Massenhaft Krach machen Diese Collage von cacerolas zierte im Dezember 2019 das Cover der LN (Foto: Moisés Sepúlveda)
Von der Gründungszeit der LN bis in die Gegenwart waren die politischen Entwicklungen in Chile stets für große Emotionen gut – im Positiven wie im Negativen. Als die Schüler*innen im Oktober 2019 den nach 30 Jahren Neoliberalismus angestauten Frust zur Explosion brachten, gewannen die Chilen*innen mit Begeisterung den Glauben daran zurück, in ihrem Land etwas zum Besseren verändern zu können.
Drei Jahre später hat sich Ernüchterung breitgemacht: Während linke Chilen*innen nach der Ablehnung der neuen Verfassung an der Urne in eine Art kollektive Depression verfallen sind, dominiert die chilenische Rechte die politische Dynamik und den Diskurs. Und wir bei LN, die seit Oktober 2019 mit den Protestierenden fieberten, fragen uns immer noch: Wie konnte das nach den ebenso lauten wie tiefgreifenden Forderungen der Revolte passieren?
Im Editorial vom Dezember 2019 blickten wir zurück auf das Referendum von 1988, das zwar die Diktatur beendete, nicht jedoch den Neoliberalismus. Denn Pinochet bestimmte und bestimmt durch die 1980 eingeführte Verfassung weiterhin die Spielregeln. Interessanterweise passierte nach der Revolte von 2019 etwas Ähnliches: Auch jetzt ist die Rechte tonangebend und hat – wie wir befürchteten – alles getan, um das neoliberale System zu retten: In dem „Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 setzte sie dem Prozess inhaltliche und zeitliche Grenzen. Die rechtsgerichteten Medien polemisierten von Anfang an gegen die Arbeit des Verfassungskonvents und traten eine beispiellose Fake-News-Kampagne los, der der Konvent mangels finanzieller und personeller Ausstattung nie wirklich etwas entgegensetzen konnte. Dazu kamen Fehler der Linken: Es gab Skandale und Skandälchen um Konventsmitglieder, die linken Delegierten unterschätzten die Herausforderung, die Bedeutung der Inhalte der Verfassung für das konkrete Leben der Bürger*innen besser zu erklären. Und auch die Regierung Boric schafft es bislang nicht, die Vorteile linker politischer Ideen im alltäglichen Leben der Menschen greifbar zu machen.
Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben
Als Folge der niederschmetternden Ablehnung der neuen Verfassung im Jahr 2022 ist das zuvor so klare Nein zum neoliberalen System heute leiser geworden. Die Hoffnung auf eine progressive und demokratische Verfassung hat sich vorerst in Luft aufgelöst: Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben. Und auch der Entwurf einer Expert*innenkommission, der derzeit im Verfassungsrat diskutiert wird, verspricht keine Abkehr vom Neoliberalismus.
Nahezu ironisch ist, dass sich viele linke soziale Bewegungen nach Beginn der Revolte im Oktober 2019 gar nicht an dem Prozess hin zu einer neuen Verfassung beteiligen wollten – sie schätzten die Aussicht auf wirkliche Veränderung auf diesem Wege als zu gering ein. Das änderte sich mit Beginn der Covid-19-Pandemie wenige Monate später, als die Mobilisierung im öffentlichen Raum unmöglich wurde und der institutionelle Prozess fast die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch etwas zu tun. Die überwältigende Zustimmung im Referendum vom Oktober 2020 war dann eine weitere Motivation.
Als der Konvent seine Arbeit aufnahm und die neue, progressive Verfassung Gestalt annahm, wuchs die Hoffnung auf dauerhafte Veränderung sowohl in Chile als auch in der internationalen Linken beständig. Im Rückblick müssen auch wir bei LN uns eingestehen, dass sich in unserem Editorial vom Juni 2021 pures Wunschdenken spiegelt: Zweifel hatten wir damals nicht an der Annahme der Verfassung im Referendum, sondern eher an ihrer vollständigen Implementierung. Damit waren wir nicht allein. Chile wurde zu dieser Zeit, wie schon zu Zeiten Allendes, zu einer Projektionsfläche der internationalen Linken, die aber im September 2022 abrupt in sich zusammenbrach. Diese Beobachtung teilte auch die chilenische Soziologin Pierina Feretti bei einem Besuch bei LN und FDCL im Mai dieses Jahres.
Viele fühlen also heute den „bleiernen Ballast vieler Jahre“ wieder auf ihren Schultern. Doch mit der Fokussierung auf die intensive Arbeit des Verfassungskonvents 2021/2022 ist etwas Wichtiges aus dem Blickfeld geraten: Das Scheitern der Verfassung konnte die Angst vor den Sicherheitskräften nicht zurückbringen. Das durch die Diktatur Pinochets zerstörte soziale Gefüge ist mit der Revolte in Asambleas, Basisorganisierung, durch die Politisierung der Jugend und die feministische Bewegung wiederaufgelebt und wird nun Bestand haben. Und das ist unabhängig vom Scheitern der neuen Verfassung bedeutsam: Denn langfristig wird die Revolte von 2019 vermutlich eine nachhaltigere Wirkung haben als die Arbeit des Verfassungskonvents.
Rückblickend sind sich viele darin einig, dass es strategisch vermutlich besser gewesen wäre, die Energie nicht allein in den Verfassungskonvent, sondern auch in eine nachhaltige Organisierung von links zu stecken. Nun, nach dem vorläufigen Scheitern einer möglichen Veränderung auf dem institutionellen Weg, bleibt der chilenischen Linken die Möglichkeit, andere politische Wege auszuloten. In diesem Prozess ist es umso wichtiger, dass wir als internationale Linke weiterhin auf Chile blicken und jenen, die für echte Veränderung kämpfen, dauerhaft unsere Unterstützung und Solidarität zeigen.
Martin Schäfer & Susanne Brust sind seit 2018 im LN-Kollektiv und behalten Chile nicht erst seit der Revolte 2019 im Blick.