Schreiben als Heilung

Wie ist das Kollektiv „Nacen Voces” und die Idee für das Buch entstanden?
Edwin: Ich war auf der Suche nach Dichter*innen, um für Leukemia Literaria ein Interview zu führen. Das ist eine kolumbianische Zeitschrift über Literatur, Gedichte, Essays und Kurzgeschichten. So habe ich Diana und Catalina kennengelernt. Dann begann 2021 die soziale Revolte in Kolumbien (siehe LN 563; 564; 568; Dossier 19) und wir fingen an, uns über die Situation auszutauschen. Bekannte in Kolumbien schickten uns Videos von dem, was geschah, und baten uns um Hilfe. Das schmerzte uns sehr und wir überlegten, was wir tun können, obwohl wir so weit weg sind: Abgesehen davon, die Videos zu teilen, sie an die internationale Presse zu schicken und sie auf der Website der Zeitschrift zu veröffentlichen. Da kam uns der Gedanke, über die Geschehnisse zu schreiben, denn Schreiben hilft manchmal, den Schmerz zu lindern und wir begannen mit dem Projekt.

Catalina: Davor hatten wir eine Facebook-Seite mit dem Namen „Verschwundene aus Kolumbien“ eingerichtet, in die viele Menschen eingetreten sind. Dort prangerten wir an, was während der Proteste geschah. Wir fingen auch an, eine Liste mit allen Personen zu erstellen, von denen uns mitgeteilt wurde, dass sie vermisst wurden. Aber wir hatten das Gefühl, dass man uns nicht beachten würde, weil wir nicht in Kolumbien waren und weil der kolumbianische Staat schon in so vielen Jahren des Verschwindenlassens und der Gewalt seine Bevölkerung nicht beachtet hatte. Es war eine sehr angespannte Lage. Es gab Sabotagen gegen unsere Facebook-Gruppe mit falschen Nachrichten, die versuchten, unsere Arbeit zu diskreditieren. Also beschlossen wir, dass wir mehr tun mussten als nur die Verbrechen anzuprangern. Und da unsere Stärken die Literatur ist, entschieden wir, dass wir eben auf diesem Gebiet einen Beitrag leisten könnten. Da wir nicht nur für uns selbst sprechen wollten, haben wir einen internationalen Aufruf gestartet. Wir wollten den Menschen, die unter staatlicher Gewalt gelitten haben und Opfer waren, eine Stimme geben und Prozesse der Erinnerung unterstützen. So begann der Prozess, uns als Kollektiv zu konsolidieren.

Manche Texte handeln von Kolumbien, manche von anderen Ländern Lateinamerikas, es gibt neuere und ältere Texte… Wie habt ihr diese ausgewählt?
Edwin: Ein Kriterium war, dass es sich um Texte über das gewaltsame Verschwindenlassen, staatliche Gewalt, geschlechtsspezifische Gewalt, willkürliche Verhaftungen und die Opfer all der Jahre des bewaffneten Konflikts handeln sollte. Diese Themen sind nicht nur in Kolumbien präsent, sie vereinen uns leider auch mit anderen Ländern Lateinamerikas.

Catalina: Wir haben ein breites Spektrum eröffnet, das all diese Verbrechen einschließt und natürlich auch das, was genau zu diesem Zeitpunkt geschah, nämlich die soziale Revolte. Da wir Kolumbianer sind, haben wir natürlich an Kolumbien gedacht, aber durch den internationalen Aufruf kamen auch Texte, die von der Diktatur in Venezuela sprachen, ein Gedicht erwähnt Chile, ein anderes das Verschwindenlassen in Mexiko. Lateinamerika ist nicht nur durch die Sprache, sondern auch durch sozioökonomische Probleme und Gewalt miteinander verbunden

Besteht das Kollektiv auch nach der Veröffentli­chung des Buches weiter?
Edwin: Sagen wir es mal so: das Kollektiv tut, was das Buch tut. Das Buch geht seinen eigenen Weg und das Kollektiv lebt von der Kraft des Buches selbst. Außerdem sind daraus Freundschaften entstanden. Nach der Buchvorstellung in Bogotá sind wir jetzt dabei, es zu verbreiten. Wir wollen es an alle Personen und Institutionen verteilen, die sich für das Thema des gewaltsamen Verschwindenlassens engagieren.

