussein es gekauft habe. Auch um den ständigen Regen, der die Proteste unter Wasser setzt, ranken sich Verschwörungstheorien.

Letzter Ausweg: Lichtsignale ins All

Es trendet der Hashtag #BraszilWasStolen. Die ganz Verzweifelten versammelten sich am 20. November in Porto Alegre, um Lichtsignale ins All zu senden: Ein SOS mit Handytaschenlampen sollte die Hilfe von Außerirdischen mobilisieren.

DAS PHÄNOMEN LULA

Lula in Aktion Ob es der charismatische Politiker schafft, Bolsonaro aus dem Amt zu jagen? (Foto: Jeso Carneiro CC BY-NC 2.0)

Wer schon einmal Luiz Inácio Lula da Silva vor einer großen Menschenmenge hat sprechen hören, wird dies niemals wieder vergessen. Er verfügt über die Gabe, jede*m und jede*r Einzelnen in der Menge das Gefühl zu geben, sich mit ihm in einem kleinen, eher intimen Raum zu befinden – sagen wir in einer Gruppe von 20 Personen. Er liebt die persönliche Ansprache, selbst bei einer Menge von mehreren Zehntausend. Da bittet er die Gruppe mit den großen Transparenten, diese einzurollen, damit „die companheiros und companheiras, die hinter Euch stehen, auch etwas sehen und hören können.“ Nicht ohne zuerst zu sagen, dass die Transparente großartig aussehen und er hofft, dass sie gut erhalten zurückkommen und noch bei vielen Demonstrationen nützlich sein werden.

Überhaupt das Persönliche: Lula ist ein Erzähler. Einen Tag nach der Präsidentschaftswahl am 2. Oktober 2022 gibt er eine Pressekonferenz mit dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen PDT, Carlos Lupi. Es geht um die Unterstützung der PDT für Lula bei der Stichwahl am 30. Oktober. Für die PDT ist diese Unterstützung ein bisschen heikel, sind doch Lula und der PDT- Präsidentschaftskandidat Ciro Gomes seit 2018 so zerstritten, dass selbst der alles umarmende ehemalige Präsident keine Versöhnung erreichte. Am Ende der Pressekonferenz erzählt Lula, wie er 1989 „im allerschwersten Moment meines Lebens” zum Gründer und damaligen Präsidentschaftskandidaten der PDT, Leonel Brizola, fuhr und diesen um Unterstützung im zweiten Wahlgang bat. Es ist eine richtige Geschichte, fast ein kleines Drama, mit Kampf des Helden, Höhepunkt und Happy End, die Lula mit viel Gefühl vorträgt. Am Ende erscheint so die aktuelle Entscheidung der PDT in einem ganz anderen (historischen) Licht.

Die „rosa Dekade“ der linken Regierungen in Lateinamerika ist auch eine Phase charismatischer Führungsfiguren. Lula kann unter seinen Anhänger*innen und insbesondere unter der Bevölkerung des armen brasilianischen Nordostens wahre Begeisterungsstürme entfachen – bis heute. Für sie ist er nicht nur ein Präsident zum Anfassen, sondern das fleischgewordene Versprechen einer besseren Welt. Seine Verehrung kommt der für den Ex-Präsidenten Hugo Chávez in Venezuela sicher sehr nahe.

Lula hatte einen langen Weg bis ins Präsidentenamt hinter sich. Die von ihm 1980 mitgegründete Arbeiterpartei PT ähnelte in den Anfangsjahren weniger einer der üblichen politischen Parteien, sondern mehr einer sozialen Bewegung, wie der Soziologe Emir Sader schon 1991 analysierte: Neben radikalen Gewerkschafter*innen sammelten sich darin auch Landlose, politisch Aktive aus den Favelas und viele Anhänger*innen der Befreiungstheologie. Die PT sah sich zwar ausdrücklich nicht in der Tradition der Linken des Landes, die von den kommunistischen Parteien geprägt war. Doch sie vertrat eine antikapitalistische Haltung und das Ziel, ein brasilianisches Modell des Sozialismus zu entwickeln. Das war für das von Militärdiktatur und Antikommunismus geprägte Brasilien zu radikal. Drei Mal kandidierte Lula als Vertreter der Arbeiter*innenbewegung für das Präsidentenamt, 1989, 1994 und 1998. Jedes Mal verlor er gegen einen bürgerlichen Gegenkandidaten, trotz seiner großen Popularität und seiner Fähigkeit, die Massen zu mobilisieren.

Im Wahlkampf von 2002 hatte Lula ein anderes Angebot an die Nation. Die bekannte Journalistin Eliane Brum, die unter anderem für El País aus Brasilien berichtet, analysierte seine Haltung 2002 so: „Lula machte immer klar, dass er nicht an einer Revolution interessiert war. Was er suchte, war Inklusion.“ In einem „Brief an das brasilianische Volk verpflichtete sich Lula – nicht gegenüber dem Volk, sondern gegenüber dem Markt – die grundlegenden Linien der liberalen ökonomischen Politik der Regierung Fernando Henrique Cardoso beizubehalten.“ Hohe Rohstoffpreise ermöglichten ihm tatsächlich eine Politik der „Inklusion“ der Armen Brasiliens: Es war genug für alle da. Soziale Programme konnten umgesetzt werden und der Mindestlohn stieg kontinuierlich, ohne dass auf der anderen Seite die Steuern der Reichen erhöht werden mussten.

Der Charismatiker Lula entfacht immer noch wahre Begeisterungsstürme

Lula schied 2010 mit einer Rekordzustimmungsrate von 87 Prozent aus dem Amt. Viele seiner Regierungsprogramme waren sehr erfolgreich, allen voran das Programm „Fome Zero“ (Null Hunger), das er vom ersten Tag seiner Regierung an verfolgte und das in eine Art Sozialhilfe („Bolsa Família“) und verschiedene andere Maßnahmen mündete. Zum Beispiel in die „Merenda Escolar“, die jedem Schulkind eine warme Mahlzeit am Tag garantierte und zusätzlich die lokale Landwirtschaft förderte. Wie wichtig diese Maßnahmen zur Beendigung der absoluten Armut waren, zeigen heute die Folgen von sechs Jahren neoliberaler Politik unter den Präsidenten Michel Temer und Jair Bolsonaro, die die erfolgreichen Programme der PT gezielt abschafften. Sie brachten Brasilien zurück auf die „Weltkarte des Hungers“, unter dem heute geschätzte 33 Millionen Brasilianer*innen leiden.

Viele Programme der PT-Regierungen fallen jedoch unter die Rubrik „Ja, aber“. Ja, die familiäre Landwirtschaft wurde in einem bisher nie dagewesenen Umfang gefördert – doch die reiche Agroindustrie erhielt deutlich mehr Subventionen. Ja, das Wohnungsbauprogramm „Minha Casa Minha Vida“ war erfolgreich und durch die veränderten Gesetze zu Konsumkrediten konnten viele Menschen erstmals einen großen Fernseher oder ein Auto erwerben. Doch gleichzeitig wurde viel zu wenig Geld in die notwendige Infrastruktur investiert, vor allem in die Abwasserentsorgung, aber auch in das Gesundheits- und das Bildungssystem. Das schürte die Unzufriedenheit. „Wir wollen ein Bildungssystem nach Fifa-Standard“, forderten die Studierenden 2014 vor der Austragung der WM in Brasilien, als Milliarden Reais in den Bau später nicht oder schlecht genutzter Stadien investiert wurden.

Besonders eklatant war die fehlende Bereitschaft zu echten strukturellen Veränderungen in den Bereichen der Agrarpolitik, der Medien und der juristischen Anerkennung indigener Gebiete. Das Versprechen einer echten Agrarreform war fester Bestandteil der politischen Forderungen der PT, in der von Beginn an viele Aktivist*innen der Landlosenbewegung engagiert waren. Gleichzeitig ist die Verteilung des Landbesitzes eine zentrale Machtfrage, die bis auf die Kolonialzeit zurückgeht. Die PT-Regierungen blieben hinter den eigenen Versprechungen weit zurück. Weitreichende Folgen hatte auch die Fortsetzung des Systems Rede Globo: Der größte private Medienkonzern kassierte weiterhin Millionen an Werbeeinnahmen für die Verbreitung staatlicher Informationen und Kampagnen, aber 2015 und 2016 trug Globo entscheidend zur Diskreditierung der PT und der Absetzung von Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff bei. Der Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Mediensystems wurde verpasst und unter keinem anderen Präsidenten wurden so viele Basis- und Stadtteilradios geschlossen wie unter Lula.

„Korruption“ ist und bleibt die offene Flanke der PT


1988 war in Brasilien eine äußerst fortschrittliche Verfassung verabschiedet worden, an der Lula als Abgeordneter des Parlaments selbst mitgearbeitet hatte. Heute – 34 Jahre später – ist sie überall dort, wo sie entscheidende Machtfragen berührt, nicht oder nur wenig umgesetzt worden. Sie sieht unter anderem eine „Demarkation“, also die juristische Anerkennung der indigenen Gebiete, auf die die mehr als 200 indigenen Völker Brasiliens historisch begründet Anspruch erheben können, vor. Auch wenn es hier größere Fortschritte gab – vor allem die Anerkennung von Raposa do Sol mit 1,7 Millionen Hektar im Jahr 2005 – ist die Demarkation bis heute nicht abgeschlossen. Auch die Abholzung des tropischen Regenwalds wurde von 2004 bis 2014 zwar signifikant reduziert, doch die Megaprojekte des Wasserkraftwerks Belo Monte und der Umleitung des Rio São Francisco im Nordosten des Landes ließen, zusätzlich zum Extraktivismus als Wirtschaftsmotor, die ökologische Bilanz der PT-Regierungen verheerend aussehen. Sie trieben einen tiefen Keil zwischen die Partei und ökologisch orientierte Basisbewegungen und Persönlichkeiten. Viele Gründungsmitglieder und Unterstützer*innen der ersten Stunde kündigten ihre Gefolgschaft auf. Die politische und soziale Arbeit in den Stadtteilen und Gemeinden machten jetzt andere, vor allem die evangelikalen Kirchen und weitere Anhänger der Rechten. In der Linken und den sozialen Bewegungen Brasiliens wird der Verzicht auf die Basisarbeit, der mit einem ebenfalls kritisch betrachteten Wandel der PT zur Funktionär*innenpartei einherging, als entscheidender Faktor gesehen, warum der Bolsonarismus und die Ideologien, die ihn tragen, in Brasilien so stark werden konnten.

Um Lula und der PT gerecht zu werden, muss allerdings der politische Gesamtkontext betrachtet werden: Die PT hatte zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit im Parlament, sondern war für jedes einzelne Gesetzesvorhaben auf die Stimmen von Mitte-rechts-Parteien angewiesen. Lula hatte von Beginn an nicht auf den Druck von der Straße gesetzt, sondern die sozialen Bewegungen kooptiert und beschwichtigt: Sie bezeichnen 2003 noch heute als „Jahr der historischen Geduld“. Und er musste innerhalb des bestehenden politischen Systems weiterarbeiten, das den Stimmenkauf als Schmiermittel für Gesetzesvorhaben perfektioniert hatte. Damit war seine Regierung von Anfang an angreifbar. Bereits 2005 hatte die PT mit dem Mensalão ihren ersten Korruptionsskandal.

Korruptionsvorwürfe sind und bleiben die offene Flanke der PT und der diesjährigen Kandidatur Lulas für die Präsidentschaft. Das Gerichtsurteil, das ihn 2018 wegen angeblicher Bestechlichkeit ins Gefängnis und um die Präsidentschaftskandidatur brachte, ist inzwischen annulliert und die Befangenheit des ermittelnden Richters Sergio Moro von The Intercept Brasil hinlänglich belegt. Der Vorwurf der Korruption bleibt aber die Trumpfkarte, die die bürgerliche Rechte jederzeit ausspielen kann.

Dennoch verkörpert Lula heute für viele Brasilianer*innen – 48,43 Prozent derjenigen, die eine gültige Wähler*innenstimme im ersten Wahlgang abgegeben haben – ebenso eine bessere Vergangenheit wie eine bessere Zukunft. Mit einer radikalisierten, bolsonaristischen Rechten und eher mäßigen Rohstoffpreisen stehen die Chancen auf eine erfolgreiche Politik der Inklusion und Versöhnung allerdings sehr viel schlechter als 2003.

Das Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika” liegt der Oktober/November 2022-Ausgabe bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

ZWISCHEN FURCHT UND HOFFNUNG

Demokratie Ein zweite Regierung Bolsonaro hätte erheblich mehr Potential, ihre sinistre politische Agenda durchzusetzen (Foto: Annelize Tozetto, Mídia Ninja via Flickr, CC BY-NC 2.0)

Nach viel Regen und Kälte schien in São Paulo endlich mal wieder die Sonne. Die Stimmung am 2. Oktober war gut – insbesondere unter den Wähler*innen von Luiz Inácio Lula da Silva. Die letzten Umfragen vor der Wahl ließen einen Wahlsieg Lulas im ersten Wahlgang möglich erscheinen. Die Hoffnung wuchs, die Schreckensherrschaft von Jair Bolsonaro noch an diesem Tag beenden zu können. Leider kam es anders. Eine schlechte Nachricht nach der anderen verdarb die Stimmung. Die entscheidende: Bolsonaro schnitt erheblich besser ab als erwartet und zuvor durch die Umfragen suggeriert.

Nach der endgültigen Auszählung aller Stimmen des ersten Wahlgangs erhielt Bolsonaro 43,2 Prozent der Stimmen, Lula 48,4 Prozent. Immerhin ein Vorsprung des Kandidaten der Arbeiterpartei (PT) von fast fünf Millionen Stimmen. Nachdem der erste Schreck abgeschüttelt war, versuchten sowohl die PT-Führung als auch viele andere Linke in den sozialen Netzwerken wieder gute Stimmung und Optimismus zu verbreiten. Verständlich und notwendig, um die Mobilisierung für den zweiten Wahlgang am 30. Oktober zu stärken. Lula hat zwar den Sieg im ersten Durchgang verpasst, aber nur knapp. In den ersten Umfragen zum zweiten Wahlgang liegt er deutlich vor Bolsonaro. Eine am 10. Oktober veröffentlichte Umfrage von Ipec sieht Lula bei 51 Prozent und Bolsonaro bei 42 Prozent der gültigen Stimmen, in einer Umfrage von Datafolha am 14. Oktober beträgt der Vorsprung von Lula nur fünf Prozent. Doch die Umfragen sind tendenziell im zweiten Wahlgang genauer, weil das Szenario übersichtlicher ist. Dies beflügelt einen vorsichtigen Optimismus.

