„Lithium, das Brot für heute, der Hunger von morgen“

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LEBENSRAUM UND KOSMOVISION

Auf Tour zur Unterstützung des Yasuní-Volksentscheids Manaí Prado, Ene Nemquino, und Dayuma Nango in Berlin (Foto: Leonard Mikolei)

Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit nehmt, mit uns zu sprechen. Könnt ihr uns ein wenig über euch erzählen?

Dayuma: Mein Name ist Dayuma Nango. Als Vizepräsidentin der Vereinigung der Waorani-Frauen von Ecuador, AMWAE, verteidige ich die Frauen und unseren Regenwald.

Ene: Mein Name ist Ene Nemquimo, Vizepräsidentin der Waorani-Nationalität Ecuadors (NAWE) und Verteidigerin unserer gemeinsamen Heimat. Im Moment bin ich eine politische Führungsperson, obwohl ich die Politik nicht mag. Aber um das Leben der Menschen und das Leben von Yasuní zu garantieren, muss ich mich positionieren, damit mich niemand mit Füßen treten kann.

Manaí: Mein Name ist Manaí Prado und ich komme aus Quito. Ich beschäftige mich seit etwa 11 Jahren mit dem Thema Yasuní, mehr oder weniger seit dem ersten Versuch des Volksentscheids im Jahr 2013. Zurzeit bin ich Teil der NGO Acción Ecológica (Ökologische Aktion) und arbeite auch an anderen Projekten in Zusammenarbeit mit Indigenen Organisationen im Regenwald und in den Anden. Ich bin Historikerin und studiere Soziologie.

Was bedeutet Yasuní für euch?

Ene: Yasuní ist für mich unsere gemeinsame Heimat, meine Welt, meine Kosmovision, er ist unser gemeinsames Zuhause.

Dayuma: Für mich ist Yasuní unser Leben, die Lunge der Welt. Der Ort mit der größten Artenvielfalt auf der Welt. Und genau dafür kämpfen wir.

Manaí: Yasuní steht für mich für das Leben und für einen jahrelangen Kampf. Er ist etwas sehr Wichtiges in meiner Geschichte, auch persönlich. Er steht für diesen ganzen Widerstand, aber vor allem für die Hoffnung.

Wie ist die Situation im Yasuní nach der Volksbefragung?

Ene: Die Menschen mit Interessen im Ölsektor sind diejenigen, die verlieren, wenn die Ölförderung im Yasuní gestoppt wird. Die westliche Welt, die Welt der Interessen, verliert. Deshalb drängen die Investoren und Maschinenbesitzer darauf, weiterzumachen. Wir haben aber auch eine interne Situation unter den Waoranis. Einige wollen, dass die Erdölförderung fortgesetzt wird. Sie sind sich nicht bewusst, welche Folgen das für ihren Lebensraum hat. Es gibt keinen angemessenen Wohnraum, keine Gesundheitsversorgung, keine gute Bildung. So kommen viele schon in jungen Jahren zum Alkohol, und dann wird alles nach und nach zerstört.

Wie sieht die Situation besonders für Kinder und Frauen aus?

Dayuma: Die Lage ist wirklich sehr schwer für die Frauen. Als AMWAE wollen wir sie unterstützen, damit sie sich selbst versorgen können. Wir haben jetzt einen Laden für unser Kunsthandwerk eröffnet, aber wir müssen diesen Laden weltweit sichtbar machen, damit es mehr wirtschaftliche Ressourcen für die Frauen gibt. Wir bringen Lebensmittelpakete und Medizinpakete in die Gemeinden, die lebensnotwendig sind, denn wir haben einige Anführerinnen, die an Krebs sterben, und die Kinder in unserem Gebiet leiden unter akuter Mangelernährung.

Was hat die ecuadorianische Regierung getan, seitdem ihr den Volksentscheid gewonnen habt?

Ene: Die Regierung hat mit den Ministern, sogar mit Petroecuador (staatliches Erdölunternehmen), eine Kommission gegründet, aber sie haben uns nicht eingeladen.

Wer ist Teil dieser Kommission?

Manaí: Das Komitee für die Ausführung des Volksentscheides zu Yasuní ITT besteht aus dem Ministerium für Umwelt, Wasser und Ökologische Transition, dem Ministerium für Energie und Bergbau, dem Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, dem Ministerium für Frauen und Menschenrechte und Petroecuador.

Mit anderen Worten, es gibt nur Mitglieder, die den Staat vertreten. Gibt es jemanden aus der Privatwirtschaft?

Manaí: Nein, auch keine Wissenschaftler*innen und keine Indigenen sozialen Organisationen.

Deshalb habt ihr im August 2024 den Internationalen Gipfel für den Yasuní organisiert?

Ene: Ja, und als wir gerade dabei waren, den Gipfel zu organisieren, rief uns der Geschäftsführer von Petroecuador an. Er sagte: „Wir wissen, dass ihr jetzt eure Stimme auf internationaler Ebene erhebt und den Gipfel abhalten werdet. Stattdessen schlage ich vor: Wir geben 50 Millionen an NAWE als Organisation. Ihr müsst nur unterschreiben. Aber bitte machen Sie diesen Gipfel nicht.“ Daraufhin sagte der Präsident der NAWE: „Vielen Dank, aber ich werde nicht alleine entscheiden. Wir sind ein Rat in der NAWE, in dem wir Entscheidungen im Konsens treffen.” Nach unserer Besprechung ging er dann nach Quito, um den Vertrag zu unterschreiben, den Petroecuador vorbereitet hatte.

Haben sie euch das Dokument vorher gegeben, damit ihr es sehen könnt?

Ene: Nein, sie haben ihm, wie auch in vorherigen Fällen, nur das letzte Unterschriftenblatt gegeben. Aber wir waren clever. Der Präsident der NAWE sagte: „Geben Sie mir den Entwurf. Wir werden ihn Absatz für Absatz mit unseren Anwälten lesen. Und dann werde ich ihn unterschreiben.“ Aber am Ende entschied er: „Wenn ich das unterschreibe, verkaufe ich das Leben von mehr als 4.000 Waorani. Ich beende unseren historischen Kampf. Viele von uns haben Verträge mit staatlichen Unternehmen unterzeichnet, die nicht erfüllt worden sind. Bis jetzt haben sie uns in Armut gelassen. Ich werde nicht unterschreiben.”

Daraufhin habt ihr dann den Gipfel organisiert. Wie ist es dort gelaufen?

Ene: Das Gipfeltreffen wurde von den Waorani mit dem Ziel organisiert, einen gemeinsamen Vorschlag auszuarbeiten. In diesem Rahmen haben wir sieben Thementische zusammengestellt: Einhaltung des Volksentscheids, nachhaltige Wirtschaft, territoriale Selbstbestimmung, Indigene Gemeinschaften in freiwilliger Isolation, Waorani Frauen und Jugend sowie strategische internationale Allianzen für Yasuní. Es kamen viele Verbündete. Jeder wählte einen Thementisch, und wir erarbeiteten verschiedene Vorschläge. Jetzt liegt die Zusammenfassung im Entwurf vor, und wir hoffen, sie bis Ende Januar fertig zu stellen, damit wir einen Aktionsplan haben. Welche Organisationen können mitarbeiten? Wie sollen die Mittel aufgebracht werden? Das Wichtigste ist, ein gutes Team zusammenzustellen.

Wie ist es für euch als Frauen, in Führungspositionen zu sein?

Dayuma: Wir sagen, genug mit dieser Art von Herablassung! Als meine Großmutter − Dayuma Kento − ihre Unterschrift vor 30 Jahren bei Repsol hinterließ, dachte sie, dass wir eine gute Gesundheitsversorgung, eine gute Bildung und ein Zuhause haben würden. Ich glaube, ich war acht Jahre alt, als meine Großmutter unterschrieb. Ich erinnere mich sehr gut daran: Sie sagte zu mir, „Liebling, ich habe unterschrieben und wir werden gut leben.” Ich glaube, dass wir Frauen heute sehen, wie sich die Ölgesellschaft über uns lustig gemacht hat. Jetzt haben wir unsere Stimme, um ihnen die Stirn zu bieten, um diese Dinge zu stoppen, diesen Schaden, den sie uns zugefügt haben.

Ene: Meine Amtszeit beträgt vier Jahre, es bleiben noch zwei Jahre. Danach möchte ich, so Gott will, Präsidentin der NAWE werden und zeigen, dass wir Frauen dazu fähig sind. Es geht auch darum, dass unsere Position und unsere Haltung respektiert wird. Wir können nicht von Gleichberechtigung sprechen, wenn eine Frau die Position der Präsidentin nicht erreicht, sondern Männer weiterhin dominieren. Die Tatsache, dass eine Frau Stellung bezieht, bedeutet nicht, dass die Männer außen vor bleiben, sondern, dass wir zusammen gehen. Aber wir sind auch in Gefahr. Trotzdem, bevor wir schweigen, ist es besser, die Stimme zu erheben.

Dayuma: Wir erhalten direkte Morddrohungen, weil wir gegen die Ölgesellschaft sind: „Wir werden dich zum Schweigen bringen, wir werden dich töten.” Aber ich werde nicht schweigen. Ich stamme aus einer Familie, die für ihr Territorium und für ein gutes Leben gekämpft hat. Wir werden uns nicht zum Schweigen bringen lassen, wir werden uns zusammenschließen und kämpfen, um voranzukommen.

Wie können wir von hier aus unterstützen?

Manaí: Ich denke, dass die konkretesten und dringendsten Bedürfnisse in Bezug auf die technischen Fragen bestehen, wie die Ölfelder geschlossen, wie sie gewartet werden, wie der Reparationsprozess durchgeführt werden soll. Und davon ausgehend brauchen wir natürlich auch Mechanismen, um die Einhaltung des Volksentscheides zu überwachen. Ich glaube nicht, dass es dafür notwendig ist, vor Ort präsent zu sein, sondern wachsam zu sein, um Druck auf den Staat auszuüben, also eher eine mediale und virtuelle Funktion. Es geht nicht darum, ob die Regierung ihn einhält oder nicht, denn sie müssen ihn einhalten, sondern wie sie es tun und wer daran beteiligt ist.

Was ist eure Vision für die Zukunft des Yasuní?

Ene: Meine Vision ist, dass Yasuní ein Ort des Friedens und der Harmonie wird. Dass Yasuní ein Beispiel auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene ist, dass ein Volk nach so vielen Kämpfen den eigenen Lebensraum genießen kann. Wir wurden mehrmals geschlagen, vergewaltigt und misshandelt. Es ist Zeit, dass wir uns ausruhen.

Manaí: Ich sehe Yasuní in der Zukunft als einen Ort, an dem diese Ungleichheit nicht existiert, an dem es eine staatliche Präsenz gibt, um die Rechte der Gemeinschaften zu garantieren, an dem das Leben der Indigenen Gemeinschaften von Yasuní angemessener und würdiger ist. Und ich sehe einen Yasuní, der wiederhergestellt wird.

Dayuma: Ecuador war im Kampf um den Yasuní geeint und wir haben gewonnen. Wir haben für das „gute Leben” gewonnen (El buen vivir ist ein Leitprinzip in Ecuadors Verfassung, Anm.d.Red.). Für unsere Kinder, für die kommenden Generationen. Und auch für unsere Brüder und Schwestern in freiwilliger Isolation, damit sie in Stille leben können, denn im Moment leiden sie unter viel Lärm. Es wird dieser Tag kommen, ohne Lärm, ohne Verschmutzung, ohne dergleichen und ihr unsere Heimat besuchen könnt, unser Land, die Lunge der Welt.


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IM ENERGIESPARMODUS

Wie viele am Amazonas gelegene Staaten ist Ecuador in seiner Stromversorgung stark abhängig von Wasserkraftwerken – zu ganzen 70 Prozent. Zwei Drittel der Energie aus Wasserkraft stammen aus einem einzelnen Wasserreservoir, wo zuletzt 2016 ein Wasserkraftwerk errichtet wurde. Der Staudamm Coca Codo Sinclair war ein Prestigeprojekt, um die ecuadorianische Energieinfrastruktur auf Kurs zu bringen und ist heute für 30 Prozent des im Land erzeugten Stroms zuständig. Bei Planung und Bau sind massive Fehler gemacht und Indigener Protest übergangen worden. Außerdem erodierten durch den Bau Flüsse und Ecuadors bis dahin höchster Wasserfall kollabierte. Außerdem wurde seitdem kein einziges weiteres Kraftwerk mehr errichtet. Und das, obwohl der Stromverbrauch zwischen 2017 und 2023 um 31 Prozent gestiegen ist.

Der „Elektrizitäts-Masterplan”, unter der linken Regierung Rafael Correas zwischen 2007 und 2017 entwickelt, sollte Wärmeenergie als größte Alternative stärken sowie Solar- und Windenergie ausbauen. Doch keiner der nachfolgenden Präsidenten führte den Plan fort. Auch bestehende Kraftwerke wurden stark vernachlässigt: Wärmekraftwerke, am zweitwichtigsten für die Versorgung, verfallen und liefern nur ein Drittel ihrer möglichen Produktion. Die chronische Unterfinanzierung des ecuadorianischen Energiesektors lässt sich auch mit den sehr günstigen Strompreisen erklären und zusätzliche Subventionen für die Industrie schmälern die Staatseinnahmen für nötige Investitionen. Die Folge: Das Versorgungsnetz ist weder wirklich alltags- noch krisenresistent.

Zu Beginn des vergangenen Jahres gab es zudem durch das Wetterphänomen El Niño, also schon vor der üblichen Trockenphase, deutlich weniger Niederschlag als in den Vorjahren. Ein erster Bericht des staatlichen Strombetreibers CENACE warnte im Januar vor möglicher Dürre und drohenden Folgen, im April war die Regierung unter dem Neoliberalen Daniel Noboa sofort zum Worst-Case-Szenario gezwungen: Nationaler Notstand und bis zu acht Stunden angeordnete Blackouts am Tag, zwei Wochen lang.

Schlimmste Dürre seit 61 Jahren

Ecuador erlebte 2024 die schlimmste Dürre seit 61 Jahren, in den Sommermonaten brachen in weiten Teilen des Landes heftige Waldbrände aus. Ab August kam es dann nochmals zu Engpässen in der Energieversorgung: Nach einem ungeplanten Blackout im Juni wurde am 18. September rationiert, jedoch nur eine Nacht. Am 23. September begannen mehrtägige Rationierungen. Mitte Oktober versprach Noboa optimistisch eine Verkürzung, doch wenige Tage später verkündete Energie- und Bergbauministerin Inés Manzano stattdessen 14-stündige Stromrationierungen täglich. Manzano ist bereits die vierte Person, die das Amt seit Antritt der Regierung im November 2023 bekleidet.

Wenig hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch Noboas brüchige Außenpolitik. Nachdem man sich in der Vergangenheit bei Engpässen auf Energieimporte aus Kolumbien verlassen konnte, hat dies 2024 lange Verhandlungen erfordert. Nicht nur, dass der nördliche Nachbar selbst in einer Versorgungskrise steckte – durch die Stürmung der mexikanischen Botschaft in Quito im April 2024 hat sich Noboa nicht unbedingt als vertrauenswürdiger Partner herausgestellt (siehe LN 599).

Langfristige Lösungen wären am effektivsten und nötigsten, kurzfristig war der Handlungsspielraum der Regierung aber begrenzt. Wartungen der Wärmekraftwerke und ein sogenanntes Floating Power Barge, ein schwimmendes Kraftwerk aus der Türkei, konnten das Stromdefizit immerhin abmildern, doch „nur Gott weiß, wann es wieder anfängt zu regnen”, so Ecuadors ehemaliger Energieminister Antonio Goncalves gegenüber dem Cuenca Dispatch. Expert*innen wie der Elektroingenieur und Präsident des Ecuador Energie Forums Fernando Salinas raten dazu, erneuerbare Energien auszubauen und bis dahin weitere mobile Power Barges zu ordern sowie den Gesamtverbrauch durch höhere Strompreise zu senken. Die Regierung hat stattdessen angekündigt, den Energiesektor zu privatisieren, um die nötigen Sanierungen finanzieren zu können.

Die Bevölkerung ist in ihren Schuldzuweisungen gespalten. Noboa ist weiterhin ein sehr beliebter Präsident und darf auf seine Wiederwahl am 9. Februar hoffen. Da er keine direkte Kontrolle über Regen und Dürre hat, wird er nicht zwingend in die Verantwortung für die Stromausfälle genommen. Gewählt worden ist der 37-Jährige wegen seines Fokus auf Sicherheits- und Wirtschaftspolitik, gerade mit dem autoritären Einsatz von Polizei und Militär erfüllt er Wahlversprechen (siehe LN 596).