Catalina: Wir befinden uns jetzt in einem Prozess mit der Casa de la Memoria in Medellín und anderen Institutionen, um eine Ausstellung mit den Illustrationen und einigen Fragmenten des Buches zu gestalten. Davon ausgehend wollen wir auch andere Räume schaffen, etwa für Konferenzen und Vorträge. Das Kollektiv arbeitet also weiter und eins führt zum anderen. Und wir haben sehr interessierte Menschen in Kolumbien gefunden, die aktiv mithelfen und sich nach und nach dem Projekt anschließen.

In der Einleitung erwähnt ihr nicht die Soziale Revolte, obwohl diese der Entstehungsgrund für die Veröffentlichung war…
Edwin: Der Zweck des Buches ist ein Projekt des Schreibens als Heilung, die Idee, dass durch Worte Schmerz geheilt und transformiert werden kann. Wir wollten keine voyeuristischen Texte, deshalb haben wir sehr sorgfältig recherchiert. Das Ergebnis ist ein gewaltfreies Buch, obwohl es all den Terror und das Leid der Opfer anprangert. Es ist nicht voller Blut, nirgendwo fliegen Bomben, sondern es ist ein hoffnungsvolles Buch. Wir wollten vermeiden, wie die Boulevardnachrichten zu schreiben, die die Gewalt während der Soziale Revolte auf die Titelseite setzten.

Welche Rolle spielt für euch Kunst in Kontexten von politischer Gewalt?
Catalina: Wenn man dir eine Boulevardnachricht zeigt, siehst du den explodierenden Schädel, das Hirn, das Blut und die Eingeweide. Dann werden die Nachrichten mehr zu einem Spektakel als zu einer Möglichkeit, sie mit Bewusstsein zu verarbeiten. Die Kunst hilft einem, ein wenig vom Blut wegzukommen. Sie hat die Fähigkeit, das Grauen und die Tragödie durch einen Filter der „Schönheit“ zu zeigen. Obwohl es nicht schön ist, es ist unangenehm. Aber die Funktion der Kunst ist es, dir etwas zu vermitteln, ein friedliches Gefühl und zugleich dieses Unbehagen, sowie Traurigkeit und Freude. Das ist auch die Funktion des Wortes für uns. Es soll wie ein Filter sein, damit wir nicht im Spektakel verharren.

Präsident Petro hat sich im Wahlkampf dazu verpflichtet, sich für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer der Proteste und allgemein des Konflikts einzusetzen. Seht ihr da Fortschritte?
Catalina: Was getan wird, um die Verschwundenen zu finden, gibt mir Hoffnung. Einige Akteure des Konflikts liefern Informationen über Massengräber. Ich habe auch gehört, dass forensische Teams aus Guatemala mit Experten in Kolumbien zusammenarbeiten, um Leichen aus Brunnen zu bergen, in die Menschen geworfen wurden. Für mich ist diese Suche der Verschwundenen und die Tatsache, dass sich eine Regierung dafür einsetzt, bereits ein großer erster Schritt. In Europa gibt es Regierungen, die dies nicht getan haben. Ich lebe im Baskenland und im spanischen Bürgerkrieg gab es viele Verschwundene, die bis heute nicht wiedergefunden wurden. Es gibt viele Menschen, die immer noch nicht wissen, wo ihre Großeltern und Eltern sind. Das ist ein ständiger Schmerz und ich denke, dass die Arbeit an der Suche der Verschwundenen ein großer Schritt zur Wiedergutmachung ist. Nach so vielen Jahren der Gewalt und angesichts der Schwierigkeiten, mit denen diese Regierung konfrontiert ist, ist das nicht einfach. Aber im Gegensatz zu früheren Regierungen versucht sie es zumindest.

Edwin: Ich komme aus Jamundí im Valle del Cauca, eine Region, die stark von Gewalt betroffen ist. Meine Familie lebt im Herzen der Gewalt. Dort können die Kinder nicht zur Schule gehen, weil sie Angst vor Bomben haben. Wir müssen natürlich alle Prozesse, die gerade stattfinden, anerkennen. Aber in der Gegend, aus der ich komme, geht der Krieg weiter, und zwar auf sehr gewaltvolle Art und Weise. Das alles macht es schwierig, die Dinge hoffnungsvoll zu sehen. Wenn die Kinder deiner Geschwister nicht zur Schule gehen können und deine eigene Familie mitten im Krieg steht, ist das Problem sehr komplex. Natürlich sind dies Prozesse, die unter anderen Regierungen nicht stattgefunden hätten, wir sehen also Fortschritte, aber es ist nur ein Anfang und wir stehen vor einer jahrelangen Arbeit.

