Hoffnungsvolle Revolte, gescheiterte Verfassung

Massenhaft Krach machen Diese Collage von cacerolas zierte im Dezember 2019 das Cover der LN (Foto: Moisés Sepúlveda)

Von der Gründungszeit der LN bis in die Gegenwart waren die politischen Entwicklungen in Chile stets für große Emotionen gut – im Positiven wie im Negativen. Als die Schüler*innen im Oktober 2019 den nach 30 Jahren Neoliberalismus angestauten Frust zur Explosion brachten, gewannen die Chilen*innen mit Begeisterung den Glauben daran zurück, in ihrem Land etwas zum Besseren verändern zu können.

Drei Jahre später hat sich Ernüchterung breitgemacht: Während linke Chilen*innen nach der Ablehnung der neuen Verfassung an der Urne in eine Art kollektive Depression verfallen sind, dominiert die chilenische Rechte die politische Dynamik und den Diskurs. Und wir bei LN, die seit Oktober 2019 mit den Protestierenden fieberten, fragen uns immer noch: Wie konnte das nach den ebenso lauten wie tiefgreifenden Forderungen der Revolte passieren?

Im Editorial vom Dezember 2019 blickten wir zurück auf das Referendum von 1988, das zwar die Diktatur beendete, nicht jedoch den Neoliberalismus. Denn Pinochet bestimmte und bestimmt durch die 1980 eingeführte Verfassung weiterhin die Spielregeln. Interessanterweise passierte nach der Revolte von 2019 etwas Ähnliches: Auch jetzt ist die Rechte tonangebend und hat – wie wir befürchteten – alles getan, um das neoliberale System zu retten: In dem „Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 setzte sie dem Prozess inhaltliche und zeitliche Grenzen. Die rechtsgerichteten Medien polemisierten von Anfang an gegen die Arbeit des Verfassungskonvents und traten eine beispiellose Fake-News-Kampagne los, der der Konvent mangels finanzieller und personeller Ausstattung nie wirklich etwas entgegensetzen konnte. Dazu kamen Fehler der Linken: Es gab Skandale und Skandälchen um Konventsmitglieder, die linken Delegierten unterschätzten die Herausforderung, die Bedeutung der Inhalte der Verfassung für das konkrete Leben der Bürger*innen besser zu erklären. Und auch die Regierung Boric schafft es bislang nicht, die Vorteile linker politischer Ideen im alltäglichen Leben der Menschen greifbar zu machen.

Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben

Als Folge der niederschmetternden Ablehnung der neuen Verfassung im Jahr 2022 ist das zuvor so klare Nein zum neoliberalen System heute leiser geworden. Die Hoffnung auf eine progressive und demokratische Verfassung hat sich vorerst in Luft aufgelöst: Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben. Und auch der Entwurf einer Expert*innenkommission, der derzeit im Verfassungsrat diskutiert wird, verspricht keine Abkehr vom Neoliberalismus.

Nahezu ironisch ist, dass sich viele linke soziale Bewegungen nach Beginn der Revolte im Oktober 2019 gar nicht an dem Prozess hin zu einer neuen Verfassung beteiligen wollten – sie schätzten die Aussicht auf wirkliche Veränderung auf diesem Wege als zu gering ein. Das änderte sich mit Beginn der Covid-19-Pandemie wenige Monate später, als die Mobilisierung im öffentlichen Raum unmöglich wurde und der institutionelle Prozess fast die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch etwas zu tun. Die überwältigende Zustimmung im Referendum vom Oktober 2020 war dann eine weitere Motivation.

Als der Konvent seine Arbeit aufnahm und die neue, progressive Verfassung Gestalt annahm, wuchs die Hoffnung auf dauerhafte Veränderung sowohl in Chile als auch in der internationalen Linken beständig. Im Rückblick müssen auch wir bei LN uns eingestehen, dass sich in unserem Editorial vom Juni 2021 pures Wunschdenken spiegelt: Zweifel hatten wir damals nicht an der Annahme der Verfassung im Referendum, sondern eher an ihrer vollständigen Implementierung. Damit waren wir nicht allein. Chile wurde zu dieser Zeit, wie schon zu Zeiten Allendes, zu einer Projektionsfläche der internationalen Linken, die aber im September 2022 abrupt in sich zusammenbrach. Diese Beobachtung teilte auch die chilenische Soziologin Pierina Feretti bei einem Besuch bei LN und FDCL im Mai dieses Jahres.

Viele fühlen also heute den „bleiernen Ballast vieler Jahre“ wieder auf ihren Schultern. Doch mit der Fokussierung auf die intensive Arbeit des Verfassungskonvents 2021/2022 ist etwas Wichtiges aus dem Blickfeld geraten: Das Scheitern der Verfassung konnte die Angst vor den Sicherheitskräften nicht zurückbringen. Das durch die Diktatur Pinochets zerstörte soziale Gefüge ist mit der Revolte in Asambleas, Basisorganisierung, durch die Politisierung der Jugend und die feministische Bewegung wiederaufgelebt und wird nun Bestand haben. Und das ist unabhängig vom Scheitern der neuen Verfassung bedeutsam: Denn langfristig wird die Revolte von 2019 vermutlich eine nachhaltigere Wirkung haben als die Arbeit des Verfassungskonvents.

Rückblickend sind sich viele darin einig, dass es strategisch vermutlich besser gewesen wäre, die Energie nicht allein in den Verfassungskonvent, sondern auch in eine nachhaltige Organisierung von links zu stecken. Nun, nach dem vorläufigen Scheitern einer möglichen Veränderung auf dem institutionellen Weg, bleibt der chilenischen Linken die Möglichkeit, andere politische Wege auszuloten. In diesem Prozess ist es umso wichtiger, dass wir als internationale Linke weiterhin auf Chile blicken und jenen, die für echte Veränderung kämpfen, dauerhaft unsere Unterstützung und Solidarität zeigen.

Martin Schäfer & Susanne Brust sind seit 2018 im LN-Kollektiv und behalten Chile nicht erst seit der Revolte 2019 im Blick.

“KEINE KOLLEKTIVE DEBATTE, SONDERN EIN KOLLEKTIVES GEFÜHL”

Sie waren bereits am Verfassungsprojekt der zweiten Regierung Bachelet (2014-2018) beteiligt. Waren die Bedingungen damals besser oder schlechter als während des jüngsten verfassunggebenden Prozesses (2019-2022)?
Im Allgemeinen könnte man denken, jetzt hätte es mehr Möglichkeiten gegeben als damals. Bei Bachelet wusste man ja von Anfang an, dass die Verfassungsreform in Händen des Parlaments ist. Damals ging es immer darum, wenigstens einen Teil der rechten Opposition zu überreden. Man wusste also, dass es schwierig wird.
Im Gegensatz dazu ist der jüngste verfassunggebende Prozess aus einem Sieg entstanden: Das apruebo hatte (beim ersten Referendum im Oktober 2020, Anm. d. Red.) mit über 80 Prozent gewonnen, genauso viele stimmten für eine verfassunggebende Versammlung. Es gab also gute Aussichten. Die Konventsmitglieder haben diese Mehrheit aber verspielt. Sie haben den Gemütszustand der Bevölkerung, der von Ereignissen wie dem estallido (soziale Explosion 2019, Anm. d. Red.) und dann der Pandemie geprägt war, mit einem Kulturwandel verwechselt.

Inwiefern wurde das zum Problem?
Es gab keinen richtigen Wandel, vielmehr ist er noch im Gange. Wenn ein Wandel im Gange ist, können die Dinge sich in die eine oder die andere Richtung entwickeln.
Es verbreiteten sich unnötige Extrempositionen, die viel weiter gingen, als die meisten wollten. Ein Beispiel dafür waren die Vorschläge der Ecoconstituyentes (Konventsmitglieder, deren Hauptziel weitreichender Schutz und Rechte für die Umwelt waren, Anm. d. Red.), die dann im Konvent abgelehnt wurden. Auch wenn der Text an sich gut war, so hat er am Ende nicht berücksichtigt, dass die Rahmenbedingungen sich seit Beginn des verfassunggebenden Prozesses geändert hatten: Die Stimmung in der Bevölkerung hatte sich verändert, und an dieser Stelle war dann das Management der Regierung entscheidend. Und das war ehrlich gesagt ziemlich enttäuschend.

Waren die Stimmen für die neue Verfassung nicht bereits verloren, als Gabriel Boric im Frühjahr 2022 das Präsidentenamt übernahm?
Mit dem estallido und der Pandemie kam es zu einer institutionellen Krise. Mit ihr hatten sich die Grenzen dessen verschoben, worüber diskutiert werden konnte. Damit konnten sich bestimmte Identitäten und Ideen frei entfalten, die vorher nie so große Unterstützung gehabt hätten.
Ein konkretes Beispiel dafür sind die Rechte der Natur (Verankerung der Natur als Rechtssubjekt, Anm. d. Red.). Seit dem estallido wurde viel mehr über die Rechte der Natur gesprochen. Das führte innerhalb des Verfassungskonvents auch kaum zu größeren Schwierigkeiten. In diesem Bereich hat sich der Rahmen des Denkbaren verändert.

Doch außerhalb des Konvents führten einige dieser neuen Ideen zu Schwierigkeiten…
Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen war im November 2021, der Verfassungskonvent wurde im Mai gewählt. Zwischen Mai und November hat sich die Stimmung verändert, denn Wandel bringt Angst und Unsicherheit mit sich. Da gibt es immer eine Gegenbewegung, das ist erwartbar in einem solchen Prozess. Das hat man vor allem am Aufstieg der extremen Rechten bei der Präsidentschaftswahl bemerkt: José Antonio Kast als der Kandidat der Ultrarechten, der Opposition und der konservativsten Gruppen der Gesellschaft. Das war ein Warnsignal. Ich glaube, der Verfassungskonvent konnte damit nicht umgehen und wurde von der damaligen Regierung und auch der neuen Regierung stark eingeschränkt.

Aber Kast als Kandidat der Reaktion hat am Ende verloren, oder?
Boric und seine Regierungskoalition haben auch gewonnen, um den verfassunggebenden Prozess zu retten. Hätte Kast gewonnen, wäre er gleich zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber auch nach der Wahl gab es keine Stabilisierung, der Konvent machte weiter, als wäre nichts geschehen.

Inwiefern hat sich dann die Stimmung gegenüber dem Konvent verändert?
Die Leute hassten die Konventsmitglieder nahezu. Ich habe das gemerkt, als ich die Regierung verlassen habe und in eine Schule kam. Die Lehrer stellten die Verfassungsartikel infrage, die der Konvent verabschiedete. Danach war ich zu Forschungszwecken in Concepción, Temuco und Iquique. Die breite Ablehnung der Verfassung dort hat mich überrascht. Und das hatte nichts mit den Inhalten zu tun, sondern mit dem Konvent, die Leute fühlten sich nicht repräsentiert. Denn die Menschen hatten ganz andere Probleme wie Sicherheit und Wirtschaftskrise – und sie kritisierten die Abgehobenheit der Konventsmitglieder.

Wie erklären Sie sich die hohen Stimmanteile des Rechazo im Wallmapu?
Die Regierung ist daran gescheitert, im Süden von Chile einen Dialog herbeizuführen. Daher war das Reden von einer neuen Verfassung mit neuen Institutionen, die uns ermöglichen, die dortigen Probleme in einem neuen Rahmen zu lösen, sehr abstrakt. Deshalb haben die Leute nicht an eine neue Verfassung geglaubt, die etwas ändert. Weder kurz- noch langfristig.

Wie konnten sich Konvent und Bevölkerung so voneinander entfernen?
Ich glaube, dieser verfassunggebende Prozess wurde falsch aufgefasst: Er war keine kollektive Beratung, in der es den Verfassungskonvent gab und eine große öffentliche Debatte mit dem Rest der Gesellschaft. Das hatte mehrere Gründe: die kurze Zeit und die fehlenden Mittel sowie das politische Establishment, das mit der Entwicklung im Konvent nicht einverstanden war. Die staatlichen Institutionen, vor allem das Parlament, waren nicht auf den Konvent abgestimmt. Auch die tonangebenden Medien haben nicht ausgewogen über den Konvent berichtet. Nur wenige Menschen haben die Diskussionen im Konvent verfolgt. Es gab also keine landesweite Debatte, sondern eher ein kollektives Gefühl hinsichtlich des Konvents und des Verfassungsprozesses.

VON OBEN HERAB

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Chiles Abgeordnetenkammer bei der Abstimmung Den neuen Verfassungsentwurf bestimmt vor allem das Parlament (Foto: René Lescornez/Dip. via Flickr , CC BY-NC-ND 2.0)

„Es ist ziemlich enttäuschend, auf diesen aktuellen Verfassungsprozess zu blicken“, meint Lucio Cuenca. Er ist Umweltexperte beim lateinamerikanischen Observatorium für Umweltkonflikte (OLCA). Im letzten verfassunggebenden Prozess hat er Camila Zárate beraten, die als eine von sechs Vertreter*innen der Umweltbewegung MAT im Verfassungskonvent saß.

Am neuen verfassunggebenden Prozess, für den nun die Weichen gestellt sind, kritisiert Cuenca, die politischen Parteien hätten ihn drastisch eingeschränkt: „Das politische System in Chile ist Teil des Problems, es ist Teil der Krise, die wir gerade durchmachen. Dass sich nun genau diese krisenbehafteten Institutionen des Verfassungsprozesses angenommen haben, bedeutet, dass dieser bereits jetzt ungeklärte Fragen in sich trägt, darunter natürlich die nach der Legitimität.“ Vor allem kritisiert er den starken Rückfall ins Institutionelle. Dieser habe dazu geführt, dass konservative, rechte, aber auch Parteien der ehemaligen Concertación (Mitte-links), die das Land zwischen 1990 und 2010 ununterbrochen regiert hat, sich das Ergebnis des Plebiszits am 4. September zu eigen gemacht und nun einen streng limitierten Prozess eingerichtet haben.

Die drei neuen Organe im neuen verfassunggebenden Prozess werden zwar paritätisch besetzt. Zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen kritisieren jedoch vor allem, dass die 24-köpfige Expertinnenkommission, deren Rolle in den kommenden Monaten zentral sein wird, nicht direkt gewählt wird. Stattdessen werden die Expertinnen proportional zur Sitzverteilung in Senat und Abgeordnetenhaus von den Parteien ernannt – ohne allgemeine Wahl oder öffentliche Ausschreibung.

“Das mit den Experten ist ein Euphemismus”

„Das mit den Experten ist ein Euphemismus. Denn am Ende gibt es keine harmlosen Experten. Sie alle stehen für politische Positionen oder Strömungen und genau diese werden sich in der Arbeit an der neuen Verfassung widerspiegeln“, meint Cuenca. Der Entwurf für eine neue Verfassung werde also von der Meinung des aktuellen Parlaments dominiert sein, nicht aber der Meinung der Menschen in Chile.

Bereits Ende Januar schlägt das Parlament 24 Expert*innen vor – Senat und Abgeordnetenhaus jeweils zwölf. Die paritätisch besetzte Expert*innenkommission soll bereits am 6. März ein erstes Mal zusammenkommen. Ihre Aufgabe ist es, einen ersten Entwurf für die neue Verfassung zu erarbeiten, die dann dem Verfassungsrat übergeben wird. Dessen 50 Mitglieder werden wiederum am 7. Mai unter allgemeiner Wahlpflicht gewählt. Die Sitze werden geschlechterparitätisch besetzt, außerdem gibt es – gemessen an den Bevölkerungsanteilen – überproportional viele reservierte Plätze für Vertreter*innen indigener Gemeinschaften. In der vom chilenischen Kongress verabschiedeten Gesetzesreform heißt es: „Der Verfassungsrat ist ein Organ, dessen einziges Ziel es ist, einen Vorschlag für die neue Verfassung zu diskutieren und zu verabschieden.“ Auch hier wird deutlich, dass es vor allem darum geht, über den von Expert*innen zusammengestellten Verfassungsentwurf zu beratschlagen – ein Text, der die Diskussion von sich aus eingrenzen wird.

Die Expert*innenkommission hat demnach zwar im Verfassungsrat kein Stimmrecht, wird aber so oder so Einfluss auf die öffentliche Debatte haben, sobald der Entwurf im Verfassungsrat beraten wird. Schließlich bietet ihre Vorarbeit die Diskussionsgrundlage für alles, was im Verfassungsrat entschieden wird.

„Und dann ist da noch der Ausschuss, der über die Zulässigkeit und Einhaltung gesetzlicher Vorgaben entscheidet“, erklärt Cuenca. „Das Parlament wird für diese Aufgabe 14 Anwälte ernennen. Dieses Kontrollgremium bestimmt dann, ob sich die Verfassungsartikel, die der Verfassungsrat verabschiedet, im Rahmen der zwölf Prinzipien bewegen, auf die sich als inhaltliche Eingrenzungen für die neue Verfassung geeinigt wurde“.

Eines der zwölf Prinzipien, die den neuen Verfassungstext inhaltlich eingrenzen, besagt, dass Chile ein sozialer Einheits- und Rechtsstaat ist, in dem die Gewaltenteilung zwischen eigenständiger Judikative, Legislative und Exekutive gilt. Das Konzept eines plurinationalen Staates mit einem Rechtssystem, das sich in seiner eigenen Struktur demokratisiert, indem es beispielsweise Rechtsauffassungen indigener Bevölkerungsgruppen und ihrer Kulturen miteinbezieht, wird somit ausgeschlossen.

“Die Aussicht auf eine wirklich demokratische Verfassung geht praktisch gänzlich verloren”

Viele kritisieren insbesondere diese zwölf Prinzipien, da sie die endgültige Abkehr von der Verfassung Pinochets unwahrscheinlicher machen. Auch Lucio Cuenca ist der Meinung, dass damit kritische Punkte erhalten bleiben, die lediglich dazu führen, dass die Grundpfeiler der Verfassung von 1980 reproduziert werden. Cuenca sieht darin eine Strategie: „Denn wenn man dieses Maß an Einschränkungen akzeptiert, geht die Aussicht auf eine wirklich demokratische Verfassung praktisch gänzlich verloren”.

So schließen die zwölf Prinzipien auch viele Vorschläge des am 4. September 2022 im Referendum abgelehnten Verfassungsentwurfs von vornherein aus. Wie viele ist Cuenca deshalb der Meinung, dass der vergangene Verfassungsprozess vielleicht der demokratischste Prozess war, den Chile je gesehen hat. Dagegen würden die aktuellen Ereignisse zeigen, dass soziale Bewegungen es nun schwerer haben, sich einzumischen. Das gilt insbesondere für die Umweltbewegungen, die im Verfassungskonvent stark vertreten waren. Von den 388 Artikeln des im September abgelehnten Verfassungstextes nahmen 74 Bezug auf die Natur und Mechanismen zum Naturschutz, angefangen beim ersten Artikel. „Was wir im Verfassungskonvent erreicht haben, ist für uns viel wert, denn dort sind unterschiedliche Vorstellungen von einer sozialen und ökologischen Welt zusammengekommen“, erinnert sich Cuenca.