Lula hat also weiterhin gute Chancen, die Wahl zu gewinnen. Hinzu kommt, dass bei den letzten Präsidentschaftswahlen immer der Kandidat gewonnen hat, der im ersten Durchgang vorne lag. Positiv für Lula ist auch auch die Tatsache, dass die drittplatzierte Kandidatin bei den Wahlen (Simone Tebet von der Mitte-Rechts-Partei MDB mit 4,3 Prozent der Stimmen) nun mit klaren und deutlichen Worten ihre Unterstützung für Lula verkündet hat. Auch wenn ein Sieg Lulas im zweiten Wahlgang kein Selbstlauf ist, so bleibt er doch Favorit. Aber es gibt auch gute Gründe für Vorsicht und Pessimismus. Anders als bei früheren Wahlen liegt nun der amtierende Präsident zurück. Und der hat bereits eine Reihe von Maßnahmen angekündigt, die helfen könnten, das Blatt noch zu wenden. So werden die Transferleistungen für die ärmsten Teile der Bevölkerung (Auxílio Brasil) vorgezogen, um sie noch vor den Wahlen auszuzahlen. Preise für Gas und Benzin sollen weiter sinken. Und tatsächlich mehren sich die Zeichen für eine leichte wirtschaftliche Erholung nach einer langen Rezession. Für 2022 wird nun ein Wirtschaftswachstum von 2,7 Prozent vorausgesagt und die Inflationsrate sinkt auf 5,5 Prozent.

Die Opposition hält diese Entwicklung der jüngeren Zeit angesichts der katastrophalen Gesamtbilanz der Regierungszeit Bolsonaros für irrelevant. Auch die Anhebung des Auxílio Brasil bereits vor dem ersten Wahlgang schien bisher nicht die gewünschte Wirkung zu zeigen. Aber ein Indikator mahnt zur Vorsicht: Auch wenn Lula wieder im gesamten Nordosten Brasiliens deutlich gewonnen hat, so hat Bolsonaro doch besser abgeschnitten als vor vier Jahren. Seine Stimmengewinne in den ärmeren Teilen Brasiliens könnten darauf hindeuten, dass die Transfermaßnahmen als Wahlgeschenke doch teilweise wirken und somit durchaus Einfluss auf den zweiten Wahlgang haben könnten. Bedenklich ist auch, dass in den letzten Umfragen die Ablehnung Bolsonaros sinkt und die Zustimmung zu seiner Regierung leicht steigt.

Die große Differenz zwischen den Wahlumfragen und dem Ergebnis zeigt auch, dass die Resilienz und die Mobilisierungsbasis des Bolsonarismus offensichtlich unterschätzt wurde und sowohl von Meinungsforschungsinstituten wie von politischen Analysen nur unzureichend erfasst wird. Etwa 40 Prozent der brasilianischen Bevölkerung hat sich offensichtlich in eine riesige Blase oder Parallelwelt zurückgezogen, schaut kein Fernsehen mehr (außer den religiösen Sendern) und informiert sich nicht über Zeitungen. Gleichzeitig verbringen in fast keinem Land der Welt die Menschen so viel Zeit in sozialen Netzwerken wie in Brasilien und nutzen so häufig WhatsApp und Telegram.

Der 2. Oktober war auch Wahltag für Senat und Bundesparlament, sowie für Gouverneure und Landesparlamente. Hier steht ein Ergebnis bereits fest: Der Bolsonarismus und die extreme Rechte sind als klare Sieger hervorgegangen. Die Partei Bolsonaros, die sich liberal nennende PL, wird mit 99 Abgeordneten die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus in Brasília stellen. Wichtige Minister*innen Bolsonaros wurde zu Senator*innen gewählt, darunter Damares Alves, die Vertreterin der Evangelikalen, als auch Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias, die ehemalige Landwirtschaftsministerin und Vorsprecherin des Agrobusiness sowie der Vizepräsdent Bolsonaros, General Hamilton Mourão. Bei den Gouverneurswahlen von São Paulo lag der Kandidat der PT, Fernando Haddad, in allen Umfragen vorn, aber am Wahlabend führte der Kandidat und Ex-Minister Bolsonaros, Tarcísio Freitas. Als Minister für Infrastruktur gehörte Freitas zum sogenannten „technischen Flügel“ des Kabinetts von Bolsonaro und profilierte sich eher als Macher, der nicht durch demagogische Ausfälle auffiel. Ein bitteres Ergebnis war auch die Wahl des ehemaligen Bundesumweltministers und Zerstörers der Umweltpolitik Brasiliens, Ricardo Sales, zum Bundesabgeordneten. Zwei weitere Kandidaten, die Bolsonaro unterstützen, haben bereits den ersten Durchgang der Gouverneurswahlen in Minas Gerais und Rio de Janeiro gewonnen. Wird Tarcísio Freitas in São Paulo ebenfalls gewählt, dann würden die drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Brasiliens von Anhängern Bolsonaros regiert. Freitas und der Gouverneur von Minas Gerais, Romeu Zema, wären auch starke Kandidaten, um eine „Neue Rechte“ ohne Bolsonaro anzuführen.

Insgesamt hat sich mit dieser Wahl ein politisches Bündnis von Evangelikalen, Agrobusiness und Bolsonarismus gefestigt und seine Hegemonie im rechten Lager konsolidiert. Es vereint eine konservative moralische Agenda (gegen Abtreibung und „Genderideologie“), die Befürwortung von Polizeigewalt und die Ablehnung von Menschenrechten, die Glorifizierung des Agrobusiness und die Feindschaft gegenüber indigenen und traditionellen Gemeinschaften, die zusammen mit der Umweltgesetzgebung als Entwicklungshemmnis denunziert werden. Diese „Neue Rechte“ gewinnt durch die Wahl an Konturen und geht über den klassischen Bolsonarismus hinaus. Auch bei eine Wahlniederlage Bolsonaros wird die „Neue Rechte“ kaum wieder verschwinden und eine radikale Opposition gegen eine PT-geführte Regierung machen.

Zum Gesamtergebnis der Parlaments­wahlen gehört aber auch, dass die PT Stim­­­­­­­­­­­­­­­­­men hinzugewonnen hat und die zweitstärkste Fraktion im Bundesparlament stellen wird. Ihr linker Bündnispartner, die PSOL, konnte insgesamt Gewinne und einige bemerkenswerte Ergebnisse erzielen. So wurde Guilherme Bou­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­los, Führungspersönlichkeit der Obdachlosenbewegung MTST, in São Paulo mit den meisten Stimmen zum Abgeordneten ins Bundesparlament gewählt. Ebenfalls über die Liste der PSOL gelangen nun zwei prominente Vertreterinnen der indigenen Bewegung ins Parlament, Sonia Guajarara und Celia Xakriaba. Bemerkenswert ist auch das gute Abschneiden von Erika Hilton, die als trans Person ins Bundesparlament einzieht. Und mit der ehemaligen Umweltministerin der Regierung Lula, Marina Silva, ist eine prominente Umweltschützerin ins Parlament gewählt worden.

Das Bild ist also uneinheitlich und spiegelt die tiefe Spaltung der brasilianischen Gesellschaft wider. Aber das Pendel ist in diesen Wahlen, soweit es das Parlament betrifft, nach rechts geschlagen. Bolsonaro und seine engen Verbündeten verfügen über 37 Prozent der Abgeordneten, das linke Lager um die PT über 28 Prozent. Beide sind daher davon abhängig, ihre Basis zu erweitern. Damit kommt das sogenannte Centrão ins Spiel, ein diffuses Lager von Abgeordneten aus verschiedenen Parteien ohne klare ideologische Ausrichtung, aber mit dem Interesse, an der Macht und den Töpfen der Regierung teilzuhaben. Bolsonaro hatte bereits mit diesem Lager ein Bündnis geschlossen und dafür einen hohen Preis gezahlt, ein Teil des Haushaltes ist nun für dessen Anliegen reserviert. Das Bündnis würde Bolsonaro daher erheblich leichter fallen als Lula. Damit erscheint ein Schreckensszenario möglich: Eine zweite Regierung Bolsonaro, die über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt und damit die Verfassung ändern könnte. Vor allem aber könnte sie den Obersten Gerichtshof (STF) umstrukturieren, der zu einem großen Hassobjekt Bolsonaros geworden ist, weil der STF sich nicht der Regierung untergeordnet hat. Eines jedenfalls steht fest: Ein zweite Regierung Bolsonaro hätte erheblich mehr Potential, ihre sinistre politische Agenda durchzusetzen. Amazoniens Ökosystem würde weitere vier Jahre Bolsonaro wohl kaum überleben.

Lulas Sieg bei den Präsidentschaftswahlen ist die letzte Chance, den Durchmarsch der extremen Rechten zu verhindern. Zwar müsste Lula erhebliche Zugeständnis machen, um die Abgeordneten des Centrão auf seine Seite zu ziehen, aber unmöglich ist das nicht. Lula stände vor einer schweren Aufgabe und würde viele Erwartungen der brasilianischen Linken nicht erfüllen, das ist allen klar. Aber angesichts der Bedrohung durch Bolsonaro treten solche Überlegungen in den Hintergrund.

Doch erst muss die Wahl gewonnen werden. Bolsonaro versucht durch Lügen („Lula will die Kirchen schließen“), Schmutzkampagnen (angeblicher Missbrauch von Kindern) und Wahlgeschenke das Blatt noch einmal zu wenden. Dies spielt sich wieder vorwiegend über WhatsApp ab, ohne Faktencheck oder Korrekturen. Dort gibt es auch eine positive Entwicklung: Durch das gute Abschneiden Bolsonaros und seiner Verbündeten sind plötzlich die Stimmen verstummt, die das elektronischen Wahlverfahren anzweifelten und einen großen Betrug zugunsten Lulas an die Wand malten. Es wird Bolsonaro nun schwerer fallen, einen Wahlsieg Lulas im zweiten Wahlgang anzuzweifeln. Aber Achtung, Spoiler: Bolsonaro hat keine Angst vor dem Absurden.

RINGEN UM DEN ERHALT DER DEMOKRATIE

Elektronische Wahlurnen Sicher und bewährt -Bolsonaro will sie abschaffen (Foto: Marcelo Camargo / Agencia Brasil)

Nahezu verzweifelt versuchte William Bonner, TV-Moderator des größten brasilianischen Senders Rede Globo, Jair Bolsonaro im August während der traditionellen Interview-Runde mit den Kandidat*innen der Präsidentschaftswahl das Bekenntnis abzuringen, dass er eine Wahlniederlage akzeptieren werde. Doch der amtierende Präsident insistierte: Er werde die Ergebnisse nur dann akzeptieren, wenn die Wahlen „sauber“ seien. Auf das Gegenargument Bonners, dass das brasilianische Wahlsystem anerkanntermaßen „sauber, transparent und mit überprüfbaren Ergebnissen an den Urnen“ funktioniere, reagierte Bolsonaro gereizt und verlangte, das Thema zu wechseln.

Der Wahlkampf läuft bisher nicht zufriedenstellend für den rechtsradikalen Präsidenten Brasiliens. Anfang September veröffentlichte das führende Meinungsforschungsinstitut Datafolha als Umfrageergebnis erneut einen soliden Vorsprung seines Gegenkandidaten Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT: 45 Prozent für Lula gegenüber 32 Prozent für Bolsonaro. Am 5. September kam das Institut ipec im Auftrag von Rede Globo zu sehr ähnlichen Ergebnissen: 44 Prozent zu 31 Prozent. Selbst bei einer Fehlerquote von zwei Prozent wären dies rund zehn Prozentpunkte Vorsprung für Lula im ersten Wahlgang am 2. Oktober.

Obwohl die Umfrageergebnisse für Lula schon einmal besser waren – zwischen Mai und Juni erhielt er im Durchschnitt 47 Prozent und Bolsonaro nur 28 Prozent– scheint alles auf eine Stichwahl zwischen ihm und Bolsonaro hinzudeuten. Und im zweiten Wahlgang am 30. Oktober würde Lula nach allen bisherigen Umfragen rund 52 Prozent der Stimmen erhalten, Bolsonaro jedoch höchstens 36 Prozent. Alle anderen Kandidat*innen liegen deutlich unter zehn Prozent, am meisten Zustimmung kann Ciro Gomes von der sozialdemokratischen PDT mit acht Prozent verzeichnen. Da bei den Kandidat*innen mit geringer Zustimmung (ein bis fünf Prozent) aktuell ein bisschen Bewegung nach oben besteht, wird ein zweiter Wahlgang wahrscheinlicher. Gleichzeitig ist die Anzahl der Unentschlossenen in den letzten Wochen von neun auf drei Prozent gesunken.

Delegitimierung des brasilianischen Wahlsystems durch den Präsidenten

Nicht überraschend also, dass sich die Wahlkampfmanager*innen des rechtsradikalen Präsidenten für die verbleibenden dreieinhalb Wochen vor der Wahl Gedanken über einen Strategiewechsel machen. Selbst die Wiedereinführung einer Art von Sozialhilfe, des Auxílio Brasil von 600 Reais (rund 120 Euro), und die Reduzierung des Benzinpreises haben seiner Kandidatur nicht den erwarteten Aufwind verschafft. Da sich der Rechtsradikale bisher im Wahlkampf relativ moderat präsentiert hat, um die Wählerschaft der Mitte nicht abzuschrecken, wird nun erwogen, den „echten Bolsonaro“ wieder aus dem Schafspelz zu ziehen – vor allem um Nichtwähler*innen zu mobilisieren.