Natürlich, es ist sehr schwierig eine Übergangs­justiz umzusetzen, während der Gewaltkontext weiterhin besteht. Aber ist es nicht auch wichtig, Räume zu finden, um mit den Tätern zu sprechen? Denn sie sind diejenigen, die wissen, was sie getan haben und wo die Massengräber und die Leichen der Verschwundenen sind…
Edwin: Gerade mit diesen Menschen ist der Dialog notwendig, aber er ist wirklich schwierig. Ich hatte die „Möglichkeit“, in einem Kriegsgebiet zu leben und nicht nur mit den Akteuren zu sprechen, sondern mit ihnen aufzuwachsen. Viele meiner Schulkameraden haben sich am Ende für eine Seite entschieden, einige sind mit den Versprechungen der Guerilla gegangen, andere mit denen der Paramilitärs. Und leider mussten die wenigen von uns, die sich nicht für eine Seite entschieden haben, den Ort verlassen. Wenn man also mit ansehen musste, wie sein Freund zerstückelt wurde, was kein Mensch mit ansehen sollte, ist es ziemlich kompliziert, sich mit diesen Akteuren zu unterhalten.

Verfolgt ihr weiterhin die Fälle von Personen, die während der Proteste verschwunden sind?
Edwin: Wir haben irgendwann damit aufgehört, zum einen, weil die Sabotage und die Drohungen begannen. Andererseits, weil es eine unheimliche Last war. Das war sehr schwer zu ertragen und wir haben uns dazu entschieden, das Projekt der Heilung durch Schreiben fortzusetzen, und haben uns ein wenig von der Dokumentation der Fälle entfernt. Es wäre interessant, das wieder aufzugreifen, aber es ging damals wirklich zu Lasten unserer psychischen Gesundheit.

LA VOZ DIGNA – EIN AUSZUG

NO SIGUIERON EL JUEGO

Los niños dejaron
de jugar a las pistolas.
Temían disparar de verdad,
temían matar a los vecinos
o a los muchachos que iban pasando,
temían los cargos de conciencia,
las pesadillas de rostros y gritos,
temían decepcionar a la mamá
o la abuela,
temían ir a la cárcel,
temían no poder aprender más
en la escuela,
temían dormir solos
en un lugar lejano —y oscuro—,
temían ser juzgados de asesinos,
temían parecerse a los policías.

Julio César Plata Rueda
Colombia, 2021

Sie spielten das Spiel nicht mehr mit

Die Kinder haben aufgehört
mit Pistolen zu spielen.
Sie hatten Angst davor tatsächlich zu schießen,
sie hatten Angst die Nachbarn zu töten
oder die vorbeilaufenden Jungs,
sie hatten Angst vor der Last auf dem Gewissen,
vor den Albträumen von Gesichtern und Schreien,
sie hatten Angst ihre Mutter zu enttäuschen
oder ihre Großmutter,
sie hatten Angst im Gefängnis zu landen,
sie hatten Angst nichts mehr lernen zu können
in der Schule,
sie hatten Angst davor alleine zu schlafen
an einem weit entfernten – und dunklen – Ort,
sie hatten Angst davor als Mörder verurteilt zu werden,
sie hatten Angst, den Polizisten zu ähneln.

Julio César Plata Rueda
Kolumbien, 2021

Straffrei bis ins Grab

Tschüss, Sebastian! Protestierende erinnern in Santiago an die Menschenrechtsverletzungen unter Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma / @diegoreyesvielma)

Im Oktober 2019 kam es in Chile zu einer sozialen Revolte. Die Erhöhung des Fahrpreises für den öffentlichen Nahverkehr um 30 Pesos war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hintergrund waren tägliche und anhaltende Demüti­gungen, die die Arbeiter*innenklasse des Landes jahrelang hatte tolerieren müssen. Demütigungen, die in allen Lebensbereichen stattfanden, so ein nach Einkommensniveau gegliedertes Gesundheitssystem, Renten unterhalb der Armutsgrenze, eine hohe Verschuldung der Bevölkerung nur zur Finanzierung alltäglicher Ausgaben, nicht für Luxusgüter.