Die Ablehnung des im Verfassungskonvent entstandenen Verfassungsentwurfs hat daher einen hohen Preis. Manche Ideen und Konzepte, die ein politisch und kulturell demokratischeres Land ausgemacht hätten, haben nun an Legitimität eingebüßt. Wenig davon wird sich im neuen Verfassungsentwurf wiederfinden.

Für den neuen verfassunggebenden Prozess wurde ein genauer zeitlicher Rahmen abgesteckt. Der Verfassungsrat hat ab dem 7. Juni fünf Monate Zeit, um den neuen Verfassungstext zu verabschieden. Am 17. Dezember dieses Jahres wird der fertige Text in einem Referendum zur Wahl gestellt, dann heißt es wieder Apruebo (Ja) oder Rechazo (Nein) zur neuen Verfassung.

Pinochets Verfassung bald abgeschafft? Hoffnung auf eine tatsächlich demokratische neue Verfassung haben die Bewegungen kaum (Foto: Leonel Yañez Uribe)

Die Einigung auf einen neuen verfassunggebenden Prozess setzt ein Zeichen: Chile kehrt ins Institutionelle zurück, eine Expert*innenkommission macht einen Vorschlag, die Ratsmitglieder arbeiten daran. Nichts daran ähnelt jenem Prozess, den die Revolte entfacht hat und den wir seit 2019 verfolgt haben. Man kehrt zur Demokratie „da oben“ zurück, Bürger*innen und soziale Bewegungen bleiben einfache Zuschauer*innen.

Das Schlimmste: Wer sich für den Verfassungsrat zur Wahl stellen möchte, muss einer gesetzesmäßig eingeschriebenen Partei angehören. Kandidaturen von Unabhängigen oder Vertreter*innen sozialer Bewegungen sind nicht möglich. Die Wahl der Mitglieder des Verfassungsrats wird in ihrem Prozedere damit an die Wahl der Senator*innen angelehnt. Dabei wird nicht proportional vorgegangen, sondern nach Methoden, die dem umstrittenen binominalen System ähneln, das bis 2013 angewandt wurde. Beispielsweise werden für die Region Araucanía, in der ein Konflikt zwischen Mapuche, dem Staat und Forstunternehmen läuft, fünf Ratsmitglieder auf eine Million Einwohner*innen gewählt – genauso viele wie für die Metropolregion Santiago, in der 8 Millionen Menschen leben. Dabei werden größere Listen bei der Sitzverteilung mathematisch übervorteilt, Pluralismus und Vielfalt gehen verloren.

Auch wenn der Verfassungsrat also zu 100 Prozent gewählt wird, so handelt es sich dabei doch um ein von den politischen Parteien im Parlament dominiertes Organ. Genau dagegen hatten sich 78 Prozent der Chilen*innen im Verfassungsreferendum von 2020 ausgesprochen. „Diese Wahl richtete sich mit großer Mehrheit gegen die Beteiligung des Parlaments im verfassunggebenden Prozess“, erinnert Cuenca.

Fast alle Parteien, die derzeit im chilenischen Parlament vertreten sind, haben der Reform für eine neue Verfassung zugestimmt – außer der ultrarechten Republikanischen Partei und dem rechtspopulistischen Partido de la Gente. Die Parteien hinter dem „Abkommen für Chile“ planen, mit der neuen Verfassung dem Erbe Pinochets ein Ende zu bereiten. Dass das gelingt und die neue Verfassung Chile am Ende demokratischer und gerechter macht, bezweifeln vor allem bewegungsnahe Kreise. „Das Abkommen sieht praktisch vor, dass das Parlament die neue Verfassung aufsetzt. Das bringt uns in eine sehr prekäre Lage. Sowohl das Vorgehen als auch die Akteure in diesem Prozess machen nicht viel Hoffnung“, so lautet Lucio Cuencas Fazit.

“NUR POPULISMUS HÄTTE DIE WAHL DREHEN KÖNNEN”

Viviana Delgado, Alejandra Salinas y Elisa Giustinianovich (v. l. n. r., Foto: Susanne Brust)

Wie kann man sich Ihre tägliche Arbeit in der Apruebo-Kampagne vorstellen?

Elisa: Ich war Teil der Kampagne Apruebo Nueva Constitución (Ich stimme für die neue Verfassung) der sozialen Bewegungen. Wir hatten durch die Revolte und den verfassungsgebenden Prozess deutlich an Kraft gewonnen. Um nicht wieder von den Parteien abhängig zu sein, beschlossen wir, eine eigene Kampagnenkoordination voranzutreiben. In dieser versammelten wir über 100 Organisationen, um zwei zentrale Aufgaben anzugehen. Zunächst einmal die – für selbstverwaltete Organisationen ohne finanzielle Mittel – enorme Aufgabe, einen Wahlwerbespot auf die Beine zu stellen. Zweitens haben wir uns gemeinsame Materialien überlegt. Das war interessant, denn wir merkten bald, dass die Art, in der wir den Inhalt aufbereiteten, auf der Straße am besten ankam.

Viviana: Da wir öffentliche Ämter besetzen, hat die Rechte es sich zur Aufgabe gemacht, bis in die sozialen Netzwerke zu überwachen, ob wir auch ja keinen Wahlkampf machen. Denn Inhaber öffentlicher Ämter dürfen sich (im Rahmen ihrer Tätigkeit, Anm. d. Red) in Chile nicht parteipolitisch äußern. Aber wir haben trotzdem Wahlkampf gemacht. Und wisst ihr, wohin wir gegangen sind? In die schlimmsten Siedlungen. Dorthin, wo aus Angst niemand hinging.

Wie wurde Ihre Arbeit an den Türen angenommen?

Viviana: Manchmal öffneten sie uns die Türen, draußen alles voller Müll, das Wasser grün und verfault und fragten: „Was bringt mir die neue Verfassung, wenn das hier das Leben ist, das mir die Regierung bieten kann?“ Es gab viele solcher Begegnungen mit tief verzweifelten Nachbarn. Die Leute glauben an nichts mehr. Wir kamen mit der Verfassung und sagten: „Schau, sie wird das Gesundheitssystem verbessern.“ – und standen da einem Nachbarn gegenüber, der um 5 Uhr aufstehen muss, um einen Arzttermin zu bekommen. Wie sollten wir Menschen davon überzeugen, dass wir etwas Besseres anbieten können, wenn wir das die ganzen letzten Jahre nicht geschafft haben?

In Maipú hat am 4. September dennoch das Apruebo gewonnen. Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?

Alejandra: Dafür gab es viele Gründe. In Maipú liegt es vor allem daran, dass wir mit der derzeitigen Verwaltung auf einer Wellenlänge sind. Nicht wie bei den Vorgängern, da war die Bürgermeisterin einfach eine Witzfigur und der Verwaltung sind so einige Missgeschicke passiert. Und dann lag es natürlich auch am Wahlkampf: jeden Tag, in der Metro, bei den Nachbarschaftsversammlungen.

Elisa: Ich denke, dass progressivere Lokalverwaltungen, die in den Monaten vor dem Plebiszit eine gute Arbeit geleistet haben, den Bürgern das Vertrauen gaben, dass Institutionen funktionieren. Dass sich das Leben verbessern kann. Sie wählen also mit Hoffnung.

Es gab zwei Apruebo-Kampagnen: eine, die den Regierungsparteien nahestand (Apruebo por Chile) und eine, die sich autonom organisierte (Apruebo Nueva Constitución). Wie haben beide zusammengearbeitet?

Elisa: Schon bevor wir mit der Arbeit im Verfassungskonvent fertig waren, haben wir entschieden, dass wir als soziale Bewegungen unsere eigene Kampagne aufziehen wollen. Dabei haben wir immer versucht, eine gute Beziehung zu Apruebo por Chile zu halten. Uns war es wichtig, dass in jeder Region je nach den örtlichen Bedingungen entschieden wurde, wie eng diese Beziehung war. Oder ob überhaupt zusammengearbeitet wurde.

War es ein Fehler, zwei Kampagnen für das Apruebo zu organisieren?

Elisa: Die Parteien verfolgen im Allgemeinen vor allem politische Machtinteressen. Ihr Ziel ist es, politische Macht zu erhalten, deshalb werden sie alles immer mit Blick auf die nächsten Wahlen nutzen. Für uns, die wir keine Stimme haben – oder nur für kurze Zeit hatten – bedeutet das, dass unsere Arbeit für ihre Interessen genutzt wird. Das einzige Parteienbündnis, das ernsthaft Kampagnenarbeit gemacht hat, war Apruebo Dignidad. Die Sozialistische Partei oder andere linke Parteien haben keinen Finger gerührt, damit das Apruebo gewinnt.

Wie erklären Sie sich das Wahlergebnis?

Elisa: Es war ausschlaggebend, dass es dem verfassungsgebenden Prozess an Strukturen für die Beteiligung der Bürger*innen, für politische Bildung der Bevölkerung und einem Budget für eine Kommunikationsstrategie fehlte. Gleichzeitig wurde ein sehr kurzer, begrenzter Prozess zur Ausarbeitung der Verfassung geplant.

Alejandra: Und es gab eine Gruppe von Wählern, die wir einfach nicht einschätzen konnten. Denn mit der Wiedereinführung der Wahlpflicht waren es nicht mehr nur sechs Millionen, sondern 13 Millionen Stimmen. Damit gab es fünf Millionen Menschen, die sich schon lange von jeglichen gesellschaftlichen Prozessen abgekoppelt hatten. Ihr langes Schweigen hat seinen Ursprung auch im neoliberalen System: in dieser bitteren Notwendigkeit, nur auf sich selbst zu achten und sich nicht dafür zu interessieren, was nebenan passiert.

Dieser Teil der Bevölkerung war am Ende entscheidend. Wie haben Sie das erlebt?

Alejandra: Die sozialen Netzwerke bringen dich mit Menschen zusammen, die so denken wie du. Das verzerrt und aus meiner Sicht war es ein Fehler, in dieser Blase gelebt zu haben. Das hat sich jetzt gerächt.
Viviana: Ähnlich war es bei den Wahlkampfshows, die die Apruebo-Kampagne veranstaltet hat. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie mir jemand sagte: „Hey, die Leute kommen nicht wegen des Apruebos, sie kommen wegen der Show”. Und ich sagte: „Nein, das kann nicht sein.”

Elisa: Ich denke, die Tatsache, dass Alejandra Stadträtin ist, du (Viviana, Anm. d. Red.) Abgeordnete bist und ich Konventsmitglied war, zeigt, dass wir nicht in einer Blase gelebt haben. Wir haben gelernt, Wahlkämpfe außerhalb der Blase zu führen, und deshalb wurden wir gewählt. Und das haben wir in der Apruebo-Kampagne wiederholt. Aber das Votum für das Apruebo will Veränderung und man sieht seine Anhänger auf der Straße. Das Rechazo dagegen ist ein Votum gegen Politik, das an nichts und niemanden mehr glaubt.

Gibt es rückblickend etwas, was die neue Verfassung gerettet hätte?

Elisa: Wir hatten nur zwei Monate, um einer einjährigen brutalen Gegenkampagne voller Fake News entgegenzuwirken. Egal, wie oft man an jede Tür in Chile klopfte, um zu erklären, zu informieren. Danach schalteten sie den Fernseher ein und sofort kommt die Angst. Um mit Ja zu stimmen, musste man Aktivist sein oder jeden Tag jemanden um sich haben, der einem die Zweifel und Sorgen nimmt. Um Nein zu wählen, brauchte man nur einen Fernseher.

Also war es unmöglich?

Elisa: Ich glaube, es war unmöglich. Das Einzige, was das Ergebnis wahrscheinlich noch hätte drehen können, sind leider populistische Maßnahmen. Es wäre wahrscheinlich sehr günstig für das Apruebo gewesen, wenn die Regierung einen bono invierno (Anm. d. Red.: Sonderzahlung an einkommensschwache Familien) eingeführt hätte.

Alejandra: Oder eine fünfte Auszahlung (Anm. d. Red.: von 10 Prozent der Ersparnisse aus den privaten Rentenversicherungen/AFPs), die Canasta Básica Universal (Anm. d. Red.: staatlich garantierte Versorgung mit grundlegenden Lebensmitteln). Diese Art von Maßnahmen, die die tiefe Wirtschaftskrise, die wir weltweit durchmachen, aber die sich in Chile schon viel länger abzeichnet, abmildern würde. Das hätte den Frust vielleicht abgefedert.

Würden Sie auch Selbstkritik üben?

Viviana: Ja, der Skandal um Rodrigo Rojas Vade (siehe LN 579), den ehemaligen Vizepräsidenten der Konvention, hat uns sehr geschadet. Diese Geschichte wurde von der Rechten aufgegriffen, sie erschien so oft wie möglich in den Zeitungen und im Fernsehen.

Elisa: Dass die Bevölkerung mit dem Konvent unzufrieden war, lag auch an mangelnder politischer Reife einiger Akteure, die aus den Bewegungen kamen. Es fehlte ein Verständnis dafür, dass viele Chilenen konservativ sind, wenn es um Politik und Institutionen geht. Bei vielen Konventsmitgliedern ist es nie ins Bewusstsein durchgedrungen, dass sie nun eine öffentliche Person waren und dass jeder Fehler eine enorme Verbreitung erfahren würde.

Wie geht es nun weiter bei Ihnen? Welche Pläne haben Sie?

Viviana: In Chile ist das Fernsehen mächtiger als wir. Es ist unmöglich, zu gewinnen. Wenn wir also die Mittel für einen bürgernahen Fernsehsender hätten, dann könnten wir Menschen damit erreichen. Außerdem müssen wir anfangen, eigene comunicadores sociales (Anm. d. Red.: vor Ort bekannte Personen, die Kampagnenarbeit machen und dafür ggf. von Politiker*innen beauftragt werden) in unseren Gemeinden und Regionen zu finanzieren.

Elisa: Zum ersten Mal hatten wir die Möglichkeit, unsere Kämpfe in einem gemeinsamen Resonanzraum zu sammeln. Vor zwei Jahren gab es diesen Raum noch nicht – wir hatten keine landesweite Artikulation, kein politisches Programm. Jetzt haben wir es und nehmen es zur Grundlage, um weiterzumachen. Mir scheint, dass dies unweigerlich zur Schaffung eines neuen politischen Akteurs führen wird. Einer politischen Organisation, die sich nicht nur auf das Gewinnen von Wahlen konzentriert. Sondern auf die Überführung des Verfassungstextes in ein politisches Programm, das mehrheitsfähig ist. Es ist eine langwierige Aufgabe, aber sie ist nicht schwer. Denn was wir mit der Verfassung geschaffen haben, wird in Chile dringend benötigt.

„ES WAR EIN HARTER KAMPF“

Manuela Royo (Foto: privat)

Das vergangene Jahr über haben Sie an der neuen Verfassung gearbeitet. Wie bewerten Sie diese Arbeit heute?
Wir haben viel geschafft, finde ich! Wir haben nicht nur eine neue Verfassung geschrieben, sondern den Konvent auch zu einer Plattform der politischen Debatte gemacht. Denn wir wurden nicht gewählt, um uns um Machtpositionen zu streiten. Es ging nicht ums Regieren wollen, im Gegenteil: Wir wollen ein gerechteres Chile und in einer besseren Gesellschaft leben.

Und wie setzt man das in einer Verfassung um?
In einer Verfassung geht es letztendlich darum, juristische Güter festzuschreiben. Dazu gehören Konzepte wie die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die in der Vergangenheit politisch sehr relevant waren. Uns ging es darum, weiteren Dingen den gleichen Rang einzuräumen: der Ernährungssouveränität, dem Saatgut, den Flüssen. Dazu gehört auch die Sorge füreinander. Auf dieser Ebene konnten wir bei den Menschen viel Bewusstsein schaffen.

Konnten Sie auch andere Konventsmitglieder von diesen Ansichten überzeugen?
In Gesprächen und Verhandlungen haben wir es geschafft, Überzeugungsarbeit zu leisten und wichtige Punkte durchzubringen. Da ging es zum Beispiel um das traditionelle Verständnis vieler Linker, dass man soziale Rechte nur durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen finanzieren könne. Wir aber sprechen nicht einmal von natürlichen Ressourcen, sondern von Gemeingütern.

In der Umweltkommission haben sie erst einmal alle unsere Vorschläge abgelehnt. In den Zeitungen wurde sich über uns und unsere post-extraktivistischen Ideen lustig gemacht. Wir seien doch nur Hippies. Wir haben also gleich an zwei Fronten gekämpft: einerseits mit Klimawandelleugnern aus der konservativen Rechten. Andererseits, und das war traurig, mit Linken, die der Meinung waren, unsere Auffassung sei doch nur Mystik. Dabei sind es wissenschaftliche Fakten: Dass uns das Wasser ausgeht, hat sich doch niemand ausgedacht. Es war ein harter Kampf, aber am Ende kamen viele unserer Vorschläge knapp durch. Insgesamt fühle ich aber, dass in dem Prozess Legitimität erreicht wurde.

Umweltaspekte waren eines Ihrer wichtigsten Themen. Welchen Wert hat die Umwelt nun in der neuen Verfassung?
Einen sehr großen. Schon im ersten Artikel der Verfassung steht, dass Chile ein ökologischer Staat ist, zu dessen wichtigsten Werten der Respekt vor den Rechten der Natur und unserer Abhängigkeit von ihr zählen. Damit ist gemeint, dass die Natur keine Ressource ist, aus der wir unbegrenzten wirtschaftlichen Vorteil für Wachstum ziehen können. Stattdessen ist es wichtig, zu betonen, dass die Natur Rechte hat, die der Staat und die Menschen respektieren und gewährleisten müssen. Wir sind Teil der Natur und können ohne sie nicht leben. Deshalb haben Themen wie Ernährung und Wasser genauso große Bedeutung wie die wirtschaftliche Stabilität. Und schließlich ist es die erste Verfassung, die vor dem Hintergrund des Klimawandels geschrieben wurde.

