UMWELTRASSISMUS UND KLIMAKRISE

(Foto: Christian Russau)

Was ist Umweltrassismus? In Deutschland ist der Begriff nicht sehr geläufig, was können wir uns darunter vorstellen?
Thaís Santos: Ein Beispiel ist der Bezirk Perus am nordöstlichen Stadtrand von São Paulo. Dreißig Jahre lang wurde die Hälfte des gesamten Mülls aus São Paulo dorthin transportiert. Außerdem gibt es in Perus eine Zementfabrik, die massive Atemwegserkrankungen bei der Bevölkerung verursacht, die überwiegend Schwarz ist. Mülldeponien, die Entsorgung von gefährlichen Substanzen in unseren Flüssen, fehlende Abwasserentsorgung und Wasserknappheit – all dies ist Umweltrassismus, denn es passiert dort, wo die Schwarze Bevölkerung lebt. In São Paulo ist die Mordrate durch Polizeigewalt sehr hoch, aber die Folgen fehlender staatlicher Politik führen ebenfalls zu hoher Sterblichkeit. Wenn man nicht mit der Kugel tötet, dann eben mit dieser Nekropolitik, die sich als sehr effektiv erwiesen hat.

Eliete Paraguassu: Ich komme aus der Gemeinde Boca do Rio in der Region des Hafens von Aratu. Die Gemeinde ist jahrhundertealt, den Hafen gibt es erst seit den sechziger Jahren. Jetzt wurden seitens der Hafenbetreiber fünf Hektar Mangrovensumpf gerodet, der nicht nur die Bucht von Aratu ernährte, sondern die gesamte Meeresbucht Bahia de Todos os Santos, alle Gemeinden, die vom Fischfang leben. Die verantwortliche Firma heißt Bahia Terminais. Sie setzen Sprengstoff ein, um den Hafen so zu erweitern, dass dort große Schiffe entladen werden können. Der Hafen von Aratu wird immer noch ohne Umweltgenehmigung betrieben und ist unserer Meinung nach für die Belastung der Bucht mit Schwermetallen verantwortlich, zum Beispiel in der Gemeinde Santo Amaro. Umweltrassismus folgt einem Modell des Genozids.

Wie erleben Sie als Aktivistinnen, die sich vor allem mit den Themen Umweltschutz und Rassismus auseinandersetzen, aktuell Brasilien?
Eliete Paraguassu: Brasilien kriminalisiert die sozialen Bewegungen und traditionellen Gemeinschaften. Denn das politische Projekt der Regierung ist eines des Hungerns und des Sterbens der traditionellen Gemeinschaften, wie die der traditionellen Fischer, der Quilombolas, Indigenen und von Gemeinden in den Randgebieten der großen Städte. “Brasilien – ein Land für alle“ lautet der Slogan der Regierung. In Wirklichkeit ist es ein Land, das nur für das Kapital sorgt, nicht für die Menschen.

Ist das eine neue Entwicklung?
Thaís Santos: Die Schwarze Bewegung hat sich immer im Kampf befunden – sei es für unsere Territorien oder gegen die Verletzung von Menschenrechten. Während der Regierungszeit von Lula wurde einiges an Politik der öffentlichen Hand für die Schwarze Bevölkerung umgesetzt, aber im Vergleich zu dem, was uns historisch entgangen ist, war das immer noch sehr wenig. Und es wurde uns nicht geschenkt, sondern von der Schwarzen Bewegung erstritten.

Wieso verdient der Umweltrassismus in Brasilien besondere Aufmerksamkeit?
Thaís Santos: Die Klimakrise ist in ihrem Kern eine humanitäre Krise. Der Umweltrassismus ist ein Teil des strukturellen Rassismus in Brasilien. Man darf die Hauptpersonen der Klimakrise, nämlich diejenigen, die verletzlich gemacht werden und die unter den Folgen des Klimawandels leiden, bei den Lösungen nicht außen vor lassen.