Besonders junge Menschen hatten wochenlang gegen die Erhöhung der Fahrpreise protestiert, indem sie ohne Fahrschein im ÖPNV fuhren. Darauf reagierte die Regierung mit einer Militarisierung der Haltestellen und der Kriminalisierung der Bewegung. Am 18. Oktober weitete sich der Protest dann von der U-Bahn auf die gesamte Hauptstadt Santiago aus, die Polizei war überfordert. Am Nachmittag desselben Tages wurden überall in Santiago Barrikaden errichtet, die Empörung breitete sich schnell in die anderen Regionen Chiles aus.

Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung fand nicht statt

Allein zwischen dem 18. Oktober und dem 30. November 2019 mussten nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 12.500 Menschen nach Zusammenstößen bei den Protesten in öffentlichen Krankenhäusern notfallversorgt werden. Mindestens 347 Menschen erlitten nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte Augenver­letzungen durch von der Polizei abgefeuerte, sogenannte nicht-tödliche Kugeln.

Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung der für diese Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen gab es nicht. Die chilenische Staatsanwaltschaft gab an, dass zwischen dem 18. Oktober 2019 und dem 31. März 2020 8.508 Verfahren wegen institutioneller Gewalt im Zusammenhang mit Demonstrationen eingeleitet worden waren. 10.568 Opfer konnten identifiziert werden, wie die Staatsanwaltschaft Amnesty International in einem offiziellen Schreiben vom 9. August 2023 mitteilte.

Anzeigen durch das Nationale Institut für Menschenrechte wurde dabei noch am häufigsten nachgegangen. Bis Oktober 2022 hatte das Institut 3.151 Anzeigen wegen Folter, exzessiver Gewalt, unrechtmäßiger Nötigung und Tötung durch staatliches Handeln gestellt, von denen sich 2.987 gegen Mitglieder der Carabineros de Chile (chilenische Militärpolizei) richteten. Allerdings wurde nur gegen weniger als 200 Beamtinnen ein Verfahren eingeleitet. Diese Verfahren führten bis Oktober 2022 nur zu 14 Verurteilungen, wie die Zeitung La Tercera in einem Artikel vom 15. Oktober desselben Jahres berichtete. Auch wenn die Zahl seitdem gestiegen ist, wurden viele der Strafen dank eines im April 2023 verabschiedeten Gesetzes mit dem umgangssprachlichen Namen Ley gatillo fácil („Feuer frei-Gesetz“) reduziert.

Angesichts dieser Zahlen kann man bei den Menschenrechtsverletzungen der Jahre 2019 bis 2020 nicht von Einzelfällen sprechen. Die sozialen Bewegungen, Solidaritätsorganisationen, kritische Presse und engagierte Jurist*innen verstehen diese Übergriffe als systemisch – als Teil einer kohärenten Politik von Repression und Gewalt.

Und gerade die für diese Gewalt Verantwortlichen, die Polizist*innen, werden nicht zur Verantwortung gezogen. So teilte die chilenische Polizei dem Ministerium für Justiz und Menschenrechte im Jahr 2020 mit, dass sie 1.270 interne Ermittlungsverfahren eingeleitet habe, also in weniger als der Hälfte der gemeldeten Fälle. 1.033 davon wurden geschlossen und zu den Akten gelegt, da ein Fehlverhalten angeblich nicht nachgewiesen werden konnte.

Die ranghöchsten Vertreter der Polizei, der derzeitige Generaldirektor Ricardo Yáñez und auch der ehemalige General Mario Rozas (der in den Monaten Oktober und November 2019 das Kommando innehatte), haben sich während der Niederschlagung der Proteste stets davor gedrückt, sich zu ihrer Verantwortung zu äußern. Sie haben sich mehrfach geweigert, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, um sich zu den Verbrechen, die ihnen aufgrund ihrer Befehlsverantwortung vorgeworfen werden, einzulassen. Gleichzeitig erhielten die für die Ermittlungen zuständige Staatsanwältin und ihre Familie ständig Drohungen und die Polizei versuchte, sie von den Fällen abzuziehen, indem sie ihr „Feindschaft, Hass und Ressentiments“ gegenüber der Institution vorwarfen. Trotzdem haben sowohl die Regierung von Sebastián Piñera als auch der jetzige Präsident Gabriel Boric, der sich auf die Frente Amplio, eine Koalition aus progressiven Mitte-links- Parteien stützt, Yáñez in seiner jetzigen Position belassen, obwohl sich die Frente Amplio angeblich die aus der Revolte hervorgegangenen Forderungen zu Eigen gemacht hat.