Außerdem wurden unterschiedliche Arten natürlicher Gemeingüter festgelegt. Zum Beispiel jene, die sich Menschen aneignen können, wie Urwälder und Feuchtgebiete. Diese werden unter der neuen Verfassung jedoch unter dem Schutz des Staates stehen. Man kann beispielsweise ein Stück Land mit Urwald kaufen, diesen jedoch nicht einfach abholzen, denn das schadet der Natur. Und dann gibt es noch jene Gemeingüter, die sich niemand aneignen kann: Wasser und Luft.

Wie sollen diese Prinzipien konkret umgesetzt werden?
Es gibt Richtlinien, um beispielsweise Feuchtgebiete und Urwälder zu schützen oder generell Wasserkreisläufe und Gletscher als Wasserquellen. Deshalb würden Bergbauaktivitäten in diesen Regionen verboten werden. Außerdem ist eine Flächennutzungsplanung vorgesehen, die eine wichtige Neuorganisation der Bodennutzung zur Erholung der Ökosysteme vorsieht. Denn die meisten Flächen werden derzeit für Abbautätigkeiten genutzt, darunter Bergbau, Forstwirtschaft und Energie.
Wir haben jedoch auch aus Erfahrungen mit den neuen Verfassungen in Ecuador und Bolivien gelernt. Denn in Ecuador sind zwar die Rechte der Natur in der Verfassung verankert, im Amazonasgebiet wird aber überall nach Erdöl gebohrt. Und in Bolivien, wo die Rechte der Pachamama anerkannt wurden, kam mit der neuen Verfassung der Wasserkrieg.

Deshalb ist es einerseits wichtig, konkrete Institutionen zu schaffen. Andererseits muss es möglich sein, die zugesicherten Rechte auch einzufordern. Bei reinen Zusicherungen zu bleiben, ist sehr gefährlich. Es braucht auch eine praktische Ebene und konkrete Regeln.

Sind denn im Verfassungsentwurf konkrete Institutionen vorgesehen?
Wir haben durchgebracht, dass es Umweltgerichte in allen Regionen des Landes geben wird. Bisher gab es nur drei. Allerdings war es bisher so: Wenn jemand deinen Fluss verseucht, hast du keinen Anspruch auf kostenlosen Rechtsbeistand, wenn du juristisch gegen die Verschmutzung vorgehen willst. Wir fanden, das verletzt viele Rechte. Außerdem wollen wir nicht, dass es von einer NGO abhängt, wer vor Gericht gehen kann, sondern dass der Staat dafür zuständig ist, die Natur und die Gemeinschaften zu verteidigen. Deswegen haben wir die öffentliche Ombudsstelle für Natur geschaffen, die diese rechtliche Vertretung gerichtlich und außergerichtlich kostenlos übernehmen wird.

Welche Bestimmungen enthält die Verfassung zum Thema Wasser?
Um das Thema Wasser haben wir uns besonders gekümmert. Wir haben ein Wasserstatut in der Verfassung verankert, in dem festgelegt ist, dass mit Wasser nicht gehandelt werden kann. Außerdem wird es Nutzungsrechte geben, die sowohl eine soziale als auch eine ökologische Funktion erfüllen müssen. Wir haben einen institutionellen Rahmen entwickelt, der für die Vergabe der Wassernutzungsrechte auf der Grundlage dieser Prinzipien verantwortlich sein wird. Dieser Rahmen sieht auch die Einrichtung von Räten für Wassereinzugsgebiete vor, bei denen es sich um gemeinschaftliche und partizipative Gremien handelt, die Entscheidungen über Wasser treffen. Außerdem wird das Trinkwasser in ländlichen Gebieten geschützt. Dort haben bisher die meisten Gemeinden kein fließendes Wasser und keine Abwassersysteme. Die neue Verfassung sieht hier die Gründung von Wassergenossenschaften vor.

Unter welchen Bedingungen haben Sie im Konvent an der Verfassung gearbeitet?
Es war ein schneller und selbstverwalteter Prozess, denn die Regierung hat uns keine Ausstattung zur Verfügung gestellt, nicht einmal einen Stift oder einen Schreibtisch. Wir hatten zum Beispiel einen Raum von etwa zwölf Quadratmetern für zwölf Teams, ohne Klimaanlage und Heizung. Die Delegierten konnten nirgendwo sitzen, keine Treffen abhalten. Es gab einige Gemeinschaftsräume, die reserviert werden konnten, aber die befanden sich weiter weg.

Am Anfang war viel davon die Rede, dass es eine Kinderbetreuung geben könnte. Daraus wurde aber nichts. Am Ende hat dieser Prozess gigantische persönliche Belastungen verursacht. Viele Delegierte erzählten, dass ihre Kinder an Depressionen leiden, weil sie ihre Mütter und Väter nie sahen – bis hin zu Suizidversuchen. Hinzu kam noch der Druck aus Medien und Politik und die fast tägliche Arbeit bis zwei Uhr morgens. Und wir sind direkt von der Pandemie in den Konvent gekommen: mit hoher Arbeitslast und der wenigen Unterstützung, die wir hatten. Das bedeutete viel Stress und viel Gewalt.

Gewalt?
Ja, während des Verfassungsprozesses habe ich viel Gewalt erlebt. In den sozialen Netzwerken bekam ich teilweise 300 Nachrichten am Tag, die mir Angst machen sollten. Vor ein paar Monaten erhielt ich eine schreckliche Morddrohung. Letztlich wollen sie, dass wir schweigen. Aber das tue ich nicht, im Gegenteil: Ich habe alles öffentlich gemacht.

Welche Strategien wendet der rechte Flügel derzeit an, um die Verabschiedung der neuen Verfassung zu verhindern?
Sie schüren überall Misstrauen und verbreiten Fake News. In den Straßen von Santiago hängen Plakate mit Slogans wie: “Die Verfassung ist eine Lüge”. Gestern hat der Senator Felipe Kast im Radio die schamlose Lüge verbreitet, dass die Verfassung eine Abtreibung bis zum neunten Monat erlauben wird. Das geht jeden Tag so. Es ist psychologische Kriegsführung.

Wie bereiten Sie sich auf das Referendum vor?
Wir setzen darauf, die Basis zu mobilisieren. Da wir in Lateinamerika die Dinge immer in letzter Minute erledigen (lacht), hoffen wir, dass es in den verbleibenden zwei Monaten eine große soziale Mobilisierung geben wird. Dabei zählen wir auf die bestehenden Netzwerke: die Bewegungen, Gewerkschaften und so weiter.

Es war schwierig, Wahlkampf zu machen, bevor der Verfassungstext fertig war. Wir konnten schlecht sagen: „Ja, es ist alles gut“, solange noch Abstimmungen ausstanden. Die Rechten dagegen sagen schon immer, dass alles an der neuen Verfassung schlecht ist. Und jetzt müssen wir auf die Straße gehen. Am wichtigsten ist natürlich Santiago, dort konzentrieren sich die meisten Stimmen. Ich lebe eigentlich in der ländlicheren Araucanía im Süden, aber während der Kampagne werde ich an beiden Orten sein. Um die ländlichen Gebiete zu erreichen, ist das Radio der beste Weg.

Glauben Sie, dass das Apruebo, also das „Ja“ zur Verfassung, gewinnen wird?
In Chile gibt es viele Menschen, die rechts sind. Historisch betrachtet lag das Wahlergebnis aber meist bei 60 zu 40 für die Linke. So war es beim Referendum über die Absetzung Pinochets und auch jetzt bei Borics Wahl. Wir setzen darauf, diese Menschen zu mobilisieren. Es gibt noch eine große Zahl von Unentschlossenen, und wir glauben, dass sie für die Verfassung stimmen werden, sobald sie wirklich wissen, was in ihr steht. Aber wir haben nur noch sehr wenig Zeit und wenig Geld.

DIE ZWEITE HALBZEIT LÄUFT

Altes Gebäude, neue Ideen Das Plenum des Konvents muss bis Juli die neue Verfassung beschließen (Foto: LuisCG11 via Wikimedia Commons (CC-BY-SA-4.0))

Es ist Halbzeit: Anfang Juli 2021 konstituierte sich der chilenische Verfassungskonvent mit dem Auftrag, innerhalb von maximal zwölf Monaten eine neue Verfassung zu erarbeiten. Zwölf Monate – das ist wahrlich keine lange Zeit, um die Weichen für ein ganzes Land auf Jahrzehnte zu stellen. Bisher ging es im Verfassungskonvent jedoch vor allem um Verfahrens- und Abstimmungsregeln und die Wahl der Vorsitzenden. Erst am 18. Oktober 2021, genau zwei Jahre nach Ausbruch der Massenproteste, die den Prozess ins Rollen gebracht hatten, wurden die sieben Fachausschüsse ins Leben gerufen, in denen nun die ersten Abstimmungen über den Inhalt der neuen Verfassung begonnen haben.

Auf den Schultern der 155 gewählten Mitglieder liegt eine große Verantwortung. Mit der neuen Verfassung soll das neoliberale Kapitel in Chiles Geschichte beendet und ein neues aufgeschlagen werden. Die Hoffnungen auf ein sozial gerechteres, umweltfreundlicheres und progressiveres Chile sind groß. Die Wahl von Gabriel Boric zum Präsidenten (siehe den Infokasten zu diesem Artikel) gibt diesen Erwartungen noch einmal neuen Schwung. Doch noch ist nichts gewonnen. Sollte es dem Gremium bis Juli nicht gelingen, einen fertigen Text vorzulegen, ist das Verfassungsprojekt Geschichte.

Die zweite Halbzeit lief jedoch holprig an: Ganze neun Wahlgänge an zwei Tagen waren Anfang Januar für die Wahl der neuen Konventspräsidentin nötig, da sich die Mitte-Links-Delegierten nicht auf eine Kandidatur einigen konnten. Am Ende wurde María Elisa Quinteros mit den exakt nötigen 78 Stimmen ins Amt gewählt, ohne Unterstützung des Linksbündnisses Frente Amplio und der Sozialist*innen. Auch die Konsultationen der indigenen Gemeinschaften starteten aufgrund fehlender Finanzierung erst Ende Januar statt wie geplant schon im Dezember 2021. Die Öffentlichkeit fragte sich: Kriegen die das hin mit der neuen Verfassung?

Auf der Webseite des Konvents konnte die chilenische Bevölkerung in den vergangenen Wochen – und nach ebenfalls verspäteter Freischaltung – bereits selbst konkrete Vorschläge für den Verfassungstext einbringen und über die verschiedenen Initiativen abstimmen. Solche iniciativas populares, die mindestens 15.000 digitale Unterschriften erhalten haben, werden in den Abstimmungsprozess im Konvent aufgenommen. Über 6.000 Initiativen gingen ein, fast 2.500 standen nach Prüfung aller Voraussetzungen zur Abstimmung. Nur 38 hatten kurz vor Ablauf der Frist am 1. Februar die nötigen Unterschriften zusammen. “Wir haben anfangs nicht abgesehen, dass wir weder Zugang zu den Medien noch die Unterstützung der Regierung haben würden, um die Beteiligung zu erhöhen“, kommentierte der Delegierte Jorge Baradit gegenüber La Tercera die anfänglich schleppende Beteiligung.

Nur 5 Minuten Redezeit pro Verfassungsnorm im Grundrechteausschuss

Die 38 Initiativen mit der nötigen Anzahl an Unterschriften werden nun im jeweiligen Fachausschuss diskutiert und könnten schließlich in den endgültigen Verfassungstext einfließen. Die Initiative „Será Ley“ kam als erste auf die 15.000 Unterschriften. Sie fordert eine Verfassungsnorm über sexuelle und reproduktive Rechte, insbesondere das Recht auf Abtreibung. Über 31.000 Menschen haben die Initiative inzwischen unterzeichnet. Die zweite Initiative mit über 15.000 Unterschriften heißt „Con mi plata NO“ und fordert die Sicherung der Renten. Sie plädiert unter anderem für das Eigentumsrecht an Rentenfonds, die Wahlfreiheit zwischen öffentlichen und privaten Fonds und eine universelle und steuerfinanzierte Grundrente. Mit rund 49.000 Unterschriften hat diese Initiative mittlerweile die höchste Unterstützung – dicht gefolgt von der Legalisierungsinitiative “Cannabis a la Constitución Ahora” mit rund 40.000 Unterschriften.

Die Bandbreite der Initiativen mit mehr als 15.000 Unterschriften ist enorm. Die Forderungen reichen von einem Recht auf Eigentum über die Verstaatlichung der Bergbaukonzerne, einer autonomen Zentralbank und Tierrechten bis hin zu einer feministischen Bildung. Die tatsächliche Umsetzung einiger Initiativen in der neuen Verfassung gilt als fraglich. Trotzdem erreichte etwa die Initiative „Cárcel para Sebastián Piñera“ (Gefängnis für Sebastián Piñera, Chiles amtierenden Präsidenten) die Schwelle von 15.000 Unterschriften in weniger als einer Woche. Zum Teil sind die Forderungen auch widersprüchlich. So hat nicht nur die Initiative „Será Ley“ die nötige Unterstützung erhalten. Auch das Vorhaben „Derecho a la vida“ gegen das Recht auf Abtreibung hat rund 25.000 Unterschriften gesammelt. Beide Vorschläge werden jetzt im Grundrechteausschuss verhandelt, in der die Delegierten schon in der letzten Januarwoche nur fünf Minuten Redezeit zur Erläuterung jedes vorgeschlagenen Grundrechts hatten – geplant war ursprünglich je eine Stunde.
Natürlich können auch die 155 Mitglieder des Konvents Vorschläge einbringen. Sogenannte iniciativas convencionales, die von mindestens acht Konventsmitgliedern unterzeichnet wurden, werden vom Präsidium geprüft und an den zuständigen Ausschuss weitergeleitet. Alle Initiativen, populares oder convencionales, werden zunächst in den Fachausschüssen diskutiert und abgestimmt. Erst nach dortiger erfolgreicher Abstimmung wandern die Verfassungsinitiativen ins Plenum, wo sie ab dem 8. Februar mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden können. Am 27. April soll dann ein erster grober Verfassungsentwurf stehen. Da es noch Unstimmigkeiten und Widersprüche zwischen den einzelnen Teilen geben kann, nimmt dann ein Harmonisierungsausschuss seine Arbeit auf, der den endgültigen Entwurf ausarbeitet.

Die erste Verfassungsnorm wurde im Umweltausschuss angenommen. Sie sieht vor, die Erdatmosphäre als öffentliches Gut anzuerkennen und zu schützen. Außerdem hat der Ausschuss beschlossen, dass alle Konzessionen für Bergbau, Wasser- und Waldnutzung sowie andere Großprojekte in indigenen Gebieten annulliert und neu beantragt werden müssen, sofern sie nicht die vorgeschriebene Zustimmung der betreffenden indigenen Gruppen erhalten haben. Dies erregte einiges Aufsehen, der Unternehmensverband beklagte sogleich die daraus folgende Unsicherheit für Investitionen und dass der Konvent die juristische Ordnung missachten würde. Bis zur Abstimmung im Plenum ist jedoch noch nichts endgültig beschlossen.

Interessant sind dennoch auch die Beschlüsse zum politischen System. Der zuständige Ausschuss stimmte in allgemeiner Lesung zwar keineswegs radikalen, aber doch merklichen Änderungen zu. So wird es voraussichtlich beim bestehenden Präsidialsystem bleiben – fast alle Delegierten meinen, eine parlamentarische Demokratie entspreche nicht der Kultur und den Erwartungen der Bevölkerung. Stattdessen soll es künftig eine*n paritätisch besetzten Vizepräsident*in geben und das bisher schwache Parlament mehr Befugnisse erhalten. Das Parlament soll geschlechterparitätisch besetzt werden und reservierte Sitze für Indigene haben. Um den Gesetzgebungsprozess effizienter zu gestalten, soll es künftig nur noch aus einer Kammer bestehen. Der Ausschuss beschloss zudem, dass die Regionen mehr Autonomie bekommen und Chile als plurinationaler Staat definiert wird. Bevor die Beschlüsse dem Plenum vorgelegt werden, könnten sie in weiteren Lesungen jedoch noch Veränderungen erfahren.

„Der Prozess ist so weit weg für die Menschen“

Schlagzeilen macht derzeit auch der Justizausschuss. Er hat die Gründung eines Obersten Justizrats beschlossen, der in Zukunft das Justizsystem verwalten soll, die Richter*innen ernennt und in dem auch Vertreter*innen der Zivilgesellschaft sitzen sollen. Die Richter*innen am Obersten Gericht haben in einer Stellungnahme dagegen protestiert, dass sie künftig nicht mehr auf Lebenszeit ernannt werden sollen, sondern nur noch für etwa 10 Jahre. Sie fürchten um die Unabhängigkeit der Justiz, verteidigen dabei aber auch ihre Privilegien. Noch debattiert wird eine mögliche Abschaffung des Verfassungsgerichtshofes, der in der Vergangenheit viele wichtige Gesetze zu Fall brachte und in weiten Teilen der Bevölkerung nicht als politisch unabhängig wahrgenommen wird. Seine Funktionen könnten dann vom Obersten Gerichtshof übernommen werden.

Während die Verfassung langsam Gestalt annimmt, naht nicht nur die Abgabefrist, sondern auch das Plebiszit, bei dem sich voraussichtlich im August entscheiden wird, ob die neue Verfassung angenommen wird. Die Ausgangslage könnte besser sein: Laut Umfragen war fast die Hälfte der Bevölkerung mit der Arbeit des Konvents während der letzten Monate unzufrieden bzw. vertraute ihm nicht oder nur wenig. Nur 38 Prozent der Befragten kennen die Mechanismen für Bürgerbeteiligung wie die iniciativas populares.

Halbzeit benannte die neue Konventspräsidentin María Elisa Quinteros neben der Einbeziehung der indigenen Bevölkerung die bessere Information der Bevölkerung. „Der Konvent muss zu den Leuten zurückkommen, der ganze Prozess sollte sie einbeziehen und der ihrige sein. Bisher haben wir keine kraftvolle Kommunikation gehabt, es ist so weit weg für die Menschen. Nur die besonders Engagierten sind auf dem Laufenden“, sagte sie gegenüber Interferencia. „Wir müssen auch alle angemessen darüber informieren, was für einen Verfassungsvorschlag wir im Plenum beschließen – also mit genug Zeit und nicht erst eine Woche vor dem Plebiszit“.