Die Fähigkeit, Massen zu mobilieiren, haben Lula und Bolsonaro nicht verloren

Den Nationalfeiertag am 7. September nutzte Bolsonaro daher als willkommene Gelegenheit für den Wahlkampf. Er schlüpfte dabei ganz nach seinem Belieben abwechselnd in die Rolle des Präsidenten und die des Kandidaten: mal präsidial mit Schärpe bei der Abnahme der Militärparade in Brasília, mal kämpferisch mit Bomberjacke auf einem „privaten“ Fahrzeug in Rio de Janeiro vor zehntausenden von Anhänger*innen. Dabei stellte er eindrucksvoll unter Beweis, dass er nach wie vor Massen mobilisieren und begeistern kann. „Bolsonaro sucht am 7. September die Kraft, die ihm in den Umfragen fehlt,“ titelte dazu die Zeitschrift Veja.

In den bürgerlichen Medien wurde Bolsonaros Missbrauch des Nationalfeiertages für seinen Wahlkampf kritisiert. Verbietet doch das brasilianische Wahlgesetz die Nutzung offizieller Ämter für Kampagnen. Das oberste Wahlgericht kann Kandidat*innen, die dies missachten, von der Wahl ausschließen, anschließend dürfen sie acht Jahre lang nicht kandidieren. Doch obwohl der zuständige oberste Richter „eine Untersuchung des Verhaltens des Kandidaten Bolsonaro“ ankündigte, scheint eine Ahndung angesichts der von Bolsonaro getroffenen Vorsichtsmaßnahmen wenig wahrscheinlich, trotz oder gerade wegen dessen andauernder Angriffe auf das Justizsystem. Auch dies hoben viele Kommentator*innen ausdrücklich hervor: Bolsonaro habe den obersten Gerichtshofes STF während seiner Ansprachen nicht direkt angegriffen. Es war allerdings auch nicht mehr notwendig: Der Präsident gab die Stichworte und die Menge grölte die Slogans; auch viele Transparente und Schilder seiner Anhänger*innen richteten sich gegen den STF. Die Erosion der Glaubwürdigkeit der Justiz ist dem Rechtsradikalen im Vorfeld der Wahlen jedenfalls geglückt.

Auch die Gefahr eines Putsches im Fall einer Wahlniederlage scheint nicht gebannt: „Ich ziehe einen Putsch der Rückkehr der PT vor. Das ist eine Million Mal besser. Und mit Sicherheit wird niemand aufhören, mit Brasilien Geschäfte zu machen, so wie sie es mit verschiedenen Diktaturen überall auf der Welt machen“, schrieb José Koury, Besitzer der Einkaufsmeile Barra World Shopping, in einem privaten Chat am 31.7.2022. Veröffentlicht wurden diese und ähnliche Nachrichten von namhaften Unternehmern im August von Guilherme Amado, Journalist der Website Metrópoles. Mit dabei war auch Luciano Hang, Gründer der Kette Havan, der laut Forbes 2021 über ein Vermögen von rund drei Milliarden Euro verfügte. Er hatte, neben vielen anderen Unternehmer*innen, die massiven Whatsapp-Kampagnen finanziert, die Bolsonaro 2018 zu seinem Sieg verhalfen – was ebenfalls gegen die Wahlgesetze verstieß, aber juristisch nicht weiter verfolgt wurde.

“Ein Putsch ist eine Million Mal besser als die Rückkehr des PT”

Doch im aktuellen Fall scheint die Justiz tätig zu werden, obwohl José Koury leugnete, den zitierten Text verfasst zu haben. Dieser sei sinnentstellt wiedergegeben worden und die Planung einer Konspiration in einem Kreis von 200 Mitgliedern einer Chatgruppe sei ohnehin lächerlich. Alexandre de Moraes, Richter am STF, hob am 6. September das Recht auf Geheimhaltung persönlicher Nachrichten der Unternehmer auf und blockierte ihre Accounts. Grundlage für die Entscheidung war eine Anzeige der Koalition für die Verteidigung des Wahlsystems, zu der sich mehr als 200 Organisationen und soziale Bewegungen zusammengeschlossen haben.

Die Koalition hat im Vorfeld der Wahlen mehr als eine Million Unterschriften für einen „Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer“ organisiert. Angelehnt war er an das gleichnamige Dokument aus dem Jahr 1977 von Goffredo da Silva Telles Jr., in dem die damalige Militärregierung kritisiert wurde und das einen Meilenstein im Kampf gegen die Diktatur darstellte. Die Veröffentlichung des aktuellen Briefes wurde Mitte August von landesweiten Demonstrationen in mehr als 50 Städten begleitet, in denen zur Verteidigung der Demokratie und des brasilianischen Wahlsystems mit seinen elektronischen Urnen aufgerufen wurde. Ein Höhepunkt war die Verlesung des Briefes an der juristischen Fakultät in São Paulo, an der auch Vertreter*innen bürgerlicher Parteien und der Unternehmerschaft teilnahmen.

Auch Lula da Silva und Ciro Gomes unterzeichneten den „Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer“ – die Gemeinsamkeiten der beiden Mitte-links-Kandidaten im Wahlkampf enden an diesem Punkt aber bereits. Seit 2018 im Streit, hatte Ciro Gomes bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Beteiligung an einem Wahlbündnis für Lula abgelehnt. In den vergangenen Wochen hat er den Ton verschärft und in den sozialen Medien den Gesundheitszustand von Lula infrage gestellt. Dieser ätzte zurück, dass er Online-Kampagnen gar nicht nötig habe, da er fortwährend auf Großveranstaltungen „direkt mit dem Volk“ kommuniziere. Tatsächlich hat Lulas Fähigkeit, Massen zu mobilisieren, nicht nachgelassen und er absolviert ein beeindruckendes Wahlkampfprogramm, bei dem er täglich auch mit Vertreter*innen der sozialen Bewegungen spricht. In Interviews und Debatten hat er dagegen die Haltung eines Staatsmanns eingenommen, dem kleinere Streitereien egal sind.

Aktuell sind Lula und die PT vor allem daran interessiert, die Wahl bereits im ersten Wahlgang zu entscheiden und möglichst viele Wählerstimmen für die zeitgleich stattfindenden Wahlen für das nationale Parlament und die Regierungen der Bundesstaaten zu gewinnen. Die neun Prozent Wählerstimmen, die Ciro Gomes voraussichtlich erhalten wird, machen einen zweiten Wahlgang mit all seinen Unwägbarkeiten deutlich wahrscheinlicher. Und dies ist nicht nur für die PT gefährlich: Denn was sich der Kandidat Bolsonaro in den vier Wochen zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang einfallen lässt, um die Wahlen zu delegitimieren, könnte eine weitere, ernste Bedrohung der brasilianischen Demokratie bedeuten.

AVANTGARDE DES RÜCKSCHRITTS

Fakten lügen nicht Die politische, sexuelle und psychische Gewalt gegen Frauen hat in Brasilien zugenommen (Foto: Mohamed Hassan)

In den vergangenen Jahren hat Brasiliens Zivilgesellschaft die internationale Gemeinschaft unermüdlich vor der rasanten Zerstörung der brasilianischen Demokratie gewarnt. Da Brasilien eines der am stärksten von COVID-19 betroffenen Länder ist, hat sich die Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene unermüdlich dafür eingesetzt, die politischen Entscheidungsträger*innen darauf aufmerksam zu machen, dass die drastischen Folgen der Pandemie – zum Beispiel die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem – abgemildert werden könnten. Dafür hätte allerdings die eigene Bundesverfassung und das internationale Engagement, das Brasilien 2015 vorangetrieben hat und das in die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mündete, respektiert werden müssen.

Leider wurden wir nicht gehört. Und obwohl wir als Zivilgesellschaft wissen, dass die Geschichte unsere Beharrlichkeit anerkennen wird, ist die Realität, dass Brasilien ein dekadentes Land geworden ist, dessen Führung sich weder um die Gegenwart, noch um die Zukunft der Menschen im Land kümmert. Traurigerweise nimmt die Gewalt immer weiter zu und die Ungleichheiten vertiefen sich in einem Ausmaß, das wir uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können. Die Folgen der Fehlentscheidungen der politischen Entscheidungsträger lassen sich in der sechsten Ausgabe des Spotlight Reports der Zivilgesellschaft über die Umsetzung der Agenda 2030 in Brasilien gut belegen. Verfasst wurde der Bericht von 101 Expert*innen aus den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt. Er stützt sich auf offizielle Daten von Regierungsinstitutionen und Universitäten. Methodisch wird die nationale Politik anhand von 168 Zielen und rund 230 Indikatoren überprüft, die den brasilianischen Staat beim Schutz der Umwelt, der Förderung des Friedens und der Inklusion leiten sollen.

Die Ziele und Indikatoren wurden nach dem Grad ihrer Umsetzung kategorisiert und zeigen, dass die Ergebnisse alles andere als positiv sind: Brasilien hat nur bei einem der 168 analysierten Ziele zufriedenstellende Fortschritte erzielt. Bei 110 Zielen (65,47 Prozent) zeigten sich Rückschritte, bei 24 Zielen (14,28 Prozent) waren die Fortschritte unzureichend. 11 Ziele (6,54 Prozent) verblieben auf dem Vorjahresniveau oder stagnierten insgesamt, 14 Ziele (8,33 Prozent) sind gefährdet und zu 8 Zielen (4,76 Prozemt) liegen keine Daten vor. Im Vergleich zum Bericht von 2021 stieg die Zahl der Ziele, deren Umsetzung rückläufig ist, von 92 auf 110 und die der Ziele mit unzureichenden Fortschritten von 13 auf 24.

Bolsonaros Regierung war eine Katastrophe mit Ankündigung

Wenn wir hinter diese Daten blicken, sehen wir Leben ohne Hoffnung, eine vergeudete Gegenwart und die Vorstellung einer besseren Zukunft, an die kaum zu glauben ist. Übersetzt in die Realität zeigt der Bericht ein Land, das sich rasch zurückentwickelt und die eingegangenen internationalen Verpflichtungen verleugnet – was dazu geführt hat, dass Brasilien international isoliert ist. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass Brasilien im Oktober 2022 die gewalttätigsten Wahlen (des Präsidenten der Republik, der Gouverneure der Bundesstaaten und der Parlamente) in der Geschichte des Landes erwartet.

Es gibt sicher keinen Zweifel an den begrenzten intellektuellen Fähigkeiten von Jair Bolsonaro, der nicht in der Lage ist, auch nur ein oberflächliches Gespräch mit führenden Politiker*innen der Welt zu führen. Die analysierten Daten zeigen jedoch, dass er bei der Erfüllung all seiner Wahlversprechen von 2018, die sich vor allem gegen die Rechte der Bevölkerung richten, ziemlich erfolgreich war. Taktisch hat er Allianzen mit rechtsextremen Gruppen, christlichen Pfingstkirchen, der Waffenindustrie und illegalen Extraktivist*innen geschlossen und damit dem organisierten Verbrechen mehr Raum gegeben. Durch die Bestechung politischer Parteien gelang es ihm, Gesetze zu verabschieden, die die zuvor eroberten Rechte wieder einschränkten. Er zerstörte Institutionen und Foren der gesellschaftlichen Partizipation und machte Menschenrechtsverteidi-gerinnen, Nichtregierungsorganisationen und Indigene zu Staatsfeinden.

Während er Budgets, öffentliche Dienstleistungen und Kontrollinstrumente zerstörte, hat Bolsonaro erfolgreich auf einen manichäischen populistischen Diskurs („wir gegen sie“) gesetzt, der typisch für Faschist*innen ist. Damit hat er Sexismus, Rassismus und LGBTI-Phobie in einem Land, das bereits durch Sklaverei und Machismus traumatisiert ist, noch verstärkt. Fakten lügen nicht: Die Zahl der Feminizide an Transgender-Frauen hat im Jahr 2021 zugenommen, ebenso wie die politische, sexuelle und psychische Gewalt, die selbst Frauen im Parlament betrifft. Nach Angaben von UN-Women haben 82 Prozent der brasilianischen Politikerinnen psychische Gewalt erlitten, 45 Prozent wurden bedroht, 25 Prozent wurden im Parlament körperlich angegriffen und 20 Prozent wurden sexuell belästigt. Brasilien liegt heute bei der Beteiligung von Frauen in den Parlamenten auf Platz 143 von 188 Ländern (2015 war es noch Platz 115) und in der Bundesregierung sind nur 8,7 Prozent der Minister*innen Frauen.

Die Regierung spricht sich offen gegen sexuelle und reproduktive Rechte und Gendergerechtigkeit aus, so dass die Sexualerziehung aus dem Nationalen Gemeinsamen Basislehrplan (BNCC) gestrichen wurde. Nur 3 von 26 Bundesstaaten empfehlen den Schulen, Unterricht über Sexualität, Genderfragen, Prävention von Teenagerschwangerschaften und Gewalt anzubieten. Selbst die Bekämpfung von HIV und Aids, in der Brasilien ein internationales Vorbild war, wurde deutlich geschwächt, da die Mittel für Präventionskampagnen in alarmierender Weise gekürzt wurden. Betrug das Budget für HIV/AIDS-Prävention 2015 noch 20,1 Millionen brasilianische Reais, sank es 2020, im zweiten Jahr der Amtszeit von Jair Bolsonaro, auf 3,9 Millionen Reais. 2021 waren es nur noch rund 100.000 Reais.

Die Regierung Bolsonaro war eine angekündigte Katastrophe, aber die Ergebnisse sind deutlich schlimmer, als von der Zivilgesellschaft erwartet. Denn es bestand noch die Hoffnung, dass die demokratischen Institutionen bei der Erfüllung ihres Mandats der Exekutive die richtigen Grenzen setzen würden – was nicht geschah. Und so erscheint Brasilien 2022 erneut auf der Welthungerkarte: Die Anzahl der Hungernden stieg von 19,1 Millionen im Jahr 2020 auf 33,1 Millionen im Jahr 2021; insgesamt 125,2 Millionen Menschen leben in einem gewissen Grad von Ernährungsunsicherheit. Das ist mehr als jede*r Zweite im Land.