Die Regierungspartei setzt auf Sicherheitsgesetze

An symbolträchtigen Tagen wie dem día del joven combatiente (Tag des jungen Kämpfers), der an die Ermordung linker politischer Aktivist*innen durch die Polizei während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) als Vergeltung für den Angriff eines Teils der Carabineros auf Pinochet erinnert, zeigte die Partei von Boric, dass sie an der Seite der Polizei steht. Angesichts der Welle von „Law and Order“-Politik, die das Land derzeit erlebt, rühmte sich die Regierungspartei nur einen Tag nach dem Jahrestag der Revolte 2023 in den sozialen Netzwerken damit, die Regierung zu sein, die seit 1990 die meisten Sicherheitsgesetze beschlossen hat: 34 an der Zahl. Dabei ist das schon erwähnte „Feuer frei“-Gesetz das wichtigste. Ein weiteres Gesetzesvorhaben, das unter der Piñera-Regierung nicht mehr verabschiedet werden konnte, sah eine Ermächtigung zum Einsatz des Militärs für die Verteidigung „kritischer Infrastruktur“ vor.

Verschärfend kommt hinzu, dass die Schwere der politischen Verfolgung während der Proteste weiter geleugnet wird – auch von der Frente Amplio. Obwohl diese im Wahlkampf versprochen hatte, die politischen Gefangenen der Revolte zu begnadigen, wurden nur zwölf Verurteilte begnadigt, und das erst fast ein Jahr nach dem Amtsantritt von Präsident Boric. Eine große Zahl von Gefangenen wurde ohne Verurteilung in unverhältnismäßig langer Untersuchungshaft gehalten.

Es bestand die Absicht, Sebastián Piñera sowohl politisch als auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Am 19. November 2019 wurde ein Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen der Polizei und der Streitkräfte angestrengt. Dieses wurde allerdings nicht einmal inhaltlich diskutiert, da es aus verfahrenstechnischen Gründen zurückgewiesen worden war.

Soziale Revolte, auch gegen Piñera Besonders junge Leute gingen 2019 wochenlang auf die Straßen (Foto: Germán Rojo Arce)

Mindestens drei strafrechtliche Klagen gab es im Zusammenhang mit der Revolte von 2019 gegen Piñera, zusätzlich zu anderen wegen Korruption bei der Genehmigung von Bergbaubetrieben und wegen des Gesundheitsmanagements während der Pandemie. All diese Klagen wurden von Einzelpersonen eingebracht und wurden nun, nach dem Tod des ehemaligen Präsidenten, eingestellt.. Das deutet darauf hin, dass der wichtigste Akteur, der Piñeras Straflosigkeit garantierte, der Staat war, da dessen öffentliche Strafverfolgungsbehörde (die Staatsanwaltschaft) davon absah, gegen ihn vorzugehen. Das lag zum Teil daran, dass ihr damaliger nationaler Leiter vom ehemaligen Präsidenten selbst ernannt worden war. Dessen derzeitiger Nachfolger wurde wiederum von Gabriel Boric ernannt, wohl wissend, dass die Straflosigkeit andauern würde. Aber selbst, wenn es unter der neuen Regierung eine Bereitschaft gegeben haben sollte, ihn zu verfolgen: Dass Piñera auch nach seinem Tod verteidigt wird, leugnet schließlich weiter, dass der Staat Gewalt ausübt.

Der Absturz des Hubschraubers, den der Expräsident steuerte, um sich eine 50-minütige Fahrt zu seinem Sommerhaus in einer der exklusivsten Gegenden des Landes zu ersparen, wurde von der Presse als eine der größten Tragödien dargestellt, die je ein chilenischer Präsident erlitten habe. Boric selbst hielt zusammen mit mehreren seiner Minister am Sarg Piñeras Totenwache. Er wies in seiner Rede während der Beerdigung darauf hin, dass während seiner Zeit „als Opposition während (Piñeras) Regierungszeit Beschwerden und Schuldzuweisungen über das hinausgingen, was fair und vernünftig war“. Piñera sei „ein Demokrat der ersten Stunde“ gewesen. Derlei Aussagen machen die jahrelangen Bemühungen, ein Bewusstsein für Staatsverbrechen zu schärfen, zunichte.