Zurückhaltend war die Kritik am jüngsten Präsidenten Ecuadors trotzdem nicht, vor allem in Quito und Guayaquil kam es ab Mitte November zu heftigen Protesten von Arbeiter*innenorganisationen, Gewerkschaften und Indigenen Bewegungen. Auch Yanka Cevallos, der im Buchhandel seiner Familie arbeitet, war nicht begeistert: „Es war eine sehr schwierige Zeit. Man hatte für alles nur begrenzt Möglichkeiten”, erinnert er sich. Die Familie hätte nachts arbeiten müssen, um Strom zu haben. In manche Haushalte wurde kein oder nur eiskaltes Wasser mehr gepumpt und der Verkehr der Großstädte wurde ohne Ampeln zur Hölle. Besonders kleine und mittlere Unternehmen haben gelitten, fast 4.000 Arbeitsplätze sind verloren gegangen und die Wirtschaft hat mindestens zwei Milliarden US-Dollar Verluste gemacht. Für Cevallos seien die Stromausfälle „ein weiterer Grund, nicht für Noboa zu stimmen”. Er ist frustriert: „Die Regierung unternimmt im Großen und Ganzen nichts, außer sich auf ihren Ämtern auszuruhen und über ihre Wiederwahl nachzudenken.”

Klimawandel ist schuld: Noboa “noch etwas Zeit geben”

Die Audiologin Andrea Quinteros wiederum meint, die Regierung hätte nichts machen können außer abzuwarten. Schuld sei vor allem der Klimawandel. Die 29-Jährige wisse schon, dass sie Noboa wählen wird: Sie möchte ihrem Präsidenten noch etwas Zeit geben, um für Stabilität in der unruhigen Republik zu sorgen. Für ihren Mann Fabián Guerron, Geschäftsleiter eines familiengeführten Lebensmittelgeschäfts, hat der Hoffnungsträger sein Vertrauen verspielt. Während er 2023 auch noch für den damaligen Underdog gestimmt hatte, möchte der 30-Jährige das dieses Jahr auf keinen Fall tun: „Wenn ich ein Auto habe, das zehn Jahre alt ist und ich es in dieser Zeit nie zur Reparatur bringe und mich nicht darum kümmere – dann bin ich doch daran schuld, dass es nicht mehr fährt, egal wer das Auto damals gekauft hat!”

Wütend ist auch der Viehhalter Santiago Guerron, nicht nur über seine gestiegenen Produktionskosten. „Um nicht schlecht dazustehen”, habe Noboa die Notwendigkeit von Stromausfällen „geleugnet, bis zehn Stunden Rationierung unausweichlich wurden”. Aber auch Guerrons Einschätzung ist: „Die Leute werden trotzdem für diesen Präsidenten stimmen.”

Ende vergangenen Jahres fing es dann zu regnen an, am 20. Dezember war es vorbei mit den Blackouts. Gerade noch rechtzeitig für Daniel Noboa, um seinen Wahlkampf wieder auf anderen Themen aufzubauen.


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Pharaonisches Projekt beerdigt sich selbst

Ortega Vaterlandsverkäufer Mobilisierungen gegen das Kanalprojekt im Jahr 2013 (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr (CC BY 2.0))

Am 8. Mai verabschiedete die nicaraguanische Nationalversammlung den Gesetzentwurf zur Reform des Gesetzes des „Großen Interozeanischen Kanals von Nicaragua” sowie der in diesem Zusammenhang geschaffenen Kanalbehörde (Gesetz 800). Annulliert wurde dagegen das Gesetz 840, um dem chinesischen Geschäftsmann Wang Jing die ihm übertragene Konzession zu entziehen. Beide Gesetze bildeten die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Realisierung des gigantischen Bauprojekts einer Nicaragua durchquerenden Wasserstraße, wobei das Gesetz 840 Wang Jing gar die Nutzungsrechte für das Konzessionsgebiet für einen Zeitraum von 100 Jahren übertrug. Mit seiner Entscheidung bestätigt Ortega die Aussichtslosigkeit des Projekts, nachdem Wang Jing mit seiner Kanalbaufirma HKND wegen zweifelhafter Börsengeschäfte enorme Kapitalverluste hinnehmen musste.

Die vollmundigen Versprechen, die sich seit 2013 mit dem Kanalprojekt verbanden, um den Nicaraguaner*innen das Bauvorhaben schmackhaft zu machen, haben sich damit in Luft aufgelöst: ein jährliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von mehr als zehn Prozent, die Schaffung von mehr als 50.000 Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit dem Bau von Zement- und Sprengstofffabriken, Straßen, Häfen, Flughäfen, dazu weitere tausend Arbeitsplätze in Freihandelszonen und großen Tourismuszentren, um nur einige der angepriesenen Vorteile zu nennen, die einen Ausweg aus der Armut mit sich bringen sollten.

„Heute ist ein Tag zum Feiern“

An die 100 Protestmärsche und der entschiedene Widerstand der Bäuer*innenbewegung haben zum Ende des Projekts beigetragen. Potenziellen Investor*innen haben die Proteste gezeigt, dass neben den technischen, ökologischen, finanziellen und kommerziellen Zweifeln an einem Projekt dieser Größenordnung auch mit Widerstand zu rechnen ist. Für die Anwältin und Expertin für Umweltrecht, Mónica López Baltodano, erweist sich die Unmöglichkeit, das Kanalprojekt zu verwirklichen, als „ungeheure Niederlage” für die Diktatur und als „Triumph” für den Umweltschutz und die bäuerlichen, indigenen und afro-deszendenten Gemeinschaften, die von den zerstörerischen Auswirkungen des Vorhabens unmittelbar betroffen wären. „Heute ist definitiv ein Tag zum Feiern, denn dies wäre ohne den konsequenten Einsatz von Tausenden von Nicaraguaner*innen, die sich der Auslieferung der nationalen Souveränität Nicaraguas widersetzt haben, nicht möglich gewesen”, so die Anwältin gegenüber der Nachrichtenplattform Confidencial in der Sendung Esta Semana. Gleichzeitig warnt sie jedoch vor allzu viel Optimismus. Man müsse aufpassen, „dass nicht andere Mafiaunternehmen um die Ecke kommen und wieder unter den Schutz des Gesetzes 800 gestellt werden”, zumal offensichtlich sei, dass „die Risiken der Enteignung und der Repression gegen die Gemeinden” fortbestehen.

Auch bei dem im Exil lebenden Umweltaktivisten und Direktoren der Umweltschutzorganisation Fundación del Río, Amaru Ruíz, überwiegt zunächst die Freude: In einem Interview mit Esta Noche sagte er, dass es endlich gelungen sei, „nach elf Jahren der Lobbyarbeit (…) zu beweisen, dass sowohl die Bäuer*innenbewegungen als auch die indigenen und afro-deszendenten Gemeinschaften Recht hatten, und dass schließlich die Aufhebung sowohl des Rahmenkonzessionsabkommens als auch des Gesetzes 840 erreicht worden ist.” Er sieht darin einen klaren Sieg für die Umweltschutzorganisationen, für die Gemeinden und die sozialen Bewegungen.

Kein Grund zur Entwarnung

Allerdings sieht auch Ruíz noch keinen Grund zur Entwarnung und stellt die Frage, was hinter der Gesetzesreform stecken könnte: „Offensichtlich ist das Gesetz 800 potentiell immer noch in Kraft und der Staat (…) und die Armee übernehmen die Kontrolle, denn schließlich ist die Person, die in den Verwaltungsrat (Direktion der Kanalbehörde nach der Änderung des Gesetzes 800) berufen wurde, ein Armeegeneral, Óscar Mujica. Es besteht die eindeutige Absicht, die Verhandlungen über das Projekt fortzusetzen, um die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Regimes abzusichern und ihm angesichts der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise als Rettungsanker zu dienen.”

Die Bauernanführerin Francisca Ramírez gibt zu bedenken, dass die Tatsache, dass das Gesetz nicht aufgehoben wird, „noch mehr Zweifel aufkommen lässt”, da nicht bekannt sei, „an wen denn dann die Konzession vergeben wird.” Und der Bauernanführer und politische Ex-Gefangene Medardo Mairena meint, dass von Anfang an klar gewesen sei, dass das Kanalprojekt „nicht rentabel” war. Das Einzige, um das es gegangen sei, „war die Enteignung von Land.”

Um Landraub geht es auch bei der Klage der Territorialregierung der Rama- und Kriol-Völker der Gemeinde Monkey Point sowie der Gemeinschaft der Indigenen Schwarzen Kreolen von Bluefields vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR). Laut einem am 9. Mai veröffentlichten Kommuniqué des Rechtshilfezentrums für indigene Völker (Calpi) hat der IACHR bereits über die Klage gegen den nicaraguanischen Staat wegen der Konzession für den Interozeanischen Kanal entschieden. Danach hat das Gericht in seiner 165. ordentlichen Sitzung vom 7. bis 22. März über den Klageantrag beraten, dessen Urteil voraussichtlich während der nächsten Sitzung Mitte 2024 bekannt gegeben wird.

Das Rechtshilfezentrum Calpi weist darauf hin, dass die Annullierung des Gesetzes 840 und die Reform des Gesetzes 800 nur einige der Klagepunkte berühren, die dem Antrag an den IACHR zugrunde liegen. „Indigene und afro-deszendente Völker sind von diesen Gesetzen deshalb betroffen, weil sie nicht konsultiert wurden, obwohl 52 Prozent der Kanalroute durch ihre traditionellen Territorien führen”, erläutert Calpi die Begründung der Klageschrift. Diese stützt sich darauf, dass die betroffenen Gemeinschaften zwischen 2013 und 2020 allein 19 Klagen wegen der Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte vor dem Obersten Gerichtshof Nicaraguas eingereicht hatten, ohne dass dieser sich auch nur mit einer ihrer Beschwerden beschäftigt hätte.

Das Calpi-Kommuniqué erinnert daran, dass die indigenen Autoritäten damals anprangerten, dass der nicaraguanische Staat den Präsidenten der Territorialregierung der Rama und Kriol (GTRK) kooptiert und ihn ohne vorherige informierte Zustimmung der Gemeinschaften dazu gebracht habe, ein angebliches Abkommen mit der Kanalbehörde zu unterzeichnen, in dem sie ihm illegal einen unbefristeten Pachtvertrag für 263 Quadratkilometer Land im Herzen ihres angestammten Territoriums gewährte. Desgleichen klagen die Autoritäten der Gemeinschaft der Indigenen Schwarzen Kreolen von Bluefields gegen den nicaraguanischen Staat, weil dieser „eine Parallelregierung zu der von ihnen rechtmäßig gebildeten Regierung förderte, den Prozess der Titulierung ihres traditionellen Territoriums abbrach, ihre Vertreterin in der Nationalen Kommission für Demarkation und Titulierung (CONADETI) rechtswidrig entließ und der Parallelregierung einen Titel über nur sieben Prozent des beanspruchten Landes übergab, sodass 93 Prozent ihres traditionellen Territoriums dem Megaprojekt zufielen”, so Calpi.

Elf Jahre lang flossen Unsummen in die Kanalbehörde – ohne Ergebnis

Laut Amaru Ruíz steht nicht nur die Bilanz von Menschenrechtsverletzungen noch aus, deren Bewertung durch den IACHR erwartet wird, sondern auch die Identifizierung des Korruptionssystems im Zusammengang mit der Tätigkeit der Kanalbehörde. Denn in den vergangenen elf Jahren wurde diese Behörde mit Mitteln aus dem Staatshaushalt finanziert, ohne dass Ergebnisse erzielt wurden. Dabei stellt sich die Frage, was mit den Unsummen geschehen ist, die der Kanalbehörde über all die Jahre zuflossen. „Es bleiben noch Korruptionssysteme, die aufgedeckt werden müssen. Die Personen, die daran beteiligt waren, müssen identifiziert werden”, so der Umweltschützer gegenüber Esta Semana. „Zum Beispiel sämtliche Unternehmen und das Netz, das im Fall der Wang Jing-Konzession aufgebaut wurde, nicht nur auf internationaler, sondern auch auf nationaler Ebene. Es gibt Anwälte, Geschäftsleute, Personen, die mit der Armee verbunden sind, Personen, die mit öffentlichen Institutionen in Verbindung stehen, die zahlen und zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Sie haben eine Konzession ausgehandelt, die eindeutig gegen die politische Verfassung Nicaraguas verstößt.”

Trotz der Suspendierung des Kanalprojekts wird sich der IACHR auch in Zukunft mit der Verletzung der Rechte indigener Gemeinschaften beschäftigen müssen: Am 22. April meldete das offizielle Gesetzesblatt La Gaceta die Übertragung einer Tagebaukonzession für 25 Jahre an das chinesische Bergbauunternehmen Xinxin Linze Minería Group in der nördlichen Autonomen Karibikregion. Dieses Gebiet wird hauptsächlich von indigenen Gemeinschaften der Miskitu und Mayagna bewohnt. Kritiker*innen bezweifeln, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsstudien durchgeführt wurden, wobei es weder zu den Auswirkungen auf die indigenen Gebiete noch zu vorherigen Konsultationen der betroffenen Gemeinschaften Informationen gibt. Nach der Auflösung von mehr als 3.600 Organisationen und der gewaltsamen Unterdrückung jeglichen zivilgesellschaftlichen Protests herrscht weitgehend Stille im Land. Für den Bergbausektor ideale Bedingungen, die es erlauben, Nicaraguas natürliche Ressourcen Akteur*innen zu überlassen, die sich weder um Gesetze noch um die Rechte und Lebensbedingungen der ansässigen Bevölkerung scheren.


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„Jeden Morgen bin ich erleichtert, dass er noch da ist!“

Über den Dächern von Ciudad Bolívar Der Eukalyptusbaum als Hoffnungssymbol (Foto: Ingolf Bruckner)

Don Héctor, Leiter der Gemeindebibliothek Senderos de Progreso, nennt ihn nuestro abuelo sabedor („unseren weisen Großvater“), Andere bezeichnen ihn als „Baum des Gehenkten“ oder auch als „Lebensbaum“. Wieder Andere behaupten, es gäbe keinen geeigneteren Ort auf der Welt, um fliegende Untertassen zu beobachten; auch würden hier Hexen und Zauberer ihr Unwesen treiben.

Der Cerro Seco ist ein kahler, narbiger Hügelrücken voll blonden Grases, geschwürartiger Kiesgruben und Steinbrüche. Man sagt dem Taxifahrer im Stadtzentrum von Bogotá, man wolle zu den Canchas Dobles im Barrio Potosí. Der Taxifahrer wird dort nicht gern warten oder sein Fahrzeug zumindest zwischen den Mauern der niedrigen, selbst gezimmerten Behausungen verbergen wollen, damit es keine Aufmerksamkeit erregt. Das Viertel liegt im fernen Süden der Neun-Millionen-Metropole Bogotá, in der Zone der riesigen, zum großen Teil ungeplant errichteten, Ciudad Bolívar, die von Opfern des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts in Kolumbien besiedelt wird. Paramilitärs, korrupte Unternehmen und Banden halten hier viele der Entrechteten und Geflohenen in einem Würgegriff aus Angst, ökonomischer Abhängigkeit und sozialer Isolation wie in der Schlinge eines Galgens. Die Menschen aber haben nie aufgegeben. Sie haben in der Schlinge gestrampelt und sich herausgekämpft: Im Dezember 2023 konnten sie mit der Ernennung zum Kulturerbe durch das IDPC einen wichtigen Schritt auf dem Weg ins Licht der Öffentlichkeit feiern.