Brasilien erwartet die gewalttätigsten Wahlen seiner Geschichte

Bei einer Arbeitslosenquote von 11,2 Prozent fehlt es an wirksamen Maßnahmen, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Die Agrarreform wurde ausgesetzt und die Zahl der Konflikte auf dem Land ist bis 2021 um 1.100 Prozent gestiegen, während das räuberische Agrobusiness weiter vorrückt und das Leben der Indigenen und Quilombolas zerstört. Das brasilianische Entwicklungsmodell setzt grundsätzlich auf den Primärsektor und ist von geringer Dynamik und hoher Umweltzerstörung gekennzeichnet. Doch die Situation ist außer Kontrolle geraten: Die Entwaldung war im Jahr 2021 um 79 Prozent höher als im Jahr 2020 und erreichte 20 Prozent der Gesamtfläche des Amazonasgebiets, während sie im Trockenwald Cerrado um acht Prozent (8.531 km2) zunahm. Zwischen 2019 und 2021 gingen in den Schutzgebieten 130 Prozent mehr Waldfläche verloren als in den drei Jahren zuvor, und in den indigenen Gebieten war die Entwaldung um 138 Prozent höher.

Das Wirtschaftsteam der Regierung Bolsonaro ist nachweislich inkompetent und theoretisch nicht auf dem neusten Stand, so dass es – selbst wenn es wollte, was nicht der Fall ist – nicht wüsste, wie es mit der schwierigen ökonomischen Situation in Brasilien umgehen soll. Durch seine Arbeit stieg die Inflation, die Preise für Treibstoff, Energie und die Lebenshaltungskosten. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg der Anzahl der auf der Straße lebenden Menschen. Die jüngste Volkszählung in der reichen Stadt São Paulo hat ergeben, dass die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen zwei Jahren um 31 Prozent gestiegen ist und sich überwiegend aus Frauen, Kindern und ganzen Familien zusammensetzt. Bolsonaro verfolgt jedoch weiter strukturpolitische Maßnahmen, und hat erst vor wenigen Wochen, mit Blick auf die Wahlen, mehr Mittel für soziale Hilfsleistungen bewilligt.

Bei all diesen deprimierenden Kennzahlen zeigt der Spotlight Report aber auch, dass es Lösungen gibt. Die 116 Empfehlungen zeigen, dass es möglich ist, unsere Rechte wieder in den öffentlichen Haushalt aufzunehmen und den Boden zurückzugewinnen, den wir durch Gewalt, Hunger, Armut, Rassismus und geschlechtsspezifische Ungleichheiten verloren haben, die das heutige Brasilien kennzeichnen. Wir müssen unbedingt unsere Kultur der Privilegien beenden. Dazu ist es dringend erforderlich, die Arbeits- und Sozialversicherungsreformen der vergangenen Jahre zu revidieren, und die Gesetze wieder abzuschaffen, die öffentliche Investitionen in Gesundheit, Bildung und andere wichtige Bereiche verhindern. Zum Beispiel die Verfassungsänderung EC 95 der Regierung von Michel Temer, die von den Vereinten Nationen als die weltweit drastischste wirtschaftliche Maßnahme gegen soziale Rechte angesehen wird. Wir brauchen eine Steuerreform, über die effiziente und menschenrechtsorientierte Projekte gefördert werden. Schließlich müssen wir die Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die öffentliche Finanzierung von Unternehmen, die nicht auf eine nachhaltige Entwicklung hinarbeiten, beenden. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen werden wir nicht aufgeben, bis diese Regierung und ihre Kumpane im Parlament für ihre Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Dafür müssen die Kapazitäten der Zivilgesellschaft und der demokratischen Institutionen gestärkt werden, auch durch eine größere Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.

LULA FOR PRESIDENT?

Tintenfisch mit Gurke An der Seite von „Tintenfisch“ Lula tritt Alckmin als Vize an – er hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen – ein geschmackloses Gemüse (Foto: www.lula.com.br)

Am 26. Mai veröffentlichte das als sehr zuverlässig geltende Wahlforschungsinstitut Datafolha eine neue Umfrage zu den Präsidentschaftswahlen. Danach liegt Lula mit 48 Prozent deutlich vor Bolsonaro, der lediglich auf 27 Prozent der Stimmen kommt. Ein Wahlsieg von Lula bereits im ersten Wahlgang wäre damit möglich. Die Umfrage bestätigt ein sich immer mehr konsolidierendes Szenario: Die Präsidentschaftswahl läuft auf ein Duell zwischen Lula und Bolsonaro hinaus, alle anderen Kandidat*innen bleiben im einstelligen Bereich. Damit dürften alle Versuche, einen sogenannten „Dritten Weg“ jenseits der bestehenden Polarisierung zu finden, als gescheitert gelten. Im linken Lager wurde das Ergebnis der Umfrage mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn in den vorangegangen Umfragen hatte sich der Abstand zwischen Lula und Bolsonaro zusehends verringert, Bolsonaro holte auf. Dieser Trend ist nach den aktuellen Ergebnissen von Datafolha nun anscheinend gebrochen. Es ist schwer zu sagen, worauf dies zurückzuführen ist. Sicher ist, dass die wirtschaftliche Entwicklung den Amtsinhaber nicht begünstigt. Die Wirtschaftskrise hält an, die Inflation steigt unaufhörlich. Die offizielle Inflationsrate liegt nun bei sieben Prozent, aber der Preisindex für Konsumgüter ist um zwölf Prozent gestiegen. Dies trifft insbesondere die Ärmsten, die Verschlechterung der Lebenslage ist spürbar. Traurigster Indikator dafür ist die Wiederkehr des Hungers in Brasilien. Eine neue Studie geht davon aus, dass im Jahr 2020 rund 55 Prozent der brasilianischen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, das heißt 116,7 Millionen Menschen. Von diesen 116,7 Millionen sind 19 Millionen, also neun Prozent der Gesamtbevölkerung, von Hunger betroffen und weitere 11,5 Millionen Menschen ohne regelmäßigen und gesicherten Zugang zu Nahrung (siehe LN 563). Dies ist ein Ergebnis der Streichung zahlreicher Sozialprogramme durch die Regierung Bolsonaro. Auf jeden Fall bedeuten die Umfragewerte Rückenwind für die Strategie von Lula und der PT. Anders als bei den letzten Wahlen tritt Lula nun mit einem Wahlbündnis an, das über die üblichen Verdächtigen aus dem linken Lager hinausgeht. Tatsächlich war früh klar, dass die kleineren linken Parteien Lulas Kandidatur unterstützen werden. Auch die sozialistische PSOL wird Lula bereits im ersten Wahlgang unterstützen und keinen eigenen Kandidaten aufstellen. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2018 war sie mit dem populären Guilherme Boulos von der Bewegung der Wohnungslosen MTST angetreten, der nun für das Bundesparlament kandidieren wird.

Alckmins Nominierung als Lulas Vize ist ein Signal an das bürgerliche Lager

Ein überraschender und möglicherweise wahlentscheidender Schachzug gelang Lula und der PT aber mit der Nominierung von Geraldo Alckmin als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten. Alckmin war in den letzten Jahrzehnten der wichtigste Politiker der PSDB, dem historischen Widersacher der PT. Präsidentschaftswahlen waren in Brasilien lange Zeit ein Duell zwischen den Kandidat*innen der PT und der PSDB; 2006 unterlag Alckmin Lula bei den Präsidentschaftswahlen. Nach dem katastrophalen Abschneiden der PSDB bei den Präsidentschaftswahlen 2018 hat sich die Partei aber in rivalisierende Lager aufgespalten. Alckmin wechselte zur PSB, einer Partei, die zwar den Sozialismus im Namen führt, aber in vielen Bundesstaaten ein Sammelbecken ohne klares politisches Profil bildet. Alckmin ist jeglicher linker Sympathien unverdächtig, seine Nominierung ist genau das Signal an das bürgerliche Lager, das sich Lula und die Mehrheit seiner Partei wünschen: Unser Bündnis umfasst ein weites politisches Spektrum, niemand – außer der Familie Bolsonaros und dem härtesten Kern seiner Anhänger – müsse vor einer Präsidentschaft Lulas Angst haben, so die Botschaft.

Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien

Unter den linken Strömungen der PT und in der PSOL wurde die Nominierung Alckmins hingegen mit Misstrauen und offener Ablehnung aufgenommen. „Wir glauben, dass Alckmin keine Stimmen bringt. Er ist ein Neoliberaler, ein Unterstützer des Putsches (gegen Dilma Rousseff, Anm. d. Red.) und er hat unzählige Male die PT und Lula beleidigt“, kritisierte Valter Pomar, prominenter Vertreter der PT-Linken. Neidisch schaute die Linke Brasiliens nach Kolumbien und wünschte der PT den Mut, eine Frau wie Francia Marquéz auszuwählen. Doch es half alles nichts – mit großer Mehrheit bestätigte der Vorstand der PT Anfang Mai die Kandidatur Alckmins. Die Kritiker*innen haben die Entscheidung zähneknirschend akzeptiert und die Unterstützung der Kandidatur Lulas nicht von der Entscheidung der PT für Alckmin abhängig gemacht. Lula com chuchu (Tintenfisch mit Gurke) heißt daher das Motto der Stunde: Alckmin hat in der Vergangenheit den Spitznamen chuchu bekommen, ein als besonders geschmacklos geltendes Gemüse. Auch wenn in den aktuellen Umfragen Bolsonaro klar hinter Lula liegt – er ist und bleibt der einzige Kandidat, der Aussichten hat, Lula zu schlagen. Deshalb wird immer wieder davor gewarnt, Bolsonaro zu unterschätzen und zu siegesgewiss zu sein. Die Tatsache, dass Bolsonaro trotz der desaströsen Bilanz seiner Regierung über ein stabiles Fundament von etwa 30 Prozent der Wähler*innen verfügt, zeigt, dass der Bolsonarismus inzwischen fest in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelt ist und wohl auch auch bei einer Niederlage die kommenden Wahlen überleben würde. Die gesellschaftlichen Gruppen, die den Bolsonarismus speisen, sind die extrem konservativen Evangelikalen und alle diejenigen, die sich durch „Genderideologie“, Feminismus, Menschenrechte und Kommunismus bedroht und von der traditionellen Politik verraten fühlen. Die Zustimmung zu Bolsonaro ist bei Männern höher als bei Frauen und steigt parallel zum Einkommen. Auf dieser Basis wird Bolsonaro seinen Wahlkampf als moralischen Kreuzzug gegen das Böse führen und Themen wie die Verteufelung der Entkriminalisierung von Abtreibung, der Rechte von LGBTIQ* aber auch die Verbindungen der PT zu den als „kommunistisch“ bezeichneten Regierungen von Venezuela, Kuba und Nicaragua in den Mittelpunkt stellen. Lula und die PT hingegen werden genau diese Themen meiden und die wirtschaftliche Lage, die Inflation sowie die zunehmende Verelendung thematisieren und immer wieder zeigen, dass unter Lulas Präsidentschaft alles besser war.

„Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden!“

Die Frage der Abtreibung zeigt, wieviel von der PT in diesem Wahlkampf zu erwarten ist. Lula hatte im April bei einer Veranstaltung erklärt, Abtreibung solle zu eine Frage der öffentlichen Gesundheitsfürsorge werden. Nach heftigen Reaktionen erklärte er, dass er persönlich gegen Abtreibung sei, und seitdem wird das Thema von der PT vermieden. Symptomatisch ist die Äußerung der populären Schauspielerin und Lula-Unterstützerin Maria Ribeiro, die vor allem durch den Film Tropa de Elite bekannt wurde: „Leute, wir können jetzt nicht über Abtreibung reden. Darüber sprechen wir nächstes Jahr, verstanden? Wir müssen diese Wahl gewinnen.“ Lulas Wahlsieg hängt davon ab, dass es ihm gelingt, das konservative Lager zu spalten und zumindest zum Teil für sich zu gewinnen. Die Konservativen sind die entscheidende Zielgruppe des Wahlkampfes und für sie ist die Nominierung Alckmins das richtige Signal. Die Linke werde ohnehin Lula wählen, zumal wenn die Alternative Bolsonaro lautet – so das Kalkül von Lula und der PT.

Überschattet wird der beginnende Wahlkampf von einer weiteren Frage: Ist der amtierende Präsident überhaupt bereit, ein anderes Wahlergebnis als seinen Sieg zu akzeptieren? Seit Anfang Mai hat Bolsonaro die Angriffe gegen die demokratischen Institutionen verstärkt, insbesondere gegen den Obersten Gerichtshof STF. Er sät immer wieder Zweifel an dem elektronischen Wahlverfahren und beschwört das Gespenst von Wahlfälschungen. Damit ist die Gefahr eines Putsches in der brasilianischen Presse erneut omnipräsent. So bereitet Bolsonaro das Terrain dafür vor, im Falle einer Wahlniederlage den demokratischen Prozess zu delegitimieren. Das alles erinnert natürlich an die Rhetorik von Donald Trump. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied: Bolsonaro hat die Unterstützung (weiter Teile) des Militärs und anderer bewaffneter Gruppen aus Militärpolizei, Sicherheitsdiensten und Milizen. Keine andere gesellschaftliche Gruppe hat so von der Regierung Bolsonaros profitiert wie die Militärs. 6.000 Angehörige der Streitkräfte haben gutbezahlte Posten in der Regierung erhalten, mehr als in den Zeiten der Militärdiktatur. Die Gehälter der Militärs wurden angehoben und in den Wahlkampf wird Bolsonaro wohl mit einem loyalen Militär als Kandidat für die Vizepräsidentschaft gehen. Zudem rühmt er sich, dass unter seiner Regierung der Zugang zu Waffen erleichtert wurde. Im Mai dieses Jahres wiederholte Bolsonaro einen seiner Lieblingssprüche: „Das bewaffnete Volk wird niemals versklavt sein. Die Waffe in der Hand der aufrechten Bürger wird nicht nur die Familie, sondern auch das Vaterland verteidigen.“ Und er fügte hinzu: „Meine Regierung ist radikal gegen Abtreibung, Genderideologie und den Kommunismus, und Gott steht über allen.“ Unter den Menschen Angst zu verbreiten, gehört zu den speziellen Fähigkeiten Bolsonaros. Brasiliens Demokratie steht vor schweren Zeiten.

“KÖNNEN WIR NOCH WEITERE VIER JAHRE SO LEBEN?”