Aber die Zweifel sind da, ob die Delegierten wirklich genug Zeit für die gründliche Ausarbeitung der neuen Verfassung haben und dafür, sie den Wähler*innen rechtzeitig zu erklären. „Wir rennen der Zeit hinterher“, so die sozialistische Delegierte Malucha Pinto kürzlich gegenüber El Mercurio Online. „Ab einem Moment war es unmöglich, die Normen noch zu lesen und zu analysieren. Wir haben angefangen, danach zu entscheiden, von wem sie kamen oder ob wir das Thema wichtig fanden. Ich denke, wir müssen versuchen, eine Verlängerung über Juli hinaus zu beantragen.” Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Eine Verlängerung könnte jedoch nur der Kongress mit Zweidrittelmehrheit beschließen. Ob die rechten Parteien im Parlament, die zum großen Teil gar keine neue Verfassung wollen, da mitmachen würden, ist allerdings unklar. Besser wäre es also, das Verfassungstor vor Ende der zweiten Halbzeit zu schließen.

HÜRDEN FÜR DEN UMBRUCH

VICENTE PAINEL

ist Historiker und Philosoph. Er ist Mitbegründer einer genossenschaftlichen Gemeinschaftsbank der Mapuche zur Förderung einer endogenen Wirtschaft, basierend auf der genossenschaftlichen Organisation der Unternehmen. Im Mai 2021 war er Regionalgouverneurskandidat für die Araucanía, diese Region war jedoch die einzige, in der ein rechter Kandidat gewann. Für die Wahl am 21. November kandidiert Painel für den Regionalrat der Araucanía.
(Foto: privat)


 

Wie bewerten Sie die Situation, in der sich die chilenische Regierung aktuell befindet?
Wir befinden uns in einer Situation der politischen Unregierbarkeit. Das beunruhigt nicht nur die Menschen, die auf die Straße gehen und mehr soziale Sicherheit, Demokratie und die Achtung der Menschenrechte fordern, sondern auch die Wirtschaft. Eigentlich befinden sich die Unternehmen in einer sehr vorteilhaften Situation. Der Anstieg des Dollarpreises, der im Mai bei 700 Pesos lag und jetzt bei 800 Pesos, und die Erwartungen für den Export von Rohstoffen verlaufen zu ihren Gunsten, die Preise steigen. Wäre da nicht die politisch instabile Lage, für die auch die Geschäftswelt Piñera verantwortlich macht.
Der Präsident befindet sich in einer sehr schwachen und isolierten Position, er ist praktisch allein, da er dem Land keine Stabilität bringt und innerhalb der Bevölkerung sehr diskreditiert ist. Zudem könnte er wegen der Menschenrechtsverletzungen und Korruptionsfälle, in die er verwickelt ist, im Gefängnis landen. Dies ist in Peru der Fall, wo fast alle ehemaligen Präsidenten im Gefängnis sitzen, oder in Argentinien, wo gegen Mauricio Macri wegen ähnlicher Vorfälle ermittelt wird. Damit könnte ein Kreislauf der Straflosigkeit beendet werden, der in Chile seit mehreren Jahrzehnten besteht. Außerdem hat er praktisch keine Chance, politische Reformen anzustoßen, um aus der Situation heraus zu kommen.

Wie ist die Regierung in diese Situation geraten?
Es ist ein Teufelskreis: Jede Maßnahme, die Piñera ergreift, stößt auf Proteste, und das einzige, was die Regierung tut, ist zu unterdrücken und die Menschenrechte zu verletzen, was wiederum noch mehr Feindseligkeit erzeugt. Das grundlegende Problem ist aber die drohende soziale Krise der privaten Haushaltsschulden. Im Zuge der Rückkehr zur Demokratie versuchte die Concertación por la Democracia, die Koalition der demokratischen Parteien mit Ausnahme der Kommunistischen Partei, die Unzufriedenheit und Armut zu bekämpfen, indem sie die Konsumfähigkeit der Bevölkerung durch deren Verschuldung erhöhte. Dieser Mechanismus schuf ein Gefühl des wirtschaftlichen Wohlstands, das sich seit 2010 in einer ständigen Krise befindet. Diese kann auf herkömmliche Weise bekämpft werden, indem die Einkommen etwas besser verteilt werden, etwa durch eine höhere Steuer auf den Bergbau und mehr Sozialhilfe, oder indem das Wirtschaftsmodell durch eine vierte industrielle Revolution geändert wird, also durch den Übergang zu einer auf künstlicher Intelligenz basierenden Produktionsweise. Das würde aber bedeuten, dass wir in Innovation investieren müssten.

Zu Beginn des Jahres hat die Regierung mehrere Sozialleistungen eingeführt, wie das Familiennotstandsgeld (IFE), das eine Art universelles Grundeinkommen auf sehr niedrigem Niveau ist, oder auch Lohnsubventionen. Warum funktioniert das nicht?
Der IFE wurde gemeinsam mit den Parteien der Ex-Concertación konzipiert und ist eine Antwort auf die Art und Weise, wie die Regierung von Michelle Bachelet die soziale Krise lösen oder abfedern wollte. Etwa durch Boni, die das Wirtschaftsmodell nicht berühren, sondern nur den Rückgang des Konsums ersetzen. Der IFE ist jedoch ein schwaches Instrument, und seine Wirkung nimmt aufgrund der steigenden Inflation ab. Heute ist ein starker Anstieg der Ölpreise zu verzeichnen, der sich mittelfristig auf alle Bereiche der Wirtschaft auswirken wird.

Anstatt sich auf diese Krise zu konzentrieren, hat die Regierung kürzlich den Ausnahmezustand in der Araucanía ausgerufen und das Militär in das Mapuche-Gebiet geschickt, um Brandanschläge auf Forstunternehmen zu bekämpfen. Dabei wurden unlängst Zivilist*innen durch Schüsse des Militärs umgebracht.
Der Ausnahmezustand und die Entsendung des Militärs dienen einerseits der Einschüchterung der Mapuche-Bevölkerung der Region. Andererseits kam es seit der Entsendung des Militärs zu weiteren Anschlägen auf Forstmaschinen und sogar auf einen Zug, der Zellulose transportierte. Er hat also nicht zu mehr Kontrolle über das Gebiet geführt, und die Regierung weiß das. In ihren Erklärungen spricht sie deshalb von einem „erhöhten Sicherheitsgefühl“, das die militärische Präsenz vermitteln soll. Gleichzeitig sind die chilenischen Offiziere in einigen Fällen erfahrener als die Regierung selbst. Aus ihrer Zeit als Blauhelme in Haiti sind sie mit dem Völkerrecht vertraut und wissen, dass Menschenrechtsverletzungen auf internationaler Ebene verfolgt werden können. Daher sind ihre Aktivitäten in der Region recht gering. Mit Ausnahme der Marine, die bislang nicht an Auslandseinsätzen teilgenommen hat. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Schüsse auf zivile Personen an einem Kontrollposten von Marinesoldaten kamen.
Seit dem Mord an Camilo Catrillanca im Jahr 2018 behauptet die Regierung, dass der einzige Grund für die Gewalt die ausländische Intervention, der sogenannte „Drogenterrorismus“ und „überideologisierte Mapuche“ seien. Damit verschleiert sie die wahren Probleme: Solange es Armut gibt, wird es Rebellion geben. Das ist für mich eine historische Tatsache. Immer, wenn es große Armut und Ungleichheit gibt, gibt es auch kriminelle Aktivitäten und politische Gewalt gegen diese Situation. Die Araucanía ist die ärmste Region in Chile: Es fand eine militärische Besetzung statt, den Mapuche wurden ihre Ländereien mit Gewalt genommen. Zusätzlich scheiterten bislang alle Wirtschaftsprojekte für die Siedler. Seit der Militärdiktatur herrscht eine Politik, die die Araucanía unterentwickelt, Unternehmen der lokalen Entwicklung schliesst und sie zu einem Lieferanten von Zellulose herabsetzt.

Zurzeit tagt der Verfassungskonvent, der eine neue Verfassung ausarbeiten soll, um die aus der Militärdiktatur abzulösen. Wie kommt er seiner Aufgabe bislang nach?
Der Konvent hat keinen staatsgründenden Charakter und wird durch geltende Gesetze und internationale Verträge eingeengt. Dennoch macht er Fortschritte. Allein die Tatsache, dass eine Mapuche-Frau Präsidentin ist, bedeutet etwas. Nun hängt es davon ab, ob die Delegierten in der Lage sind, zumindest einige der Erwartungen zu erfüllen, die in den Konvent gesteckt wurden. Ein Problem ist jedoch, dass seine Mitglieder ohne klare politische Strategie gewählt wurden und viele von ihnen politisch wenig erfahren sind. Sie bedienen vielmehr eine emotionale Unzufriedenheit.

Der Konvent wird derzeit von einer neofaschistischen Rechten angegriffen, die offen eine diktatoriale Politik vorschlägt. Ihr Präsidentschaftskandidat, José Antonio Kast will die Möglichkeit eines Ausnahmezustands einführen, bei dem es klandestine Gefängnissen geben soll, und fordert den Austritt aus der UNO, um nicht mehr für Menschenrechtsverletzungen belangt zu werden. Wie schätzen Sie diesen rechten Flügel ein?
Der rechte Flügel ist isoliert und spielt seine letzten Karten aus, um die eigenen Privilegien zu erhalten. Er hat nicht nur keine mehrheitsfähige Unterstützung, sondern ist auch in mehreren Wahllisten gespalten, was nach dem derzeitigen Wahlsystem dazu führen wird, dass sie noch mehr Sitze verlieren werden. Das wird eine Katastrophe für die Rechte sein. Der Kandidat der weniger extremen Rechten, Sebastián Sichel, der die meisten Spenden aus der Wirtschaft erhalten hat, aber kaum in der Lage ist, die Wahlen zu gewinnen, überließ es den Abgeordneten seiner Koalition, für andere Kandidaten zu stimmen und Werbung zu machen. Für die Wirtschaft bedeutet dies, dass die christdemokratische Kandidatin Yasna Provoste dem Land offenbar mehr Stabilität und Regierbarkeit verheißt als der rechte Flügel. Dieser Ausschluss könnte die Rechte jedoch in eine terroristische Rechte verwandeln. Mit direkten Angriffen auf die Bevölkerung wird sie versuchen, Veränderungen zu verhindern. Dies wird eine echte Gefahr für die künftige Regierung darstellen.

Es besteht eine gute Chance, dass der Kandidat Ihres Parteienbündnisses, Apruebo Dignidad, diese Wahlen gewinnt. Sie vertreten jedoch einen Sektor, der den Kandidaten der Kommunistischen Partei, Daniel Jadue, bevorzugt hätte, weil er die Programmvorschläge des aktuellen Kandidaten Gabriel Boric zu moderat findet.
Es ist gut möglich, dass Boric die Wahlen im November gewinnt. Er gehört zu einem Sektor, der sich immer dafür eingesetzt hat, dass die ehemalige Concertación ihr eigenes Demokratisierungsprogramm erfüllt, das sie am Ende der Diktatur vorgeschlagen hatte. In diesem Sinne steht er für eine erneuerte Concertación und wird wahrscheinlich mit dem von ihm vorgeschlagenen Programm konsequent sein. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass Boric oder die Christdemokratin Provoste an die Macht kommen, denn mit ihnen haben wir die Gewissheit, dass der Konvent seine Arbeit friedlich beenden kann. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die nächste Regierung nur zwei Jahre Bestand haben wird, denn mit Annahme der neuen Verfassung, mitsamt einer neuen Regierungsform, weniger präsidial, weniger zentralistisch, werden vermutlich Neuwahlen angesetzt.

Wenn Sie sagen, dass der Konvent nur mit zwei der Präsidentschaftskandidat*innen in der Lage sein wird, seine Arbeit reibungslos zu erledigen, bedeutet dies, dass der rechte Flügel den Prozess boykottieren wird.
Der rechte Flügel hat sich derzeit mit 20 bis 30 Prozent der Wählerstimmen etabliert. Die faschistische Rechte wurde in der chilenischen Geschichte nur einmal gestoppt, und zwar in den Dreißigerjahren von der traditionellen Rechten, die damals von Präsident Arturo Alessandri vertreten wurde. Darüber hinaus, sei es während der Regierung der Unidad Popular von Allende oder während der Militärdiktatur, war der Staat nicht in der Lage, ihr entgegenzutreten. Während der Diktatur agierte sie sogar im Sinne des Staates. Ich denke, die radikale Rechte muss zurückgedrängt werden, um die Rechtsstaatlichkeit durchsetzen zu können. Aber die Carabineros sind genauso unfähig, sich mit diesem Thema zu befassen, wie die Kriminalpolizei PDI. Auch die Streitkräfte werden die extreme Rechte nicht unterdrücken. Um diese Aufgabe zu bewältigen, wäre eine Strukturreform notwendig. Deshalb gibt es keinen anderen Ausweg, als auf die Selbstverteidigung zu setzen.

Sie selbst treten bei der Wahl im November als Kandidat für den Regionalrat der Araucanía an. Der Regionalrat ist ein eher unbedeutendes Gremium, das vor allem über die Verteilung bestimmter Gelder entscheidet. Warum diese Position?
Der Regionalrat ist, anders als viele glauben, einer der wichtigsten Erfolge der Dezentralisierungspolitik der letzten zehn Jahre. In den kommenden Jahren wird eine Reihe von Zuständigkeiten an die neuen Regionalgouverneure übertragen, die im Mai 2021 zum ersten Mal gewählt wurden. Hier wird der Regionalrat eine große Bedeutung für die Stärkung der Regionen gegenüber der Zentralmacht haben. Es gibt eine Vielzahl von Herausforderungen, vor allem auf regionaler Ebene, wie etwa die Förderung einer endogenen Entwicklung, die nicht vom Zentralstaat oder der Ausbeutung natürlicher Ressourcen abhängt. Von der Region aus können wir am besten die Umgestaltung vorantreiben und neue Institutionen schaffen, zum Beispiel eine Föderation der Regionalgouverneure, die die Dezentralisierung weiter vorantreiben würde. Ich glaube, dass von diesem Ort aus ein noch radikalerer Wandel möglich ist, als vom verfassungsgebenden Prozess aus.

HOLPRIGER EPOCHENWECHSEL

Gegen die Straflosigkeit Alejandro Muñoz setzt sich für die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die Augenverletzungen der Demonstrierenden ein (Foto: Caterina Muñoz)

Transpis und Plakate hängen an der Wand, am Eingangstor ein großes Schild: „Kein Zutritt für Parteien, Abgeordnete des Verfassungskonvents und die Presse“. Gleich daneben: „Micco tritt zurück!“. Das zentrale Büro des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) in Santiago, welches die Einhaltung der Menschenrechte in Chile überwachen soll, ist seit knapp zwei Monaten besetzt und Sergio Micco, der Direktor, steht im Zentrum der Kritik.

Während nur wenige Fahrradminuten entfernt, im ehemaligen Parlamentsgebäude, der Verfassungskonvent tagt und von der Geburt eines neuen Chile spricht, ist hier das alte Chile in der Krise. Es geht um die Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte seit Oktober 2019, aber auch um jene der 30 Jahre zuvor, die demokratische Regierungen nicht verhindern konnten. Das Symptom vom Ende einer historischen Epoche, oder doch mehr vom Gleichen?

Auch nach zwei Jahren gibt es noch keine Verurteilungen

Alejandro Muñoz ist seit Beginn der Besetzung vor Ort. Sein Gesicht ist gezeichnet von der Repression der Revolte vom Oktober 2019. Ein Auge ist leicht verschoben und schaut beim Reden ins Leere. Er wurde am 23. Oktober von einer Gasgranate im Gesicht getroffen. Aus nächster Nähe schoss ein Polizist ihm mit einem Granatenwerfer direkt in sein Auge – aus Absicht, wie er vermutet. Seitdem kämpft er für Entschädigung der Opfer, Verurteilung des Schützen und der Verantwortlichen für die Gewaltexzesse der Polizei und Militär. Muñoz ist Mitglied der Coordinadora de Víctimas de Trauma Ocular, einer der Organisationen, die von den mehr als 467 Menschen gegründet wurden, die durch Einwirken von Polizei oder Militär mindestens ein Augenlicht verloren haben.

Mit der Besetzung wollen die Betroffenen auf ihre Situation aufmerksam machen. Knapp zwei Jahre nach den ersten Vorkommnissen gibt es noch immer keine Verurteilungen im Zusammenhang der Menschenrechtsverletzungen seit Oktober 2019, und nur circa ein Prozent aller Anzeigen gegen Staatsbeamte führte zur Identifizierung eines möglichen Schuldigen.

Gleichzeitig sitzen laut Medienberichten mindestens 77 Personen aufgrund von Festnahmen im Zusammenhang mit der Revolte im Gefängnis, 51 warten immer noch auf ein rechtskräftiges Urteil, zum Teil sind sie seit Ende 2019 in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, Molotowcocktails geworfen oder öffentliche Unruhe gestiftet zu haben. Für Muñoz und die Besetzenden sind es politische Gefangene. Die langsamen Verfahren, die lange Untersuchungshaft und Skandale, die auf die Manipulation von Beweisen hinweisen, belegen das aus ihrer Sicht.

„Die Kämpfenden werden von den politischen Prozessen ausgeschlossen, ins Gefängnis gesperrt und gefoltert“, ist sich Muñoz sicher. Der verfassungsgebende Prozess sei eine Farce ohne Perspektive. Während Politiker*innen unter sich um die Zukunft des Landes streiten, seien die betroffenen Menschen fallen gelassen worden. Viel Hoffnung setzt Muñoz nicht in die politischen Veränderungen: „Ich glaube nicht, dass das klappt, ich vertraue den politischen Institutionen nicht“, meint er.

Im Institut für Menschenrechte halten sie zusammen. Die Besetzung wird von der Coordinadora, einer Organisation von Gefangenen der Revolte sowie der linksrevolutionären Schüler*innenorganisation ACES (Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios) getragen, um weiterhin für Gerechtigkeit zu kämpfen. Konkret bedeute das, „Präsident Sebsatián Piñera muss ins Gefängnis“, fasst Muñoz zusammen.

Gegen hohe Polizeigeneräle und Politker*innen der Regierung laufen derzeit mehrere nationale und internationale Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen. Doch für diese braucht es Beweise – Beweise, die durch Mitarbeiter*innen des Instituts für Menschenrechte zusammengetragen wurden. Doch anstatt sie zu veröffentlichen, beschönigte der christdemokratische Direktor, Sergio Micco, die brutale Staatsgewalt Ende 2019. Deshalb soll auch er zurücktreten, so die Besetzer*innen.

Der INDH-Direktor beschönigte die Gewalt

Weder Micco noch andere offizielle Stellen des INDH haben sich bislang öffentlich zu der Besetzung geäußert. Zumindest mit einer Räumung rechnet bislang niemand. Es würde ein schlechtes Licht auf das Institut werfen, das derzeit noch im Homeoffice arbeitet.