Sie waren zuletzt in Schottland, Frankreich, Spanien und Deutschland unterwegs. Welche Anliegen haben Sie im Gepäck?
Eliete Paraguassu: Mit unserer Reise durch Europa möchten wir vermitteln, dass wir Unterstützung brauchen, um Brasilien international anzuklagen. Es ist ein Land der Schwarzen, sein politisches Projekt besteht aber darin, uns sterben zu lassen oder zu ermorden. Und internationale Firmen haben sehr dazu beigetragen. Wir reisen durch Europa, um das Netzwerk gegen Umweltrassismus und für soziale Umweltgerechtigkeit zu erweitern. Es gibt diesen Trugschluss, dass Brasilien sich im Dialog mit den traditionellen Gemeinschaften befindet. Aber das stimmt nicht.

Welche sind die nächsten Schritte für mehr Umweltgerechtigkeit in Brasilien?
Thaís Santos: Wir brauchen eine Vertretung im Parlament und im Senat, unsere Leute müssen an den Verhandlungstischen sitzen können, damit Umweltrassismus in den Mittelpunkt der Diskussion rückt. Wir brauchen keine Fürsprecher. Wir können für uns selbst sprechen. Wir bilden uns, wenn akademisches Wissen das ist, was sie fordern. Es gibt unzählige Schwarze Menschen, die dafür ausgebildet sind, um an den Diskussionen teilzunehmen. Aber es geht nicht so weiter, dass Umweltrassismus auf Weinerlichkeit reduziert wird, so wie das die brasilianische Regierung tut.

ALLES NUR „BLABLABLA“

Dasselbe in Grün Auf der COP26 wirbt Brasilien für grünes Wachstumsprogramm (Foto: Wesley Sousa (ASCOM/SEAPC/MCTI) via flickr, CC BY 2.0)

„Jeder würde mit Steinen nach ihm werfen“, so erklärte der brasilianische Vize-Präsident, Hamilton Mourão, kurz vor der Weltklimakonferenz COP26 gegenüber Journalist*innen, wieso der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro nicht persönlich nach Glasgow fliegen werde. Damit beweist Mourão einen besseren Sinn für die Realität als Bolsonaro. Dieser verkündete beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am zweiten Tag der COP26 in einer vorab aufgenommenen Videoansprache: „Bei der Bekämpfung des Klimawandels waren wir immer Teil der Lösung, nie des Problems“.

Doch nach fast drei Jahren Anti-Umweltpolitik nimmt niemand Bolsonaros Erzählung von Brasilien als Vorbild beim Klima- und Umweltschutz ernst. Brasilien ist international zunehmend isoliert. Neben der fehlenden Kompetenz des Präsidenten persönliche Beziehungen mit wichtigen internationalen Partnern aufzubauen, hat die mediale Aufmerksamkeit für die Brände im Amazonas im Jahr 2019 inzwischen dort gewirkt, wo es der Regierung Bolsonaro wehtut. Das Europäische Parlament nutzt Brasiliens Anti-Umweltpolitik als Argument, um das EU-Mercosur-Handelsabkommen erst einmal nicht zu ratifizieren. Und eine Gruppe billionenschwerer Investmentgesellschaften drohte Brasilien 2020 mit dem Rückzug, sollte die Regierung keine Korrektur ihres Abholzungskurses im Amazonas vornehmen. Auch in Brasilien selbst wächst seither der Druck auf Bolsonaro, die übermächtige Agrarlobby fürchtet Exporteinbußen. Zu Jahresbeginn bemerkte Frank-*reichs Präsident Emmanuel Macron, wer weiterhin von brasilianischer Soja abhängig sei, dulde die Abholzung des Amazonas.

 

Der Versuch der brasilianischen Diplomatie, dem Rest der Welt einen Kurswechsel zu verkaufen