Es war also nicht nur sein unerwarteter Tod, der Piñera davor bewahrte, vor Gericht gestellt zu werden. Die Straflosigkeit, die er mit ins Grab genommen hat, ist die Konsequenz des Handelns von Institutionen, die eine von der Exekutive unabhängige Strafverfolgung verhindern. Hinzu kommt eine Opposition, die eine sicherheits- und polizeifreundliche Agenda unterstützt, um daraus kurzfristig politisch Vorteil zu ziehen.

Hoffnungsvolle Revolte, gescheiterte Verfassung

Massenhaft Krach machen Diese Collage von cacerolas zierte im Dezember 2019 das Cover der LN (Foto: Moisés Sepúlveda)

Von der Gründungszeit der LN bis in die Gegenwart waren die politischen Entwicklungen in Chile stets für große Emotionen gut – im Positiven wie im Negativen. Als die Schüler*innen im Oktober 2019 den nach 30 Jahren Neoliberalismus angestauten Frust zur Explosion brachten, gewannen die Chilen*innen mit Begeisterung den Glauben daran zurück, in ihrem Land etwas zum Besseren verändern zu können.

Drei Jahre später hat sich Ernüchterung breitgemacht: Während linke Chilen*innen nach der Ablehnung der neuen Verfassung an der Urne in eine Art kollektive Depression verfallen sind, dominiert die chilenische Rechte die politische Dynamik und den Diskurs. Und wir bei LN, die seit Oktober 2019 mit den Protestierenden fieberten, fragen uns immer noch: Wie konnte das nach den ebenso lauten wie tiefgreifenden Forderungen der Revolte passieren?

Im Editorial vom Dezember 2019 blickten wir zurück auf das Referendum von 1988, das zwar die Diktatur beendete, nicht jedoch den Neoliberalismus. Denn Pinochet bestimmte und bestimmt durch die 1980 eingeführte Verfassung weiterhin die Spielregeln. Interessanterweise passierte nach der Revolte von 2019 etwas Ähnliches: Auch jetzt ist die Rechte tonangebend und hat – wie wir befürchteten – alles getan, um das neoliberale System zu retten: In dem „Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 setzte sie dem Prozess inhaltliche und zeitliche Grenzen. Die rechtsgerichteten Medien polemisierten von Anfang an gegen die Arbeit des Verfassungskonvents und traten eine beispiellose Fake-News-Kampagne los, der der Konvent mangels finanzieller und personeller Ausstattung nie wirklich etwas entgegensetzen konnte. Dazu kamen Fehler der Linken: Es gab Skandale und Skandälchen um Konventsmitglieder, die linken Delegierten unterschätzten die Herausforderung, die Bedeutung der Inhalte der Verfassung für das konkrete Leben der Bürger*innen besser zu erklären. Und auch die Regierung Boric schafft es bislang nicht, die Vorteile linker politischer Ideen im alltäglichen Leben der Menschen greifbar zu machen.

Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben

Als Folge der niederschmetternden Ablehnung der neuen Verfassung im Jahr 2022 ist das zuvor so klare Nein zum neoliberalen System heute leiser geworden. Die Hoffnung auf eine progressive und demokratische Verfassung hat sich vorerst in Luft aufgelöst: Wenn sich Pinochets Putsch im September zum 50. Mal jährt, wird Chile noch immer seine Verfassung haben. Und auch der Entwurf einer Expert*innenkommission, der derzeit im Verfassungsrat diskutiert wird, verspricht keine Abkehr vom Neoliberalismus.

Nahezu ironisch ist, dass sich viele linke soziale Bewegungen nach Beginn der Revolte im Oktober 2019 gar nicht an dem Prozess hin zu einer neuen Verfassung beteiligen wollten – sie schätzten die Aussicht auf wirkliche Veränderung auf diesem Wege als zu gering ein. Das änderte sich mit Beginn der Covid-19-Pandemie wenige Monate später, als die Mobilisierung im öffentlichen Raum unmöglich wurde und der institutionelle Prozess fast die einzige Möglichkeit war, überhaupt noch etwas zu tun. Die überwältigende Zustimmung im Referendum vom Oktober 2020 war dann eine weitere Motivation.