Ganz im Gegenteil dazu haben sich die organisierten Angestellten des INDH an die Besetzenden gewandt und ihre Solidarität bekundet. Sie sehen sich in der Kritik an der Institutsleitung bestätigt. Während sie die Repression am eigenen Leib erleben mussten, lässt das Institut nicht nur die Opfer, sondern auch die eigenen Angestellten fallen. Mehrere Arbeiter*innen, die Beweise für die Menschenrechtsverletzungen in einem Buch veröffentlichten, wurden vor mehr als einem Jahr entlassen.

Luis Guerrero arbeitet weiterhin im INDH. Er ist der Präsident einer von zwei Gewerkschaften, in denen sich die Arbeiter*innen des INDH organisieren, Anwalt und eigentlich für die Lohnzahlungen und Arbeitsverträge im Institut verantwortlich, doch während der Revolte führte die Arbeit auch ihn auf die Straße: Er und seine Kolleg*innen beobachteten die Demonstrationen, besuchten Verletzte in den Krankenhäusern und begutachteten die Situation der Gefangenen. All das sind Kernpunkte der Arbeit des INDH.

Das Institut wurde 2010 gegründet und soll als von der Regierung unabhängige staatliche Institution die Situation der Menschenrechte in Chile überwachen und für deren Einhaltung und Verbesserung einstehen. Es stellt in der damaligen Logik ein wichtiges Element dar, um das versprochene „Nie Wieder“ der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur einzuhalten. Doch die Geschichte kam anders.

Die Vertreter*innen des INDH konnten während der Revolte ihre Arbeit durchführen und das Institut veröffentlichte zu Beginn die genauesten Zahlen zu Verletzten, Gefolterten oder Inhaftierten. Dabei wurden die Mitarbeiter*innen auch selbst Opfer der Gewalt. Guerrero wurde am 6. Dezember 2019 von einer Granate am Oberarm getroffen, als er damit sein Gesicht schützte. Nur durch Glück wurde weder sein Arm gebrochen noch er im Gesicht getroffen. Wie in den allermeisten Fällen ist bis heute kein Polizist für diesen Angriff angeklagt.

“Tritt zurück!” Plakate am Tor des besetzten INDH in Santiago kritisieren die Säumnisse seitens des Leiters (Foto: Malte Seiwerth) 

Der Gewerkschafter Guerrero benennt ein allgemeines Problem: „Obwohl wir eine große Anzahl an Übergriffen feststellen konnten, beteiligt sich das Institut nur bei rund einem Drittel der Anklageschriften.“ Der Grund: Das Institut ist bis heute vom Ausmaß der Gewalt überfordert und kann seine Funktion aufgrund fehlender Mitarbeiter*innen nicht vollständig erfüllen.

Nur die vom INDH Vertretenen wurden jedoch in späteren Berichten des INDH zur offiziellen Zahl der Gewalttaten. Das Institut habe ab Anfang 2020 begonnen, die Situation der Menschenrechte zu beschönigen. „Wir konnten einen gezielten Angriff der Polizei auf Demonstrierende und gezielte sexuelle Gewalt gegenüber jungen, demonstrierenden Frauen feststellen, aber anstatt das so darzustellen, spricht der offizielle Bericht von ‚breiter Gewalt‘.“ Er schlussfolgert: „Damit werden der Angriff auf die demonstrierende Zivilbevölkerung, der Bruch des Versprechens eines ‚Nie Wieder‘ und die Menschenrechtsverletzungen im Allgemeinen weniger klar dargestellt.“ Diese Beschönigung helfe einzig und allein der Regierung, so Guerrero.

Eine mögliche Erklärung für diese Vorgänge ist der Aufbau des Instituts, das von einem Rat aus elf Mitgliedern geleitet wird. Von diesen werden zwei direkt durch den Präsidenten ernannt, jeweils zwei durch die beiden Parlamentskammern, eines durch die Universitäten und vier durch anerkannte Menschenrechtsorganisationen. Das führe, so Guerrero, zu einem politischen Patt. „Heute haben wir sechs Mitglieder, die der rechten Regierung nahestehen und zum Teil nicht einmal auf Menschenrechte spezialisiert sind. Das untergräbt die politische Autonomie des Instituts.“

Die Logik des politischen Patts war während der vergangenen 30 Jahre in Chiles Politik allgemein bestimmend. Das binominale Wahlsystem, das zum letzten Mal im Jahr 2013 angewandt wurde, führte dazu, dass die erst- und zweitstärksten Parteienbündnisse fast unabhängig von dem tatsächlichen Wähler*innenanteil jeweils um die 50 Prozent der Sitze im Parlament erhielten. Diese politische Situation verunmöglichte tiefgreifende Reformen und gab Stabilität auf Basis eines künstlich geschaffenen politischen Gleichgewichtes zwischen den demokratischen Kräften und den diktaturnahen rechten Parteien.

Tiefsitzende Probleme, wie die Struktur der Polizei und des Militärs, konnten daher nicht angepackt werden. Das muss sich nun ändern. Der politische Wind des Wandels, bisher nur im Verfassungskonvent repräsentiert, aber in der Hoffnung von Guerrero nach den Wahlen vom November auch im Parlament und in der Regierung, muss den Übergang zur Demokratie vollenden. Dazu gehört für Guerrero die Gründung einer neuen zivilen Polizei und eine Reform des INDH.

„Wir leben weiterhin in einem Ausnahmezustand“

Wenige Fahrradminuten vom INDH, an der Plaza Dignidad vorbei, liegt der Sitz des Verfassungskonvents. Hier wurde das politische Patt bereits endgültig gebrochen. Bei der Wahl im Mai erlangten die rechten Parteien weniger als ein Drittel der Sitze. Gleich danach hieß es, die Verfassung werde von der Mitte, linken Parteien, Parteilosen und sozialen Bewegungen geschrieben.
Camila Zárate ist eine der Abgeordneten. Die Frau mit den roten Haaren war noch vor kurzem Mitglied der Lista del Pueblo, einer Wahlliste, die sich aus sozialen Bewegungen und Persönlichkeiten der Oktoberrevolte zusammensetzt und damals drittstärkste Kraft im Konvent wurde.

Mittlerweile steht die Liste kurz vor der Auflösung. Zuerst brach ein Streit um die Beteiligung an der kommenden Präsidentschaftswahl aus, später um die oder den Kandidaten für das höchste Amt. Am 26. August lehnte die Wahlbehörde die Kandidatur von Diego Ancalao, dem offiziellem Kandidaten der Liste ab. Mehr als die Hälfte der nötigen Unterstützer*innenunterschriften wurden von einem Notar beglaubigt, der 2018 in Rente ging und Anfang 2021 gestorben war. Die Unterschriften waren vermutlich gefälscht.

Mittlerweile sind mit zwei Ausnahmen alle Delegierten der Lista del Pueblo aus dem Bündnis ausgetreten, Zárate war eine der ersten. Sie schloss die Beteiligung an den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen als einem politischen Prozess, der immer noch durch die Verfassung der Diktatur aus dem Jahr 1980 geprägt ist, von Beginn an aus. Zárate hat dazu eine klare Meinung: „Ich möchte dem alten System keine Legitimität geben, wenn wir hoffentlich in ein bis zwei Jahren eine politische Neuordnung haben.“ Deswegen ist sie im Verfassungskonvent, möchte aber keine Energie auf die kommenden Wahlen „verschwenden“, wie sie es sagt. Zárate meint, in der Umweltbewegung MAT, der sie angehört, hätten sie seit Jahrzehnten für eine neue Verfassung gekämpft. Nach dem Oktoberaufstand habe sich die einmalige Möglichkeit eröffnet, eine neue, demokratische Verfassung zu schreiben. Dies sei ein Eingeständnis der politischen Elite gegenüber der Bevölkerung, die im Oktober 2019 das Land lahmlegte.

Die Besetzung des INDH zeige laut Zárate vor allem eines: „Wir leben weiterhin in einem Ausnahmezustand.“ Nicht nur, dass die Menschenrechtsverletzungen bislang nicht aufgeklärt sind, auch die Forderungen der Bewegung von damals sind noch nicht umgesetzt.
Während das Parlament über ein Amnestiegesetz für die im Zusammenhang von Demonstrationen Verhafteten diskutiert, verabschiedete der Konvent als einen seiner ersten Amtsakte im Juli eine Erklärung, die die Freilassung der „politischen Gefangenen“ und die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen forderte. Ende August verlangte die Menschenrechtskommission des Konvents die Auflösung der aktuellen Militärpolizei, Carabineros de Chile, und die Neugründung einer zivilen Sicherheitskraft. Doch all das sind bislang Vorschläge, die von der rechten Regierung scharf kritisiert werden.

Erneute Demonstrationen gegen die andauernden Probleme bleiben bisher klein und haben mit Polizeirepression zu rechnen. Auch eine nächtliche Ausgangssperre, eigentlich zur Bekämpfung der Coronapandemie eingeführt, bleibt trotz derzeit tiefer Fallzahlen in Kraft. Das Militär patrouilliert bis heute mit Radwagenpanzern durch die nächtliche Stadt und kontrolliert die Grenzen zwischen den einzelnen Regionen des Landes.

Die Gebäude des Verfassungskonvents sind mit Zäunen umringt, öffentliche Plätze in der Nähe gesperrt und jede noch so kleine Protestgruppe wird sofort von der Polizei kontrolliert. Für Zárate geht es um die Entscheidung zwischen zwei möglichen Wegen: Eine Neugestaltung des Landes über die Institutionen oder eine „Aneignung des Prozesses durch die Bevölkerung“. Zárate spricht sich für die zweiten Weg aus, die Bevölkerung soll an der Entscheidungsfindung teilnehmen. Dazu gehören Abstimmungen über umstrittene Artikel und wenn nötig Demonstrationen, um bestimmte Punkte in der Verfassung zu verankern. Eine Strategie, die die Regierung mithilfe der Polizei verhindern will.

Doch die stärksten Proteste beginnen vermutlich erst im Oktober, denn bislang hat der Verfassungskonvent lediglich die eigene Geschäftsordnung geschrieben. Schon dort zeigten die rechten Abgeordneten ihren Anspruch, den Konvent zu boykottieren. Regelmäßig behaupten sie, die Mehrheit im Konvent sei „totalitär“, wenn sie beispielsweise die Leugnung von Menschenrechtsverletzungen oder das Verbreiten von Fake-News verbieten will.
Zárate kümmern diese Äußerungen wenig, „sie sollen sagen, was sie wollen“, meint sie dazu. Schließlich sind die anderen Kräfte in der Mehrheit und die Rechte verteidige einzig ihre Position: die Verhinderung des politischen Wandels. Wenn der Konvent erstmals über den Inhalt der neuen Verfassung diskutiert und im November ein neues Parlament und ein*e neue*r Präsident*in gewählt wird, gibt es sicher neuen Konfliktstoff.

DIE ABWAHL DES NEOLIBERALISMUS

Plötzlich Altpapier Demonstrant*innen verabschieden sich symbolisch von der alten Verfassung Foto: simenon via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Natividad Llanquileo war die Erste, die als gewählte Delegierte des Verfassungskonvents am Wahlabend feststand. Die 36-jährige Mapuche war einst als Sprecherin von hungerstreikenden, antikapitalistischen Mapuche-Kämpfern bekannt geworden (siehe LN 534). Wie symbolhaft ihre Wahl für diesen Urnengang werden sollte, wusste da noch niemand. Llanquileo selbst sagte später gegenüber Tercera Información: „Chile hat durch die Wahl der Verfassungsdelegierten gezeigt, dass es einen radikalen Wandel möchte. Vor der Revolte von 2019 waren wir an einen Punkt gekommen, an dem es nicht mehr auszuhalten war. Wir brauchen strukturelle Veränderungen.“

Die sozialen Bewegungen hatten nach Beginn der Revolte im Oktober 2019, dem Plebiszit ein Jahr später und den folgenden Unterschriftensammlungen für die Kandidaturen gespürt, dass Wandel in der Luft liegt und auf einen Sieg der progressiven Kräfte gehofft (siehe LN 560). Das historische Ausmaß des linken Erfolgs kam dennoch überraschend: Rechte Parteien erhielten nur gut 20 Prozent der Stimmen, ihr schlechtestes Ergebnis seit 1965.

Und das, obwohl bis zur letzten Minute noch ein anderer Wahlausgang zu befürchten war: Die wenigen Wahlprognosen sagten voraus, dass die politische Rechte mindestens ein Drittel der Sitze im Verfassungskonvent und damit eine Sperrminorität erreichen würde. Wie die verantwortlichen Institute später zugaben, hatten sie kosten- und aufwandsbedingt keine seriösen Umfragen durchgeführt, die etwa die große Zahl unabhängiger Kandidat*innen sowie die Pandemiesituation berücksichtigt hätten. Die politische Klasse hatte das Potenzial der parteiunabhängigen Kandidaturen unterschätzt – ein für die sozialen Bewegungen glücklicher Irrtum vor allem der Rechten. Diese hatte der Einberufung eines Verfassungskonvents überhaupt nur zugestimmt, weil sie sich eines Vetorechts durch das Erreichen eines Drittels der Sitze sicher gewesen war.

Für die größte Überraschung sorgte wohl die Lista del Pueblo, die unter den parteiunabhängigen Listen am meisten Sitze für ihre Delegierten holte (siehe Grafik S. 9). In 24 der 28 Distrikte waren die Kandidat*innen der Liste angetreten und hatten über soziale Medien, Mund-zu-Mund-Propaganda und Veranstaltungen in den Kommunen um Stimmen geworben. So auch Camila Zárate. Die Sprecherin der Bewegung gegen die Wasserprivatisierung (MAT) zieht aus dem siebten Distrikt rund um die Küstenstadt Valparaíso in den Verfassungskonvent ein. Laut Zárate steht die Lista del Pueblo für Basisorganisation und arbeitet derzeit daran, diese Strukturen weiter auszubauen: „Es soll eine Asamblea del Pueblo (etwa Basisversammlung aller Chilen*innen, Anm. d. Red.) entstehen, in der es eine deutlich breitere Beteiligung geben kann“, so die zukünftige Delegierte gegenüber Radio U Chile.

Zárate hat sich außerdem mit 33 unabhängigen und indigenen Delegierten in der Vocería de los Pueblos (etwa „Sprachrohr der Bevölkerung“) zusammengeschlossen. Als gemeinsamer Block innerhalb des Konvents wollen sie die demokratische Beteiligung der Bürger*innen an der Verfassung garantieren und wenden sich gegen die von den politischen Parteien im November 2019 beschlossene Vereinbarung zur Initiierung des Verfassungsprozesses (siehe LN 547). „Wir werden uns dieser Vereinbarung nicht unterordnen, denn die Menschen haben sie zu keinem Zeitpunkt legitimiert“, so das Bündnis in einer ersten öffentlichen Erklärung.

Die Lista del Pueblo hatte sich vor allem über die harsche Kritik an der jetzigen Regierung und die Ablehnung der etablierten Parteien aller Lager zusammengefunden. So mussten die Kandidat*innen unter anderem eidesstattlich versichern, in letzter Zeit in keiner Partei aktives Mitglied gewesen zu sein. Rafael Montecinos, Sprecher der Lista del Pueblo, erklärte im Interview mit El Desconcierto: „Wir wollen versuchen, die Dinge auf unsere Art anzugehen und eben nicht so wie sie [die Parteien] in den vergangenen 30 Jahren!“ Als Bewegung, die ihren Ursprung in der Revolte hat, fordert die Lista del Pueblo außerdem die Freilassung und Straffreiheit aller politischen Gefangenen der Proteste. Das sei Voraussetzung für Gespräche mit den Parteien, so Montecinos.

Auch Alondra Carrillo, Kandidatin der feministischen Dachorganisation Coordinadora 8M, ist als Unabhängige in den Konvent gewählt worden. Sie ist eine von fünf Vertreter*innen der feministischen plurinationalen Plattform für eine neue Verfassung, die es in das Gremium geschafft haben: „Wir wollen das Leben von Frauen, Mädchen und Queers dort zum zentralen Thema machen. So bringen wir das Recht auf ein Leben ohne Gewalt, das Recht auf die Selbstbestimmung über unsere Körper, Leben, Verpflichtungen und die Anerkennung und Kollektivierung der reproduktiven Arbeit voran“, sagte Carrillo gegenüber LN.

Für die Psychologin und Aktivistin hat die Wahl vor allem eines gezeigt: „Die kollektive Kraft des Feminismus, die alles verändern will, und die der sozialen Bewegungen“. Carrillo hofft im Konvent auf einen breiten Konsens zwischen den Listen, die die Belange der sozialen Bewegungen vertreten. Denn letztere sollen nicht außen vor bleiben: Über Versammlungen und Netzwerke sollen die Interessen der Basis in den Konvent getragen werden. Delegierte wie Alondra Carrillo tragen nun ein kollektives Mandat: „Schließlich sind wir nicht nur Unabhängige, sondern vor allem Vertreter*innen sozialer Bewegungen, die sich selbst organisiert haben.“ Dabei gelte es, die konservativen Meinungen der jetzigen Regierungsparteien herauszufordern: „Wir werden uns weder an jenen zermürben, die den Feminismus instrumentalisieren, noch an denen, die in den Parteien jene Politik der Prekarisierung vorangetrieben haben, gegen die wir uns erhoben haben“, so Carrillo.

Andere gewählte Vertreter*innen bleiben eher skeptisch. So auch die indigenen Gemeinschaften, die sich vor der Wahl wieder einmal auf sich allein gestellt sahen. Denn anders als die Geschlechterparität und die Beteiligung Unabhängiger wurden reservierte Sitze für Indigene im Verfassungskonvent erst sehr spät und nach schier endloser Diskussion beschlossen.

Adolfo Millabur, Mapuche und ehemaliger Bürgermeister von Tirúa und künftiger Delegierter des Konvents, befürchtet, dass indigene Themen wie so oft hinten runterfallen könnten, sobald es um mehr als die nur symbolische Anerkennung Chiles als plurinationalen Staat geht: „Wir müssen uns zuallererst auf eine gemeinsame Version der Geschichte einigen, auf deren Basis wir unser Zusammenleben aufbauen können. Sonst wird der Verfassungskonvent nicht viel bringen. Das bedeutet, über die Landfrage, über indigene Autonomie und Selbstbestimmung zu reden (…). Wir müssen auch über Wiedergutmachung sprechen, die mehr als nur symbolisch ist. Viele gewählte Delegierte bleiben mir dabei bisher zu oberflächlich“, so Millabur im Interview mit El Desconcierto.