Im Umkreis von Kilometern scheint es in diesem Teil der Stadt nur einen einzigen Baum zu geben: Jenen alten Eukalyptusbaum mit charakteristischer, dreieckiger Silhouette vor einem wolkenzerfetzten Himmelszelt, welches sich unglaublich weit zu spannen scheint, von blauer Ferne links in blaue Ferne rechts, hier, mehr als 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Keine*r der entwurzelten Bewohner*innen unterhalb seiner Äste hat je einen Tag im Leben verbracht, ohne dass es diesen Baum gab. Keine*r einen Tag, ohne ihn bewusst oder unbewusst gesehen zu haben, versichert mir Lorena Montes, die gerade mit anderen Sozialarbeiter*innen in der Nachbarschafts­hilfe im Barrio Potosí ein Dach neu errichtet hat. Als Fixpunkt ist der Baum „allgegenwärtig wie der Geist von Großeltern. Er mahnt und erdet, als wolle er in Erinnerung rufen, dass alles aus der Natur kommt und dahin strebt”, erklärt Lorena. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Jeden Morgen, wenn ich aufwache, geht mein Blick als erstes zu ihm und ich bin erleichtert, wenn er noch da ist – das war zuletzt keine Selbstverständlichkeit!“ Diese unmittelbare Zuneigung zu dem Baum, so als sei er ein Mitmensch, mag Uneingeweihte zunächst verwundern. Denn die Geschichten, die über den gespenstisch hageren, schwarzbelaubten Baum auf dem Cerro Seco kursieren, sind oft düster, geheimnisvoll, schrecklich.

Der wohl mindestens hundertjährige Baum mit dem Namen Palo del Ahorcado soll seit 1938 Pilgerstätte von Selbstmörder*innen, Verzweifelten, vom Teufel Besessenen und Verfolgten gewesen sein. „Höllenhunde“ – in Wahrheit dürften es ganz gewöhnliche streunende Hunde gewesen sein, die nachts aufgeschreckt wurden – kündigten etwa den Tod des exkommunizierten Ehebrechers Pablo an und einige Zeit später baumelte seine Geliebte Ernestina leblos an einem Ast. Mit der Ausdehnung der Stadt folgten weitere Todesfälle. Zuletzt, im Februar 2023, fand man nahebei die zerstückelte Leiche eines Jugendlichen namens Brayner Stiven Asprilla.

Das „Trotzdem“ vereint

Als Lorenas Mutter Blanca Luz Rosas de Montes in den 1980ern, vertrieben aus dem gewaltgeschüttelten Departamento Caquetá nach Ciudad Bolívar kam, war sie wie so viele Andere auf der Suche nach einem Leben in Frieden. Viele der Anwohner*innen kamen zu dem Baum, um Drachen steigen zu lassen oder einfach frische Luft zu atmen.

Mit der Zeit entwickelte sich der Brauch einer Karfreitagsprozession, die jährlich anwachsend und inzwischen viele Tausend Menschen zählend, hinaufführt zum Eukalyptus. Es ist der Glaube, es ist auch ein „Trotzdem“, dass die Pilgernden auf ihrem Weg vereint. Direkt am Fuße des Baumes legen sie Kreuze, Rosenkränze, Amulette, Bittgesuche ab, beten und errichten unweit ein großes Holzkreuz. Man spricht miteinander, plant die Zukunft und es entsteht eine Gemeinschaft, in der sich gegenseitig hilft, wer kurz zuvor noch fremd war.

Zerzaust, angegriffen und hager Der Eukalyptusbaum Palo del Ahorcado blickt vom Cerro Seco aus über Ciudad Bolívar (Foto: Ingolf Bruckner)

Ein Baum aber, der sein dämonisches Image verliert und stattdessen Menschen in ihrer Hoffnung und ihren Zielen vereint, ist ein Stachel. Ein Stachel für Immobilien-, Sand- und Kiesgruben­-unternehmen, die den Cerro Seco jahrzehntelang ausgebeutet haben und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf die Natur illegal weiter ausbeuten möchten; für Politiker*innen, die die Nöte der unterprivilegierten Stadtviertel und deren Bedarf an Infrastruktur und Daseinsvorsorge ignorieren, und für Drogenbanden, denen das Vergessen, das Schweigen und die Unter- und Fehlentwicklung in die Hand spielt.

„Unsere Gegner denken, mit dem Symbol würde auch unsere *Solidarität enden“


Lorena erklärt, man habe versucht, den Baum zu verbrennen, abzusägen, umzuhauen und zuletzt sogar, ihn zu vergiften. Sie zeigt auf die Wurzeln des Baumes – eine musste sogar entfernt werden, um ihn zu retten. „Unsere Gegner denken, wenn dieses Symbol der Gemeinschaft, des Umweltschutzes und des Widerstandes erst weg wäre, dann würde auch unsere Solidarität enden, dann könnten sie weiter das Ökosystem, die natürlichen Wasserläufe, die Orchideen und anderen Pflanzen zerstören, mühsam gebaute Wege und Straßen mit ihren volquetas (Schwertransportern) zerfurchen und unser letztes Erholungsgebiet zunichtemachen.“

Sie berichtet von Kämpfen und Erfolgen. 2015 etwa kam es zum offenen Konflikt, weil Sicherheitsleute der Kiesgrubenfirma die Karfreitagsprozession nicht durchlassen wollten. Als eine volqueta die Nachbarin Doña Yineth, eine mehrfache Mutter, überfuhr, errichteten Anwohner*innen Blockaden an den Zufahrtswegen der Sand- und Kiesunternehmen. Waren Bittgesuche an die Politik zunächst ungehört geblieben, schwoll die Stimme der Menschen aus dem Viertel immer mehr an und schließlich stieß man den Prozess an, den Cerro Seco mit dem Palo del Ahorcado zum Kulturerbe der Stadt Bogotá zu erklären.

Im Dezember 2023 kam schließlich der Durchbruch! Mit dem frisch errungenen Status des kulturellen Erbes ist der Weg zum Schutz des Symbols der Gemeinschaft und der Umwelt gestärkt. Das Erbe von Lorenas Mutter und anderen Aktivist*innen aus der Nachbarschaft, die längst nicht mehr leben, ist gesichert.

Lorena zeigt Mappen mit Fotos aus vier Jahrzehnten. Vergilbte und neue. Schwierige Anfänge. Gemeinsame Arbeit. Gemeinsame Proteste. Gemeinsame Feste. Organisationen wie die Fundación Blanca Luz, die nach Lorenas Mutter benannt ist, widmen sich der Verbesserung der Gemeindeinstitutionen. Heute gibt es Kindergärten, eine Volkshochschule, in der Erwachsene Lesen und Schreiben lernen können, einen Abendabiturkurs, eine Schneiderei, eine Tanzschule, die von Don Héctor betreute Gemeindebibliothek, eine Schule für Gründerinnen von Kleinunternehmen, Lehrgänge zur Selbstfürsorge und Selbsthilfe, Stadtgärten zur Selbstversorgung mit Gemüse und ein Kollektiv für humane Stadtentwicklung, Zivilschutz und Schutz des Cerro Seco. Aus seinem dürren Boden sprießen Ideen und Projekte wie frische Blumen. Keine Erosion mehr. Und keine Illusion. Die Wurzeln des Palo del Ahorcado halten fest.


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Ein historischer Sieg für den Erhalt des Yasuní

Sieg für die Artenvielfalt Das Erdöl im Yasuní-Nationalpark bleibt im Boden (Foto: Vince Smith via Flickr (CC BY 2.0))

Mit der Entscheidung über die Zukunft des Yasuní, einem Nationalpark im tiefsten Regenwald des Landes, hat sich die Mehrheit der Ecuadorianer*innen für den Schutz der Natur ausgesprochen. Bei der Abstimmung am 20. August hat das „Ja” gewonnen, somit wird die Ausbeutung des Blocks 43 im Yasuní-Nationalpark gestoppt. Erwähnenswert ist außerdem, dass die Zustimmung zum Verbot des kleinen, mittleren und großen Bergbaus in der andinen Region Chocó nahe der Hauptstadt Quito bei über 68 % lag.

Trotz des klaren Ergebnisses äußerte sich Energieminister Fernando Santos Alvite skeptisch gegenüber den Auswirkungen der Abstimmung. Nur drei Tage nach dem Referendum teilte er mit, dass „die Regierung vorerst nicht an das Ergebnis des Referendums gebunden sein werde“ – eine Aussage, die im Lager derjenigen, die für das Ende der Öl-Förderung gestimmt haben, für Aufruhr sorgte. „Der Kommentar des Energieministers ist antidemokratisch. Hiermit versucht er sich gegen den Willen eines ganzen Landes zu stellen”, so Paola Ortiz Jaramillo von Yasunidos Cuenca, gegenüber LN. Alvite stützt sich bei seiner Aussage auf die Umfrageergebnisse in der Provinz, in der sich der Nationalpark befindet, in dem die Mehrheit der Menschen dafür gestimmt hat, das Öl in der Region weiter zu fördern.

Dass Alvite sich gegen die Ergebnisse der Abstimmung positioniert, ist keine Überraschung. In einem Interview mit der Zeitschrift Primicias im Juni 2023 bezeichnete er einen möglichen Erfolg der „Ja”-Kampagne als „ökonomischen Selbstmord”. Laut Ortiz spiegelt Alvites Warnung die Ansichten der Lasso-Regierung wider, die Ecuadors wirtschaftliche Stärke im Abbau von fossilen Brennstoffen und anderen Rohstoffvor- kommen sehen.

Seit 2013 ist der ITT-Block 43 Teil des Spannungsfeldes zwischen Regierung, industriellen Interessen der Erdölindustrie, indigenen Gemeinden und Umweltorganisationen. Damals kündigte der ehemalige Präsident Rafael Correa an, Förderlizenzen an die Erdölindustrie zu vergeben, obwohl er sich verpflichtet hatte, diesen Nationalpark zu schützen. Der Regenwald des Yasuní ist nicht nur eines der artenreichsten Gebiete der Erde. Er beherbergt drei indigene Gemeinschaften, die Huaorani, die Tagaeris y Taromenanes, die von den natürlichen Ressourcen im Nationalpark leben und von saisonal überschwemmten Feuchtgebieten abhängig sind. Bereits nach dem die ersten explorativen Forschungen im Block 43 im Jahr 2014 genehmigt wurden, berichteten Anwohner*innen der Region für die LN über Umweltverschmutzungen infolge der Ölförderung.

Die Zustimmung zum Bergbauverbot lag bei über 68 Prozent

Als Reaktion auf Correas Entscheidung schlossen sich indigene Aktivist*innen, Feminist*innen und Umweltkollektive aus mehreren Provinzen Ecuadors zusammen und gründeten Yasunidos. Seit seiner Gründung hat das Kollektiv zusammen mit anderen Akteur*innen, wie dem indigenen Dachverband CONAIE, versucht, Unterschriften zu sammeln, um eine Abstimmung zu fordern, in der die Bevölkerung über die Zukunft des Yasuní entscheiden sollte.

Zehn Jahre und drei Regierungen später hat Yasunidos die Umsetzung des Volksentscheids erreicht. Doch der Kampf um den Schutz des Yasuní ist damit nicht beendet. Umweltaktivist*innen leisteten weiter wichtige Aufklärungsarbeit, vor allem durch Präsenz in sozialen Medien. „Der Nationale Wahlrat (CNE) hat die Abstimmung mit der Präsidentschaftswahl zeitlich zusammenfallen lassen, was uns Zeit gekostet hat“, erklärte Paola, von Yasunidos Cuenca, im Gespräch mit LN. Der Kampf um den Yasuní hat sich in den letzten Jahren etwas abgekühlt. Das Kollektiv musste dafür kämpfen, das Interesse der Menschen für das Thema überhaupt wieder zurückzugewinnen. Paola zufolge sei der Kampf gegen Fakenews die dringendste Arbeit. Das bestätigt Pedro Bermeo, Sprecher von Yasunidos, gegenüber dem Online-Medium GK: „Die Öl- und Bergbauindustrie, sowie die gesamte Rohstoffbranche, haben die Mainstream-Medien genutzt, um zahlreiche Falschdarstellungen zu verbreiten”. Auch lokale Medien hätten ihm zufolge vor allem die Positionen der Regierung und der Ölfirmen wiedergegeben, ohne die Sichtweise der Umweltschützer miteinzubeziehen.

Am 24. August gab es eine offizielle Stellungnahme des Generalsekretariats für Kommunikation der Präsidentschaft (Segcom), in der betont wurde, dass die Exekutive sich an die Mehrheitsentscheidung der Bevölkerung halten werde. Jedoch gibt es auch andere Amtsträger und Mitglieder aus dem Privatsektor, die dem Vorbild des Energieministers nacheifern und die Rechtmäßigkeit des Referendums in Zweifel ziehen. Augusto Tandazo, Rechtsanwalt für Erdölrecht, schließt sich der Herangehensweise von Alvites an und sucht, bei einem Interview des YouTube Kanals Ingobernables, nach einer Lücke in der Verfassung, um die Legitimität der Ergebnisse und die Abstimmung selbst, infrage zu stellen.

„Es ist wichtig, dass wir uns darüber im Klaren sind, was die Verfassung vorschreibt”, betont Ortiz. „Andernfalls könnten diese Personen versuchen, diese begrenzten demokratischen Spielräume zu manipulieren, um ihre Interessen auf Kosten unserer Rechte durchzusetzen”.

Die Regierung muss die ölfördernde Infrastruktur zurückzubauen

Mit dem „Ja” für den Yasuní, ist es jetzt die Aufgabe der Regierung, sich an die aus der Abstimmung resultierenden Verpflichtungen zu halten. Dazu zählt der Rückbau der gesamten ölfördernden Infrastruktur sowie die Wiederherstellung der Natur und die Entschädigung der indigenen Bevölkerung.

„Wir werden eine Kommission bilden, um die Durchsetzung dieser Forderungen zu sichern”, versichert Paola. So sollen nationale, aber auch internationale Beobachter*innen die jetzige und zukünftige Regierung zur Verantwortung ziehen.


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„ES WAR EIN HARTER KAMPF“

Manuela Royo (Foto: privat)

Das vergangene Jahr über haben Sie an der neuen Verfassung gearbeitet. Wie bewerten Sie diese Arbeit heute?
Wir haben viel geschafft, finde ich! Wir haben nicht nur eine neue Verfassung geschrieben, sondern den Konvent auch zu einer Plattform der politischen Debatte gemacht. Denn wir wurden nicht gewählt, um uns um Machtpositionen zu streiten. Es ging nicht ums Regieren wollen, im Gegenteil: Wir wollen ein gerechteres Chile und in einer besseren Gesellschaft leben.

Und wie setzt man das in einer Verfassung um?
In einer Verfassung geht es letztendlich darum, juristische Güter festzuschreiben. Dazu gehören Konzepte wie die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die in der Vergangenheit politisch sehr relevant waren. Uns ging es darum, weiteren Dingen den gleichen Rang einzuräumen: der Ernährungssouveränität, dem Saatgut, den Flüssen. Dazu gehört auch die Sorge füreinander. Auf dieser Ebene konnten wir bei den Menschen viel Bewusstsein schaffen.

Konnten Sie auch andere Konventsmitglieder von diesen Ansichten überzeugen?
In Gesprächen und Verhandlungen haben wir es geschafft, Überzeugungsarbeit zu leisten und wichtige Punkte durchzubringen. Da ging es zum Beispiel um das traditionelle Verständnis vieler Linker, dass man soziale Rechte nur durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen finanzieren könne. Wir aber sprechen nicht einmal von natürlichen Ressourcen, sondern von Gemeingütern.

In der Umweltkommission haben sie erst einmal alle unsere Vorschläge abgelehnt. In den Zeitungen wurde sich über uns und unsere post-extraktivistischen Ideen lustig gemacht. Wir seien doch nur Hippies. Wir haben also gleich an zwei Fronten gekämpft: einerseits mit Klimawandelleugnern aus der konservativen Rechten. Andererseits, und das war traurig, mit Linken, die der Meinung waren, unsere Auffassung sei doch nur Mystik. Dabei sind es wissenschaftliche Fakten: Dass uns das Wasser ausgeht, hat sich doch niemand ausgedacht. Es war ein harter Kampf, aber am Ende kamen viele unserer Vorschläge knapp durch. Insgesamt fühle ich aber, dass in dem Prozess Legitimität erreicht wurde.

Umweltaspekte waren eines Ihrer wichtigsten Themen. Welchen Wert hat die Umwelt nun in der neuen Verfassung?
Einen sehr großen. Schon im ersten Artikel der Verfassung steht, dass Chile ein ökologischer Staat ist, zu dessen wichtigsten Werten der Respekt vor den Rechten der Natur und unserer Abhängigkeit von ihr zählen. Damit ist gemeint, dass die Natur keine Ressource ist, aus der wir unbegrenzten wirtschaftlichen Vorteil für Wachstum ziehen können. Stattdessen ist es wichtig, zu betonen, dass die Natur Rechte hat, die der Staat und die Menschen respektieren und gewährleisten müssen. Wir sind Teil der Natur und können ohne sie nicht leben. Deshalb haben Themen wie Ernährung und Wasser genauso große Bedeutung wie die wirtschaftliche Stabilität. Und schließlich ist es die erste Verfassung, die vor dem Hintergrund des Klimawandels geschrieben wurde.