Foto: Katie Mähler @katie_maehler

Anfang Oktober sind Wahlen in Brasilien. Welche Erwartungen habt ihr mit Blick auf dieses Ereignis?
Alice: Ich hoffe sehr, dass ein anderer Kandidat als Bolsonaro gewinnt. Ich habe natürlich meine Präferenzen und konkrete Vorstellungen für die Zukunft, aber wie heißt es so schön: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Auch wenn ein Kandidat erklärt, die indigenen Völker zu unterstützen, bedeutet das nicht unbedingt viel. Wir benötigen konkrete Aktionen. Während der Vorgängerregierungen hatten wir bereits bemerkt, dass es zwischen der indigenen Bewegung und der brasilianischen Politik eine tiefe Spaltung gibt. Und das müssen wir ein für alle Mal verändern. Ich hoffe wirklich sehr, dass die neue Regierung kompromissbereit sein wird und Verantwortung übernimmt. Denn bei Wahlkundgebungen ist es sehr einfach, Unterstützung zu zeigen. Doch sie in die Praxis umzusetzen und das Leben der Indigenen etwas zu erleichtern sowie endlich die Anerkennung der indigenen Territorien umzusetzen, das wäre für uns alle ideal.

Wie sind eure Erfahrungen als indigene Frauen und politische Führungspersönlichkeiten der Pataxó und der Uru Eu Wau Wau?
Tejubi: Bisher ist das eine gute Erfahrung für mich. Es ist zum Beispiel das erste Mal, dass ich als Vertreterin meines Volkes so weit gereist bin. Dass meine Tochter so weit weg ist, macht mir etwas Angst, weil ich oft an die Invasionen in unser Land denke und weiß, dass immer etwas Schlimmes passieren kann. Ich muss aber sagen, dass es nicht immer einfach war, mein Volk zu vertreten, denn ich wurde häufig diskriminiert und habe gehört, dass Frauen diese Aufgaben nicht übernehmen können. Aber ich stehe hier, um zu zeigen, dass wir es doch können.
Alice: Das ist ein extrem komplexes Thema. Wir sprechen von indigenen Völkern, die immer noch vom Patriarchat und gewissermaßen auch vom Machismo dominiert werden. Die Pataxós haben heute eine größere Offenheit, so sehe ich es, da es seit vielen Jahren Frauen gibt, die Führungspersönlichkeiten und Caciques sind. Diese Entwicklung nimmt zu. Heute sehe ich mehr Mädchen, die sich in politischen Räumen beteiligen und ihre Communities vertreten können. Das ist auch für uns sehr wichtig, denn wir bewegen uns von einer Position, in der wir nur als Frauen oder Mütter gesehen werden, zu einer anderen, in der wir eine politische, individuelle Person sein dürfen. Dabei geht es nicht nur um Zugang zur Politik, sondern auch um andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel ein Studium. Das stärkt alle indigenen Frauen.

Wie blickt ihr auf die indigenen Kämpfe der letzten Jahre, in denen die Regierung Bolsonaro die territorialen Besetzungen und den Genozid an den indigenen Völkern vorangetrieben hat?
Alice: Der Genozid ist das Hauptmerkmal der Regierung von Bolsonaro. Ich habe noch nie eine solche Gesetzlosigkeit erlebt, sie erstickt die indigene Bevölkerung langsam. Die Suizidrate von Indigenen ist gestiegen, ebenso wie die von LGBT. Die Lage ist chaotisch, vor allem in Bezug auf die Pandemie. Es macht uns extrem traurig – umso mehr, wenn wir daran denken, dass Bolsonaro erneut kandidieren will. Falls er gewinnt, was werden wir tun, um mit seiner Politik umgehen zu können? Denn ehrlich gesagt, ist der Schaden nach vier Jahren seiner Regierung äußerst groß. Ich frage mich, ob wir noch weitere vier Jahre so leben können.
Tejubi: Seit Bolsonaro an der Macht ist, stellen alle fest, dass die Besetzungen in den indigenen Territorien beträchtlich zugenommen haben. Ich denke gerade an eine Geschichte, die bei uns passiert ist. Einige Invasoren sind in unser Land eingedrungen. Meine Verwandten sind zu ihnen gegangen und haben von ihnen gehört: „Das ist ein Befehl von oben. Wichtige Menschen haben uns erlaubt, das Land hier zu besetzen”. Wir Indigene und viele andere Brasilianer haben nur Probleme seit dem Beginn von Bolsonaros Amtszeit. Aber manche nehmen die Katastrophe nicht wahr, denn die Mehrheit seiner Unterstützer besitzen Land und Vieh und befürworten die Abschaffung indigener Territorien völlig.
Alice: Die Regierung Bolsonaro verfolgt eine politische Agenda, die sich gegen die indigenen Völker richtet und gegen die Menschen aus Favelas. Es ist für uns sehr schwer zu akzeptieren, dass das bestehende brasilianische System nur weiße Personen berücksichtigt, die über Privilegien und Ressourcen verfügen. Alle Vorstellungen von Entwicklung, die aktuell von der Regierung vertreten werden, basieren darauf. Auf Geld, auf Entwaldung, kurz: auf allem, was wir bekämpfen und seit langem versuchen zu verändern.

Welche Rolle spielte der digitale Aktivismus in euren politischen Kämpfen?
Alice: Ich arbeite heutzutage mit sozialen Medien. Sie sind ein Werkzeug mit großem Potenzial, das der indigenen Bewegung viel geben kann, denn sie dienen dazu, Menschen, die keinen Zugang zu unseren Communities haben, über unsere Bewegung und unsere Realität zu infor-*mieren. Es gibt eine riesige, nicht nur geographische, Distanz zwischen indigenen Dörfern und den Städten in Brasilien und dies hat natürlich Konsequenzen. Wir müssen aber gut aufpassen, denn dieses Werkzeug hat andererseits auch negative Effekte. Es gibt eine neue Generation, die langsam diesen virtuellen Raum besetzt, der ursprünglich nicht für uns geschaffen worden ist. Hier in Deutschland und Europa ist das Engagement über die sozialen Medien sehr stark, viele zeigen großes Interesse für die indigene Bewegung in Brasilien. Diese Annäherung wurde nur dank des Internets ermöglicht.
Tejubi: Alice ist die Influencerin von uns beiden (Gelächter).
Alice: Ich sehe mich nicht als Influencerin, denn ich beeinflusse Menschen nicht. Vielmehr kläre ich sie auf, denn das interessiert mich. Ich will nicht sagen, was die anderen tun sollten. “Influence” ist ein Begriff, der für die Kommerzialisierung konzipiert wurde und ich denke einfach anders.
Tejubi: Das Internet war für uns von Uru Eu Wau Wau sehr wichtig, denn so konnten wir etwas bekannter werden. Wir haben gelernt, Drohnen und GPS zu nutzen, um ein Harpyie-Nest (seltener, tropischer Greifvogel, der in den höchsten Baumkronen nistet, Anm. d. Red.) zu beobachten. Dies haben wir der FUNAI (Nationale Behörde für Indigene, Anm. d. Red.) gezeigt, um zu dokumentieren, dass dort Entwaldung stattfindet. Obwohl sie dem widersprochen haben – sie wären dort gewesen und hätten nichts gefunden, sagten sie – haben wir angefangen zu posten, was in unserem Territorium geschieht, und hoffen nun, dass uns dies helfen kann.

Wie stellt ihr euch das Engagement der jungen Generationen gegen die Entwaldung und für die Umwelt vor?
Alice: Junge Menschen können etwas tun, auch auf autonome Art und Weise. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass die Jugendlichen von heute die Führungsfiguren von morgen sein werden. In dieser Hinsicht ist unsere Bewegung sehr gewachsen und das ist extrem positiv. Ich hoffe, dass wir mehr Zugang zu Möglichkeiten erhalten sowie weniger Vorurteile und Diskriminierungen erleben werden, denn wir sind dagegen nicht immun. Unsere Jugend braucht auch mehr Engagement der neuen Generationen anderer Länder, um die echten Probleme besser angehen zu können.

In Bezug auf eure Reise nach Europa: Wie schätzt ihr die Möglichkeiten ein, mit internationalen Akteuren zu kooperieren?
Tejubi: Ich hoffe, dass unsere Reise nach Europa positive Folgen haben wird. Mein Volk würde sich sehr darüber freuen, wenn ich mit konkreten Ergebnissen zurückkehren könnte. Ich denke dabei an die Ermordung zweier meiner Onkel, die keine juristischen Konsequenzen hatte. Der eine war Lehrer und Mitglied einer Monitoring-Gruppe, er wurde vor zwei Jahren ermordet. Der andere erst vor drei Monaten, wahrscheinlich von einem Goldgräber in Guajará-Mirim. Wir haben dazu noch nichts erfahren, weder von Seiten der FUNAI, noch der Polizei. Es ist sehr schwierig für mich, wenn mich meine Großmutter fragt, ob ich hier schon etwas erreichen konnte, um die Verbrechen aufzuklären.
Alice: Ich finde es auf jeden Fall positiv und notwendig, die Realität unseres Kampfes in einem internationalen Kontext darstellen zu können. Beispielsweise können durch Kunst unsere Gefühle und andere Aspekte unserer Bewegung sehr effektiv kommuniziert werden. Auch wenn wir in den letzten Jahren mehr Raum in der nationalen wie internationalen Politik einnehmen konnten, kommen wir in vielerlei Hinsicht immer noch zuletzt, was sehr schade ist.

IN DER PARANOIDEN PARALLELWELT DES BOLSONARISMUS

Sieht nicht nur faschistisch aus Bolsonaro beim cercadinho (Foto: Niklas Franzen)

Langsam rollt die schwarze Limousine heran und bremst vor einem hüfthohen Gitter. Ein Mann öffnet die hintere Tür des Wagens. Jair Bolsonaro steigt aus, richtet seinen Anzug, grinst. Hinter einer Absperrung stehen rund 30 Menschen, ich bin einer davon. Fast jeden Tag trifft Brasiliens Präsident in der Hauptstadt Brasília seine Anhänger*innen vor dem Palast der Morgenröte, der offiziellen Residenz. Er schüttelt Hände, plaudert, posiert für Selfies. Ein Präsident zum Anfassen.

Ich habe mich als Unterstützer getarnt. Denn Journalist*innen sind hier nicht erwünscht. Kolleg*innen rieten mir ab, am cercadinho, am kleinen Zaun, aufzukreuzen. Viel zu riskant, sagten sie. Und ihre Sorge ist nicht unberechtigt. Journalist*innen wurden hier schon beschimpft, bespuckt, geschlagen. Mittlerweile haben sich Medienvertreter*innen daran gewöhnt, von Pressekonferenzen ausgeladen, durch Online-Kampagnen eingeschüchtert und wüst beschimpft zu werden. Auch der Präsident beteiligt sich höchstpersönlich an der Hetze gegen die vierte Gewalt. Vor dem Palast der Morgenröte brüllte er einmal einem Reporter entgegen, dass er Lust habe, ihm sein Gesicht einzuschlagen. Einem anderen erklärte er vor laufenden Kameras, dass er aussehe wie ein „schrecklicher Homosexueller“.

So ist es nicht verwunderlich, dass die großen Medienhäuser ihre Reporter*innen schon länger nicht mehr zum cercadinho schicken. Doch ich wollte unbedingt eines dieser skurrilen Treffen hautnah miterleben. Denn an kaum einem anderen Ort kommt man dem Präsidenten so nah wie hier. An kaum einem anderen Ort wird Bolsonaro so deutlich in seinen Ansprachen. Und an kaum einem anderen Ort lässt sich besser die fast schon religiöse Hingabe von Bolsonaros Anhänger*innen beobachten.

Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn.

Auch für den Präsidenten sind die Treffen enorm wichtig. Sie sind eine Möglichkeit, Dampf abzulassen und Dinge einzuordnen. Ohne Kritik, ohne Widerspruch, ohne Nachfragen der Presse. Ich versuche es trotzdem und spreche Bolsonaro auf eine Klage von Umweltschützer*innen vor dem Internationalen Strafgerichtshof an. Verärgert schaut er mich an und beginnt, sichtlich genervt über NGOs zu schimpfen. Es wird klar: Bolsonaro will hier nicht über kritische Dinge sprechen. Das ist typisch für seinen autoritären Kurs. Dialog findet kaum noch statt. Politik macht Bolsonaro nur für seine Basis. Dass er an diesem Abend wieder einmal haarsträubende Lügen erzählt, stört hier niemanden.

Aus dem ganzen Land sind die Fans des Präsidenten angereist. Tausende Kilometer für ein kurzes Treffen. Einige haben Freudentränen in den Augen. Ein blonder Mann murmelt immer wieder: „Ein Traum ist wahr geworden, ein Traum ist wahr geworden.“ Bei den meisten Menschen löst ein Treffen mit einem Staatsoberhaupt Ehrfurcht aus. Doch bei Bolsonaro ist es mehr. Es ist eine Verehrung, die schon fast sektenhafte Züge trägt. Woher kommt dieser regelrechte Führerkult? Ist es Bolsonaros Persönlichkeit? Sind es seine politischen Ideen? Oder hat er einfach nur Gefühle freigesetzt, die seit langem in den Brasilianer*innen schwelen?

Vor dem Präsidentenpalast lerne ich Clemerson kennen. 37, braungebrannt, Brasilien-Trikot. Mit seinem Sohn ist er aus dem Soja-Bundesstaat Mato Grosso angereist, um „seinen Präsidenten“ zu treffen. Warum er Bolsonaro unterstütze? „Er ist ehrlich. Ganz anders als der Rest.“ Solche Aussagen hört man häufig. Von seinen Anhänger*innen wird Bolsonaro für seine „authentische Art“ gefeiert. Und in der Tat ist er mehr als der hasserfüllte Provokateur. Der Rechtsradikale versteht es, eine einfache Sprache zu benutzen, was in einem Land mit einem geringen Bildungsniveau nicht ganz unwichtig ist. Er ist sehr direkt, erzählt gerne Anekdoten, macht Witze und nimmt nie ein Blatt vor den Mund. Mit dieser Art gibt er seinen Unterstützer*innen zu verstehen: Seht her, ich bin ein ganz normaler Brasilianer! Einer von euch! So ist es für ihn kein Nachteil, dass er nur ein mittelmäßiger Redner ist und wenig Ausstrahlung hat. Im Gegenteil. Fast alle haben einen Onkel oder Bruder, die ähnlich reden oder auftreten wie Bolsonaro. In Zeiten einer schweren gesellschaftlichen und politischen Krise, in der dem politischen Establishment große Ablehnung entgegenschlägt, wünschen sich viele genau so jemand wie Bolsonaro: Hauptsache kein klassischer Politiker.