Als der Konvent seine Arbeit aufnahm und die neue, progressive Verfassung Gestalt annahm, wuchs die Hoffnung auf dauerhafte Veränderung sowohl in Chile als auch in der internationalen Linken beständig. Im Rückblick müssen auch wir bei LN uns eingestehen, dass sich in unserem Editorial vom Juni 2021 pures Wunschdenken spiegelt: Zweifel hatten wir damals nicht an der Annahme der Verfassung im Referendum, sondern eher an ihrer vollständigen Implementierung. Damit waren wir nicht allein. Chile wurde zu dieser Zeit, wie schon zu Zeiten Allendes, zu einer Projektionsfläche der internationalen Linken, die aber im September 2022 abrupt in sich zusammenbrach. Diese Beobachtung teilte auch die chilenische Soziologin Pierina Feretti bei einem Besuch bei LN und FDCL im Mai dieses Jahres.

Viele fühlen also heute den „bleiernen Ballast vieler Jahre“ wieder auf ihren Schultern. Doch mit der Fokussierung auf die intensive Arbeit des Verfassungskonvents 2021/2022 ist etwas Wichtiges aus dem Blickfeld geraten: Das Scheitern der Verfassung konnte die Angst vor den Sicherheitskräften nicht zurückbringen. Das durch die Diktatur Pinochets zerstörte soziale Gefüge ist mit der Revolte in Asambleas, Basisorganisierung, durch die Politisierung der Jugend und die feministische Bewegung wiederaufgelebt und wird nun Bestand haben. Und das ist unabhängig vom Scheitern der neuen Verfassung bedeutsam: Denn langfristig wird die Revolte von 2019 vermutlich eine nachhaltigere Wirkung haben als die Arbeit des Verfassungskonvents.

Rückblickend sind sich viele darin einig, dass es strategisch vermutlich besser gewesen wäre, die Energie nicht allein in den Verfassungskonvent, sondern auch in eine nachhaltige Organisierung von links zu stecken. Nun, nach dem vorläufigen Scheitern einer möglichen Veränderung auf dem institutionellen Weg, bleibt der chilenischen Linken die Möglichkeit, andere politische Wege auszuloten. In diesem Prozess ist es umso wichtiger, dass wir als internationale Linke weiterhin auf Chile blicken und jenen, die für echte Veränderung kämpfen, dauerhaft unsere Unterstützung und Solidarität zeigen.

Martin Schäfer & Susanne Brust sind seit 2018 im LN-Kollektiv und behalten Chile nicht erst seit der Revolte 2019 im Blick.

„Chile hätte zum Vorbild werden können”

Wie kam es dazu, dass Amnesty International im Jahr 2022 eine eigene Kampagne für die neue Verfassung auf die Beine gestellt hat?

Diese Debatte haben wir schon Ende 2019 geführt. Wir waren der Meinung, dass wir nicht nur die Menschenrechtsverletzungen durch Repression und Kriminalisierung während des estallido social beobachten und anzeigen müssen, sondern auch die strukturellen Ursachen erörtern müssen, die zum Aufstand geführt haben. Dazu gehören die massiven Verletzungen ökonomischer, gesellschaftlicher, kultureller Rechte und der Rechte der Umwelt. Amnesty International kämpft weltweit schon seit Jahren gegen Armut als größte Menschenrechtsverletzung. Chile hätte ein Vorbild dafür werden können, wie man die Ungleichheit in der Region abschafft.

Was verspricht sich die Organisation von einer neuen Verfassung?

Amnesty hat schon 2016 zur Regierungszeit von Michelle Bachelet die Kampagne Todos mis Derechos („Alle meine Rechte“) organisiert, die sich dafür einsetzte, dass sich alle Menschenrechte in der Verfassung wiederfinden. Seitdem mahnen wir an, dass die aktuelle Verfassung internationalen Menschenrechtsstandards nicht gerecht wird und, dass bisherige Verfassungsreformen unzureichend waren: Es braucht eine neue Verfassung.
Als 2019 der estallido social ausbrach, war für uns klar: die Verfassung aus Diktaturzeiten ist einer der wichtigsten Gründe für die Ungleichheit in Chile. Sie sichert keinen sozialen und demokratischen Rechtsstaat, sondern einen Subsidiärstaat, der die Menschenrechte nicht garantiert. Dazu zählt das Recht auf soziale Absicherung, Gesundheit, würdige Renten, auf Wohnraum, Wasser, eine saubere Umwelt und so weiter. Als man sich am 15. November 2019 auf einen verfassungsgebenden Prozess einigte, begannen wir in der Organisation zu diskutieren. Als Amnesty International konnten wir in diesem neuen politischen Prozess, der der Menschenrechtsarbeit neue Möglichkeiten öffnete, nicht passiv sein.