Außerdem wurden unterschiedliche Arten natürlicher Gemeingüter festgelegt. Zum Beispiel jene, die sich Menschen aneignen können, wie Urwälder und Feuchtgebiete. Diese werden unter der neuen Verfassung jedoch unter dem Schutz des Staates stehen. Man kann beispielsweise ein Stück Land mit Urwald kaufen, diesen jedoch nicht einfach abholzen, denn das schadet der Natur. Und dann gibt es noch jene Gemeingüter, die sich niemand aneignen kann: Wasser und Luft.

Wie sollen diese Prinzipien konkret umgesetzt werden?
Es gibt Richtlinien, um beispielsweise Feuchtgebiete und Urwälder zu schützen oder generell Wasserkreisläufe und Gletscher als Wasserquellen. Deshalb würden Bergbauaktivitäten in diesen Regionen verboten werden. Außerdem ist eine Flächennutzungsplanung vorgesehen, die eine wichtige Neuorganisation der Bodennutzung zur Erholung der Ökosysteme vorsieht. Denn die meisten Flächen werden derzeit für Abbautätigkeiten genutzt, darunter Bergbau, Forstwirtschaft und Energie.
Wir haben jedoch auch aus Erfahrungen mit den neuen Verfassungen in Ecuador und Bolivien gelernt. Denn in Ecuador sind zwar die Rechte der Natur in der Verfassung verankert, im Amazonasgebiet wird aber überall nach Erdöl gebohrt. Und in Bolivien, wo die Rechte der Pachamama anerkannt wurden, kam mit der neuen Verfassung der Wasserkrieg.

Deshalb ist es einerseits wichtig, konkrete Institutionen zu schaffen. Andererseits muss es möglich sein, die zugesicherten Rechte auch einzufordern. Bei reinen Zusicherungen zu bleiben, ist sehr gefährlich. Es braucht auch eine praktische Ebene und konkrete Regeln.

Sind denn im Verfassungsentwurf konkrete Institutionen vorgesehen?
Wir haben durchgebracht, dass es Umweltgerichte in allen Regionen des Landes geben wird. Bisher gab es nur drei. Allerdings war es bisher so: Wenn jemand deinen Fluss verseucht, hast du keinen Anspruch auf kostenlosen Rechtsbeistand, wenn du juristisch gegen die Verschmutzung vorgehen willst. Wir fanden, das verletzt viele Rechte. Außerdem wollen wir nicht, dass es von einer NGO abhängt, wer vor Gericht gehen kann, sondern dass der Staat dafür zuständig ist, die Natur und die Gemeinschaften zu verteidigen. Deswegen haben wir die öffentliche Ombudsstelle für Natur geschaffen, die diese rechtliche Vertretung gerichtlich und außergerichtlich kostenlos übernehmen wird.

Welche Bestimmungen enthält die Verfassung zum Thema Wasser?
Um das Thema Wasser haben wir uns besonders gekümmert. Wir haben ein Wasserstatut in der Verfassung verankert, in dem festgelegt ist, dass mit Wasser nicht gehandelt werden kann. Außerdem wird es Nutzungsrechte geben, die sowohl eine soziale als auch eine ökologische Funktion erfüllen müssen. Wir haben einen institutionellen Rahmen entwickelt, der für die Vergabe der Wassernutzungsrechte auf der Grundlage dieser Prinzipien verantwortlich sein wird. Dieser Rahmen sieht auch die Einrichtung von Räten für Wassereinzugsgebiete vor, bei denen es sich um gemeinschaftliche und partizipative Gremien handelt, die Entscheidungen über Wasser treffen. Außerdem wird das Trinkwasser in ländlichen Gebieten geschützt. Dort haben bisher die meisten Gemeinden kein fließendes Wasser und keine Abwassersysteme. Die neue Verfassung sieht hier die Gründung von Wassergenossenschaften vor.

Unter welchen Bedingungen haben Sie im Konvent an der Verfassung gearbeitet?
Es war ein schneller und selbstverwalteter Prozess, denn die Regierung hat uns keine Ausstattung zur Verfügung gestellt, nicht einmal einen Stift oder einen Schreibtisch. Wir hatten zum Beispiel einen Raum von etwa zwölf Quadratmetern für zwölf Teams, ohne Klimaanlage und Heizung. Die Delegierten konnten nirgendwo sitzen, keine Treffen abhalten. Es gab einige Gemeinschaftsräume, die reserviert werden konnten, aber die befanden sich weiter weg.

Am Anfang war viel davon die Rede, dass es eine Kinderbetreuung geben könnte. Daraus wurde aber nichts. Am Ende hat dieser Prozess gigantische persönliche Belastungen verursacht. Viele Delegierte erzählten, dass ihre Kinder an Depressionen leiden, weil sie ihre Mütter und Väter nie sahen – bis hin zu Suizidversuchen. Hinzu kam noch der Druck aus Medien und Politik und die fast tägliche Arbeit bis zwei Uhr morgens. Und wir sind direkt von der Pandemie in den Konvent gekommen: mit hoher Arbeitslast und der wenigen Unterstützung, die wir hatten. Das bedeutete viel Stress und viel Gewalt.

Gewalt?
Ja, während des Verfassungsprozesses habe ich viel Gewalt erlebt. In den sozialen Netzwerken bekam ich teilweise 300 Nachrichten am Tag, die mir Angst machen sollten. Vor ein paar Monaten erhielt ich eine schreckliche Morddrohung. Letztlich wollen sie, dass wir schweigen. Aber das tue ich nicht, im Gegenteil: Ich habe alles öffentlich gemacht.

Welche Strategien wendet der rechte Flügel derzeit an, um die Verabschiedung der neuen Verfassung zu verhindern?
Sie schüren überall Misstrauen und verbreiten Fake News. In den Straßen von Santiago hängen Plakate mit Slogans wie: “Die Verfassung ist eine Lüge”. Gestern hat der Senator Felipe Kast im Radio die schamlose Lüge verbreitet, dass die Verfassung eine Abtreibung bis zum neunten Monat erlauben wird. Das geht jeden Tag so. Es ist psychologische Kriegsführung.

Wie bereiten Sie sich auf das Referendum vor?
Wir setzen darauf, die Basis zu mobilisieren. Da wir in Lateinamerika die Dinge immer in letzter Minute erledigen (lacht), hoffen wir, dass es in den verbleibenden zwei Monaten eine große soziale Mobilisierung geben wird. Dabei zählen wir auf die bestehenden Netzwerke: die Bewegungen, Gewerkschaften und so weiter.

Es war schwierig, Wahlkampf zu machen, bevor der Verfassungstext fertig war. Wir konnten schlecht sagen: „Ja, es ist alles gut“, solange noch Abstimmungen ausstanden. Die Rechten dagegen sagen schon immer, dass alles an der neuen Verfassung schlecht ist. Und jetzt müssen wir auf die Straße gehen. Am wichtigsten ist natürlich Santiago, dort konzentrieren sich die meisten Stimmen. Ich lebe eigentlich in der ländlicheren Araucanía im Süden, aber während der Kampagne werde ich an beiden Orten sein. Um die ländlichen Gebiete zu erreichen, ist das Radio der beste Weg.

Glauben Sie, dass das Apruebo, also das „Ja“ zur Verfassung, gewinnen wird?
In Chile gibt es viele Menschen, die rechts sind. Historisch betrachtet lag das Wahlergebnis aber meist bei 60 zu 40 für die Linke. So war es beim Referendum über die Absetzung Pinochets und auch jetzt bei Borics Wahl. Wir setzen darauf, diese Menschen zu mobilisieren. Es gibt noch eine große Zahl von Unentschlossenen, und wir glauben, dass sie für die Verfassung stimmen werden, sobald sie wirklich wissen, was in ihr steht. Aber wir haben nur noch sehr wenig Zeit und wenig Geld.


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„DIE MENSCHEN SIND ENTTÄUSCHT VON CASTILLO“

Kupfermine in Peur (Foto: privat)

Aktuell befinden sich weiterhin viele Bergbau-Großprojekte in Planungsphasen. Welche sind die wichtigsten und welche Auswirkungen erwarten Sie?
Eines davon ist die Kupfermine Tía María in Arequipa, im Tal des Tamboflusses, ein fruchtbares Tal mit viel Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion. Viele Menschen dort leben von Zucht, Verkauf und Export von Zwiebeln und Knoblauch. Wenn dieses Projekt zustande kommt – und die Regierungen haben bisher darauf bestanden, obwohl sich die Bevölkerung seit mehr als zehn Jahren öffentlich gegen dieses Bergbauprojekt ausgesprochen hat – könnte diese Lebensgrundlage davon betroffen sein. Da es zwei riesige Tagebaugruben geben wird, denke ich, dass das gesamte Tal betroffen sein wird. Da es in Küstennähe liegt, wird es auch dort einige Ökosysteme und Naturgebiete beeinträchtigen.

Sie arbeiten auch zu Enteignungen von Gemeinden unter der Komplizenschaft des peruanischen Staates. Wie kann man sich das vorstellen?
Der Fall des Kupfertagebaus Toromocha im Departement Junín ist hierfür ein herausragendes Beispiel, denn er zeigt die Gefahr der Enteignung von Gemeindeländern durch die missbräuchliche Anwendung von Rechtsnormen. Im Jahr 2017 wurde vor dem Hintergund des El Niño-Phänomens ein Gesetz eingeführt. Artikel 49 dieses Gesetzes besagt, dass der Besitz von Immobilien nur in bewohnbaren Gebieten legal ist, und ermächtigt die Nationale Aufsichtsbehörde für Staatsvermögen (SNB), die Räumung der Bewohner in Risikozonen durchzuführen. In Morococha, einem vom Bergbauprojekt betroffenen Distrikt, wurde das Gesetz so ausgelegt, dass die Stadt Morococha in einer solchen Risikozone läge. Dort leben noch etwa 25 Familien, der Rest wurde bereits vor längerem umgesiedelt. Die SBN hat dann ein 34 Hektar großes Gelände an Activos Mineros überschrieben, einer staatliche Bergbaugesellschaft, die sich ausschließlich den Umwelt- und Bergbauverbindlichkeiten widmet. Kurioserweise gab Activos Mineros es dann sehr schnell an den chinesischen Investor Chinalco weiter, der die dortige Mine betreibt – am eigentlichen Eigentümer, der Gemeinde, vorbei. Das ist ein Einfallstor für die Enteignung weiterer Gebiete nach diesem Muster. In anderen Fällen wird auch mit niedrig angesetzten Kompensationsleistungen bei Landverkäufen gearbeitet.

Welche weiteren rechtlichen Mechanismen werden zur Durchsetzung der Bergbauinteressen eingesetzt?
Es gibt viele Fälle von líderes sociales und Umweltschützern, deren Aktivitäten von staatlicher Seite kriminalisiert werden. Das reicht von verschleppten Prozessen wegen vermeintlicher Verantwortung für Proteste bis hin zu Inhaftierungen ohne Rechtsgrundlage.

Während der Pandemie ist auch die Zahl der ermordeten Umweltschützer*innen in Lateinamerika gestiegen. Wie verhält sich das in Peru?
In letzter Zeit wurden auch in Peru vermehrt Umweltschützer ermordet, die meisten davon im Amazonasgebiet. Es gibt laut der nationalen Ombudsstelle mehr als 208 soziale Konflikte, zwei Drittel davon mit Umweltbezug, von denen 70 Prozent mit dem Bergbau zusammenhängen. Es sind zwar in der Vergangenheit bereits Menschen bei diesen Konflikten getötet worden, aber eher im Kontext von Protesten. Wenn es zum Beispiel Morde an Anführern in Bergbaukonflikten gäbe, wäre das meiner Meinung nach sehr gravierend. Es herrscht Angst. Viele líderes sociales fühlen sich bedroht und fordern Garantien zum Schutz ihrer Rechte ein. Bisher gab es diesbezüglich allerdings keine Fortschritte.

Welche Rolle spielen die staatlichen Sicherheitsorgane in den sozialen Konflikten?
Es gibt eine Regelung, die aus Vereinbarungen zwischen der Polizei und den Bergbauunternehmen hervorgegangen ist. Darin heißt es eindeutig, dass Polizisten zum Schutz des Eigentums von Bergbauunternehmen verpflichtet sind. Es wird ihnen zudem teilweise erlaubt, auch außerhalb ihrer Tätigkeit für die Polizei von den Unternehmen angestellt zu werden und deren Uniformen und Waffen zu benutzen. Sämtliche Gemeinden in den bestehenden sozialen Konflikten fordern daher, dass die Polizei im Dienst der Bevölkerung stehen und sie beschützen sollte. Wenn du zum Beispiel nach Cajamarca gehst, ist daher das erste, was sie fragen, ob die Polizei im Dienst der Unternehmen oder der Bevölkerung steht. Dasselbe anderswo. Die Leute wissen sehr genau, dass die Polizei da ist, um die Unternehmen zu unterstützen. Daher ist die Aufhebung der entsprechenden Vereinbarungen ein zentraler Aspekt der Forderungen.

Was sind weitere Aspekte, die sich ändern müssen?
Eine zentrale Forderung von uns bei Red Muqui ist, dass die verfassungsgemäßen Rechte geachtet werden, das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit. Das impliziert auch, dass etwas gegen das von den Minenbetreibern mit Schwermetallen und Arsen kontaminierte Wasser getan wird, das die Bevölkerung trinkt. In den betroffenen Gebieten wachsen Kinder teils mit Blei im Blut auf. Wie man in der Pandemie gesehen hat, ist die Antwort des Staates auf gesundheitliche Ausnahmesituationen absolut unzureichend. Zudem ist es wichtig, dass das Recht auf Information ermöglicht wird. Die betroffene Bevölkerung hat oft kein Internet und wenig Zugang zu Informationen über die konkreten oder geschätzten Folgen des Bergbaus. Die Studien zu seinen Umweltfolgen werden zudem häufig nachträglich abgeändert, etwa im Falle Las Bambas (Anm. d. Red: einer der größten Kupfertagebaue der Welt in der Region Apurímac). Es gibt diesbezüglich keine gut aufgestellten staatlichen Stellen, die Kontrollsysteme sind sehr schwach. In Peru ist die Umweltverschmutzung zu billig. Wir liegen in dieser Hinsicht weit hinter Chile, wo man über ausgereiftere Überwachungssysteme verfügt. Auch die Bergbausteuern sind hier niedrig, das ist für Investoren attraktiv. Sie wollen, dass es schnell geht, und kümmern sich nicht um die Belange der Bevölkerung und mittel- bis langfristige Umweltfolgen. Die Gemeinden selbst kümmern sich mit selbst eingesetzten Umweltkomitees um das Monitoring des Wassers und die Überwachung ihrer Territorien. Es ist für sie daher wichtig, dass der peruanische Staat das anerkennt, und dass sie von der OEFA (Anm. d. Red.: Agentur für Umweltkontrolle) unterstützt werden, sobald ihnen etwas auffällt.

Der 2021 neu gewählte Präsident Pedro Castillo hatte vor allem im Corredor Minero del Sur in einigen Gemeinden bis zu 90 Prozent der Bevölkerung hinter sich. In seinem Wahlkampf hatte er vorgeschlagen, den Bergbau zu verstaatlichen. Wie hat sich die Bergbaupolitik in den ersten Monaten der Regierung Castillo gestaltet?
Castillos Wahlkampf stand ganz im Zeichen der Verteidigung der Rechte der Bevölkerung. Viele Menschen haben sich mit ihm identifiziert, weil er aus den bäuerlichen Selbstorganisationen der rondas campesinas kommt und vom Land ist. Es gab diese Hoffnung, dass er einer von ihnen ist und sie verteidigen wird. Es hat sich allerdings gezeigt, dass er ein weiterer Vertreter des extraktivistischen Wettbewerbsmodells ist. Denn am Projektportfolio der Regierung für 2022 ist deutlich zu sehen, dass es sich um eine Kontinuität der Politik der vorherigen Regierungen handelt. Die Menschen sind ein bisschen enttäuscht, auch die von Castillo angekündigte zweite Agrarreform hat nicht viele substanzielle Änderungen herbeigeführt. Weder ist die Vergabe von Landrechten an die Gemeinden abgeschlossen noch die Festlegung der Territorien, in denen Bergbau betrieben oder nicht betrieben werden kann. Der Schutz der Flussoberläufe steht ebenfalls nicht auf der Tagesordnung. Immerhin tötet die Regierung niemanden in den sozialen Konflikten. Das wäre bei einer Regierung unter Keiko Fujimori katastrophal gewesen, da hätte es sicherlich mehr Repression und Tote gegeben. Die ehemalige Premierministerin Mirtha Vázquez oder auch der damalige Wirtschaftsminister Pedro Francke (Anm. d. Red.: beide wurden von Pedro Castillo ernannt) haben wohl versucht, einige Änderungen im Sinne der Bevölkerung vorzunehmen, aber ich denke, dass Castillos Gefolge ihnen die Arbeit erschwert hat. Trotz des Ansturms der Rechten, ihre eigene Agenda durchzusetzen, indem sie Medien nutzen und jeden Tag die Amtsenthebung Castillos fordern, besteht in der Bevölkerung noch Hoffnung. Die Menschen befinden sich allerdings in einer Schwebesituation: Was hat man davon, Castillo zu unterstützen? Aber wenn man es nicht tut, leistet man der Rechten und der Forcierung des extraktiven Modells Vorschub.