Addition von Extremen statt gemeinsamer Mitte

Bolsonaro hat sich immer als Vollstrecker des „wahren Volkswillens“ betrachtet. Jemand, der die vermeintlichen Eliten das Fürchten lehrt. Klassischer Populismus. Doch der Bolsonarismus ist mehr, er hat durchaus ein ideologisches Fundament. Ein tropischer Neofaschismus, sagen einige. Klar ist: Im Bolsonarismus vereinen sich ganz unterschiedliche reaktionäre Ideen. Religiöser Fanatismus, Ultranationalismus, Militarismus, Antikommunismus. Was sie zusammenhält, ist die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen und eine Haltung, sich hermetisch nach außen abzuschirmen. Zweifel? Gibt es nicht. Kritik? Wird nicht toleriert. Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn. Freund oder Feind. Wir gegen die. Bolsonaro nährt diese Wagenburgmentalität, indem er ständig Konflikte mit den demokratischen Institutionen provoziert.

In der paranoiden Parallelwelt des Bolsonarismus ist das „System“, also die Justiz, der Kongress und die Medien, von einer korrupten Elite infiziert und müsse deshalb gesäubert werden. Richtig ist: Bolsonaro liegt im Dauerclinch mit den Institutionen, weil diese vielen Initiativen der Regierung einen Riegel vorgeschoben haben. Mit seiner Ablehnung der Gewaltenteilung ähnelt Bolsonaro seinen autoritären Zeitgenossen auf der ganzen Welt, die die Parlamente und Justiz entweder zerschlagen haben oder sie frontal angreifen. Diese Schützengrabenlogik hat noch einen weiteren Vorteil: Jegliche Unfähigkeit des Präsidenten lässt sich mit dem Widerstand des „Systems“ erklären. Mehrmals spreche ich Unterstützer*innen von Bolsonaro auf die magere Bilanz ihres Idols an. Die Antwort ist fast immer die gleiche: „Sie lassen den Präsidenten nicht arbeiten.“

Auch die ständigen Eklats und Polemiken haben System. Man hat kaum Zeit, auf einen Zwischenfall einzugehen, schon wird dieser vom nächsten überschattet. Mal gibt Bolsonaro im Fußballtrikot Pressekonferenzen, mal beschimpft er im Kneipenjargon seine politischen Gegner*innen. Dadurch schafft er es, sich ständig in Szene zu setzen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und von eigenen Fehlern abzulenken. Seine Fans vergöttern ihn für die „unkonventionelle Art“. Seit Bolsonaros fulminantem Wahlsieg im Jahr 2018 ist viel Zeit vergangen. Der Rowdy-Präsident hat die meisten seiner Versprechen nicht eingehalten, das Land an den Rand eines Kollaps geführt. Traumatisiert durch die Pandemie, als Paria im Ausland, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Doch obwohl sich viele ehemalige Wähler*innen von Bolsonaro abgewendet haben, kann er sich auf den harten Kern seiner Unterstützer*innen verlassen. Seine Anhänger*innen stehen nicht trotz, sondern wegen seiner ständigen Tabubrüche und Provokationen hinter ihm.

Früher ging es in der Politik einmal darum, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Doch wenn Bolsonaro eine Sache gelernt hat, dann die: Man muss als Politiker nicht mehr die ganze Bevölkerung ansprechen, auch nicht als Präsident. Heute reicht es, die Gesellschaft zu spalten und kleine Gruppen mit einer Idee anzustecken. „Um eine Mehrheit für sich zu gewinnen, ist es nicht mehr nötig, eine gemeinsame Mitte zu finden, sondern man addiert einfach die Extremen“, schreibt der italienische Journalist Giuliano da Empoli in seinem Buch „Ingenieure des Chaos“. Deshalb sollte man den von den Rechten initiierten Kulturkampf nicht unterschätzen. Es geht primär darum, kleine Gruppen anzustacheln. Und damit sind sie extrem erfolgreich. Ein Teil der Gesellschaft driftet immer weiter in rechtsradikale Paralleluniversen ab. Es ist davon auszugehen, dass sich Teile der brasilianischen Bevölkerung noch weiter radikalisieren. Wie weit sind die bereit zu gehen?

Gerade in Krisenzeiten sucht Bolsonaro immer wieder Zuflucht bei seinen radikalisierten Anhänger*innen. Und er versucht konstant Bilder zu produzieren, die ihn als großen Volkstribun zeigen. Bolsonaro düst im Stile des italienischen Faschisten Benito Mussolini in Motorradparaden über Autobahnen, lässt sich vermeintlich spontan an Stränden blicken und von Badegästen feiern. Warum tut er das? Die Antwort ist simpel: Weil er im Prinzip gar keine andere Möglichkeit hat. Durch seine Politik hat sich Bolsonaro weitestgehend isoliert, er hat keine starke Partei hinter sich, gilt für viele Brasilianer*innen als die Hassfigur schlechthin. Ohne seine radikalisierte Basis hat Bolsonaro nicht viel vorzuweisen. Deshalb ist es für ihn auch nicht möglich, sich zu mäßigen oder sich wie ein normaler Präsident zu verhalten.

Im Oktober 2022 findet die nächste Präsidentschaftswahl in Brasilien statt. Einige haben die Hoffnung, Bolsonaro ließe sich an der Urne abwählen. Das stimmt hoffentlich. Doch es wäre fatal, bereits einen Abgesang anzustimmen. Denn bis zur Wahl wird noch sehr viel passieren. Und es ist ein Fehler, ausschließlich auf Amtszeiten zu blicken. Denn der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr Präsident sein sollte. Er repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen, nicht nur auf der großen Bühne der Bundespolitik. Bolsonaros Ideen und sein Politikstil sind gekommen, um zu bleiben.

IM „PARADIES DER AGRARGIFTE“

(Foto: Christian Russau)

Larissa Bombardi ist Professorin der Geografie an der Universität von São Paulo. Eigentlich. Eigentlich würde sie, wie seit ihrer Berufung an die international renommierte Universität im Jahr 2007, weiter vor Ort lehren, forschen und ihre Untersuchungen veröffentlichen. So wie sie es 2019 mit ihrer Studie zur Geografie des Pestizid-Einsatzes in Brasilien und dessen Verbindungen zur EU getan hatte. Bombardi ermittelt, in welchen Gemeinden Brasiliens wie viele Pestizide eingesetzt werden. Sie sammelt Daten über Pestizidvergiftungen und darüber, wie hoch die Krankheitsraten zum Beispiel bei Krebserkrankungen in den Gemeinden sind. „Als Geografin lege ich die Daten in Form von Karten übereinander“, erklärte die Wissenschaftlerin bereits 2019 bei ihrem Besuch in Berlin gegenüber LN. Bombardis Karten haben es in sich. Denn sie zeigen deutlich: Wo viele Pestizide versprüht werden, steigen auch die Krankheitsfälle.

Die Wissenschaftlerin stellte diese Informationen im Jahr 2019 auch in Europa vor. Nachdem darüber in den Medien berichtet wurde, erhielt sie erste anonyme Telefonanrufe, indirekte Drohungen. Ihre Kompetenz wurde öffentlich in Abrede gestellt, sie wurde beschimpft und diffamiert. Und die Drohungen nahmen zu. Bis im August 2020 bei ihr eingebrochen wurde. Gestohlen wurden ein Fernseher und ein Laptop. „Ich kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass dies ein weiterer Einschüchterungsversuch war, ob dies mit meinen Forschungen über Agrargifte zu tun hatte“, sagt Bombardi. Aber ihre Entscheidung stand am nächsten Tag fest. Zur Sicherheit ihrer Kinder und ihrer selbst ging sie ins Exil, nach Brüssel. Dort lebt sie jetzt von einem kleinen Stipendium. Doch die Rückkehr nach Brasilien ist für sie keine Option. „Lieber eine lebendige Mutter in Belgien als eine tote in Brasilien“, sagte sie im Oktober 2021 in einem Interview mit Zeit Online.

Während Kritiker*innen und Wissenschaftler*innen wie Bombardi eingeschüchtert und bedroht werden oder ins Ausland gehen, verfestigt die Bolsonaro-Regierung Brasiliens Führungsrolle beim Pestizidverbrauch: Neuesten Erhebungen des Professors Marcos Pedlowski von der staatlichen Universität in Campos dos Goytacazes im Bundesstaat Rio de Janeiro wurden in den 36 Monaten der Bolsonaro-Regierung bis Ende 2021 insgesamt 1.558 neue Agrargifte zugelassen. Zum Vergleich: In den Regierungsjahren der Arbeiterpartei PT (2003-2016) lag der jährliche Durchschnitt für Neuzulassungen bei 140 Pestiziden, die Temer-Regierung steigerte diese Zahl 2017 und 2018 auf 341 pro Jahr. Bolsonaro hob das Dreijahresmittel auf 519 Zulassungen. Und das brasilianische Agrobusiness sprüht, was das Zeug hält. Es sind dabei meist die ins Ausland exportierten Cash Crops wie Soja, Mais, Baumwolle, Kaffee und Zitrusfrüchte, die am meisten Agrarchemikalien ausgesetzt werden.

Krebsraten liegen in Agrar-Gemeinden neun Mal höher

Seit in Brasilien im Jahr 2010 erstmals mehr als eine Million Tonnen der agrotóxicos in der Landwirtschaft versprüht wurden, trägt es den unrühmlichen Titel des größten Agrargiftver- brauchers weltweit. Mit Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias ist eine erklärte Lobbyistin in Sachen Agrarchemikalien Bolsonaros Landwirtschaftsministerin. Selbst die liberale Tageszeitung Folha de São Paulo bezeichnete die Ministerin als „Muse des Giftes“. All dies hat Folgen. „Seit Anfang der 2000er Jahre wird viel genmodifiziertes Saatgut verkauft, das nicht stirbt, wenn man beispielsweise großflächig mit Glyphosat spritzt. Die industrielle Landwirtschaft in Brasilien ist total abhängig von Agrargiften“, konstatiert der Aktivist Alan Tygel von der brasilianischen Kampagne gegen Agrargifte.

Eine Studie der Bundesuniversität von Mato Grosso stellte bei einer Untersuchung fest, dass es in 13 Gemeinden mit 644.746 Einwohner*innen (laut des letzten Zensus von 2015), in denen zwischen 1992 und 2014 Soja, Mais und Baumwolle angebaut wurde, 1.442 Fälle von Magen-, Speiseröhren- und Bauchspeicheldrüsenkrebs gab. In den 13 Vergleichsgemeinden mit 219.801 Einwohner*innen , wo eine vorwiegend touristische Nutzung stattfand, lag die Zahl der Krebsfälle bei 53. Daraus errechnet sich in agrarwirtschaftlich genutzten Gemeinden, wo intensiv Pestizide eingesetzt werden, statistisch eine neun Mal höhere Krebsrate.


Seit Bolsonaros Amtsantritt wurden 1558 Agrargifte zugelassen

Hinzu kommt: In Brasilien werden jedes Jahr Tausende von Menschen durch Pestizide vergiftet. Ihre Zahl steigt Jahr für Jahr an: 2007 lag sie bei 2.726 Fällen, 2017 schon bei 7.200, ein Anstieg um mehr als 160 Prozent. Die für die Datensammlung der Vergiftungsfälle zuständige nationale Behörde für Gesundheitsüberwachung (ANVISA) musste auf Geheiß der Bolsonaro-Regierung die Erhebungsmethode ändern. Bei einer Anhörung im brasilianischen Senat vergangenen September warf die Wissenschaftlerin Silvia do Amaral Rigon der Regierung daher vor, dass neuere Statistiken nicht mehr die Realität abbilden.

Auch nicht-landwirtschaftlich genutzte Regionen sind von den Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden betroffen. Dies betrifft zum einen die Fälle, in denen verspritzte Agrarchemikalien als Rückstände auf den konsumierten Nahrungsmitteln verbleiben. Laut den jüngsten vorliegenden Zahlen der ANVISA (2017/18) wurden bei Stichprobenüberprüfungen 14 gängiger landwirtschaftlicher Produkte (darunter Ananas, Knoblauch, Reis, Süßkartoffeln und Karotten) in 23 Prozent der Fälle die zulässigen Grenzwerte überschritten.
Ein weiterer äußerst kritischer Bereich ist das Trinkwasser. Das Gesundheitsministerium prüft bislang auf 27 Stoffe, die teils schwere Gesundheitsgefährdungen bei Kontakt bewirken können. Laut ANVISA gelten 16 dieser Substanzen als „extrem toxisch“ oder „hoch toxisch“, 11 werden in Zusammenhang mit chronischen Krankheiten wie Krebs, Missbildungen oder reproduktiven Störungen gebracht. Was die brasilianische Öffentlichkeit im April 2019 vor allem schockte: Im Jahr 2014 wurden in 75 Prozent der Tests Rückstände von Agrarchemikalien im Trinkwasser gefunden, 2017 waren es 92 Prozent der Tests. Bolsonaro erließ im Mai 2021 ein Dekret, das die zu untersuchenden Stoffe im Trinkwasser auf insgesamt 40 erhöhte, aber die großzügigen Grenzwerte nicht antastete.