Der brasilianische Umweltminister Joaquim Leite reiste daher mit dem klaren Auftrag nach Glasgow, Brasiliens internationales Ansehen als Klima- und Umweltschützer wieder herzustellen und wirtschaftliche Schadensbegrenzung zu betreiben. Ende Oktober – kurz vor der COP26 – lancierte die Regierung ihr Nationales Programm für Grünes Wachstum (Programa Nacional de Crescimento Verde). Dieses soll den Waldschutz, das Senken von Emissionen und eine sinnvolle Nutzung natürlicher Ressourcen mit der Schaffung „grüner Arbeitsplätze“ und Wirtschaftswachstum vereinen. Ein interministerieller Ausschuss soll die Durchführung des Programms übernehmen, die finanziellen Mittel kommen von der Entwicklungsbank des Schwellenländerbündnisses BRICS, der brasilianischen Entwicklungsbank (BNDES) und zwei weiteren staatlichen Banken. „Die dem Programm zugrundeliegende Idee ist sehr gut. Wir müssen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit miteinander in Einklang bringen. Das wird allerdings nur gelingen, wenn wir einen konkreten Plan dafür haben“, kritisiert Flávia Bellaguarda, Juristin und Gründerin von LaClima, einem Netzwerk von Rechtsexpert*innen für Klimaschutz in Lateinamerika, das neue Programm gegenüber LN. Doch nicht nur die recht floskelhafte Ausarbeitung lässt das Programm substanzlos erscheinen: „Die im Programm genannten Punkte werden nicht von der Politik unterstützt, die die Regierung bisher verfolgt hat oder stehen sogar im Widerspruch zu vorgelegten Gesetzesvorschlägen“, so Bellaguarda. Wie Clarissa Lins vom brasilianischen Zentrum für internationale Beziehungen (CEBRI) gegenüber CNN feststellte, bestehe außerdem nur ein Bruchteil der Finanzierung aus neu zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln. Das Programm wirkt daher vor allem als Musterbeispiel für das, was die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg jüngst als „Blablabla“ kritisierte. Aus Sicht der indigenen Delegation ist das Programm zudem grundsätzlich der falsche Ansatz, weil eine Lebensweise, die auf ständigem Wachstum basiert, die Klimakrise nicht lösen kann.

Eine Lebensweise, die auf ständigem Wachstum basiert, kann die Klimakrise nicht lösen

Nicht nur fehlende substanzielle Programme, auch die Fakten sprechen gegen das Bild von Brasilien als Klimachampion, das Umweltminister Leite auf der COP26 zu verkaufen versucht: Während im Pandemiejahr 2020 weltweit die Treibhausgasemissionen um 7 Prozentpunkte sanken, verzeichnete Brasilien einen Anstieg von fast 10 Prozentpunkten – der größte Anstieg dieses Wertes seit 2004. Maßgeblich dafür verantwortlich ist die Abholzung des Regenwaldes im Amazonasbecken: zwischen August 2019 und Juli 2020 fast 11.000 Quadratkilometer. Diese Fläche ist größer als der Libanon und 176 Prozent über der Zielmarke für diesen Zeitraum im Nationalen Klimaplan. Ein gutes Beispiel dafür, dass es nichts bringt „die weltweit vollständigste Umweltschutzgesetzgebung zu haben“, wie Bolsonaro im September noch bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York betonte, wenn diese nicht in Regierungshandeln umgesetzt wird.

Laut einer Messung der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) hat sich der südwestliche Teil des Regenwaldes bereits zwischen 2018 und 2020 von einer Kohlenstoffsenke zu einer Kohlestoffdioxid-Quelle gewandelt. Grund dafür sind neben der Abholzung auch die Brände, die zwischen August 2020 und Juli 2021 eine Waldfläche von über 15.000 Quadratkilometern betrafen. Das war noch einmal deutlich mehr als zwischen 2019 und 2020, als der brennende Amazonaswald auf den internationalen Titelseiten zu sehen war.

Dennoch versuchte Umweltminister Leite gemeinsam mit den Mitgliedern der offiziellen brasilianischen Delegation, nach den USA die zweitgrößte der Konferenz, den Industrieländern und der anwesenden Privatwirtschaft einen brasilianischen Gesinnungswandel in den eigenen Reihen zu verkaufen. So verkündete der Chef-Unterhändler des brasilianischen Außenministeriums, Paulino Franco de Carvalho Neto, während der COP26 in einem Interview mit der BBC, man sei innerhalb der Regierung nach sorgfältiger Reflexion zu dem Schluss gekommen, dass man sich stärker engagieren müsse.