Welche Mittel stehen der Bevölkerung in dieser Situation zur Verfügung?
Zunächst einmal können die Organisationen auf regionaler Ebene durch die rondas campesinas und die Gemeinden weiter gestärkt werden. Auf der anderen Seite stehen wir mit den Regional- und Kommunalwahlen im November vor dem Problem, dass es für die Teilnahme hohe Hürden gibt, die lokale Parteien benachteiligen. Daher herrscht heute eine gewisse Unzufriedenheit in der Bevölkerung und es besteht die Gefahr, dass diejenigen gewählt werden, die sie nicht vertreten. Aufgrund dieser Umstände denke ich, dass man auch eine internationale Agenda verfolgen und auf die Ratifizierung des Abkommens von Escazú (Anm. d. Red.: internationales Abkommen zur Umsetzung von Umweltstandards und Informationsrechten sowie Schutz von Umweltschützer*innen) durch den peruanischen Kongress drängen müsste.

Was würde sich durch eine Ratifizierung ändern?
Es gibt internationale Gremien, zu denen man dann Zugang hätte, um das Wasser, das Territorium der indigenen Völker, vor allem die in Peru besonders gefährdeten Menschen- und Umweltrechte zu schützen. Die Parteien und der Kongress lehnen das bisher ab, denn sie sehen vor allem ihr Geschäft gefährdet. In Peru gibt es eine Menge Lobbyarbeit. Die Regierung Castillos hat die Ratifizierung zwar selbst vorgeschlagen, aber sie braucht eine Parlamentsmehrheit, was sehr schwierig wird.


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UMWELTRASSISMUS UND KLIMAKRISE

(Foto: Christian Russau)

Was ist Umweltrassismus? In Deutschland ist der Begriff nicht sehr geläufig, was können wir uns darunter vorstellen?
Thaís Santos: Ein Beispiel ist der Bezirk Perus am nordöstlichen Stadtrand von São Paulo. Dreißig Jahre lang wurde die Hälfte des gesamten Mülls aus São Paulo dorthin transportiert. Außerdem gibt es in Perus eine Zementfabrik, die massive Atemwegserkrankungen bei der Bevölkerung verursacht, die überwiegend Schwarz ist. Mülldeponien, die Entsorgung von gefährlichen Substanzen in unseren Flüssen, fehlende Abwasserentsorgung und Wasserknappheit – all dies ist Umweltrassismus, denn es passiert dort, wo die Schwarze Bevölkerung lebt. In São Paulo ist die Mordrate durch Polizeigewalt sehr hoch, aber die Folgen fehlender staatlicher Politik führen ebenfalls zu hoher Sterblichkeit. Wenn man nicht mit der Kugel tötet, dann eben mit dieser Nekropolitik, die sich als sehr effektiv erwiesen hat.

Eliete Paraguassu: Ich komme aus der Gemeinde Boca do Rio in der Region des Hafens von Aratu. Die Gemeinde ist jahrhundertealt, den Hafen gibt es erst seit den sechziger Jahren. Jetzt wurden seitens der Hafenbetreiber fünf Hektar Mangrovensumpf gerodet, der nicht nur die Bucht von Aratu ernährte, sondern die gesamte Meeresbucht Bahia de Todos os Santos, alle Gemeinden, die vom Fischfang leben. Die verantwortliche Firma heißt Bahia Terminais. Sie setzen Sprengstoff ein, um den Hafen so zu erweitern, dass dort große Schiffe entladen werden können. Der Hafen von Aratu wird immer noch ohne Umweltgenehmigung betrieben und ist unserer Meinung nach für die Belastung der Bucht mit Schwermetallen verantwortlich, zum Beispiel in der Gemeinde Santo Amaro. Umweltrassismus folgt einem Modell des Genozids.

Wie erleben Sie als Aktivistinnen, die sich vor allem mit den Themen Umweltschutz und Rassismus auseinandersetzen, aktuell Brasilien?
Eliete Paraguassu: Brasilien kriminalisiert die sozialen Bewegungen und traditionellen Gemeinschaften. Denn das politische Projekt der Regierung ist eines des Hungerns und des Sterbens der traditionellen Gemeinschaften, wie die der traditionellen Fischer, der Quilombolas, Indigenen und von Gemeinden in den Randgebieten der großen Städte. “Brasilien – ein Land für alle“ lautet der Slogan der Regierung. In Wirklichkeit ist es ein Land, das nur für das Kapital sorgt, nicht für die Menschen.

Ist das eine neue Entwicklung?
Thaís Santos: Die Schwarze Bewegung hat sich immer im Kampf befunden – sei es für unsere Territorien oder gegen die Verletzung von Menschenrechten. Während der Regierungszeit von Lula wurde einiges an Politik der öffentlichen Hand für die Schwarze Bevölkerung umgesetzt, aber im Vergleich zu dem, was uns historisch entgangen ist, war das immer noch sehr wenig. Und es wurde uns nicht geschenkt, sondern von der Schwarzen Bewegung erstritten.

Wieso verdient der Umweltrassismus in Brasilien besondere Aufmerksamkeit?
Thaís Santos: Die Klimakrise ist in ihrem Kern eine humanitäre Krise. Der Umweltrassismus ist ein Teil des strukturellen Rassismus in Brasilien. Man darf die Hauptpersonen der Klimakrise, nämlich diejenigen, die verletzlich gemacht werden und die unter den Folgen des Klimawandels leiden, bei den Lösungen nicht außen vor lassen.

Sie waren zuletzt in Schottland, Frankreich, Spanien und Deutschland unterwegs. Welche Anliegen haben Sie im Gepäck?
Eliete Paraguassu: Mit unserer Reise durch Europa möchten wir vermitteln, dass wir Unterstützung brauchen, um Brasilien international anzuklagen. Es ist ein Land der Schwarzen, sein politisches Projekt besteht aber darin, uns sterben zu lassen oder zu ermorden. Und internationale Firmen haben sehr dazu beigetragen. Wir reisen durch Europa, um das Netzwerk gegen Umweltrassismus und für soziale Umweltgerechtigkeit zu erweitern. Es gibt diesen Trugschluss, dass Brasilien sich im Dialog mit den traditionellen Gemeinschaften befindet. Aber das stimmt nicht.

Welche sind die nächsten Schritte für mehr Umweltgerechtigkeit in Brasilien?
Thaís Santos: Wir brauchen eine Vertretung im Parlament und im Senat, unsere Leute müssen an den Verhandlungstischen sitzen können, damit Umweltrassismus in den Mittelpunkt der Diskussion rückt. Wir brauchen keine Fürsprecher. Wir können für uns selbst sprechen. Wir bilden uns, wenn akademisches Wissen das ist, was sie fordern. Es gibt unzählige Schwarze Menschen, die dafür ausgebildet sind, um an den Diskussionen teilzunehmen. Aber es geht nicht so weiter, dass Umweltrassismus auf Weinerlichkeit reduziert wird, so wie das die brasilianische Regierung tut.


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FREIHANDEL VERSCHÄRFT WALDZERSTÖRUNG

Bedroht aber ungeschützt Die EU-Gesetzesinitiative zum Schutz der Wälder gilt nicht für Savannen wie im Cerrado (Foto: Living Gaia e.V.)

Handelsliberalisierung, wie die Europäische Union sie in ihren Handelsabkommen vorantreibt, ist eine der wesentlichen Ursachen der weltweiten Entwaldung und des Verlustes von Biodiversität. Etwa 21 bis 37 Prozent der weltweiten Entwaldung sind auf den globalen Handel zurückzuführen, wie 2018 in einem Artikel der Nature Geoscience festgehalten wurde. Das Aussterben bedrohter Arten ist in Ländern des Globalen Südens zu 35 bis 60 Prozent der Exportproduktion geschuldet. Dieser Zusammenhang zwischen Handel, Entwaldung und Artensterben ist bei Befürworter*innen des sogenannten Freihandels auch durchaus bekannt. So stellte die Welthandelsorganisation (WTO) bereits 2010 in einer Zusammenfassung des damaligen Wissensstandes fest, dass steigende lokale Preise für Agrarprodukte der wesentliche Treiber von Entwaldung sind.

Handelsabkommen, die die EU mit Ländern des globalen Südens abschließt, bieten diesen in der Regel im Austausch für Marktöffnungen die Möglichkeit, ihre Agrarexporte in die EU zu steigern. Das lokale Angebot nimmt dadurch ab, was die lokalen Preise in die Höhe treibt, was wiederum ein Anreiz für die Ausweitung der Produktion ist. In der Folge werden mehr Wälder in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt. Für diesen Mechanismus ist das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay ein gutes Beispiel. Fast 20 Jahre verhandelt, wurde Mitte 2019 ein umfassendes Assoziationsabkommen zur größten Freihandelszone der Welt zwischen der EU und dem Mercosur bekanntgegeben. Das Abkommen ist noch nicht in Kraft getreten, da es noch vom Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Es wird von vielen Seiten in der Politik kritisiert, ebenso von Lobbygruppen wie von einem breiten Bündnis von Nichtregierungsorganisationen. Es sieht vor, dass die EU ihren Agrarsektor für den Mercosur zu 82 Prozent sofort öffnet, sprich ihre Zölle dort auf Null senkt. Einige kritische Produkte erhalten erhöhte Importkontingente mit niedrigeren Zöllen. So sollen die Quoten für Rindfleisch um 99.000 Tonnen, auf Bioethanol sogar um 650.000 Tonnen erhöht werden.

Die Bilder des brennenden Amazonas-Regenwaldes gingen um die Welt

Sowohl das für Bioethanol verwendete Zuckerrohr als auch die Rindfleischproduktion sind wesentliche Treiber von Entwaldung und Landvertreibung im Mercosur. Die erhöhten Exportquoten werden die Produktion steigern und zu weiteren Expansionen des Landwirtschaftssektors führen, was den Druck auf indigene Gemeinschaften und Wälder erhöhen wird. Eine von der französischen Regierung eingesetzte Kommission zum EU-Mercosur-Vertrag geht davon aus, dass allein die Erhöhung der Rindfleischquoten zusätzliche 3,6 Millionen Hektar Weideflächen erforderlich machen würde und das Tempo der Entwaldung um 25 Prozent beschleunigen könnte.

In Europa würden vom EU-Mercosur-Abkommen vor allem industrielle Sektoren profitieren, etwa die chemische Industrie. Pestizide gehören, wie Flugzeuge, Autos und Autoteile, Öle und Medizinprodukte zu den wichtigsten Produkten, die die EU in den Mercosur exportiert. Der Handel mit Pestiziden zwischen den beiden Regionen ist bereits jetzt hoch problematisch: Während viele Pestizide in der EU wegen ihrer Gefahr für Mensch und Umwelt überhaupt nicht zugelassen sind, profitieren Konzerne in Europa von der Möglichkeit, diese problemlos in den Mercosur zu exportieren.

Wegfallende Zölle auf Industrieprodukte würden den Wettbewerb weiter zugunsten europäischer Industriekonzerne verschieben und der Industrie im Mercosur stark zusetzen. Alleine in Argentinien würden einer Studie der Metropolitana Universität Buenos Aires zufolge 186.000 Arbeitsplätze im Industriesektor verloren gehen. Die Länder des Mercosurs wären dann noch abhängiger von Agrar- und Rohstoffexporten – zwei Sektoren, die in engem Zusammenhang mit massiven Umwelt-, Klima- und Menschenrechtsproblemen stehen.

Als einer der wesentlichen Importeure von Agrarprodukten aus dem Mercosur trägt die EU bereits heute eine enorme Verantwortung für die Entwaldung im Amazonasbecken, in den Trockenwaldregionen und Savannen des Gran Chaco in Argentinien und Paraguay oder des Cerrado im Nordosten Brasiliens sowie Feuchtgebieten wie dem brasilianischen Pantanal. Das Abkommen würde diese Zerstörung weiter befeuern.

Entsprechend groß war die Kritik seitens der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit im Sommer 2019, als die Bilder des brennenden Amazonas-Regenwaldes um die Welt gingen, während praktisch zeitgleich der Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens verkündet wurde. Bald stimmten einige EU-Mitgliedsstaaten in die Kritik ein und sprachen sich teils entschieden gegen das Abkommen aus, darunter Frankreich, Irland, Österreich, das wallonische Parlament in Belgien und die Niederlande. Hinzu kam das Europäische Parlament, das sich im Oktober 2020 in einem Bericht über die Handelspolitik der EU gegen die Ratifizierung des Abkommens in seiner jetzigen Form ausgesprochen hat. Auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP ist jetzt zu lesen, dass das Abkommen vor seiner Ratifizierung noch nachgebessert werden müsse.

Als potenzielle Lösung für die Probleme des Handelsvertrags wurde früh die Idee von entwaldungsfreien Lieferketten ins Spiel gebracht. „Das wäre ein wichtiger Quantensprung“, sagte etwa der damalige Entwicklungsminister Gerd Müller bereits im Juni 2020 im Deutschlandfunk. Auch EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis verwies immer wieder auf eine kommende entsprechende EU-Gesetzesinitiative.

Die Gesetzesinitiative der Europäischen Kommission zu entwaldungsfreien Produkten, die jetzt am 17. November veröffentlicht wurde, geht weit über einen einzelnen Handelsvertrag hinaus. Die Generaldirektion Umwelt der Kommission, die den Vorschlag federführend vorangebracht hat, möchte damit den Einfluss Europas auf die globale Entwaldung minimieren. Dazu soll die Regulierung Unternehmen in die Pflicht nehmen, sicherzustellen, dass importierte Produkte nicht von Flächen stammen, die nach dem 31.12.2021 gerodet wurden.

Je höher die Entwaldungsrate eines Landes ist, desto ausführlicher sind die Sorgfaltspflichten, die Unternehmen wahrnehmen müssen. Erfüllen sie diese nicht, drohen ihnen Strafen. Dies wurde vielfach positiv aufgenommen, schließlich wurde Unternehmen zuvor jahrzehntelang dabei vertraut, entwaldungsfreie Lieferketten freiwillig sicherzustellen. Dagegen ist eine unternehmerische Verpflichtung ein Fortschritt.

Immer mehr Wälder werden in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt

Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen geht der Vorschlag jedoch nicht weit genug: Sie bezweifeln, dass das Gesetz in seiner jetzigen Fassung überhaupt zu einer Verminderung der globalen Entwaldung und Landvertreibung beitragen kann. Auch ob die Gesetzgebung die zusätzliche Entwaldung durch das EU-Mercosur- Abkommen verhindern könnte, scheint fraglich. Denn der Vorschlag umfasst zunächst nicht alle Ökosysteme, die von der Ausbreitung des Agrarsektors im Mercosur betroffen sind. Stattdessen wird unter Artikel 2 des Gesetzesvorschlags der zu schützende Wald zu eng definiert als: „0,5 Hektar Land oder mehr, auf dem mindestens fünf Meter hohe Bäume stehen, mit einem Laubdach von mehr als zehn Prozent“. Viele artenreiche und klimarelevante Regionen, die von Entwaldung betroffen sind, fallen nicht unter diese Definition. In jedem Fall gehören weite Teile des Gran Chaco oder des Cerrado nicht dazu. Dabei findet aktuell die stärkste Ausbreitung des Zuckerrohranbaus im Cerrado statt und der Sojaanbau frisst sich immer tiefer in den Gran Chaco. Auch Feuchtgebiete, wie der brasilianische Pantanal, sind ausgenommen. In der Folge würde also eine Verlagerung des Entwaldungsproblems drohen. Anstatt die Entwaldung wirklich aufzuhalten, würde das Gesetz dazu führen, dass statt des Amazonas nun Savannen und Feuchtgebieten für Exporte nach Europa zugesetzt würde.