Für ihn und andere indigene Delegierte ist daher bereits die Festlegung der Geschäftsordnung des Konvents sehr wichtig: „Darin muss als Richtschnur auf jeden Fall die ILO-Konvention 169 festgehalten werden. Damit wird der Konvent verpflichtet, in den die indigene Bevölkerung betreffenden Angelegenheiten Mechanismen festzulegen, um deren verbindliche freie, vorherige und informierte Zustimmung einzuholen.“

Erhebungen der Plattform Votamos Tod@s sowie von La Tercera zu den politischen Positionen von mehr als zwei Dritteln der gewählten Delegierten ergaben deutliche Mehrheiten für staatliche Garantien im Hinblick auf kostenlose Gesundheitsversorgung und Bildung sowie für angemessene Rente und Wohnungen. Viel Unterstützung erfährt die Stärkung des Umweltschutzes und des Menschenrechts auf Wasser. Ein breiter Konsens besteht im künftigen Konvent außerdem beim Wunsch nach mehr Bürger*innenbeteiligung, einer Verringerung der Macht der*des Präsident*in, einer Reform des Verfassungsgerichts, mehr LGBTIQ*-Rechten sowie einem plurinationalen Staat und mehr indigener Autonomie.

Anlässlich des Weltumwelttags Anfang Juni sprachen sich über 30 gewählte Delegierte aus mehreren Fraktionen in einem offenen Brief gemeinsam für eine ökologische Transformation aus, darunter für die Vergesellschaftung von natürlichen Ressourcen wie Wasser, Gletschern oder Wäldern. Sie plädierten für ein postextraktivistisches Entwicklungsmodell, ein Ende der Opferzonen, Generationen- und Klimagerechtigkeit sowie das Prinzip des guten Lebens. Diese gemeinsame Initiative könnte sich zum Modell einer fraktionsübergreifenden Zusammenarbeit im Konvent entwickeln.

Es wird damit gerechnet, dass der Verfassungskonvent spätestens in der ersten Juliwoche seine Arbeit aufnimmt. An welchem Ort und in welcher Form das Gremium zusammenkommt, muss noch endgültig entschieden werden. Sobald der Konvent dann zusammentritt, stehen die Zeichen auf einen grundlegenden Wandel in Chile. Selbst der kleinste gemeinsame Nenner aller Kräfte links der Mitte verspricht Mehrheiten im Konvent, die auf ein Ende des Neoliberalismus hinauslaufen, wie er Chile seit fast 50 Jahren geprägt hat.

Die Rechte wird sich vermutlich auf Kämpfe um die großen Linien der Gesellschaft konzentrieren, um einen radikalen Systemwechsel zu vermeiden. Dabei hofft sie auch darauf, dass das nach Ausarbeitung der neuen Verfassung anstehende Plebiszit zu ihrer Ratifizierung allzu deutlichen Wandel verhindert. Carol Bown, Delegierte der rechtskonservativen UDI (siehe Infokasten), umschrieb eine mögliche Strategie der rechten Kräfte im Konvent. Das Verfehlen der Sperrminorität von einem Drittel der Sitze und die Haltung bestimmten politischen Gruppen gegenüber sei nicht mehr so wichtig. Stattdessen würden sie sich eher auf thematische Diskussionen konzentrieren. Der Konvent könnte in diesem Sinne wechselnde Mehrheiten haben, die nicht durch die politischen Lager der Delegierten vorbestimmt seien. Ob dies eine realistische Einschätzung oder vielmehr Wunschdenken ist, wird sich noch zeigen. Bown sieht für sich schon inhaltliche Gemeinsamkeiten mit progressiven Delegierten: Für die Vergesellschaftung des Wassers ist auch sie zu begeistern.

Ein entscheidender Player für lagerübergreifende Gespräche ist die Lista del Pueblo. Dass sie sich eher als bürgernah und nicht explizit als links definiert, macht sie auch aus Sicht der Rechten für Gespräche im Konvent interessant. Vertreter*innen der Liste scheinen bisher jedoch andere Unabhängige sowie indigene Delegierte als Gesprächspartner*innen vorzuziehen. Laut Sprecher Rafael Montecinos seien Pakte mit der Rechten nicht notwendig, da sie sich in der Minderheit befinde.

Für die chilenischen Parteien waren die Wahlen großteils ernüchternd. Während die linken Kräfte Frente Amplio und PC durch die Ergebnisse eher gestärkt wurden, sind alle Parteien des ehemaligen Mitte-Links-Bündnisses Concertación mit Ausnahme der sozialistischen PS im Konvent nahezu irrelevant. In einer vernichtenden Selbstanalyse gegenüber La Tercera erklärte der parteiunabhängige Rodolfo Carter, der bis 2015 UDI-Mitglied war und gerade als Bürgermeister der Kommune La Florida in Santiago wiedergewählt wurde, dass Präsident Piñera selbst die größte Belastung für die Rechte sei. „Der Präsident, der nach der Wahl sagte, er habe die Botschaft verstanden, hat noch nie irgendwas verstanden. Piñera wird die Rechte begraben“, so Carter.

So haben die jüngsten Wahlen vor allem gezeigt, dass sich die politische Landschaft seit der Revolte grundlegend verändert hat – über die Verfassungsfrage hinaus auch bei den parallel stattgefundenen Kommunal- und Regionalwahlen, bei denen die Rechte ebenfalls sehr schlecht abschnitt (siehe Infokasten). Die Pläne der Parteiunabhängigen und der dahinterstehenden Bewegungen gehen daher bereits jetzt deutlich weiter. Laut ihrem Sprecher Montecinos will etwa die Lista del Pueblo auch bei den Parlamentswahlen im November antreten – und eine*n eigene*n Präsidentschaftskandidat*in aufstellen. Auch für die Parlamentswahl Listen unabhängiger Kandidat*innen zu ermöglichen, erscheint für die Legitimität künftiger Politik zwingend, es wäre für die etablierten Parteien jedoch Selbstmord und erscheint daher unrealistsich. Die kommende Regierung schließlich wird diejenige sein, die die neue Verfassung in konkrete Maßnahmen umsetzt. Falls im November also eine*r wirklich linke*r Präsident*in gewählt wird, würde dies die Verstetigung des jetzigen Erfolgs ermöglichen. Erst dann wird der radikale Wandel, von dem Natividad Llanquileo sprach, auch bei den Chilen*innen ankommen.

// DIE WEICHEN SIND GESTELLT

„Die Geschichte gehört uns, es sind die Menschen, die sie machen.“ Diese Worte sprach Salvador Allende in seiner berühmten letzten Rede am 11. September 1973, nur wenige Stunden vor seinem Tod. Auch mit Gewalt und Verbrechen könne man die gesellschaftlichen Prozesse nicht aufhalten. Heute, 48 Jahre später, geben ihm die Ereignisse in Chile recht: Mit der Wahl des Verfassungskonvents sind die Weichen für tiefgreifende strukturelle Veränderungen gestellt; die neoliberale Ära, die mit dem Militärputsch Pinochets 1973 begann, scheint vorbei zu sein. Die Menschen schreiben die Geschichte ihres Landes neu.

Karina Nohales, Sprecherin der feministischen Coordinadora 8M, sagte bei einer Veranstaltung, diese Wahl sei die bedeutendste seit Allendes Wahlsieg 1970. Allende wurde damals mit nur knapp 37 Prozent der Stimmen Präsident, für das Militär drei Jahre später eine willkommene Rechtfertigung, gegen seine Regierung zu putschen. Bei dem Plebiszit im vergangenen Jahr haben dagegen fast 80 Prozent der Wähler*innen für eine neue Verfassung gestimmt. Bei der Wahl der 155 Mitglieder des Verfassungskonvents entschieden sich nun mehr als zwei Drittel für Kandidat*innen links der Mitte, unter ihnen viele junge Menschen aus den sozialen Bewegungen. Zwar stimmten die Chilen*innen 1970 für ein sozialistisches Programm und heute gegen eine neoliberale Verfassung. Aber die Ausgangsbedingungen für einen nachhaltigen Erfolg progressiver Ideen sind heute deutlich besser.

Selbst der kleinste gemeinsame Nenner unter den linken gewählten Delegierten läuft auf ein Ende des seit Pinochet herrschenden neoliberalen Systems hinaus. Es gibt klare Mehrheiten für mehr staatliche Daseinsvorsorge und Bürgerrechte, dazu zählt etwa die von den sozialen Bewegungen seit langem geforderte Entprivatisierung der Renten, der Bildung und des Gesundheitssystems. Auch das Recht auf legale Abtreibung, die Vergesellschaftung der privatisierten Wasserrechte und mehr LGBTIQ*-Rechte erreichen im Konvent voraussichtlich die für Beschlüsse notwendige Zweidrittelmehrheit. Für die indigene Bevölkerung könnten erstmals substanzielle Rechte, wie politische und territoriale Autonomie, festgeschrieben werden. Dass die Hälfte des Konvents aus Frauen besteht, ist für sich genommen schon ein historischer Erfolg.

Es ist ein Moment der großen Chancen, um eine gerechtere Gesellschaft in Chile zu gestalten. Bis eine neue Verfassung formuliert und in Kraft gesetzt ist und konkrete Politik und Gesetze formuliert worden sind, ist es aber noch ein langer Weg. Allein mit einer neuen Verfassung ist es nicht getan, die Bevölkerung und die sozialen Bewegungen werden auch in den kommenden Monaten und Jahren weiter um ihre Forderungen kämpfen müssen. Für einen andauernden Erfolg wird es auch darauf ankommen, ihnen einen festen Platz im politischen System zu geben. Eine Änderung des Wahlrechts in der neuen Verfassung, so dass Parteilose in Zukunft auch bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen reale Erfolgschancen hätten, wäre ein erster Schritt in diese Richtung.

Auf der anderen Seite wird die chilenische Rechte mit allen Mitteln versuchen, einen links-progressiven Umbau des Landes zu verhindern. Doch die Voraussetzungen für ein politisches Projekt für mehr soziale Gerechtigkeit sind so gut wie noch nie in der jüngeren Geschichte. 1973 wie heute gilt in Chile: ¡El pueblo unido, jamás será vencido!

IMPFEN ALLEIN REICHT NICHT

Mapuche beklagen Armut durch Umweltzerstörung Proteste in Temucon (Foto: Milenrray Huilcaman / Consejo de Todas Las Tierras)

Noch wenige Tage, bevor ein sichtlich bedrückter Präsident Sebastián Piñera am 28. März schnell und umstandslos die Verschiebung der Wahlen verkündete, wäre diese Situation fast unvorstellbar gewesen. Chile impfte seit Wochen im Akkord, nur Israel war noch schneller. Die Schrecken der Pandemie, des Hungers und der Repression waren aus dem Blickfeld der Medien und öffentlichen Meinung verschwunden. Stattdessen jubelte die internationale Presse – die Regierung Piñeras schien gerettet, selbst Korruptionsvorwürfe prallten an ihr ab.

Der Erfolg verwandelte sich jedoch innerhalb kürzester Zeit in ein Eigentor. Die Regierung hatte sich über Wochen auf das Impfen konzentriert, das Personal wurde von der Kontaktnachverfolgung abgezogen und die Geschäfte geöffnet. Trotz bereits steigender Zahlen verkündete ein stolzer Bildungsminister Anfang März, dass die Schüler*innen teilweise wieder in den Präsenzunterricht zurückkehren würden.

Doch ab Mitte März schlug das Krankenhauspersonal Alarm. Die Belegung der Intensivstationen überschritt wieder eine kritische Grenze und die Arbeiter*innen im Gesundheitswesen waren im Dauereinsatz. Am 27. März waren die Krankenhäuser bereits so ausgelastet, dass die Präsidentin der Ärzt*innenkammer, Izkia Siches, im staatlichen Fernsehsender TVN verkündete, „wir befürchten, nicht mehr alle Menschen behandeln zu können“.

Eine Entspannung durch die Impfung ist derweil noch in weiter Ferne, denn erst im Juni soll das kritische Maß erreicht sein, bei dem 60 Prozent der Bevölkerung die zweite Impfdosis bekommen haben und somit immun sind. Und so half nur eins: Zurück zum Lockdown und Verschiebung der Wahlen.

Die Kennzeichen des letzten Jahres waren wieder da: Armut, Repression und politisches Chaos.

Ein Ort, an dem man dies besonders gut sehen kann, ist der Stadtteil Lo Hermida, der in den 70er-Jahren durch Landbesetzungen entstanden ist. Am 31. März sitzt Jonathan Ramírez dort vor den Gemeinschaftsräumen des Quartiervereins N°18. Er ist 28 Jahre alt und Präsident des Vereins, der die Gemeinschaftsräume verwaltet, den Nachbar*innen für Aktivitäten öffnet und selbst Veranstaltungen organisiert.

Jonathan schaut in Lo Hermida mit kritischem Blick auf die kommenden Wochen. Die Ankündigung eines erneuten Lockdowns ohne begleitende Sozialmaßnahmen stimmt ihn wütend. Die Anwohner*innen von Lo Hermida sind in ihrer Mehrzahl Tagelöhner*innen. Ohne einen festen Job leben viele von der Hand in den Mund.

In den bisher schwersten Wochen, im Mai und Juni 2020, versorgten über elf Suppenküchen die lokale Bevölkerung (siehe LN 552). Ganze Familien standen damals Schlange. In verschiedenen Teilen des Landes kam es aufgrund des Hungers zu Protesten, der Staat reagierte mit Repression. Es kam zu verdeckten Ermittlungen der Polizei und Festnahmen. Elf junge Männer aus Lo Hermida, zum Teil noch minderjährig, wurden wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Vier kamen mittlerweile im verkürzten Verfahren auf Bewährung wieder frei. Weitere sieben sitzen seit Oktober in Untersuchungshaft. Sie weigern sich, die Anschuldigungen zuzugeben.

Die Situation der Armut und Gewalt konnte nur durch die Verteilung von Lebensmittelpaketen und zwei Auszahlungen aus den Rentenfonds gelöst werden. Aufgrund der fehlenden sozialen Maßnahmen beschloss das Parlament im Juli und Dezember, dass die gesamte Bevölkerung jeweils 10 Prozent ihres Ersparten aus den Rentenfonds AFP abheben durfte (siehe LN 553 / 554). Überstieg das Ersparte eine gewisse Summe nicht, konnte sogar alles abgehoben werden.

„Diese Lösung brachte Geld in die Familien und in Umlauf, doch mittlerweile ist das meiste aufgebraucht und viele haben kein Erspartes mehr“ meint Jonathan gegenüber LN. Die erste Suppenküche hat ihre Arbeit wieder aufgenommen, weitere werden folgen. Eine dritte Auszahlung von 10 Prozent des Ersparten wird zurzeit im Parlament diskutiert, allerdings wurden viele Renteneinlagen bereits vollständig ausgezahlt.

Die Armut ist ein ungelöstes Problem der Regierung. Während die Opposition seit Wochen auf Basiszahlungen für die Ärmsten oder gar einen universellen Mindestlohn während des Lockdowns pocht, tat die Regierung nichts. Ein angekündigter „Notlohn“ hat so viele Hürden, dass kaum eine Person darauf zurückgreifen wird. „Wenn dies so weitergeht, könnte es zu neuen Protesten kommen“, warnt Jonathan.

Bereits zwei Tage zuvor brannten am „Tag des Jungen Kämpfers” Barrikaden und Kerzen in Andenken an durch die Militärdiktatur von 1973 bis 1990 sowie danach ermordete Aktivist*innen. Die Polizei war mit Wasserwerfern und Tränengas vor Ort. Jonathan beschwichtigt: „Dieses Mal gab es weniger Polizeigewalt, sie schossen auf keine Häuser und gingen auch nicht in die engen Straßen rein, um dort Tränengas zu verteilen.“

Dieses Mal. Der Regierung, die in Umfragen derzeit nur auf 6 bis 20 Prozent Zustimmung kommt, fällt weiterhin vor allem Kriminalisierung und Repression in Form von Wasserwerfern, Tränengas und Schrotgewehren als Reaktion auf die Proteste ein, die seit einem Jahr aufgrund der Pandemie auf Sparflamme laufen – häufig mit der Rechtfertigung, dass Protestierende gegen Hygieneauflagen verstoßen würden.

Die zum symbolischen Zentrum der Auseinandersetzung gewordene Plaza de la Dignidad im Zentrum von Santiago wird weiterhin jeden Freitag (dem üblichen Protesttag) von mehr 1000 Polizist*innen bewacht. Eine meterhohe Mauer schützt mittlerweile den Sockel der Statue des Generals Baquedano, der in der Mitte des Platzes auf einem Pferd in Richtung Stadtzentrum blickte. Die Statue selbst wurde auf Drängen des Militärs bereits entfernt, nachdem Protestierende sie wiederholt bemalt und zuletzt sogar angezündet hatten.

Ganz besonders präsent sind die Sicherheitskräfte im Wallmapu, der Region der indigenen Mapuche, die seit Monaten zunehmend unter militärischer Kontrolle steht.

Seit Beginn der Pandemie und der Ausrufung des Katastrophenzustands hatte in ganz Chile offiziell das Militär die regionale Verwaltung und Kontrolle der Bevölkerung übernommen. So konnte man zu Beginn der Pandemie noch Soldat*innen auf der Straße sehen, Offiziere machten derweil vor laufender Kamera Entscheidungen der zivilen Verwaltung rückgängig. Heute ist das Militär jedoch kaum mehr anzutreffen, weder in der Verwaltung noch auf der Straße.

Nur im Wallmapu ist dies anders: Seit Jahren wird dort die Polizei mit militärischer Ausrüstung ausgestattet, heute fährt sie mit dem Militär gemeinsam Patrouillen. Das Militär ist überall präsent, trotzdem passieren immer wieder neue Brandanschläge. Rechte Kreise beschuldigen Mapuche, dafür verantwortlich zu sein. Linke sehen vielmehr ultrarechte Gruppierungen und Schmuggler*innenbanden hinter den Gewalttaten.

Die Regierung destabilisiert mit ihrer Politik zunehmend das Land


Vicente Painel, Mapuche-Aktivist und in der Region Araucanía Governeurskandidat für ein linkes Parteienbündnis, kritisiert am Telefon gegenüber den LN den sicherheitspolitischen Blick auf die Region. Das eigentliche Problem sei die große Armut. Während der Pandemie ist zudem der wichtige Tourismussektor total ausgefallen. In Temuco, der Regionalhauptstadt, wachsen derweil illegale Siedlungen, zum Teil ohne Strom und ohne Zugang zu sauberem Wasser.