Auf der COP26 sind zwei Brasilien vertreten


Jenseits der offiziellen Verhandlungsdelegation zeigt Brasilien auf der COP26 allerdings noch ein ganz anderes Gesicht. Im Konferenzbereich des „Brazil Action Climate Hub“ diskutieren Vertreter*innen indigener und anderer zivilgesellschaftlicher Gruppen, Gouverneure brasilia-*nischer Bundesstaaten und Abgeordnete, wie Klimapolitik in der Zeit nach Bolsonaro wieder aufgebaut werden kann, oder welche Rolle der Kongress beim Kampf gegen den Klimawandel einnehmen könnte. „Es gibt zwei Brasilien auf der COP26, eines vertreten durch die offizielle Delegation und ein zweites, sehr diverses, das vor allem von der Zivilgesellschaft repräsentiert wird. Beide setzen völlig unterschiedliche Schwerpunkte und es gibt keine Verbindung oder Interaktion zwischen diesen beiden Sphären“, berichtet Flávia Bellaguarda von vor Ort. Zu diesem anderen Brasilien gehört auch die indigene Aktivistin Txai Suruí, die – neben dem britischen Premierminister Boris Johnson und dem UN-Generalsekretär Antonio Guterres – die Weltklimakonferenz eröffnete. Die Delegation des landesweiten Zusammenschlusses der indigenen Völker Brasiliens (APIB) mit 40 indigenen Vertreter*innen, in der Mehrzahl Frauen, war in diesem Jahr so groß wie noch nie, ebenso wie die Aufmerksamkeit für ihre Forderungen.

Gleich zu Beginn der COP26 versprachen mehrere Länder, unter anderem Großbritannien und Deutschland, zwischen 2021 und 2025 rund 1,5 Milliarden Euro für den Schutz von Wäldern direkt an indigene und lokale Gemeinschaften auszuzahlen. Bislang haben diese auf weniger als ein Prozent der Finanzierung gegen Abholzung direkten Zugriff, obwohl 85 Prozent der weltweiten Biodiversität in Gebieten indigener und anderer lokaler Gemeinschaften nachgewiesen wurde. Auch an den Verhandlungen sind sie weiterhin nicht direkt beteiligt.

Das offizielle Brasilien enthielt sich indes bei Abkommen zum Kohleausstieg und zur Abkehr vom Verbrennungsmotor, gehört aber zu den inzwischen 138 Ländern, die zusammen rund 91 Prozent der weltweiten Waldfläche abdecken und sich in Glasgow auf ein Ende der Waldzerstörung einigten. Eine ähnliche Erklärung unterzeichneten 40 Staaten bereits 2014 auf der COP in New York. Die damals gesetzte Zielmarke, die Abholzung bis 2020 zu halbieren, wurde nie erreicht. Im Gegenteil: Der Anteil des Waldverlustes lag in den Jahren nach dem Abkommen sogar höher als in den Vorjahren. Wie die – in Glasgow zwar von mehr Staaten mitgetragene aber nur sehr vage gemachte – Zusage in konkrete Schritte überführt wird, scheint, vor allem nach der Erfahrung von 2014, erst einmal schwer vorstellbar.

In New York gehörte Brasilien nicht zu den unterzeichnenden Staaten des Waldschutzabkommens. Jetzt will es der illegalen Abholzung sogar schon 2028 ein Ende setzen, zwei Jahre früher als im Abkommen der COP26 festgehalten. Brasiliens Regierung hat damit vor allem Aussicht auf finanzielle Förderung. Daneben sagte Brasilien gemeinsam mit mehr als 100 Staaten zu, seine Methanemissionen bis 2030 im Vergleich zum Jahr 2020 um 30 Prozent zu verringern. Wissenschaftler*innen erhoffen sich davon eine um 0,2 Grad Celsius geringere Erderwärmung bis 2050.

Ob den jetzt gemachten Zusagen Taten folgen, ließ Umweltminister Leite im Nachgang offen. Auf die Frage, ob er seine Unterstützung gegenüber mehrerer Gesetzesinitiativen zurückziehen werde, die aktuell im Kongress verhandelt werden und den auf der COP26 zugesagten Zielmarken entgegenlaufen, antwortete er auch auf mehrmalige Nachfrage von Journalist*innen nur ausweichend. Wahrscheinlicher ist es, dass die Regierung versuchen wird, sich an die gemachte Selbstverpflichtung zu halten, indem illegale Abholzung einfach weiter legalisiert wird. Die aktuell diskutierte Gesetzesinitiative PL 490/2007, durch die Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien ermöglicht und Demarkationsverfahren erschwert werden sollen, versucht genau das.