Darüber hinaus enthält der Vorschlag bisher keinerlei internationale Menschenrechtsstandards zum Schutz indigener Gemeinschaften vor Landvertreibung. Der Entwurf sieht lediglich vor, dass die Achtung nationaler Gesetzgebungen verpflichtend ist. Gefährlich ist das insbesondere angesichts des fortwährenden Abbaus nationaler Gesetze in Brasilien. Landrechte und Entwaldung sind eng miteinander verbunden und die Zerstörung des Waldes geht im Mercosur wie auch in anderen Regionen oft mit der Verletzung von Landrechten einher. Ein wirklich wirksamer Schritt gegen Entwaldung wäre deshalb, Landrechte nach internationalen Menschenrechtsstandards zu schützen, statt sich auf teils bewusst abgeschwächte nationale Gesetzgebungen zu verlassen.

Wird ein Gesetzesvorschlag wie der der Europäischen Kommission als Lösung für die Entwaldungsprobleme von Handelsabkommen diskutiert, treten die strukturellen Probleme dieser Abkommen in den Hintergrund. So sind etwa die höhere Abhängigkeit von Rohstoff- und Agrarexporten kein versehentlicher Nebeneffekt, sondern ein gewünschtes Resultat vom Freihandel: Das größte Wachstumspotenzial haben Länder des Globalen Südens demnach im Agrar- und Rohstoffbereich – und sollen das auch ausschöpfen. Mehr Wachstum im Agrarsektor wird allerdings auch der Entwaldung Vorschub leisten. Deshalb droht auch hier eine Verlagerung der Entwaldung, anstatt diese wirklich zu stoppen. Selbst wenn nach 2021 entwaldete Flächen nicht mehr für den Export nach Europa genutzt würden, so könnten diese immer noch den heimischen Bedarf oder andere Exportmärkte bedienen.

Die EU-Gesetzesinitiative für entwaldungsfreie Produkte ist sicherlich zu begrüßen. Wenn das Gesetz Entwaldung allerdings nicht nur verlagern, sondern wirklich minimieren soll, dann muss nachgebessert werden. Möglichkeit dazu bestünde etwa, wenn der Entwurf im ersten Quartal 2022 im EU-Parlament diskutiert wird. Einige Mitglieder des Parlaments haben bereits signalisiert, dass sie dies ebenfalls für notwendig halten. Die strukturellen Probleme von Freihandelsabkommen wird ein solches Gesetz allerdings nicht beheben können.


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IM SCHATTEN DES AMAZONAS

Methanproduzenten Immer mehr Fläche des Chaco wird für Viehzucht genutzt (Foto: Peer V via wikipedia.org, (CC BY-SA 3.0)

Die Flut an Schreckensmeldungen über Umweltzerstörungen im Amazonasgebiet reißt nicht ab. Auch in den großen Medien finden sich immer mehr Berichte und Reportagen über die katastrophalen Auswirkungen der Umweltpolitik der brasilianischen Regierung von Präsident Jair Bolsonaro auf das größte Regenwaldgebiet der Erde.

Angesichts dieser Medienfülle gerät das zweitgrößte Biom des südamerikanischen Kontinents meist aus dem Blick. Doch auch im Chaco-Trockenwald, der sich von Südostbolivien über Westparaguay nach Nordargentinien erstreckt, veränderte sich in den vergangenen Jahren die Landnutzung immer schneller – mit dramatischen Folgen für die indigene Bevölkerung und die Umwelt.

Der größte Teil des Chaco liegt im westlichen Teil Paraguays. Über 60 Prozent des Staatsgebietes fällt auf diesen Naturraum, allerdings lebt weniger als zehn Prozent der paraguayischen Bevölkerung westlich des Paraguay-Flusses.

Ende des 19. Jahrhundert begannen multinationale Unternehmen – meist von Argentinien aus operierend – riesige Mengen Staatsland im Chaco vom verarmten paraguayischen Staat aufzukaufen. Für die damaligen Transaktionen sind zahlreiche Gesetzesverstöße und Korruptionsfälle belegt. Das wichtigste dieser Unternehmen, Carlos Casado S. A., kaufte über 56.000 Quadratkilometer Staatsland im Chaco, was ungefähr der Fläche Kroatiens entspricht.
Auf den teils gigantischen Ländereien gewannen diese Unternehmen Gerbstoffe aus dem Holz des Quebracho-Baumes für die Lederverarbeitung und betrieben – wo es die Vegetation zuließ – Viehzucht. Dabei kam es zu massiven Menschenrechtsverletzungen an der indigenen Bevölkerung, aber auch an den Arbeiter*innen, die das Holz schlugen oder in den Fabriken arbeiteten.

Eine Kohlenstoffsenke wird zur Quelle für Treibhausgase

Doch der weitaus größte Teil des Chaco galt weiterhin als wirtschaftlich nicht nutzbar und wertlos: Die dornige und dichte Vegetation verhinderte die unbegrenzte Erschließung für den Weltmarkt. Die landwirtschaftliche Nutzung beschränkte sich auf die sogenannten cañones – so werden die Abflussrinnen in der flachen Ebene genannt, in denen der dichte Waldbewuchs von einer savannenartigen Vegetation unterbrochen wird.

So blieb der Chaco eine periphere Region, die kaum in den Weltmarkt integriert war. Genau diese Isolation bot einer Vielzahl indigener Gruppen die Möglichkeit, ihre Lebensweise und relative Autonomie behaupten zu können. Keine andere Region im südlichen Südamerika weist deshalb eine so große ethnische Diversität auf wie der Chaco. Im nördlichen Teil des Gebiets, das mit etwas weniger als 300.000 Quadratkilometern ungefähr so groß wie Italien ist, leben einige indigenen Gruppen der Ayoreo Totobiegosode bis heute in freiwilliger Isolation und ohne jeden Kontakt zur Außenwelt.

Doch seit den 1970er Jahren haben sich die technischen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Inwertsetzung des Chaco radikal verändert. Dornenwälder, die zuvor wie unüberwindbare Barrieren für die Rodung schienen, konnten von neu eingeführten schweren Bulldozern mühelos weggeschoben werden. Dazu kommt, dass die Fläche, die der Viehwirtschaft im Osten Parguays zur Verfügung stand, durch den Boom von – meist genmanipuliertem Soja- sank. Neue Flächen fanden die Unternehmen im Chaco.

Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends nimmt die Zerstörung des artenreichen und an die harten klimatischen Bedingungen angepassten Trockenwaldes im Chaco massiv zu. In den Jahren 2000 bis 2012 waren es die höchsten Entwaldungsraten für tropische Wälder auf der ganzen Erde. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten drohen auszusterben.

Die Erschließung des Chaco für die Landwirtschaft hat aber auch globale Auswirkungen auf den Klimawandel: Durch die Rodung wird in der Vegetation gebundener Kohlenstoff in die Atmosphäre freigesetzt. Die Rinder, die danach auf den Flächen weiden, stoßen große Mengen Methan aus. Durch die Veränderung der Landnutzung wird eine riesige Kohlenstoffsenke in eine Quelle für Treibhausgase umgewandelt.

Dramatischer sind allerdings die Folgen für die unmittelbar Betroffenen: die indigene Bevölkerung des Chaco. Durch die zunehmende Landnutzung durch die Viehwirtschaft verlieren sie Territorium, dass sie für ihren Lebensunterhalt benötigen.

Insbesondere die Ayoreo Totobiegosode geraten dadurch unter Druck. Für ihre nomadische Lebensweise, die auf der Jagd und ganz besonders auf dem Sammeln von Wildhonig basiert, benötigen sie große Flächen. Doch da sie in freiwilliger Isolation leben und nichts von Gesetzen und Umweltbehörden mitbekommen, können sie sich nicht effektiv wehren, wenn Bulldozer in ihr Land eindringen und es zerstören. Die einzige Möglichkeit, die ihnen bleibt, ist zu fliehen.

In den vergangenen Monaten hat sich die Situation für die Ayoreo Totobiegosode enorm zugespitzt. Das Gebiet, in dem ihre kleinen Gruppen umherziehen, ist durch Rodungen enorm verkleinert worden. Ringsum sehen sie sich von expandierenden Rinderfarmen eingekesselt.

Doch nicht nur die Ayoreo Totobiegosode sind von der zunehmenden wirtschaftlichen Erschließung des Chaco negativ betroffen. Auch wenn andere indigene Gruppen des Chaco, wie etwa die Quom oder die Angaité, zum Teil seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlich engen Kontakt mit der paraguayischen Mehrheitsgesellschaft stehen, spielen für sie die Jagd und das Sammeln von Pflanzen, Früchten und Honig aus dem Trockenwald weiterhin eine große wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung. Diese Aktivitäten werden durch die jüngere Entwicklung zunehmend eingeschränkt.

Das Gebiet der Ayoreo Totobiegosode wurde enorm verkleinert

Dies widerspricht eigentlich der paraguayischen Verfassung. Im Artikel 64 heißt es: „Die indigenen Völker haben das Recht auf den gemeinschaftlichen Besitz ihres Landes, im ausreichenden Ausmaß und der Qualität, um ihre eigene Lebensweise zu bewahren und zu entwickeln.“ Die Frage, die vielen Landkonflikten mit Indigenen zugrunde liegt, lautet: Wie viel Land ist dafür ausreichend?

Der Anthropologe Marcos Glauser hat intensiv zu dieser Frage geforscht und sich dabei auf die indigenen Angaité konzentriert. Er unterscheidet zwischen „Indigenem Land“ und „Indigenen Territorium“: Den ersten Begriff bezieht er auf die Ländereien, die bestimmten indigenen Gruppen unmittelbar gehören und die auch vom paraguayischen Staat anerkannt sind. Den zweiten Begriff bezieht er auf die Gesamtheit des Terri-*toriums, das die Indigenen nutzen: für die Jagd, das Sammeln und für bestimmte Rituale. Das legal anerkannte Land der Angaité ist dabei etwa 22.000 Hektar groß, das von ihnen genutzte indigene Territorium dagegen über 209.000 Hektar.

Dass es Überschneidungen zwischen Rinderfarmen und dem indigenen Territorium gab, spielte für die Angaité lange keine Rolle: In ihrer Weltanschauung teilen sie sich ohnehin den Raum mit einer Vielzahl von nichtmenschlichen Entitäten – Tieren, Pflanzen und Geistern. Und auch viele Rinderfarmer*innen – deren Aktivitäten sich ja historisch auf die weniger dicht bewachsenen Teile des Waldes beschränkten – störten sich lange nicht übermäßig daran, dass gelegentlich indigene Gruppen durch ihren Besitz zogen.

Dies hat sich mit der Aufheizung des Immobilienmarktes und der Veränderung der Landnutzung massiv gewandelt. Dort, wo der Wald gerodet wurde, sind die Sammel- und Jagdaktivitäten der Angaité nicht mehr möglich und selbst dort, wo der Wald noch intakt ist, wird ihnen zunehmend der Zugang verwehrt.

Deutsche Entwicklungshilfe an der Einschränkung indigener Rechte beteiligt?

Der paraguayischen Verfassung zufolge benötigen die Unternehmen für derartige Rodungen eine Studie über die Umweltfolgen (Relatório de Impacto Ambiental – RIMA) und eine Erlaubnis durch das Umweltsekretariat SEAM. Diese müssen auch eventuell betroffene indigene Rechte auf die Landnutzung berücksichtigen. Doch Analysen zeigen, dass in den RIMA die Auswirkungen auf das weitergehende indigene Territorium völlig vernachlässigt werden. Für das indigene Territorium La Patria der Angaité hat der Anthropologe Glauser die RIMA der benachbarten Farmen der letzten zehn Jahre analysiert. In kaum einer wurden indigene Rechte auch nur erwähnt. In den Gesetzen erkennt der paraguayische Staat indigene Rechte an, so Glauser, de facto erkennen die Rechte aber nur die Interessen der Viehfarmer an.

Mutmaßlich an dieser Entwicklung beteiligt ist eine deutsche Entwicklungsbank. Die Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH DEG, eine hundertprozentige Tochter der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau KfW, hält derzeit etwa 15 Prozent der Anteile an dem luxemburgischen Unternehmen Paraguay Agricultural Corporation PAYCO, das unter anderem eine Farm besaß, die unmittelbar an das Angaité-Territorium „La Patria“ angrenzt. War die deutsche Entwicklungshilfe an der Einschränkung indigener Rechte in Paraguay beteiligt?

Genaues könne man nicht sagen, erklärt Philipp Mimkes der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland e. V. Seit mehreren Jahren verfolgt die Organisation die Investitionen der DEG in PAYCO kritisch. Mehrere Anfragen habe FIAN bereits gestellt, doch detailliertere Informationen seien von der DEG nicht zu erhalten. Auch auf Anfrage von LN, was die DEG unternehme, um die Auswirkungen der Geschäfte der PAYCO auf Indigene und die Umwelt zu kontrollieren, antwortet eine Sprecherin der DEG: „Als Kreditinstitut ist die DEG nicht berechtigt, ohne Einwilligung des jeweiligen Kunden interne Informationen, die sie im Rahmen ihrer Geschäftsbeziehung mit diesen erlangt hat, an Dritte weiterzugeben.“

Diese Haltung sei völlig unangemessen, findet Philipp Mimkes: „Über die Bundesrepublik Deutschland sind wir als Bürger*innen praktisch Mitbesitzer*innen von PAYCO und damit haben wir auch eine Verantwortung für die menschenrechtlichen Probleme vor Ort“, erklärt er gegenüber LN und fügt hinzu: „Die Menschenrechte machen vor Staatsgrenzen keinen Halt und die KfW-Bankengruppe hat diese auch extraterritorial zu wahren.“ Was FIAN über die Aktivitäten von PAYCO wisse, habe die internationale Organisation über die Recherche paraguayischer Mitarbeiter*innen erfahren.

„Die DEG verpflichtet von ihr finanzierte Unternehmen vertraglich zur Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialstandards und begleitet sie aktiv bei der Umsetzung. Das gilt auch für PAYCO“, erklärt eine Sprecherin der DEG gegenüber LN. Zudem sehe das Umwelt- und Sozial Managementsystem von PAYCO auch vor, dass „für neue Plantagen Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudien im Einklang mit lokaler Gesetzgebung und internationalen E+S-Standards (IFC Performance Standards) erstellt werden“, so die DEG Sprecherin.

Angesichts der Parteilichkeit der paraguayischen Institutionen zugunsten der Agrarindustrie ist aber fraglich, ob diese Umwelt- und Sozialverträglichkeitsstudien nur auf dem Papier, oder auch in der Realität internationalen Mindeststandards entspricht. Überprüfen kann dies die Öffentlichkeit nicht, solange sensible Daten unter dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse zurückgehalten werden. Dies wäre aber durchaus wichtig, schließlich besitzt PAYCO 1.460 Quadratkilometer Farmland (etwa die Größe des Bodensees) überall in Paraguay und wiederholt wurden auf PAYCO-Farmen Entwaldung und Landkonflikte mit Indigenen dokumentiert, wie FIAN Deutschland in einer Erklärung schreibt. Um doch mehr über die Aktivitäten der PAYCO herauszubekommen, hat FIAN Deutschland gemeinsam mit dem Europäisches Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) am 21. Juni vor dem Verwaltungsgericht Köln eine Auskunftsklage gegen die KfW-Bankengruppe bezüglich der PAYCO-Investitionen angestrengt. „Die Projekte von KfW und DEG sind an die Ziele der deutschen Entwicklungspolitik gebunden. Eine Kontrolle durch Abgeordnete, Medien und kritische Öffentlichkeit ist jedoch nur möglich, wenn diese die notwendigen Informationen erhalten”, so Philipp Mimkes zur Klage.

Dann ließe sich auch überprüfen, ob die DEG über PAYCO auch an Rodungen beteiligt ist, die das Territorium der in freiwilliger Isolation lebenden Ayoreo Totobiegosode beteiligt ist. Mit den Farmen „Timboty“ und „Carandayty“ liegen zumindest drei ihrer Farmen potenziell im Einzugsgebiet der Ayoreo Totobiegosode. Genaueres kann man jedoch nicht sagen, ehe die DEG der Öffentlichkeit Zugang zu den Informationen gewährt.