Seine Kritik an der derzeitigen Situation ist harsch: „Seit Oktober 2019 wird das Land nicht mehr richtig regiert. Von Mal zu Mal wird die Regierung autoritärer, als einzige Form an der Macht zu bleiben“.
Die derzeitige Politik ist für ihn ein einziges Desaster. Trotz steigender Kupferpreise schafft es die Regierung nicht, die Wirtschaftskrise abzuwenden und sich um die arme Bevölkerung zu kümmern. Es gibt keine Konjunkturpakete oder irgendwelche Wirtschaftsprogramme, die einen Aufschwung versprechen würden, stattdessen destabilisiert die Regierung durch ihre Politik das Land zunehmend.
Der Lockdown sei für ihn nicht streng genug, um die erneut massiv angestiegenen Fallzahlen sinken zu lassen, sagt der Governeurskandidat. Mittlerweile haben fast alle Industriezweige Sonderbewilligungen, um als „systemrelevante“ Sektoren weiter Präsenzarbeit von ihren Angestellten verlangen zu können. Am 5. April wurde diese Liste erstmals wieder eingeschränkt.

Die Regierung trägt die politische Schuld an der Wahlverschiebung. „Die Entscheidung fiel ihnen leicht“, meint Painel, „die Rechte hat Angst vor den Wahlen“. Trotz enormer Ausgaben für Wahlwerbung ist nicht ausgemacht, dass diese ein Drittel der Sitze im Verfassungskonvent erreichen wird. Dies wäre nötig, um dort ein Vetorecht zu haben, da alle Artikel der neuen Verfassung mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen werden müssen.

Painel erinnert an das Plebiszit vom 25. Oktober 2020, als knapp 80 Prozent der Bevölkerung für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung stimmten. „Das Ergebnis war ein Debakel für die Rechte. Der hohe Einsatz von Geldern konnte daran nichts ändern“. Auf das Nein-Lager entfielen damals knapp 90 Prozent der Gesamtausgaben für die Wahlwerbung.

Das Ergebnis bei den kommenden Wahlen bleibt weiterhin unklar. Bei den letzten Umfragen erreichte das rechte Parteienbündnis Chile Vamos nur knapp mehr als ein Drittel der Sitze im Verfassungskonvent. Die restlichen zwei Drittel teilen sich die Mitte-Links-Parteien, linke Parteibündnisse sowie parteiunabhängige Listen.

Die Verschiebung der Wahl stellt sie vor ein Ressourcenproblem: Während die rechten Parteien viel Geld für bezahlte Werbung ausgeben, sind gerade linke Parteien und Unabhängige auf Freiwilligenarbeit angewiesen. Es wird befürchtet, dass sich dieses Ungleichgewicht mit fünf zusätzlichen Wochen Wahlwerbung noch verschärft. Andererseits sind mit Älteren und wohlhabenden Menschen bisher in stärkerem Umfang solche Bevölkerungsteile geimpft, die politisch eher rechts stehen. Dieser Effekt könnte sich durch die Verschiebung abmildern.

Der Beginn des verfassungsgebenden Prozesses sowie die nun erstmals von der Bevölkerung zu wählenden neuen Gouverneur*innen, die bisher stets von der Zentralregierung bestimmt wurden, könnten dem Land eine Perspektive zurückgeben. Diese ist dringend nötig. Denn seit mehr als einem Jahr strauchelt Chile von Krise zu Krise, und während sich die Regierung immer wieder rettet, leidet die Bevölkerung unter der Situation.

DEM WAHLRECHT EIN SCHNIPPCHEN SCHLAGEN

“Neue Verfassung jetzt” Aber wer wird sie schreiben? (Foto: Matias Fernandez (CC BY-SA 4.0)

Giovanna Grandón, wegen ihres auffälligen Pokémon-Kostüms auf den Demonstrationen als Tía Pikachu bekannt, hat als Schulbusfahrerin gearbeitet, bevor die Pandemie das unmöglich machte. Jetzt tritt sie im Wahlbezirk 12, der die einkommensschwachen Hauptstadtviertel La Florida, Puente Alto und La Pintana umfasst, als parteiunabhängige Kandidatin für den Verfassungs­konvent an. Grandón gehört zur Lista del Pueblo, der „Liste des Volkes“, die landesweit 137 Kandidat*innen stellt. „Die Liste ist auf der Plaza Dignidad entstanden (dem Hauptschauplatz der Proteste, Anm. d. Red.), ihre Aufstellung war eine enorme Arbeit“, so die Kandidatin gegenüber der Online-Zeitung Interferencia.

Bis zum 11. Januar lief die Einschreibefrist für die Kandidatur als constituyentes, die 155 Mitglieder des Konvents, die Chile durch die Formulierung einer neuen Verfassung grundlegend verändern sollen. Fast 80 Prozent der Chilen*innen hatten im vergangenen Oktober für eine neue Verfassung gestimmt, die von eigens dafür gewählten Vertreter*innen ausgearbeitet wird – Parlamentsabgeordnete ausgeschlossen. Es wird der erste paritätisch mit Frauen und Männern besetzte Verfassungskonvent der Welt und der erste in Chile, bei dem parteipolitisch Unabhängige und Vertreter*innen von Indigenen eine zentrale Rolle spielen.

1.373 Kandidat*innen stehen am 11. April zur Wahl, viele davon sind parteiunabhängige Kandidat*innen wie Grandón. Auf den letzten Drücker hatte das Parlament Ende Dezember noch die Hürden für Unabhängige gesenkt: Die Anzahl der für die Kandidatur vorzuweisenden Unterschriften wurde reduziert und die Anforderung, diese kostenpflichtig notariell beglaubigen zu lassen, gestrichen. Angesichts der politischen Krise, in der Parteipolitiker*innen – ob aus Regierung oder Opposition – kaum noch Vertrauen genießen, ein wichtiger Schritt. Die Zustimmungswerte für den Kongress lagen im Dezember nur noch bei 20 Prozent, für Präsident Piñera nur noch bei 12 Prozent.

„Der Prozess ist von den Parteien monopolisiert und vereinnahmt worden.“

Ein Selbstläufer ist die Beteiligung Unabhängiger allerdings nicht. „Für uns Unabhängige ist es sehr schwierig, die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen, während die Parteien des Landes alle Möglichkeiten haben. Leider ist dieser Prozess von den Parteien monopolisiert und vereinnahmt worden“, erklärte Luis Mesina, Sprecher der Initiative No+AFP für ein gerechtes Rentensystem. Während die Kandidat*innen der Parteien auf deren Kampagnenapparat zählen können, müssen Unabhängige ihre Kampagnen in kürzester Zeit und ohne vergleichbare finanzielle Mittel aus dem Boden stampfen sowie zusätzlich Unterschriften von Unterstützer*innen vorlegen.

Um die Chancen der unabhängigen Kandidat*innen zu erhöhen, beschloss ein breites Spektrum von bewegungsnahen Organisationen kurz vor Weihnachten, in den Wahlbezirken gemeinsame Listen aufzustellen. Dazu gehören Bündnisse wie No+AFP, die feministische Dachorganisation Coordinadora 8M sowie Netzwerke von Lehrer*innen oder Schauspielerinnen. Die Aufstellung gemeinsamer Listen verspricht aufgrund des chilenischen Wahlsystems höhere Erfolgschancen und war außerdem leichter: Alle Kandi­dat*innen einer Wahlliste mussten zusammen lediglich doppelt so viele Unterschriften vorlegen wie Einzelkandidat*innen. Listenunabhängige Einzelkandidat*innen hatten es schwer, viele von ihnen konnten bis zum Ablauf der Frist nicht die notwendigen Unterschriften von 0,2 Prozent der bei der letzten Wahl im Wahlkreis abgegebenen Stimmen vorweisen.

Viele Organisationen, Bewegungen und Cabildos (Stadtteilräte) führten Vorwahlen in ihren Wahlbezirken durch. Der Fokus lag dabei auf den Bezirken der Hauptstadt Santiago, da hier aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte besonders viele Delegierte gewählt werden und auch mit moderaten Stimmanteilen Aussicht auf Erfolg besteht. Neben Mesina von No+AFP treten hier auch Karina Nohales, Sprecherin der Coordinadora 8M, und der ehemalige Vorsitzende des Lehrerverbandes, Mario Aguilar, an. Für die Mapuche kandidiert unter anderem die Anwältin Natividad Llanquileo (siehe LN 534). Erst Mitte Dezember, quasi in letzter Minute, hatte das Parlament beschlossen, dass 17 der 155 Sitze für indigene Delegierte reserviert werden, darunter sieben für die Mapuche, zwei für die Aymara und je einer für die weiteren acht anerkannten indigenen Gemeinschaften Chiles.

Die Rechte tritt vereint zur Wahl an

Trotz des Zusammenschlusses der wichtigsten sozialen Bewegungen und der reservierten Sitze für Indigene ist die Sorge groß, dass die politischen Parteien der Rechten am Ende wieder den Ausschlag geben könnten – denn wie so oft ist die Linke zersplittert und die Rechte vereint. „Wir haben es nicht geschafft, dass die ganze Opposition mit einer einzigen Liste antritt. Damit riskieren wir, am Ende keine progressiven Inhalte in der Verfassung zu haben“, kommentierte Heraldo Muñoz, Vorsitzender der moderat linken Partei für die Demokratie (PPD) die Verhandlungen der Mitte-Links-Parteien über die Aufstellung einer gemeinsamen Liste. „Da die Rechte bei Wahlen immer vereint auftritt, während die Opposition zerstritten ist, werden wir nun vielleicht eine überrepräsentierte Rechte im Konvent haben, das ist schlimm“, so Muñoz.

Hintergrund dieser vernichtenden Worte eines führenden Oppositionspolitikers ist das chilenische Wahlrecht, das auch bei der Wahl zum Verfassungskonvent angewandt wird. Die Sitze werden den angetretenen Listen proportional zu ihrer Stimmenzahl zugewiesen, jedoch nicht wie in Deutschland auf nationaler, sondern wie etwa in Spanien auf Wahlbezirksebene, wo weniger Sitze zu vergeben sind. Der für die Gewinnung eines Mandats nötige Stimmenanteil ist daher höher, es werden also Parteien belohnt, die sich zu breiten Listen zusammenschließen. Das verwendete mathematische Sitzzuteilungsverfahren nach D’Hondt verstärkt diesen Effekt noch.

Viele Menschen setzen ohnehin keine große Hoffnung in die Parteien

Die Rechte hat aus diesem Umstand ihre Schlüsse gezogen: Die Regierungsparteien Nationale Erneuerung (RN), Unabhängige Demokratische Union (UDI) und Politische Entwicklung (Evopoli) nahmen trotz angeblicher Bedenken sogar die extrem konservative Republikanische Partei in ihre gemeinsame Liste auf. In der Opposition waren die Differenzen zwischen moderatem und progressivem Lager jedoch offenbar zu groß. Die Parteien des ehemaligen Mitte-Links-Bündnisses Concertación, die Sozialistische (PS) und Christdemokratische Partei (DC), die Partei für die Demokratie (PPD) und die Radikale Partei (PR), bildeten nach langen Verhandlungen schließlich nur gemeinsam mit einigen kleineren Parteien eine gemeinsame Liste. Die Kommunistische Partei (PC) und das nach Austritt einiger Parteien aufgrund interner Differenzen inzwischen etwas dezimierte Frente Amplio bildeten dagegen mit zwei Kleinparteien eine eigene Liste.

Das unglückliche Agieren der linken Parteipolitiker*innen erinnert einmal mehr daran, dass die Menschen, die seit Oktober 2019 auf die Straße gegangen sind, ohnehin keine großen Hoffnungen in die Parteien setzen. Sie haben längst Anstrengungen unternommen, den Prozess hin zu einer neuen Verfassung, selbst mitzugestalten. Bei allen Schwierigkeiten gibt es insofern auch Optimismus: Denn die unabhängigen Kandidat*innen sprechen durchaus Menschen an, die den etablierten Parteien schon längst den Rücken gekehrt haben. Das hat auch Tía Pikachu beobachtet. „Ich hatte Bedenken, weil ich nicht studiert habe, denn das ist das erste, was sie dir vorhalten. Schließlich habe ich gemerkt, dass ich gerade die vertrete, die gar nicht studieren konnten, weil sie sich ja ernähren mussten. Während ich Unterschriften sammelte, haben mich die Leute gefragt, ob ich Mitglied einer Partei sei. Als ich verneinte, war das der erste Schritt dahin, dass sie mir vertrauten. Deswegen glaube ich, dass wir Unabhängige bei diesem Prozess entscheidend sein können.“ Tatsächlich gaben in einer Umfrage von TuInfluyes.com nach dem Plebiszit beeindruckende 81 Prozent der Befragten an, für unabhängige Kandidat*innen stimmen zu wollen.

Es wird also spannend bei der Wahl zum Verfassungskonvent am 11. April, die parallel zu den Kommunal- und Regionalwahlen stattfindet. Vor Beginn der Proteste 2019 hätte die Uneinigkeit der Oppositionsparteien in jedem Fall eine Zweidrittelmehrheit der Mitte-Links-Kräfte im Verfassungskonvent verhindert – und der Rechten damit ein Vetorecht eingeräumt. Dank der unabhängigen Kandidat*innen gibt es dieses Mal zumindest Hoffnung: „Früher glaubten die Armen nicht, dass ihre Stimmen Veränderungen bewirken können. Da hat das Referendum ein Umdenken bewirkt“, stellte die feministische Aktivistin Rosario Olivares gegenüber den LN nach dem Plebiszit fest (siehe LN 559).

Alles begann 2019 damit, dass Schüler*innen die Drehkreuze in den U-Bahn-Stationen übersprangen, jetzt geht es darum, den torniquete electoral zu überspringen, das Drehkreuz des Wahlsystems. Prognosen sind aufgrund der Einmaligkeit der Situation schwierig, eine aktuelle Umfrage zur Wahl des Konvents gibt es nicht. Im derzeitigen Parlament besetzt die Rechte, nachdem sie zur letzten Wahl 2017 ebenfalls geeinter angetreten war als die Linke, 46 Prozent der Sitze. Zur linken Zweidrittelmehrheit scheint es daher ein weiter Weg zu sein. Vielleicht treibt die fortlaufende Repolitisierung der Menschen ja die zuletzt geringe Wahlbeteiligung – bei der letzten Wahl sowie beim Plebiszit nur um die 50 Prozent – und damit auch den linken Stimmenanteil weit genug in die Höhe, um dem chilenischen Wahlrecht diesmal tatsächlich ein Schnippchen zu schlagen.

„ALLES FÜR DIE INDIGENEN GEMEINSCHAFTEN, ABER OHNE SIE“

AUCÁN HUILCAMÁN
ist Verantwortlicher für internationale Fragen der Mapuche-Organisation Rat aller Gebiete (Consejo de Todas las Tierras) sowie Anwalt. Er beschäftigt sich damit, wie die Mapuche internationale Beziehungen und Rechtsnormen für den Kampf um ihre Rechte nutzen können und ist ein Vertreter des Prozesses der Verfassunggebenden Versammlung der Mapuche. (Foto: Martin Schäfer)



Herr Huilcamán, die Mapuche-Fahne war im vergangenen Jahr während der Straßenproteste allgegenwärtig. Wofür steht sie?

Dass die Menschen die Fahne der Mapuche zum Symbol erkoren haben, ist wirklich bedeutsam für mich. Ich habe diese Fahne 1992 entworfen. Deshalb war ich damals sechs Monate im Gefängnis; man verdächtigte mich, einen eigenen Mapuche-Staat gründen zu wollen. Tatsächlich hatte sie nur den Zweck, das Selbstbestimmungsrecht der Mapuche zu bekräftigen und den Prozess der Landrückgabe zu unterstützen. Außerdem sollte sie die Präsenz der Mapuche in der heutigen Welt symbolisieren, weshalb ich sehr zufrieden bin, dass sie nun eine solche Reichweite hat.

Was ist der historische Hintergrund, vor dem die Fahne entstand?

Der chilenische Staat steht gegenüber den Mapuche in dreierlei Hinsicht in der Verantwortung: aufgrund des bis heute straflosen Genozids im Zuge der „Befriedung der Araucanía“ im 19. Jahrhundert, wegen der militärischen Besetzung und Aneignung des Landes der Mapuche gegen ihren Willen, und schließlich wegen der anschließenden internen Kolonialisierung. Diese Chilenisierung hat uns kulturellen Schaden zugefügt: Heute sprechen nur noch die Hälfte der Mapuche ihre Sprache, da viele vor der fortgesetzten Enteignung ihres Landes in die Städte fliehen mussten.

Wie ist die aktuelle Situation der Mapuche im Süden von Chile?

Der große Konflikt mit nationalen und internationalen Bergbaufirmen, Wasserkraftwerken und Forstunternehmen besteht fort, auch wenn einige Forstunternehmen sich inzwischen dem Dialog mit den Mapuche öffnen. Aber zwischen den Mapuche und dem chilenischen Staat gibt es nach wie vor keinen Kanal der Verständigung.
Bisher negiert der chilenische Staat seine Verantwortung für die Geschichte oder behauptet, er sei immer ein Rechtsstaat gewesen, was eine große Lüge ist. Daher fordern wir die Einsetzung einer Wahrheitskommission, um zu gesellschaftlich anerkannten Fakten zu kommen und anschließend die Wiedergutmachung des Schadens sowie Gerechtigkeit für die Opfer zu erlangen. Ohne Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung wird es schwierig sein, Frieden in der Araucanía zu erreichen.

Wie äußert sich momentan die staatliche Repression gegen die Mapuche?

In der Araucanía haben wir derzeit einen doppelten Ausnahmezustand: Zum einen gilt in Chile aufgrund der Pandemie eine nächtliche Ausgangssperre, das Militär ist landesweit präsent und man kann sich nur mit Passierschein frei bewegen. Zum anderen nutzt die Regierung von Präsident Piñera die Pandemie gezielt, um in dem von Mapuche bewohnten Gebiet Militäreinheiten zu stationieren. Aufgrund dieser doppelten Militarisierung ist das Klima repressiv und angespannt.
Weiterhin sitzen heute noch etwa fünfzig Mapuche in verschiedenen Gefängnissen. Vor einigen Monaten ging dort einer der größten Hungerstreiks in der Geschichte der Mapuche zu Ende. Nach wie vor wird das Antiterrorgesetz angewendet, das vor Gericht anonyme Zeugen erlaubt. Ein anonymer Zeuge kann etwa ein Polizist in Zivil sein. Seine Aussage wird als definitiver, unwiderlegbarer Beweis gewertet. Das ist eine perverse Situation, die darauf abzielt, die legitime Sache der Mapuche zu beschmutzen.

Inwiefern sehen Sie Gemeinsamkeiten in den Forderungen der aktuellen Protestbewegung?