Kurz vor Abschluss der verlängerten Konferenz sorgte die Verhandlung über den Artikel 6 des Pariser Abkommens für Kontroversen. Über diesen sollen der Handel und die Verringerung von Emissionen geregelt werden, auf Details konnte man sich in Paris und auf den Folgekonferenzen nie abschließend einigen. Brasilien gehörte dabei bislang zu den Staaten, die über eine Doppelzählung von Emissionsreduktionen finanzielle Vorteile erlangen wollten. Am vorletzten Tag der COP26 signalisierte der Umweltminister Leite aber, nicht länger an dieser Position festhalten zu wollen. Das dürfte jedoch kaum ausreichen, um dem Rest der Welt einen Kurswechsel zu verkaufen.

ANTWORTEN AUF DIE KLIMAKRISE

JUDITE BALLERIO GUAJAJARA

arbeitet, nach einem Masterstudium in Staatslehre, Recht und Verfassungsrecht an der Universität von Brasília, als Rechtsanwältin. Sie ist juristische Beraterin der COAPIMA (Koordination der Organisationen und Netzwerke der indigenen Völker im Bundesstaat Maranhão) und Mitglied des Nationalen Verbandes indigener Rechtsanwälte in Brasilien. Sie gehört außerdem zum Berater*innenstab der Abgeordneten Joenia Wapichana (REDE), der ersten indigenen Frau, die in das nationale Parlament gewählt wurde, sowie die erste indigene Juristin Brasiliens. Judite Guajajara engagiert sich vor allem in der Verteidigung von indigenen Führungspersönlichkeiten, die zunehmend kriminalisiert werden.
(Foto: privat)


 

Im Jahr 2019 waren die zahlreichen Feuer in Amazonien und die illegale Entwaldung in den deutschen Medien sehr präsent. In diesem Jahr gilt alle mediale Aufmerksamkeit der Pandemie und der Koalitionsbildung nach den Bundestagswahlen. Berichterstattung über Entwaldung und Brände gibt es kaum. Wie ist die aktuelle Situation in Amazonien?
Dazu möchte ich zuerst einmal sagen, dass die Berichterstattung in Brasilien nicht viel anders ist. Wir befinden uns hier in einem Kampf um Narrative, in dem sehr viele Fake-News verbreitet werden. Und natürlich müssen die indigenen Gemeinden größere Hindernisse überwinden, um Zugang zu Massenmedien zu erhalten, auch wenn sich unser Zugang zu alternativen Medien verbessert hat. All diese Berichterstattung über die Rede von Bolsonaro vor den Vereinten Nationen maskiert nur die Realität. Die Realität ist, dass die Abholzungszahlen zwischen 2020 und 2021 die höchsten in den vergangenen zehn Jahren sind. Amazonien brennt nach wie vor, es wird immer noch entwaldet. Und die indigenen Führungspersönlichkeiten, die an vorderster Front stehen, um die kollektiven Rechte und die Territorien zu verteidigen, werden nach wie vor ermordet und mehr als jemals zuvor kriminalisiert. Brasilien steht unter den Ländern, in denen die meisten Umweltschützer ermordet werden, auf dem vierten Platz. Die meisten davon sind Indigene.

Die Situation in Amazonien hat sich also eher noch verschärft. Warum?
Der Staat schwächt die Institutionen, die für den Schutz des Waldes zuständig wären, sei es um Brände oder um Abholzung zu vermeiden. Er hat die Behörden FUNAI und IBAMA ausgehöhlt, und zwar sowohl finanziell als auch personell. Die Beamten wurden regelrecht politisch verfolgt. Und er schwächt die Institutionen nicht nur, indem er ihnen personelle und finanzielle Ressourcen entzieht. Über den Diskurs von Bolsonaro und seinem Team in den Medien wird zu den Abholzungen und illegalen und kriminellen Waldbränden auch noch ganz direkt ermutigt. Schon vor seiner Wahl hat Bolsonaro sich öffentlich gegen die Demarkierung der indigenen Territorien und für die Aneignung dieser Territorien positioniert. Daneben gibt einen indirekten Diskurs, der im Parlament über Gesetzesinitiativen verläuft. Bolsonaro fördert die Invasion indigener Territorien, sei es durch Goldschürfer oder durch andere. Auch darüber, dass sich niemand für seine illegalen Praktiken verantworten muss. All dies müsste mit viel mehr Vehemenz verfolgt werden, so dass diejenigen, die in Amazonien Verbrechen begehen, nicht straflos davonkommen.