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SEIT 18 JAHREN „NEIN“ ZUR MINE

„Das Wasser bleibt unverkäuflich“ Klare Ansage an die megaminería in Chubut (Foto: Nicolás Palacios, Luan – Colectiva de Acción Fotográfica

Zwei Tage nachdem die Legislaturperiode des Parlaments von Chubut eröffnet wurde, sollte in einer außerordentlichen Sitzung am 4. März über den Gesetzesentwurf entschieden werden. Doch bereits in den frühen Morgenstunden blockierten die Bergbau-Gegner*innen in Esquel an der Kordillere und den größeren Küstenstädten Puerto Madryn und Trelew wichtige Straßen, unter anderem die viel befahrenen Ruta 3, die eine essenzielle LKW-Route zwischen Buenos Aires und Feuerland darstellt. Daraufhin wurde die Parlamentssitzung unterbrochen und die Entscheidung zum wiederholten Male vertagt. Gegen das Vorhaben, Großbergbau-Projekte in bestimmten Zonen der Provinz zu erlauben, gibt es eine breite Bewegung in der lokalen Bevölkerung. Im Rahmen einer Volksinitiative sammelten die Einwohner*innen von Chubut innerhalb weniger Wochen und unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Pandemie über 30.000 Unterschriften. Damit wurde Anfang 2021 erfolgreich der Prozess für ein alternatives Gesetzesvorhaben eingeleitet, das ein komplettes Verbot sowohl von Tagebauen als auch von unterirdischem Bergbau in Chubut etablieren soll.

In den vergangenen Monaten hatte die Regierung der Provinz versucht, zum Teil in außerordentlichen Sitzungen des Parlaments, eine Entscheidung zum Gesetzesentwurf 128/20 zu erzwingen, der eine Zonen-Einteilung für Großbergbauprojekte etablieren soll. Damit soll das bestehende Gesetz 5001 gekippt werden, das seit 2003 den Bergbau unter freiem Himmel sowie den Einsatz des giftigen Stoffes Cyanid verbietet, der vor allem im Gold- und Erzbergbau Anwendung findet (siehe LN 548). Mit der sogenannten Zonen-Einteilung wären Großbergbauprojekte auf dem patagonischen Hochplateau im zentralen Norden Chubuts rund um die Departamentos Gaste und Telson erlaubt. „Die sogenannte zonificación ist eine imaginäre Linie, die die Anden-Kordillere vom Hochplateau trennt – als ob die Umweltverschmutzung und die Habsucht sich an diese Linie halten würden“, so Nina D’Orazio von der Bewegung „No a la mina“ in Esquel. Das Gesetzesvorhaben würde unter anderem den Weg für das umstrittene „Navidad“-Projekt der kanadischen Firma Pan American Silver freimachen, die 2010 Landrechte im Norden von Chubut erworben hat – genau dort, wo das größte unerschlossene Silbervorkommen der Welt vermutet wird.

Die Bewegung „No a la mina“ gibt es seit nunmehr 18 Jahren


Für Bergbauprojekte braucht es eigentlich eine licencia social und damit die Akzeptanz der lokalen indigenen Bevölkerung. Das patagonische Hochplateau Chubuts ist zwar relativ dünn besiedelt, aber es leben dort allein acht Mapuche- und Tehuelche-Gemeinden. Eine Information der ansässigen indigenen Gemeinden oder gar eine Einbindung hat nicht stattgefunden. „Dabei gehören die Mapuche und Tehuelche zu denjenigen, die am stärksten von den extraktivistischen Vorhaben betroffen sein würden“, führt Zulma Usqueda aus, die sich in der Stadt Comodoro Rivadavia in der Bewegung „No a la mina“ engagiert.

Die Bewegung gibt es seit nunmehr 18 Jahren. Sie geht zurück auf einen Umweltkonflikt aus dem Jahr 2003, als bekannt wurde, dass eine riesige Goldmine in der unmittelbaren Umgebung der Kleinstadt Esquel geplant war. „Wir organisierten uns mit Mund-zu-Mund-Propaganda, mit Telefonkette über Festanschluss – damals gab es weder Handys noch WhatsApp“, beschreibt D’Orazio. Die asambleas, die Versammlungen, in der sich die Anwohner*innen zusammenfanden, spielen heute noch eine zentrale Rolle in der Organisation der Anti-Bergbau-Demonstrationen. „Wir entwarfen Flugblätter, um die Nachbar*innen darüber zu informieren, wie das Gold gefördert werden sollte: mit tausenden von Litern an Wasser und unter Einsatz von Zyanid. Als die Leute mitbekamen, was los war, gab es kein Zurück mehr“, bekräftigt D’Orazio.

Mit Großdemonstrationen erkämpften die Anwohner*innen ein Plebiszit, bei dem 81 Prozent gegen den Bergbau stimmten. Daraufhin brachten sie selbst ein Gesetzesvorhaben ein, das als Gesetz 5001 verabschiedet wurde und Großbergbauprojekte mit Chemikalieneinsatz bis heute untersagt. Der zweite Artikel des Gesetzes allerdings beinhaltet eine Klausel zur besagten Zonen-Einteilung, die damals auf Druck der Bergbau-Befürworter*innen im Parlament Einzug in das Gesetz fand und vorsah, innerhalb von 180 Tagen spezielle Zonen außerhalb der Kordillere für Bergbauprojekte auszuweisen. Dies ist bis heute nicht geschehen. Jedoch macht sich der Gouverneur von Chubut, Mariano Arcioni, wie schon andere Provinzregierungen vor ihm diese Klausel zunutze, um einen erneuten politischen Versuch zu starten, Großbergbauprojekte in Chubut durchzusetzen. Arcioni trägt mittlerweile den Spitznamen „traicioni“ (traicionero – Verräter), da er sich im Wahlkampf vor weniger als drei Jahren noch klar gegen den Bergbau in seiner Provinz positioniert hatte. Jetzt argumentiert er mit neuen Arbeitsplätzen für die Region und einer „nachhaltigen“ Entwicklung des Bergbaus. Die Provinz hat hohe Schulden und die Gehaltszahlungen an die öffentlichen Angestellten sind seit Monaten im Rückstand. D’Orazio kann über das Arbeitsplatz-Argument nur den Kopf schütteln: „Das ist eine Erfindung der Bergbau-Leute. Für den Bau eines Tagebaus werden etwa 1000 Leute angestellt, aber danach braucht man sie nicht mehr, nur noch technische Fachleute. Der Provinz bleiben nur drei Prozent an Abgaben. Und die Umweltverschmutzung.“

Die Waldbrände machen das Thema zusätzlich brisant


Der Begriff „nachhaltiger Bergbau“, der sich im Gesetzesentwurf findet, wird von Umweltverbänden stark kritisiert. „Von einem nachhaltigen Bergbau zu sprechen ist quasi ein Widerspruch in sich“, so Leandro Gómez von der Nichtregierungsorganisation Fundación Ambiente y Recursos Naturales (FARN). „Wissenschaftliche Studien warnen vor den Risiken für die Wasserqualität, die die Erlaubnis von Großbergbauprojekten in Zeiten des Klima-wandels und im Kontext einer zunehmenden Wüstenbildung und einer wachsenden Bevölkerung hätte, wie es hier in der Provinz Chubut der Fall ist.“ Die Wasserverschmutzung erzürnt auch die Anwohner*innen. „Hier gibt es Berghänge mit absolut reinem Wasser. Wir möchten nicht, dass sich das ändert“, bekräftigt D’Orazio. Die Waldbrände, die im Nordwesten der Provinz über 500 Häuser und etwa 15.000 Hektar Wald zerstörten, machen das Thema zusätzlich brisant. Als der Mitte-links-Präsident Alberto Fernández Mitte März die besonders betroffene Region rund um die kleine Stadt Lago Puelo besuchte, kam es zu einem Zwischenfall: Das Auto des Präsidenten wurde mit Steinen angegriffen. In den Medien wurden „militante Bergbau-Gegner*innen“ dafür verantwortlich gemacht. Die Bewegung „No a la mina“ erklärte ihrerseits, eine pazifistische Bewegung zu sein, und sprach von eingeschleusten Polizist*innen, mithilfe derer man die Protestbewegung diskreditieren wolle. Tatsächlich ist auf einem Video des Vorfalls zu sehen, wie die Angreifer*innen in ein Auto stiegen, das über das Kennzeichen als Wagen der Provinz-Polizei identifiziert wurde.

Die Bergbaulobby übt derweil massiv Druck aus


Die ansässigen Mapuche- und Tehuelche-Gemeinden sehen sich derweil in einer doppelten Opferrolle: Sie sind mit Anschuldigungen von einzelnen Politiker*innen und rechtsgerichteten Medien konfrontiert, die sie als Brandstifter*innen bezichtigen – obwohl es dafür keine Anhaltspunkte gibt und sie selbst stark von den Bränden betroffen sind. „Wir Mapuche und Tehuelche sind es, die das Gebiet vor dem Raubbau schützen, der nach dem Feuer kommen wird. Wir verteidigen das Land vor den Klauen der Bergbau-, Forst- und Elektrizitätswirtschaft“, erklärt das Parlament der Mapuche der angrenzenden Provinz Rio Negro in einer Pressemitteilung. Der Spruch „todo fuego es político” (Jedes Feuer ist politisch), der aus der Umweltbewegung Argentiniens kommt, verdeutlicht diese Konflikte.

Die Bergbaulobby übt derweil massiv Druck aus, obwohl etwa die Firma Pan American Silver, deren umstrittenes „Navidad“-Projekt in den Start-löchern steht, das Bergbauverbot offiziell anerkennt. „Die Bergbaulobby hat nie nachgegeben, und mit jedem Wechsel der provinzialen und nationalen Regierung ist sie noch stärker geworden“, erklärt D’Orazio. Wie weit die Firmen dabei gehen, zeigen mehrere öffentlich gewordene Fälle von Korruption. Im Dezember 2020 bezichtigte eine Abgeordnete andere Parlamentarier*innen, zehn Millionen Pesos (rund 911.000 Euro) angenommen zu haben, um für das umstrittene Gesetz zu stimmen. Ebenso tauchte im gleichen Monat das Video eines Abgeordneten auf, der von der Lobby über 100.000 Pesos (rund 9110 Euro) für seine Zustimmung forderte. Ein besonders krasser Fall stammt aus dem Jahr 2014, als die erste Volksinitiative der „No a la Mina“-Bewegung im Parlament verhandelt wurde: Während der laufenden Sitzung wurde ein Abgeordneter dabei fotografiert, wie er Anweisungen eines Bergbau-Vertreters auf sein Handy bekam, wie bestimmte Formulierungen des Gesetzes zu ändern seien.

Wie geht es weiter? Seit 18 Jahren verteidigt die Bewegung „No a la mina“ erfolgreich das von unten durchgesetzte Verbot von Großbergbauprojekten. Im Zuge der schlechten wirtschaftlichen Lage Argentiniens dreht sich der politische Wind auf nationaler Ebene allerdings wieder in Richtung Extraktivismus, also der ungezügelten Rohstoff-ausbeutung, um Erlöse zu generieren – obwohl die Umweltprobleme des Landes derzeit ohnehin sehr stark sind, wie das Beispiel der Flächenbrände in den patagonischen Wäldern zeigt. Solange die wirtschaftliche Entwicklung gegen den Umweltschutz ausgespielt wird, scheint eine langfristige Lösung für den Bergbau-Konflikt nicht in Sicht. „Umweltschutz darf nicht wie ein Hindernis der wirtschaftlichen Entwicklung der Provinz interpretiert werden, sondern wie eine übergeordnete Entscheidung, um das Wasser zu schützen“, kommentiert die Nichtregierungsorganisation FARN in einer Pressemitteilung. Zulma Usqueda von der Bewegung „No a la mina“ spricht in Bezug auf die beiden Alternativen von „einem Gesetzes-entwurf des Todes oder einem Gesetzesentwurf des Volkes“. Die Protestbewegung wird deshalb weiter versuchen, den Politiker*innen ihren Slogan klarzumachen: „Wasser ist mehr wert als Gold“.


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NEUBEWERTUNG UMKÄMPFTER TERRITORIEN

Bild: Bielefeld University Press

Im Juli 2020 erließ Mexiko ein Verbot des umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat für alle staatlichen Betriebe. Ein vollständiger Ausstieg aus der Verwendung des vermutlich krebserregenden Herbizids ist bis 2024 geplant. Der mexikanische Umweltminister Víctor Toledo, der dieses Verbot entscheidend vorangetrieben hatte, trat allerdings zwei Monate später von seinem Amt zurück. Ein Audiomitschnitt war an die Öffentlichkeit gelangt, in dem er beklagte, dass seine Initiative seitens anderer Regierungsfunktionär*innen unterminiert werde. Er vermute die Agrarindustrie dahinter.

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador erklärte hingegen, der Rücktritt von Toledo habe ausschließlich gesundheitliche Gründe. Dennoch: Das Verbot gilt seit Anfang 2021, ähnliche Initiativen gibt es auch in anderen Ländern der Region. Dieser Vorstoß ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Umweltkonflikte in Lateinamerika gegenwärtig tiefgreifender als zuvor verhandelt werden. Die argentinische Soziologin Maristella Svampa sieht diese Entwicklung in Lateinamerika nicht zuletzt als Folge einer ökoterritorialen Wende. Damit meint sie den wachsenden Widerstand gegen das aktuelle neo-koloniale Entwicklungsmodell, der Neo-Extraktivismus, der von afro-lateinamerikanischen Organisationen, indigenen Gemeinschaften und einer breiten feministischen Bewegung getragen werde.
In ihrem nun auf Deutsch erschienenen Buch „Die Grenzen der Rohstoffausbeutung“ analysiert Svampa den exportorientierten Rohstoffboom in Lateinamerika seit 2003. Hohe Weltmarktpreise ließen lateinamerikanische Regierungen unabhängig ihrer ideologischen Ausrichtung auf die Ausbeutung und den Handel von natürlichen Rohstoffen setzen, ungeachtet sich verschärfender wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Ungleichgewichte. An diesem „commodities consensus” entzündeten sich vielfältige soziale Konflikte. Die fünf Kapitel des Buchs befassen sich mit verschiedenen Dimensionen der aktuellen Krise in Lateinamerika und entwerfen ein kritisches, aber auch hoffnungsvolles Bild möglicher Alternativen.

Zu Beginn stellt Svampa einige kritische Konzepte vor, die aus der politischen Praxis diverser sozio-territorialer Bewegungen sowie Umweltkol- lektiven aus ganz Lateinamerika hervorgehen und die aktuelle lateinamerikanische Debatte prägen. Dazu gehört „Neo-Extraktivismus“, mit dem die zerstörerische und aggressive Ausbeutung von Rohstoffen durch Bergbau, Fracking und Staudammprojekte sowie durch Monokulturen aus Sojabohnen oder Ölpalmen gemeint ist. Im Folgenden beschreibt sie die daraus entstehenden sozioökologischen Konflikte zwischen Staat und kleinbäuerlich-indigenen Gruppen sowie ökofeministische Kämpfe in den Städten. Svampa stellt dabei eine Neubewertung umkämpfter Territorien sowohl in städtischen als auch ländlichen Bewegungen fest, hin zu einem „Raum des Widerstands und zunehmend auch als Ort der Resignifikation und der Entstehung neuer sozialer Beziehungen“. Antipatriarchale Strukturen und Beziehungen zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen zu überdenken wird immer wichtiger im vielstimmigen Protest gegen extraktive Megaprojekte wie auch gegen die neoliberale Stadtentwicklung.

Hierin erkennt Svampa einen Wendepunkt in den aktuellen lateinamerikanischen Debatten. Im anschließenden Kapitel befasst sie sich mit Widersprüchen zwischen der Wirtschaftspolitik progressiver Links-Regierungen und ihrer Anerkennung indigener Rechte. Svampa nimmt dafür die Regierung von Evo Morales in Bolivien unter die Lupe und beschreibt die Folgen der Verstaatlichung des Abbaus natürlicher Ressourcen.

Beziehungen zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem werden immer wichtiger

Sie betont dabei die demokratisierende Wirkung von Verfassungsreformen und die verbesserten sozialen Bedingungen insbesondere der indigenen Bevölkerung Boliviens. Allerdings sei die anfänglich plurinationale Vision der Regierung scharf mit der Logik des extraktiven Kapitalismus und der damit verbundenen Zentralisierung der staatlichen Autorität in Konflikt geraten.