Die chilenische Bevölkerung hat die Ungleichheit, die Ausgrenzung der Mehrheit bei Bildung oder Gesundheit und die Privatisierungspolitik nicht mehr ertragen. Ebenso wenig das Wirtschaftsmodell, das einige Wenige begünstigt, in dem nur das Kapital geschützt wird, Personen aber keinen Wert haben. Daher ist die Situation am 18. Oktober 2019 praktisch explodiert und wir finden gut, dass es passiert ist. Uns Mapuche hat der chilenische Staat seine Politik der Gewalt und Enteignung sowie den Genozid angetan. Bei allen Unterschieden gibt es also Parallelen. Die soziale Explosion ist eine Gelegenheit, um über die Situation der Mapuche zu sprechen.

Es wird diskutiert, Chile in der neuen Verfassung als plurinationalen Staat anzuerkennen. Was halten Sie davon?

In Bolivien und Ecuador hat das nicht zu einer akzeptablen Beziehung zwischen Staat und den indigenen Gemeinschaften geführt. Uns wurde berichtet, dass das Konzept des plurinationalen Staats dort formal, generisch und sogar folkloristisch ist, da den beteiligten Nationen dadurch keinerlei Zuständigkeit, Mandat oder Autorität zugewiesen wurde. Stattdessen herrscht weiterhin der koloniale Nationalstaat, nur mit einem anderen Namen. In Ecuador und Bolivien sind die Indigenen heute völlig unzufrieden mit dem Konzept und der verfassungsrechtlichen Praxis des plurinationalen Staats. Es scheint mir ein Symbol zu sein, ein inhaltsleerer Leitspruch.

Wie stehen die Mapuche zum jetzigen Verfassungsprozess?

Seit dem Jahr 2016 gibt es eine Verfassunggebende Versammlung der Mapuche (siehe LN 538 und Infokasten). Sie kam am 14. Oktober 2020 zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, auf der wir unsere Haltung zum Plebiszit und dem chilenischen Verfassungsprozess definiert haben: wir unterstützen den Prozess, mischen uns aber nicht ein.

Warum nicht?

Der Verfassungsprozess wurde für die politischen Parteien gemacht, nicht für die Protestbewegung. Das zeigt sich etwa am Wahlsystem für den verfassunggebenden Konvent, der zwar unabhängige Kandidaten berücksichtigt, doch nur mit Hürden. Der souveräne Wille von 78 Prozent der Chilenen im Plebiszit müsste Verpflichtung sein, unabhängigen Kandidaten mehr Chancen zu geben. Auch die für Beschlüsse erforderliche Zweidrittelmehrheit wird sich auf den Inhalt der neuen Verfassung auswirken. Ohne Einigung bleibt es bei der Verfassung von Pinochet. Außerdem darf der Konvent die internationalen Wirtschaftsverträge Chiles nicht ändern, was sich besonders auf die indigene Bevölkerung auswirkt, denn die transnationalen Unternehmen beuten ihr Territorium aus. Die Vereinbarung für den chilenischen Verfassungsprozess ist also trügerisch und von der politischen Klasse zu ihrem Vorteil geschaffen. So wie es aussieht, ist nicht sicher, ob wir eine neue Verfassung bekommen.

Ein Vorschlag für die Wahrung indigener Interessen wären für die indigene Bevölkerung reservierte Sitze in dem verfassunggebenden Konvent …

Die reservierten Sitze würden die Spannungen in der Araucanía nicht lösen. Durch sie wird die Zustimmung der indigenen Gemeinschaften durch die Zustimmung von Delegierten indigener Abstammung ersetzt. Der Staat bestimmt dabei, wer indigen ist, und er bestimmt auch die Rahmenbedingungen für die Wahl, um so die Delegierten zu kontrollieren. Sein Ziel ist, dass etablierte Parteipolitiker indigener Abstammung die Sitze gewinnen. Indigene Delegierte haben also kein Mandat ihrer Gemeinschaft, sprechen aber trotzdem in ihrem Namen. Das ist problematisch. Ein Verfassungsprozess mit reservierten Sitzen besitzt aus Sicht der Mapuche keine Legitimität, er wäre eine paternalistische, politische Manipulation nach dem Motto „Alles für die indigenen Gemeinschaften, aber ohne sie“.

Also schadet die Teilnahme Indigener am verfassunggebenden Konvent dem Selbstbestimmungsrecht?

Bei einer Teilnahme über reservierte Sitze: ja. Ich will nach zwei Jahrhunderten, in denen der chilenische Staat die indigene Bevölkerung schon getäuscht hat, nicht so politisch naiv sein, dieses Recht für einen ungewissen Prozess und eine beschränkte, verwässerte Anerkennung in der Verfassung aufzugeben. In Ecuador sagt die Regierung den Indigenen heute: Ihr habt die neue Verfassung mit ausgearbeitet, jetzt könnt ihr euch nicht einfach zurückziehen, wenn ihr unzufrieden seid. Uns wird das Gleiche passieren.
Alle Mapuche haben natürlich das Recht, sich individuell für die Wahl des verfassunggebenden Konvents zu bewerben, aber sie sollten es nicht im Namen der Mapuche tun. Am besten wäre es, sie bewerben sich als unabhängige Kandidaten. So entsteht kein Schaden für die Mapuche-Gemeinschaft und wir wahren unsere Rechte.

Was sind die nächsten Schritte der Verfassunggebenden Versammlung der Mapuche?

Bei der letzten Sitzung am 14. Oktober haben wir auch über unsere eigene Verfassung, das Selbstbestimmungsstatut der Mapuche, gesprochen, mit dessen Ausarbeitung wir schon begonnen haben. Darin soll etwa stehen, wie die Institutionen der Mapuche in Beziehung zu den chilenischen Institutionen stehen sollen, wo wir kooperieren wollen und wo nicht, oder wo die territorialen Grenzen verlaufen sollen.
Wir haben noch das ganze nächste Jahr Zeit für die Ausarbeitung. Sobald das Statut fertig ist, können wir eine Regierung bilden. Beide Verfassungsprozesse werden parallel fortschreiten und können sich ergänzen. Falls wir jedoch sehen, dass der chilenische Verfassungsprozess die Rechte der Mapuche bedroht, beschränkt oder verwässert, werden wir unser freies Selbstbestimmungsrecht ausüben und umgehend eine provisorische Regierung bilden (siehe LN 538), was sicher zu großen Spannungen führen wird. Aber wenn der Staat respektvoll mit uns umgeht, werden wir eine Verständigung suchen.
Am 15. November planen wir außerdem ein großes Treffen mit chilenischen Organisationen, die an der Protestbewegung teilgenommen und die Fahne der Mapuche hochgehalten haben. Alle sind eingeladen, ohne Unterschied. Wir möchten, dass sie die Situation der Mapuche kennenlernen, und konstruktiv mit uns über die Probleme sprechen, bei denen der chilenische Staat Verantwortung hat. Es soll eine schriftliche Vereinbarung zwischen der chilenischen Bevölkerung und den Mapuche geben: Ein Plan für die Zukunft. Wir wollen darum bitten, dass sie uns anerkennen, wenn wir eine Regierung bilden.

ADIÓS GENERAL

Foto: Diego Reyes Vielma

Chile despertó, Chile aprobó („Chile ist aufgewacht, Chile hat zugestimmt“), tönt es am 25. Oktober durch Santiagos Straßen, als das Ergebnis des Referendums über eine neue Verfassung feststeht: Gut 78 Prozent der abgegebenen Stimmen sind auf das Apruebo, auf das „Ja“, entfallen.

„Adiós General“ heißt es auf einem Transparent an der Plaza de la Dignidad, dem Platz der Würde, womit der Abschied von einer Verfassung, die bereits unter General Augusto Pinochet während der Militärdiktuatur in Kraft getreten ist, zum Ausdruck kommen soll. Mit Hupkonzerten und Autokorsos, mit Parolen und cacerolazos (lautstarke Protestform, bei der auf Töpfe und Pfannen geschlagen wird), mit Trommeln und Gesang feiern die Chilen*innen diesen überwältigenden Sieg der Zustimmung zu einem Prozess, an dessen Ende das Land in zwanzig Monaten, Mitte 2022, sehr wahrscheinlich eine neue Verfassung verabschieden wird.

„Dieser Tag ist für uns sehr wichtig, ein historischer Prozess. Die Bevölkerung will einen Wandel, eine neue Verfassung, nicht mehr die aus unserer düstersten Zeit, der Pinochet-Diktatur“, sagt Luis Balboa mit strahlenden Augen. Er ist zusammen mit seiner Schwester Marta zwischen vielen anderen Feiernden auf der Plaza Ñuñoa in Santiago unterwegs. Die aktuell gültige Verfassung wurde 1980 unter der Führung des Diktaturideologen Jaime Guzmán ohne demokratische Legitimierung geschrieben. In ihr wird das das Recht auf Eigentum stärker gewichtet als Menschenrechte, wodurch damals auch der Grundstein für eine neoliberale Politik gelegt wurde, die bis heute in der chilenischen Wirtschaft verankert ist. Über die Zeit hat die aktuelle Verfassung jedoch immer stärker an Legitimität in der Bevölkerung eingebüßt, die endlich die langen Schatten der Diktatur abschütteln will. „Vor Jahren haben wir gegen Pinochet gestimmt“, erinnert sich Marta Balboa an das Referendum von 1988, in dessen Folge die Diktatur ein offizielles Ende fand. „Jetzt stimmen wir für eine Verfassung von der Bevölkerung für die Bevölkerung. Aber wir müssen weitermachen, denn es wird ein schwieriger Weg.“

Tausende Chilen*innen hatten seit dem 18. Oktober 2019 an vielen Orten Chiles demonstriert. Schüler*innen und Studierende, Feminist*innen, Mapuche und soziale Bewegungen kamen zunächst gegen die prekären Pensionsfonds AFP zusammen. Aus dieser Einheit erwuchs eine ungeahnte Stärke: Am 25. Oktober 2019 waren über eine Million Menschen in Santiagos Zentrum auf der Straße – trotz des von Präsident Sebastián Piñera verhängten Ausnahmezustandes. In Nachbarschaftsversammlungen wie asambleas territoriales oder cabildos entdeckten Menschen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein waren.

„Dieser Tag ist für uns sehr wichtig, ein historischer Prozess“

Am 15. November dann beschlossen Parteien von rechts bis links – außer der kommunistischen PC – das „Abkommen für den Frieden und für eine neue Verfassung“. Gefeiert von den einen als einzig möglicher Kompromiss, um endlich die Verfassung der Diktatur hinter sich zu lassen. Abgelehnt von den anderen, denn in dem Abkommen ist nicht vorgesehen, die oft geforderte Verfassungsgebende Versammlung einzurichten, die sich aus Basisorganisationen zusammensetzt und die neue Verfassung entwirft. Stattdessen wird ein verfassungsgebender Konvent eingerichtet, dessen Mitglieder nach chilenischem Verhältniswahlrecht gewählt werden – und das begünstigt politische Parteien. Ein tiefer Riss geht seitdem durch die Bewegung.

Das Plebiszit war zunächst für April 2020 geplant. Covid-19 kam dazwischen, weshalb es auf Oktober verschoben werden musste (siehe LN 550). Im Oktober ist die Ansteckungsrate in Chile zwar erneut auf hohem Niveau, aber stabilisiert. Nachts gilt noch die Ausgangssperre, tagsüber gehen die Menschen aber wieder auf die Straße – und eben auch protestieren.

In den Wochen vor dem Referendum überschlagen sich die Ereignisse. Am 18. Oktober, dem Jahrestag des estallido social, wie die Massenproteste vor einem Jahr genannt werden, demonstrieren Zehntausende im Zentrum Santiagos. Am Abend brennen zwei Kirchen, die Bilder gehen in Windeseile um die Welt. Später wird bekannt, dass ein Militärangehöriger dabei gewesen sein soll. Weniger Beachtung fand der Tod des 26-jährigen Aníbal Villarroel durch die Kugel eines Polizisten im marginalisierten Stadtviertel La Victoria am selben Abend. Seine Familie hat Anzeige erstattet und fordert Aufklärung. Das chilenische Menschenrechtsinstitut INDH bezeichnet die von staatlichen Organen im vergangenen Jahr begangenen Menschenrechtsverletzungen als die schwersten seit Ende der Diktatur 1990. Der Staatsanwaltschaft liegen seither 8.575 Strafanzeigen in diesem Zusammenhang vor. Allein das INDH hat 2.520 Anzeigen, vor allem gegen die Militärpolizei Carabineros, erstattet. In nur ein Prozent dieser Fälle wird konkret gegen Angehörige der Sicherheitsorgane ermittelt.

Diskussionen um das Plebiszit waren derweil überall spürbar. Aus vielen Fenstern hängen Fahnen und Transparente, auf Häuserwänden und unzähligen Plakaten steht es geschrieben: Apruebo („Ich stimme zu“). Bei Kundgebungen wird erklärt, wie das Plebiszit funktioniert, um Transparenz zu schaffen, auch wenn es nur zwei Fragen zu beantworten gab. Das Ziel: Demokratisierung der Diskussion.

Schwerste Menschenrechtsverletzungen seit Ende der Diktatur

Die erste Frage „Wollen Sie eine neue Verfassung?“ ist leicht mit Apruebo oder Rechazo („Ich lehne es ab“) zu beantworten. Bei der zweiten Frage geht es um die Zusammensetzung des Gremiums, das einen Verfassungstext verabschieden soll. Zur Wahl stand ein Konvent, dessen Mitglieder eigens gewählt werden, um einen neuen Verfassungstext zu schreiben (Convención Constitucional) oder einer, der zur Hälfte mit Abgeordneten besetzt und für den nur die andere Hälfte der Mitglieder von den Chilen*innen gewählt wird (Convención Mixta). In jedem Fall wird der Konvent quotiert und damit zu gleichen Teilen von Frauen und Männern besetzt sein.

Vor dem Referendum mobilisierte die politische Rechte überwiegend für das Rechazo und das hauptsächlich in reichen Gegenden. Am Wochenende vor dem Plebiszit marschieren etwa 3.000 teils mit Helmen und Schilden mit religiösen Symbolen ausgerüstete Menschen durch Santiagos Nobelviertel Las Condes. „Solange Chile existiert, wird es niemals marxistisch sein“, rufen sie. Ein „zweites Venezuela“, fürchten ihre Teilnehmer*innen, manchen gilt auch schon Argentinien als sozialistisches Schreckensszenario, wo eine für ihre äußerst wirtschaftsliberale Politik bekannte Regierung an der Macht ist. Die Protestbewegung für eine neue Verfassung sehen sie als vom Ausland gesteuerte Aktion. Manche Rechazo-Anhänger*innen tragen T-Shirts mit Pinochet-Aufdruck. Zu sehen sind Zeichen rechtsextremer Gruppen wie der Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit). Es ist sogar die Rede von einer Neugründung dieser nationalistischen Organisation, die 1973 den Putsch mit vorbereitete.

Am Morgen des 25. Oktober bilden sich vor vielen Wahllokalen lange Schlangen. Viele junge Leute, die nie zuvor gewählt haben, und ältere Menschen, die sich noch an die Zeit der demokratisch gewählten Regierung der Unidad Popular unter Salvador Allende und den Putsch 1973 erinnern, kommen hier zusammen. Nelda Aguilar (86), deren Bruder 1973 verhaftet wurde und seitdem verschwunden ist, lebte selbst jahrelang im Exil. „Ich gehe voller Freude zu dieser Wahl“, sagt sie bewegt. „Ich hoffe, dass das Apruebo gewinnt und dass etwas Positives für unser Land und für ganz Lateinamerika entsteht. Denn diese Wahl hat historische Bedeutung.“

Der Rechtsanwalt Francisco Rodríguez arbeitet als Freiwilliger in einem Wahllokal und hat bereits am Morgen seine Stimme abgegeben – für Rechazo: „Die Militärregierung hat ab 1973 die Bedingungen dafür geschaffen, dass Chile von einem der ärmsten Länder zur Nummer eins in Lateinamerika aufsteigen konnte“, sagt er. Venezuela hingegen sei durch strukturelle Änderungen vom reichsten Land des lateinamerikanischen Kontinents zu einem der ärmsten geworden. „Genau dieses Modell soll uns durch das Plebiszit aufgezwungen werden“, meint er. Tatsächlich hält ein Prozent der chilenischen Bevölkerung ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts.

Am Ende des Tages kann das Rechazo-Lager sich nur in fünf Kommunen durchsetzen – nämlich genau dort, wo sich Reichtum und Macht konzentrieren. 78,27 Prozent der abgegebenen Stimmen entfallen auf das Apruebo, noch mehr (78,99 Prozent) für die Convención Constitucional, also ein verfassungsgebender Konvent, der von der Bevölkerung gewählt wird. Das deutliche Wahlergebnis bedeutet nicht nur einen starken Rückhalt weitreichender Veränderungen in der Verfassung, sondern beweist auch das große Misstrauen gegenüber den politischen Parteien und deren Klientelismus. So werden nun die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents im April 2021 gewählt. Die Entscheidung, ob Sitze für Indigene reserviert werden, steht noch aus. Der Konvent hat dann maximal ein Jahr Zeit, um einen neuen Verfassungstext zu schreiben. Alle Artikel müssen mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden.

Die eigentliche Herausforderung beginnt also erst jetzt: Die sozialen Bewegungen beanspruchen eine möglichst große Beteiligung am verfassungsgebenden Prozess. So fordern etwa die 200 Organisationen, die in der Plattform Unidad Social vereint sind, die politischen Parteien auf, Plätze auf ihren Wahllisten für Vertreter*innen sozialer Bewegungen zu reservieren.

Es stellen sich nun zwei entscheidende Fragen. Zum einen, ob es der organisierten Rechten gelingt, ein Drittel der Plätze im verfassungsgebenden Konvent zu stellen. Damit hätte sie eine Sperrminorität und könnte – so kündigte es Pablo Longueira, Abgeordneter der rechtskonservativen Partei UDI, bereits an – durchsetzen, dass die neue Verfassung inhaltlich nicht grundlegend anders ausfallen würde als die jetzige. Und zweitens: Werden die Mitte-Links-Parteien eine faire Kooperation mit den sozialen Bewegungen eingehen und zusammen zumindest diesen kleinen Konsens durchsetzen, der in der Bevölkerung schon längst gesetzt ist: der Post-Pinochet-Ära und dem Credo des Neoliberalismus ein Ende zu setzen?

Klar scheint jedenfalls, dass es dazu Bündnisse und Druck von unten braucht. Mit Demonstrationen, kulturellen Aktivitäten, Diskussionen, Mobilisierung und breiter Organisierung in cabildos und asambleas. Wann, wenn nicht jetzt: „Adiós General!“

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