Das Gift deutscher Konzerne bleibt in Brasilien

„Eure Firmen aus Deutschland exportieren Pestizide und Deutschland importiert billige Agrarrohstoffe. Das Gift bleibt in Brasilien zurück“, sagt Larissa Bombardi Ende 2020 bei einem Gespräch mit LN in Berlin. Und sie erinnert daran, dass die Grenzwerte in Brasilien deutlich höher seien als in der EU. Bei Glyphosat ist der brasilianische Toleranzwert 1.000-mal höher als der in der EU gültige Wert. Dies trifft letztlich auch die Konsument*innen in Europa: Im Mai vergangenen Jahres hatte Greenpeace Früchte aus Brasilien auf Rückstände von Agrargiften getestet. Das Ergebnis: „Die Laboruntersuchungen der 70 Früchte belegen Rückstände von insgesamt 35 verschiedenen Pestizidwirkstoffen. Insgesamt viermal wurden die gesetzlichen Höchstmengen überschritten. Die analysierten Proben bestehen sowohl aus Schale als auch aus Fruchtfleisch.“

Zu den größten Verkäufern von Pestiziden in Brasilien zählen zwei Firmen aus Deutschland: Bayer und BASF. Diese verkaufen in Brasilien auch Pestizide mit Wirkstoffen, die in der EU verboten sind. Die Zahl der von Bayer in Brasilien vertriebenen, aber laut der Pestizid-Datenbank der EU in Europa nicht zugelassenen Wirkstoffe, hat von 8 im Jahr 2016 auf 12 im Jahr 2019 zugenommen, bei BASF ist eine Zunahme von 9 (2016) auf 13 (2019) festzustellen.

Und die europäische Politik? Die setzt weiter auf, beispielsweise, das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen. Greenpeace warnt: „Wird das geplante EU-Mercosur-Abkommen abgeschlossen, sinken die Zölle auf Pestizide. Dies dürfte deren Absatz und den giftigen Handel noch steigern.“ Larissa Bombardi empört dieses Vorgehen: „Es kann nicht sein, dass bestimmte Stoffe in der EU verboten sind, aber Bayer und BASF sie an Brasilien verkaufen.“ Dass solchen Exporten ein Ende gemacht wird, will sie auch auf der nächsten Hauptversammlung der Bayer AG Ende April fordern.

ALLES NUR „BLABLABLA“

Dasselbe in Grün Auf der COP26 wirbt Brasilien für grünes Wachstumsprogramm (Foto: Wesley Sousa (ASCOM/SEAPC/MCTI) via flickr, CC BY 2.0)

„Jeder würde mit Steinen nach ihm werfen“, so erklärte der brasilianische Vize-Präsident, Hamilton Mourão, kurz vor der Weltklimakonferenz COP26 gegenüber Journalist*innen, wieso der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro nicht persönlich nach Glasgow fliegen werde. Damit beweist Mourão einen besseren Sinn für die Realität als Bolsonaro. Dieser verkündete beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am zweiten Tag der COP26 in einer vorab aufgenommenen Videoansprache: „Bei der Bekämpfung des Klimawandels waren wir immer Teil der Lösung, nie des Problems“.

Doch nach fast drei Jahren Anti-Umweltpolitik nimmt niemand Bolsonaros Erzählung von Brasilien als Vorbild beim Klima- und Umweltschutz ernst. Brasilien ist international zunehmend isoliert. Neben der fehlenden Kompetenz des Präsidenten persönliche Beziehungen mit wichtigen internationalen Partnern aufzubauen, hat die mediale Aufmerksamkeit für die Brände im Amazonas im Jahr 2019 inzwischen dort gewirkt, wo es der Regierung Bolsonaro wehtut. Das Europäische Parlament nutzt Brasiliens Anti-Umweltpolitik als Argument, um das EU-Mercosur-Handelsabkommen erst einmal nicht zu ratifizieren. Und eine Gruppe billionenschwerer Investmentgesellschaften drohte Brasilien 2020 mit dem Rückzug, sollte die Regierung keine Korrektur ihres Abholzungskurses im Amazonas vornehmen. Auch in Brasilien selbst wächst seither der Druck auf Bolsonaro, die übermächtige Agrarlobby fürchtet Exporteinbußen. Zu Jahresbeginn bemerkte Frank-*reichs Präsident Emmanuel Macron, wer weiterhin von brasilianischer Soja abhängig sei, dulde die Abholzung des Amazonas.

 

Der Versuch der brasilianischen Diplomatie, dem Rest der Welt einen Kurswechsel zu verkaufen

Der brasilianische Umweltminister Joaquim Leite reiste daher mit dem klaren Auftrag nach Glasgow, Brasiliens internationales Ansehen als Klima- und Umweltschützer wieder herzustellen und wirtschaftliche Schadensbegrenzung zu betreiben. Ende Oktober – kurz vor der COP26 – lancierte die Regierung ihr Nationales Programm für Grünes Wachstum (Programa Nacional de Crescimento Verde). Dieses soll den Waldschutz, das Senken von Emissionen und eine sinnvolle Nutzung natürlicher Ressourcen mit der Schaffung „grüner Arbeitsplätze“ und Wirtschaftswachstum vereinen. Ein interministerieller Ausschuss soll die Durchführung des Programms übernehmen, die finanziellen Mittel kommen von der Entwicklungsbank des Schwellenländerbündnisses BRICS, der brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) und zwei weiteren staatlichen Banken. „Die dem Programm zugrundeliegende Idee ist sehr gut. Wir müssen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit miteinander in Einklang bringen. Das wird allerdings nur gelingen, wenn wir einen konkreten Plan dafür haben“, kritisiert Flávia Bellaguarda, Juristin und Gründerin von LaClima, einem Netzwerk von Rechtsexpert*innen für Klimaschutz in Lateinamerika, das neue Programm gegenüber LN. Doch nicht nur die recht floskelhafte Ausarbeitung lässt das Programm substanzlos erscheinen: „Die im Programm genannten Punkte werden nicht von der Politik unterstützt, die die Regierung bisher verfolgt hat oder stehen sogar im Widerspruch zu vorgelegten Gesetzesvorschlägen“, so Bellaguarda. Wie Clarissa Lins vom brasilianischen Zentrum für internationale Beziehungen (CEBRI) gegenüber CNN feststellte, bestehe außerdem nur ein Bruchteil der Finanzierung aus neu zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln. Das Programm wirkt daher vor allem als Musterbeispiel für das, was die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg jüngst als „Blablabla“ kritisierte. Aus Sicht der indigenen Delegation ist das Programm zudem grundsätzlich der falsche Ansatz, weil eine Lebensweise, die auf ständigem Wachstum basiert, die Klimakrise nicht lösen kann.

Eine Lebensweise, die auf ständigem Wachstum basiert, kann die Klimakrise nicht lösen

Nicht nur fehlende substanzielle Programme, auch die Fakten sprechen gegen das Bild von Brasilien als Klimachampion, das Umweltminister Leite auf der COP26 zu verkaufen versucht: Während im Pandemiejahr 2020 weltweit die Treibhausgasemissionen um 7 Prozentpunkte sanken, verzeichnete Brasilien einen Anstieg von fast 10 Prozentpunkten – der größte Anstieg dieses Wertes seit 2004. Maßgeblich dafür verantwortlich ist die Abholzung des Regenwaldes im Amazonasbecken: zwischen August 2019 und Juli 2020 fast 11.000 Quadratkilometer. Diese Fläche ist größer als der Libanon und 176 Prozent über der Zielmarke für diesen Zeitraum im Nationalen Klimaplan. Ein gutes Beispiel dafür, dass es nichts bringt „die weltweit vollständigste Umweltschutzgesetzgebung zu haben“, wie Bolsonaro im September noch bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York betonte, wenn diese nicht in Regierungshandeln umgesetzt wird.

Laut einer Messung der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) hat sich der südwestliche Teil des Regenwaldes bereits zwischen 2018 und 2020 von einer Kohlenstoffsenke zu einer Kohlestoffdioxid-Quelle gewandelt. Grund dafür sind neben der Abholzung auch die Brände, die zwischen August 2020 und Juli 2021 eine Waldfläche von über 15.000 Quadratkilometern betrafen. Das war noch einmal deutlich mehr als zwischen 2019 und 2020, als der brennende Amazonaswald auf den internationalen Titelseiten zu sehen war.

Dennoch versuchte Umweltminister Leite gemeinsam mit den Mitgliedern der offiziellen brasilianischen Delegation, nach den USA die zweitgrößte der Konferenz, den Industrieländern und der anwesenden Privatwirtschaft einen brasilianischen Gesinnungswandel in den eigenen Reihen zu verkaufen. So verkündete der Chef-Unterhändler des brasilianischen Außenministeriums, Paulino Franco de Carvalho Neto, während der COP26 in einem Interview mit der BBC, man sei innerhalb der Regierung nach sorgfältiger Reflexion zu dem Schluss gekommen, dass man sich stärker engagieren müsse.

Auf der COP26 sind zwei Brasilien vertreten


Jenseits der offiziellen Verhandlungsdelegation zeigt Brasilien auf der COP26 allerdings noch ein ganz anderes Gesicht. Im Konferenzbereich des „Brazil Action Climate Hub“ diskutieren Vertreter*innen indigener und anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen, Gouverneure brasilia-*nischer Bundesstaaten und Abgeordnete, wie Klimapolitik in der Zeit nach Bolsonaro wieder aufgebaut werden kann, oder welche Rolle der Kongress beim Kampf gegen den Klimawandel einnehmen könnte. „Es gibt zwei Brasilien auf der COP26, eines vertreten durch die offizielle Delegation und ein zweites, sehr diverses, das vor allem von der Zivilgesellschaft repräsentiert wird. Beide setzen völlig unterschiedliche Schwerpunkte und es gibt keine Verbindung oder Interaktion zwischen diesen beiden Sphären“, berichtet Flávia Bellaguarda von vor Ort. Zu diesem anderen Brasilien gehört auch die indigene Aktivistin Txai Suruí, die – neben dem britischen Premierminister Boris Johnson und dem UN-Generalsekretär Antonio Guterres – die Weltklimakonferenz eröffnete. Die Delegation des landesweiten Zusammenschlusses der indigenen Völker Brasiliens (APIB) mit 40 indigenen Vertreter*innen, in der Mehrzahl Frauen, war in diesem Jahr so groß wie noch nie, ebenso wie die Aufmerksamkeit für ihre Forderungen.

Gleich zu Beginn der COP26 versprachen mehrere Länder, unter anderem Großbritannien und Deutschland, zwischen 2021 und 2025 rund 1,5 Milliarden Euro für den Schutz von Wäldern direkt an indigene und lokale Gemeinschaften auszuzahlen. Bislang haben diese auf weniger als ein Prozent der Finanzierung gegen Abholzung direkten Zugriff, obwohl 85 Prozent der weltweiten Biodiversität in Gebieten indigener und anderer lokaler Gemeinschaften nachgewiesen wurde. Auch an den Verhandlungen sind sie weiterhin nicht direkt beteiligt.

Das offizielle Brasilien enthielt sich indes bei Abkommen zum Kohleausstieg und zur Abkehr vom Verbrennungsmotor, gehört aber zu den inzwischen 138 Ländern, die zusammen rund 91 Prozent der weltweiten Waldfläche abdecken und sich in Glasgow auf ein Ende der Waldzerstörung einigten. Eine ähnliche Erklärung unterzeichneten 40 Staaten bereits 2014 auf der COP in New York. Die damals gesetzte Zielmarke, die Abholzung bis 2020 zu halbieren, wurde nie erreicht. Im Gegenteil: Der Anteil des Waldverlustes lag in den Jahren nach dem Abkommen sogar höher als in den Vorjahren. Wie die – in Glasgow zwar von mehr Staaten mitgetragene aber nur sehr vage gemachte – Zusage in konkrete Schritte überführt wird, scheint, vor allem nach der Erfahrung von 2014, erst einmal schwer vorstellbar.

In New York gehörte Brasilien nicht zu den unterzeichnenden Staaten des Waldschutzabkommens. Jetzt will es der illegalen Abholzung sogar schon 2028 ein Ende setzen, zwei Jahre früher als im Abkommen der COP26 festgehalten. Brasiliens Regierung hat damit vor allem Aussicht auf finanzielle Förderung. Daneben sagte Brasilien gemeinsam mit mehr als 100 Staaten zu, seine Methanemissionen bis 2030 im Vergleich zum Jahr 2020 um 30 Prozent zu verringern. Wissenschaftler*innen erhoffen sich davon eine um 0,2 Grad Celsius geringere Erderwärmung bis 2050.

Ob den jetzt gemachten Zusagen Taten folgen, ließ Umweltminister Leite im Nachgang offen. Auf die Frage, ob er seine Unterstützung gegenüber mehrerer Gesetzesinitiativen zurückziehen werde, die aktuell im Kongress verhandelt werden und den auf der COP26 zugesagten Zielmarken entgegenlaufen, antwortete er auch auf mehrmalige Nachfrage von Journalist*innen nur ausweichend. Wahrscheinlicher ist es, dass die Regierung versuchen wird, sich an die gemachte Selbstverpflichtung zu halten, indem illegale Abholzung einfach weiter legalisiert wird. Die aktuell diskutierte Gesetzesinitiative PL 490/2007, durch die Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien ermöglicht und Demarkationsverfahren erschwert werden sollen, versucht genau das.

Kurz vor Abschluss der verlängerten Konferenz sorgte die Verhandlung über den Artikel 6 des Pariser Abkommens für Kontroversen. Über diesen sollen der Handel und die Verringerung von Emissionen geregelt werden, auf Details konnte man sich in Paris und auf den Folgekonferenzen nie abschließend einigen. Brasilien gehörte dabei bislang zu den Staaten, die über eine Doppelzählung von Emissionsreduktionen finanzielle Vorteile erlangen wollten. Am vorletzten Tag der COP26 signalisierte der Umweltminister Leite aber, nicht länger an dieser Position festhalten zu wollen. Das dürfte jedoch kaum ausreichen, um dem Rest der Welt einen Kurswechsel zu verkaufen.

EXTREM POLARISIERT

Unter Beobachtung: Gesundheitsminister Marcelo Queiroga musste schon dreimal vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagen.Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom / Agência Brasil

Am 10. Februar brach für Silvina Macedo die Welt zusammen. An diesem Tag starb ihr Mann an COVID-19. „Hätte die Bolsonaro-Regierung auf Experten gehört und den Kauf von Impfungen nicht behindert, würde mein Mann vielleicht noch leben“, sagt die kleingewachsene Frau, während sie an der Spitze einer Demonstration in der Stadt Belém marschiert. In der Hand hält sie ein Schild, auf dem ein Foto ihres verstorbenen Mannes zu sehen ist. Macedo war eine von zehntausenden Demonstrant*innen, die am 2. Oktober auf die Straße gingen. In ganz Brasilien fanden Proteste gegen die rechtsradikale Regierung von Präsident Jair Bolsonaro statt.