Ein noch düstereres Bild zeichnet Svampa im Kapitel vier über die jüngsten Entwicklungen: Lateinamerika befinde sich in einer neuen Phase des Neo-Extraktivismus, die extremer und gewalttätiger um sich greife. Diese Zuspitzung gehe mit der Zunahme von staatlicher und parastaatlicher Gewalt einher, die sich in der Bedrohung von Umweltaktivist*innen und zahlreicher Morde ausdrücke. Allein zwischen 2002 und 2013 wurden in Lateinamerika 760 Fälle dokumentiert, die meisten davon in Brasilien und Kolumbien, aber auch die Ermordungen von Berta Cáceres 2016 in Honduras, Laura Vásquez Pineda 2017 in Guatemala, von Julián Carrillo 2018 und Samir Flores 2019 in Mexiko. Die Liste ist lang und unvollständig. Ermordet werden vermehrt indigene und Schwarze Aktivist*innen. Durch den Rechtsrutsch in Chile, Argentinien und Brasilien hat sich die Lage weiter verschärft. Der geopolitische Kontext dieser aktuellen Phase ist Thema des fünften Kapitels, in dem hauptsächlich neue Abhängigkeiten von China zur Sprache kommen.

Zum Abschluss bringt Svampa das Anthropozän ins Spiel, um das planetarische Ausmaß der laufenden sozial-ökologischen Krise zu fassen und diese zugleich mit der Kritik an aktuellen Entwicklungsmodellen zu verbinden. Eine Analyse mit hoher Aktualität: zeitgleich mit dem Erscheinen des Buchs Anfang Oktober letzten Jahres beschließt Argentinien die weltweit erste Zulassung von gentechnisch verändertem Weizen. Eine Welle von Kritik und Protest war die Folge. So forderten 1.400 Wissenschafter*innen in einem offenen Brief die Rücknahme dieser Entscheidung und stattdessen die Förderung von agrarökologischer Landwirtschaft, in der Lebensmittel ohne Gentechnologie oder den Einsatz von Herbiziden produziert werden – ein alternativer Ansatz, der in immer mehr argentinischen Gemeinden bereits Anwendung findet.

Für Leser*innen aus dem deutschsprachigen Raum bietet Maristella Svampa einen wertvollen Einblick in laufende Debatten zu Erfahrungen mit alternativen Modellen und Widerstand gegen den „Neo-Extraktivismus“ aus einer lateinamerikanischen Perspektive. Im Vordergrund stehen dabei horizontale Konzepte, die aus kritischen Analysen, Sprachen, in-der-Welt-sein und Praxen sozialer Bewegungen in Lateinamerika entstanden sind. Darunter „Buen Vivir“ (gutes Leben), Naturrechte, Gemeinschaftsgüter oder die Ethik der Sorge. All diese Konzepte stellen neue Formen der Beziehung des Menschen zur Natur und den Mitmenschen in den Mittelpunkt. Das Buch bekräftigt damit nicht zuletzt das Gemeinsame und Solidarische als Schlüssel für mögliche Gegenvorschläge zur Wachstumsökonomie. Das Nachdenken über Differenz und die eigene Positionalität findet sich dabei jedoch nur am Rande, beides ist aber unumgänglich, damit mögliche Alternativen nicht bloß zu einem besseren kapitalistischen Wachstumsprogramm verkommen.


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DROHENDER GENOZID IN AMAZONIEN

Schon vor Corona machte Davi Kopenawa auf den Genozid der Yanomami aufmerksam (Foto: Alain GiA via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

Die Corona-Pandemie bedroht weltweit die Gesundheit und das Leben Hunderttausender, wenn nicht von Millionen von Menschen. Da es sich bei dem SARS-CoV-2 um ein neuartiges Virus handelt, ist die Weltbevölkerung nicht immunologisch auf die Krankheit vorbereitet. Für die globalisierte Welt ist dies eine neue Gefahr, es lebt fast niemand mehr, die oder der sich an die letzte große Pandemie, die Spanische Grippe von 1918 bis 1920, bewusst erinnert.

Weder Herdenschutz noch immunologisches Gedächtnis

Im amazonischen Tiefland ist dies anders. Viele indigene Gemeinschaften erinnern sich noch gut an regionale Grippe- oder Masernepidemien. So sind zum Beispiel die Yanomami im äußersten Norden Brasiliens erst in den 1960er Jahren in Kontakt mit der brasilianischen Gesellschaft getreten. Carlo Zaquini, ein italienischer katholischer Missionar, der seitdem mit den Yanomami arbeitet, erinnerte sich gegenüber dem britischen Guardian an die Epidemien: „Es war wie ein Bulldozer in der Glasfabrik. Alles ging zu Bruch.“ An einem Masernausbruch in den 1960er Jahren sind nach Schätzungen etwa neun Prozent der gesamten Yanomami-Bevölkerung verstorben, in manchen Dörfern starben 50 Prozent der Bevölkerung. Unter den Yanomami ist Anfang April mit dem 15-jährigen Alvanei Xirixana auch der erste Todesfall durch die Lungenkrankheit Covid-19 im Amazonasgebiet registriert worden. Am 14. Mai meldete das Sondersekretariat für Indigene Gesundheit (SESAI) für den brasilianischen Teil des Amazonasgebiets „301 indigene Fälle in ländlichen Gebieten“ und 19 Todesfälle.

Während der Eroberung des amerikanischen Kontinents durch europäische Kolonisatoren rafften Masern-, Grippe- und Pocken-Epidemien einen großen Teil der indigenen Bevölkerung dahin. Aber es gab auch Erreger, die von Amerika nach Europa kamen und dort großen Schaden anrichteten. Der bekannteste Fall ist wohl die Syphilis, die sich im frühen 16. Jahrhundert in ganz Europa ausbreitete.

Nicht nur alte und kranke Menschen zählen zur Covid-19 Risikogruppe

Die jetzige Pandemie, so befürchten viele, könnte für Indigene im amazonischen Tiefland ähnlich katastrophale Folgen wie die Infektionen während der Kolonisation haben. Wie in einem Artikel im US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science erläutert, sollten Indigene deshalb grundsätzlich, neben Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen, zu den Risikogruppen gezählt werden. Dies hat verschiedene Gründe. Einerseits ist die Gesundheitssituation der indigenen Bevölkerung Südamerikas meist sehr schlecht. Krankheiten wie Dengue, Gelbfieber, Tuberkulose, Malaria und HIV sind weit verbreitet. Aufgrund der Armut und der damit verbundenen Ernährungssituation sind nach Schätzungen der UN etwa die Hälfte aller über 35-jährigen Indigenen an Diabetes Typ 2 erkrankt. Ein großer Teil der Indigenen ist also gesundheitlich vorbelastet und wäre schon aus diesem Grund bei einer Infizierung mit dem neuartigen Corona-Virus besonders gefährdet.

Zum anderen ist die Gesundheitsversorgung für Indigene in entlegenen Regionen unzureichend. In vielen Gebieten Amazoniens haben die Menschen kaum Zugang zu Krankenhäusern. Insbesondere in Brasilien hat sich die Gesundheitsversorgung durch die Politik des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro drastisch verschlechtert. Aus ideologischen Gründen verwies der Präsident im Jahr 2019 rund 8.000 kubanische Mediziner*innen des Landes. Diese hatten in einem Programm der Arbeiterpartei PT in besonders entlegenen und armen Regionen des Landes gearbeitet. Vor allem Indigene hatten von dieser Gesundheitsdienstleistung profitiert, die nun, wo sie am dringendsten benötigt wird, nicht mehr besteht.

Die Regierung Bolsonaro hat die mögliche Gesundheitsgefährdung der Indigenen noch auf andere Weise massiv verstärkt. In einem viel kritisierten Schritt wurde Anfang des Jahres Ricardo Lopes Dias zum Abteilungsleiter der Indigenenbehörde FUNAI berufen, die für in Isolation lebende Indigene zuständig ist. Der neue Chef war früher Missionar der New Tribes Mission. Die 1942 gegründete evangelikale Organisation versucht Indigene – auch solche in freiwilliger Isolation Lebende – zu kontaktieren und zu missionieren. In den 1980er Jahren war sie zum Beispiel im paraguayischen Chaco aktiv und hat mit Gewalt Indigene der Ayoreo Totobiegosode in Lager verschleppt, zu Arbeit gezwungen und evangelisiert. Es gab mehrere Tote aufgrund von eingeschleppten Krankheiten.

Während der Abwesenheit des Staates helfen die Indigenen sich selbst

Die Nachfolgeorganisation der New Tribes Mission, Ethnos 360 – die auch in Deutschland aktiv ist, missionierte zuletzt im Vale do Javari. In dem noch verhältnismäßig ungestörten Regenwaldgebiet in der Grenzregion zwischen Peru und Brasilien leben die meisten unkontaktierten Gruppen. Bislang hatte die FUNAI die Missionar*innen dort immer wieder ausgewiesen, damit sie dort keine Krankheiten verbreiten. Viele befürchten, Ricardo Lopes Dias könnte als neuer Zuständiger für isolierte Indigene bei der FUNAI seinen ehemaligen Missionarskolleg*innen freien Zugang in das entlegene Tal gewähren – und damit praktisch einen Genozid auslösen. Indigene Gemeinden, die bereits Kontakt zur brasilianischen Gesellschaft haben, aber sich als Beschützer der isolierten Indigenen begreifen, zogen vor Gericht. Angesichts der Gefahr durch Covid-19 verwiesen Gerichte Ethnos 360 aus dem Schutzgebiet. Ob die fanatischen Missionar*innen sich an die weltlichen Gesetze gebunden fühlen, ist jedoch fraglich.

Doch nicht nur Brasilien, auch andere südamerikanische Staaten lassen die Indigenen Amazoniens weitgehend im Stich. „Die Situation ist wirklich sehr schwierig. Das Militär versagt bei den Kontrollen der Boote und Transporter. Auch die schleppend anlaufende Belieferung der Gemeinden mit Nahrungsmitteln und medizinischen Materialien geht ohne Schutzvorkehrungen vonstatten“, sagt Lizardo Cauper, Präsident der Indigenen Vereinigung zur Entwicklung im peruanischen Regenwald (AIDESEP) in einer gemeinsamen Pressemitteilung des Dachverband Indigener des Amazonasbeckens (COICA), des Klima-Bündnisses und des Instituts für Ökologie und Aktions-Ethnologie. Der indigene Verband COICA hat deshalb 14 Forderungen an die Regierungen der Region geschickt, in denen unter anderem eine verbesserte Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen und Lebensmitteln für die indigene Bevölkerung in dieser Notsituation verlangt wird. Zudem müssten die Regierungen das weitere Eindringen von Bergbau-, Erdöl- und anderen nicht-indigenen Arbeiter*innen in die Schutzgebiete stoppen, um die Ausbreitung der Epidemie zu unterbinden.

Viele Gemeinden helfen sich in dieser Situation vor allem selbst. In Ecuador warnen stärker in die Nationalstaaten integrierte Indigene die isolierteren Gemeinschaften vor der Pandemie, über Crowdfunding werden Hilfsleistungen finanziert. Im Gebiet des Tapajós, im brasilianischen Teil des Amazonasbeckens, hat die Frauenorganisation der Munduruku die Informationen zum neuen Corona-Virus selbst übersetzt und über Radio und WhatsApp in den Dörfern verbreitet – eigentlich eine Aufgabe der Indigenenbehörde FUNAI. Die Munduruku haben sich – wie viele andere indigene Gruppen auch – eine Selbstisolation verordnet, um der Epidemie zu entgehen. Eines der größten Treffen indigener Gruppen Brasiliens, das Acampamento Terra Livre („Freies Land-Camp“, Anm. d. Red.), fand zwischen dem 27. und 29. April nur online statt. In dem Abschlussdokument der Veranstaltung werden Krankheiten als „die wichtigste biologische Waffe“ zur Vernichtung der indigenen Bevölkerung Brasiliens genannt und die aktuelle Regierungspolitik Jair Bolsonaros als „institutionalisierter Genozid“ bezeichnet. In 21 Punkten fordern die beiden Dachverbände Artikulation Indigener Völker Brasiliens (APIB) und Indigene Nationale Mobilisierung (MNI) darin unter anderem einen Ausbau der für die Bewältigung der Pandemie notwendigen Infrastruktur, einen verbesserten Zugang zu Schutzmaterial für alle Menschen in indigenen Gemeinschaften und die Rücknahme jüngster Erlasse der Regierung Bolsonaro, die die Invasion indigener Gebiete entkriminalisieren.

Regenwaldschutz bedeutete auch Pandemieschutz

Die Folgen der katastrophalen Amazonaspolitik der Regierung Bolsonaros werden durch die Pandemie noch verstärkt. Bergbau, land- und holzwirtschaftliche Nutzung, der Bau von Wasserkraftwerken – all dies will Bolsonaro in den Regenwaldgebieten Amazoniens erleichtern, um Wirtschaftswachstum und „Entwicklung“ zu bringen, die jedoch wenig Vorteile für die lokale Bevölkerung bietet. In verschiedenen Gesetzesinitiativen hat er die Schutzbestimmungen für indigene Schutzgebiete geschwächt oder aufgehoben. Holzhändler*innen und Garimpeiros – also Menschen, die mit einfachen Methoden Edelmetalle schürfen und fördern – strömen seitdem in die indigenen Gebiete, wo es immer häufiger zu Konflikten kommt. Dabei berufen sich die illegalen Eindringlinge darauf, dass Präsident Bolsonaro auf ihrer Seite stehe.

In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind nach Angaben der brasilianischen Raumfahrtbehörde INPE um 51 Prozent mehr Waldflächen zerstört worden, als im ersten Trimester der Vorjahre. Aus Angst vor der Epidemie arbeiten auch staatliche Behörden, die die illegalen Rodungen unterbinden sollen, weniger intensiv – was die Arbeit von Kriminellen, die den Wald zerstören, enorm erleichtert. Dabei ist der Schutz indigener Gebiete die beste Garantie für den Erhalt des amazonischen Regenwaldes mit seiner wichtigen Rolle für das Weltklima, wie zahlreiche Studien belegen.

Hinzu kommt: Die Zerstörung von Regenwäldern bringt uns in Kontakt mit neuen Krankheitserregern. Das Corona-Virus ist höchstwahrscheinlich von Fledermäusen auf den Menschen übertragen worden. Einer Studie von 2008 zufolge sind 60 Prozent der neuen Krankheiten zwischen 1960 und 2004 von Tieren auf Menschen übertragen worden, zum Beispiel die Nipah-Krankheit in Südostasien und Ebola in Westafrika. Durch die Verkleinerung ihrer natürlichen Habitate geraten Wildtieren häufiger in Kontakt zu Menschen und übertragen so leichter Krankheitserreger – über Nutztiere, Moskitos oder direkt – auf den Menschen. Die nächste Pandemie könnte aus Amazonien kommen – als Folge der Zerstörung des Regenwaldes.


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„IHR TRAUM IST UNSER ALPTRAUM“

Foto: Verena Glass

Der von Brasiliens Präsidenten dem Nationalkonkongress vorgelegte Gesetzesentwurf zur Änderung der möglichen wirtschaftlichen Aktivitäten in indigenen Territorien wurde von Jair Bolsonaro am 5. Februar in einer feierlichen Zeremonie anlässlich der ersten 400 Tage seiner Regierung unterzeichnet. Er bezeichnete das Gesetzesvorhaben als „Traum“. Bisher wurde der Entwurf der Presse nicht übergeben, sondern lediglich an den brasilianischen Nationalkongress weitergeleitet. Die endgültige Genehmigung der Gesetzesvorlage werden die beiden Kammern des Kongresses, Abgeordnetenhaus und Senat, treffen.

Laut Medienberichten sieht der Gesetzentwurf vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Erschließung von Erdöllagerstätten: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei bis zu einem Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden 50 Prozent des Wertes der finanziellen Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gemacht.

Die Reaktion einer der Sprecher*innen der indigenen Gemeinden in Brasilien, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker unterzeichnet hat, gibt der Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölerschließung geht es nur um Konsultationen ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen bei den indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.
Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er sich in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Dazu soll die nun vorgelegte Gesetzesinitiative ihren Teil beitragen, so es nach Bolsonaro geht. Das Agrarbusiness und die Bergbaukonzerne werden den Rest übernehmen.


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