In letzter Zeit gab es viele Berichte darüber, dass illegale Goldschürfer immer weiter in indigene Gebiete vordringen. Eskaliert die Situation?
Ja, es gibt sehr gut bestätigte Informationen darüber, was in den Territorien der Yanomani passiert. Außer der Entwaldung, die direkt durch das Goldschürfen verursacht wird, und der Kontamination der Flüsse, die auch die Bevölkerung vergiftet, gab es direkte Attacken, die nicht strafrechtlich verfolgt wurden. Erst kürzlich gab es Schießereien im Gebiet der Yanomani. Wir haben auch Informationen, dass ein illegales Versorgungsflugzeug der Goldschürfer Yanomani verletzt hat. All dies wurde von den indigenen Organisationen angezeigt, auch von der Abgeordneten Joenia Wapichana, die aus der Region stammt. Und kürzlich ertranken zwei Kinder einer Yanomani-Gemeinde, weil illegale Goldschürfer im Fluss eine Maschine benutzten, die sie unter Wasser zog. Wir stellen täglich fest, in welchem Ausmaß die Goldschürfer in die Region eindringen. Sie kommen bisher unkontaktierten indigenen Gemeinden näher als jemals zuvor und attackieren auch Menschen, die in der Region leben, direkt.

Nach Informationen von Organisationen, die den Landraub in Brasilien beobachten, hat auch die direkte, illegale Landnahme deutlich zugenommen, können Sie das bestätigen?
Ja, der Landraub hat während der Regierung Bolsonaro enorm zugenommen. Das hat natürlich damit zu tun, dass die staatliche Kontrolle so geschwächt ist. Heute haben die Konflikte um Landbesitz in den indigenen Territorien ein absurdes Ausmaß angenommen. Hinzu kommt, dass die Legislative die illegale Landnahme über Gesetzesvorlagen unterstützt, mit denen der Landraub legalisiert werden soll. Es ergibt sich ein sehr klares Szenario, wenn man die verschiedenen Gesetzesvorlagen betrachtet, die zur Lesung im Kongress ausgearbeitet wurden.

Welche Ziele verfolgen die indigenen Netzwerke und Organisationen auf der COP26?
Es wird in diesem Jahr eine sehr große indigene Präsenz und Beteiligung an der COP geben. Das Hauptziel ist es, ein weiteres Mal zu zeigen, dass die indigene Bevölkerung effektiv an der Lösung der Klimakrise beteiligt werden muss. Nicht nur, weil wir die Hüter des Territoriums mit der weltweit größten Biodiversität sind oder weil wir am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Durch unsere Lebensweise wissen wir auch am besten, wie die Menschheit dem Klimawandel begegnen muss.

Welche Vorbereitungen werden getroffen, um diese Ziele zu erreichen?
Gerade heute wurde dazu im nationalen Parlament eine Anhörung durchgeführt und letzte Woche wurden von der COIAB (Zusammenschluss der Indigenen Organisationen im Brasilianischen Amazonas, Anm. d. Red.) fachliche Diskussionen organisiert, um zu entscheiden was die Hauptthemen und Hauptforderungen der indigenen Bewegung auf der COP sein werden. Die verschie- denen Regionalstellen tragen dies gerade zusammen und präsentieren es in Kürze den Medien. Amazonien wird einer der zentralen Punkte in der Diskussion auf der COP26 sein und die indigenen Völker haben sich sehr gut, auch mit fachlicher Expertise, auf die Beteiligung vorbereitet. Denn wir wollen nicht nur, dass unsere Expertise anerkannt wird, sondern dass in die indigenen Völker investiert wird, um die Klimakrise zu bekämpfen.

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