In Belém, einer Millionenstadt im Mündungsgebiet des Amazonas, kommen die Demonstrant*innen wegen der Hitze schon früh am Morgen zusammen. Der São Brás-Marktplatz verwandelt sich in ein buntes Wirrwarr. Fahnen, Transparente, gereckte Fäuste. Trommelklänge hallen durch die Straßen. Einige vorbeifahrende Autofahrer*innen hupen unterstützend, andere beschimpfen die Demonstrant*innen. Ein junger Mann mit Maske, blauem T-Shirt und Federschmuck auf dem Kopf wuselt durch die Menge, telefoniert, gibt Anweisungen. Es ist Telmiston Guarajara. Der 21-Jährige indigene Jurastudent ist einer der Organisator*innen, bei ihm laufen viele Fäden zusammen. „Wir dürfen nicht bis zur Wahl 2022 warten“, meint er. „Wir müssen Bolsonaro jetzt stürzen.“

Viele machen den ultrarechten Präsidenten für das Chaos im Land verantwortlich. Zwar hat sich die Corona-Lage in den letzten Wochen entspannt. Doch die Pandemie hat das Land schwer gebeutelt, mehr als 600.000 Menschen starben an dem Virus. Wie kaum ein anderer Staatschef leugnete Bolsonaro die Gefahren der Pandemie, ignorierte den Rat von Wissenschaftler*innen und machte Stimmung gegen Impfungen. Zudem soll der selbsterklärte Saubermann von Korruptionsversuchen bei der Beschaffung des indischen Covaxin-Impfstoffes gewusst und nicht eingegriffen haben. Eine parlamentarische Untersuchungskommission (COVID-19 CPI) untersucht seit April Unterlassungen und Fehlverhalten der Regierung während der Pandemie.

In einem extrem ungleichen Land wie Brasilien sind die Nachwirkungen der Corona-Pandemie brutal: Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordwerte geklettert, zehntausende Obdachlose bevölkern die Straßen der großen Städte, mindestens 19 Millionen Brasilianer*innen hungern. Eine Reportage in der Tageszeitung Extra sorgte Ende September für Aufregung: Sie handelt von Menschen in Rio de Janeiro, die in Fleischabfällen wühlen müssen, um sich ernähren zu können.

„Bolsonaro interessiert sich nicht für das Leid der Bevölkerung“, meint Telmiston Guarajara. Laut dem Aktivisten müsse deshalb nun „eine möglichste breite Front“ gegen die Regierung gebildet werden – auch zusammen mit Konservativen und Rechten. Viele hoffen auf eine Neuauflage der „diretas já“-Kampagne: Im Jahr 1984 gingen Millionen Menschen, getragen von einer Allianz verschiedener politischer Spektren, noch während der Militärdiktatur gemeinsam für eine Wiedereinführung der Direktwahl des Präsidenten auf die Straße. Doch dass es zu einer neuen Kam- pagne über die Parteigrenzen hinweg kommt, ist unwahrscheinlich. Nach turbulenten Jahren ist die brasilianische Gesellschaft extrem polarisiert, die Gräben sind tief. Auf den landesweiten Protesten am Samstag waren fast nur Linke sichtbar, auch in Belém. Deshalb sind die Demonstrationen noch weit davon entfernt, der Regierung wirklich gefährlich zu werden. Es gelingt kaum, Menschen außerhalb der linken Blase zu mobilisieren. Im November sind erneut landesweite Demonstrationen geplant, doch die Organisator*innen wirken bisweilen orientierungslos.

Bolsonaro versteht es wie kein zweiter, Ängste zu schüren


Unklarheit herrscht zum Beispiel darüber, wie genau man agieren soll. Einige setzen darauf, Bolsonaro bei der Wahl 2022 zu schlagen. Andere kämpfen dafür, ihn so bald wie möglich abzusetzen. Bei den Protesten am 2. Oktober war auf vielen Schilder zu lesen: „Impeachment jetzt!“ Dem Präsidenten werden schwere Vergehen im Umgang mit der Pandemie vorgeworfen, die eine Amtsenthebung rechtfertigen könnten. Doch es ist unwahrscheinlich, dass es so weit kommt. Über die Aufnahme des Verfahrens entscheidet der Präsident des Abgeordnetenhauses, Arthur Lira von der rechtskonservativen Partei Progressistas (PP), ein Verbündeter Bolsonaros. Und im Parlament genießt Bolsonaro bisher noch die Unterstützung des centrão, des einflussreichen Mitte-Rechts-Blocks. Außerdem kann sich der Rechtsradikale auf den Rückhalt von rund 25 Pro-zent der Bevölkerung verlassen. Seine teils fanatischen Anhänger*innen verehren den Pöbel-Präsidenten mit fast schon religiösem Eifer und mobilisieren ebenfalls regelmäßig zu Protesten.

Bis zur Wahl im kommenden Jahr wird noch viel passieren. Das Wahlverhalten ist in Brasilien oft unberechenbar und hat viel mit aktuellen Entwicklungen zu tun. Es ist davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie bei vielen Wähler*innen bis Anfang Oktober 2022 nicht mehr im Fokus stehen wird. Im krisengeplagten Brasilien versteht es Bolsonaro außerdem wie kein zweiter, Ängste zu schüren. Mit einer populistischen Medienstrategie, infamen Attacken auf Minderheiten und den bisweilen paranoid anmutenden Warnrufen vor einer angeblichen kommunistischen Gender-Diktatur könnte er es erneut schaffen, willige Anhänger*innen zuhauf um sich zu scharen. Auch im Wahlkampf von 2018 fand er mit seinen homophoben und rassistischen Statements viel Anklang. Statt über Inhalte diskutierte das Land seinerzeit wochenlang, ob Bolsonaros Gegenkandidat Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT Babyfläschchen in Penisform an Kitas verteilen ließ.

Eine Kampagne über Parteigrenzen hinweg ist unwahrscheinlich

Auch der politische Analyst und ehemalige Kommunikationsminister Thomas Traumann warnt davor, Bolsonaro abzuschreiben. „Im kommenden Jahr wird die Wirtschaft wieder wachsen und es wird ein neues Sozialprogramm geben, durch das arme Menschen ein bisschen mehr Geld in der Tasche haben werden“, sagte Traumann gegenüber LN. „Bolsonaro wird sich erholen können. Deshalb muss bei der nächsten Wahl auf jeden Fall mit ihm gerechnet werden.“

KOLLEKTIV GEGEN DIE PANDEMIE

Kollektiv organisierte Lebensmittelspenden Das Kollektiv klärt auf und mobilisiert Spenden (Foto: Coletivo Força Tururu)

Wie ist die Situation in der Comunidade Tururu angesichts der Corona-Pandemie?
Schwierig. Die Leute sollten alle zu Hause bleiben, aber viele haben das immer noch nicht verstanden. Sie argumentieren, das würde nicht stimmen, oder das sei nicht der Moment, um sich zu isolieren. Sie verstehen vielleicht noch nicht, was eine Pandemie oder Quarantäne ist und wollen vielleicht auch nicht glauben, dass wir uns in einer so schwierigen Situation befinden. Ungläubigkeit – das und vielleicht auch die Unfähigkeit, wirklich zu Hause zu bleiben. Es hat hier in der Comunidade auch noch keine Corona-Erkrankung gegeben, nur im Munizip Paulista.

Ist ein Grund für diese Ungläubigkeit vielleicht eine Pro-Bolsonaro-Haltung?
Ich glaube, Bolsonaro hat einen Einfluss, ja, aber das ist nicht alles. Es gibt natürlich auch hier Leute, die ihn gewählt haben und glauben, was er sagt. Das ist schwierig. Aber diese Ungläubigkeit hat auch damit zu tun, dass wir so eine Situation noch nie erlebt haben: Wir müssen zu Hause bleiben wegen etwas, das wir nicht sehen können. Wie soll man Angst vor etwas haben, das man nicht sehen kann? Das ist wie in einem sehr surrealen Film. Und wenn über Corona im Fernsehen berichtet wird, dann ist das für die Leute sehr weit weg.

Ich kann mir vorstellen, dass es auch aus ökonomischen Gründen für viele schwierig ist, zu Hause zu bleiben. Wer im ambulanten Handel oder als Putzhilfe arbeitet, verliert doch sofort sein komplettes Einkommen, wenn er oder sie zu Hause bleibt?
Das ist einer der Faktoren. Diejenigen, die im ambulanten Handel ihr Geld verdienen, haben sowieso kaum genug, um sich über Wasser zu halten. Noch dazu geben sie mehr Geld aus, wenn sie den ganzen Tag zu Hause bleiben. Die Wasserrechnung steigt, die Stromrechnung. Das ist wirklich die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Also hält sich die Mehrheit nicht an die Quarantäne?
Also es gibt schon wirklich viele, die für das Thema sensibilisiert sind und zu Hause bleiben. Ich würde sagen, das ist die Mehrheit. Die Leute beeinflussen sich auch gegenseitig. Wenn einer sieht, dass der Nachbar nicht mehr das Haus verlässt, um zu quatschen, dann denkt er sich, dass er auch nicht rausgehen muss. Oder wenn jemand sieht, dass die Nachbarin jetzt eine Maske benutzt, dann kommt sie vielleicht auch auf die Idee, eine zu benutzen. So setzt sich das dann nach und nach durch. Aber es gibt auch einen großen Teil, der es nicht glauben oder verstehen will, dass es diese Pandemie gibt. Sie haben noch nicht eingesehen, wie nah das an uns dran ist.

Funktioniert die Gesundheitsstation in Tururu?
Sie funktioniert so schlecht wie immer. Es fehlen Schutzkleidung, Masken und Desinfektionsmittel. Also können die Gesundheitshelfer die Familien gar nicht aufsuchen, um sie zu informieren, wie sie sich schützen können. Denn ohne Schutzkleidung können sie das nicht machen. Dadurch verliert Tururu sehr viel, denn die Menschen haben Vertrauen in die Gesundheitshelfer. Genau diejenigen fallen jetzt aus, die die Informationen in die Familien bringen könnten, die sich anders nicht informieren können. Und dem Staat ist das egal. Das Coletivo hat jetzt jemanden beauftragt, der mit einer Lautsprecherbox auf dem Fahrrad durch die Straßen fährt, um die Menschen aufzuklären. Das ist die einzige Möglichkeit, die Menschen zu erreichen, die das alles nicht glauben wollen.

Wird das Coletivo Força Tururu für diese Aufklärungsarbeit angefeindet oder sprechen die Leute mit Euch?
Die Leute kommunizieren viel mit uns über Facebook. Wir bekommen da wirklich sehr viele Nachrichten. Sie bitten uns, dass wir mit der Lautsprecherbox durch ihre Straße fahren, stellen uns Fragen zu der Pandemie. Wir haben auch Aufkleber gedruckt und Flugblätter verteilt, um zu informieren. Denn wir sind wirklich besorgt um die Menschen in Tururu. Als Kollektiv übernehmen wir ein weiteres Mal eine Aufgabe, die eigentlich die Stadtverwaltung erfüllen müsste.

Über die Aufklärung hinaus – was macht das Coletivo Força Tururu für Aktionen?
Wir engagieren uns ja schon sehr lange in Tururu und wir haben bisher noch nie Lebensmittelhilfen organisiert, weil wir daran glauben, dass die Prozesse in der Comunidade kollektiv organisiert werden müssen. Wir wollen nicht, dass die Leute im Assistenzialismus verhaftet bleiben, sondern selbst für sich sorgen können. Aber in dieser Situation haben wir uns für Lebensmittelhilfen entschieden. Zum Beispiel für die diejenigen, die normalerweise im ambulanten Handel ihr Geld verdienen und die bald nichts mehr zu essen haben, weil sie den ganzen Tag zu Hause sind. Deshalb organisieren wir jetzt Spenden. Wir sprechen mit den Leuten, die etwas mehr haben. Wir sprechen die an, die kleine Geschäfte oder Betriebe besitzen, und sagen ihnen, dass sie jetzt eine Verpflichtung haben zu helfen: Ohne die Klasse, die zu Hause sitzt, wärt Ihr heute keine Unternehmer! Auch die Kirchen haben eine soziale Verantwortung, jenseits der Gebete und Messen. Sie haben Geld und können das leisten. Wir versuchen, die größtmögliche Anzahl von Menschen und sozialen Räumen zu mobilisieren, um zu diesem Prozess beizutragen. Nur wir als Kollektiv bekommen das alleine nicht hin. Über das Mittel der Spenden versuchen wir die Gesellschaft in dieser schwierigen Situation zu mobilisieren.

„IHR TRAUM IST UNSER ALPTRAUM“

Foto: Verena Glass

Der von Brasiliens Präsidenten dem Nationalkonkongress vorgelegte Gesetzesentwurf zur Änderung der möglichen wirtschaftlichen Aktivitäten in indigenen Territorien wurde von Jair Bolsonaro am 5. Februar in einer feierlichen Zeremonie anlässlich der ersten 400 Tage seiner Regierung unterzeichnet. Er bezeichnete das Gesetzesvorhaben als „Traum“. Bisher wurde der Entwurf der Presse nicht übergeben, sondern lediglich an den brasilianischen Nationalkongress weitergeleitet. Die endgültige Genehmigung der Gesetzesvorlage werden die beiden Kammern des Kongresses, Abgeordnetenhaus und Senat, treffen.

Laut Medienberichten sieht der Gesetzentwurf vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Erschließung von Erdöllagerstätten: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei bis zu einem Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden 50 Prozent des Wertes der finanziellen Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gemacht.

Die Reaktion einer der Sprecher*innen der indigenen Gemeinden in Brasilien, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker unterzeichnet hat, gibt der Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölerschließung geht es nur um Konsultationen ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen bei den indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.
Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er sich in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Dazu soll die nun vorgelegte Gesetzesinitiative ihren Teil beitragen, so es nach Bolsonaro geht. Das Agrarbusiness und die Bergbaukonzerne werden den Rest übernehmen.

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