Worin bestand die Kampagnenarbeit?

Wir haben (die Bevölkerung) vor allem über die sozialen Medien sensibilisiert und erklärt, warum eine neue Verfassung so wichtig ist. Im Rahmen der Kampagne La Constitución es Nuestra („Die Verfassung ist unsere“) haben wir mit lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen die Artikel des Verfassungskonvents in einfache Sprache übersetzt. Dabei ging es nicht darum, die Menschen davon zu überzeugen, für das apruebo zu stimmen, sondern nur darum, dass die Bevölkerung versteht, worum es geht und wie es ihren Alltag verändern könnte.

Natürlich hätte man die Umsetzung des Textes in Gesetze und Richtlinien genau beobachten müssen. Aber es wäre ein guter Ausgangspunkt gewesen, um Chile gerechter zu machen und die Menschenrechte tatsächlich zu schützen. Im Juli 2022 startete dann die Kampagne Aprobar es Humano („Zustimmen ist menschlich“). Wir riefen dazu auf, für den neuen Verfassungstext zu stimmen. Die Kampagne bestand zunächst aus einer Webseite, auf der wir erklärt haben, warum Amnesty sich für eine neue Verfassung einsetzt. Außerdem konnte man kostenlose Anleitungen für die Tür-an-Tür-Arbeit im Wahlkampf herunterladen, in vielen Teilen der Stadt (Santiago) waren Aktivistengruppen unterwegs und haben die Menschen für das Thema sensibilisiert. Dann haben wir uns an der landesweiten Fernsehkampagne und am Wahlkampf in den freien Radios beteiligt.

Würden Sie sagen, Sie haben damit ein anderes Publikum erreicht als die anderen Apruebo-Kampagnen?
Wir denken, ja. Mit jedem Tag der Fernsehkampagne haben wir neue Follower in den sozialen Netzwerken gewonnen. Wir waren an Orten sichtbar, an denen wir sonst kaum aktiv sind. Zum Beispiel in Puente Alto, Lo Espejo und La Granja – drei Kommunen mit sehr geringen sozioökonomischen Ressourcen. Wir haben dort viele Menschen getroffen, die Amnesty International nicht kannten. Mit Online-Workshops haben wir viele Menschen im ganzen Land erreicht, bis zur Insel Rapa Nui.

Haben Sie mit anderen Kampagnen zusammengearbeitet?

Anfangs haben wir in Betracht gezogen, mit Aprueba por Chile zusammenzuarbeiten, aber daran haben Parteien teilgenommen und so war eine Zusammenarbeit für uns unmöglich. Wir haben versucht, uns mit anderen Bewegungen zu koordinieren, aber das hat nicht funktioniert. Ich habe den anderen Gruppen und Bewegungen immer unser Material geschickt und wir haben unsere Webseite als Plattform für die Aktionen anderer Gruppen zur Verfügung gestellt.

Amnesty hat doch viel Kampagnenerfahrung, von der andere Bewegungen lernen könnten. Gab es eine interne Diskussion darüber, sich besser zu vernetzen?

Wir hatten uns strategisch dazu entschlossen, uns in der inhaltlichen Arbeit auf bestimmte Rechte zu konzentrieren, damit waren nicht alle Organisationen einverstanden. Wir haben erörtert, dass es Nachteile für das apruebo mit sich bringen könnte, sich nur auf die sexuellen und reproduktiven Rechte zu beschränken. Andere Organisationen wollten ihren Fokus zu Recht jedoch genau darauf legen. Wir wollten uns auf die sozialen Rechte konzentrieren.

Am Ende wurde der Verfassungsentwurf abgelehnt, inzwischen hat ein neuer verfassunggebender Prozess begonnen. Hat Amnesty schon Pläne für eine neue Kampagne?

Im Vergleich zum letzten Prozess denken wir, dass die Weiterführung des Verfassungsprozesses in der jetzigen Form keine großen Möglichkeiten zum Schutz der Menschenrechte bietet. Deswegen haben wir schon Ende 2022 beschlossen, dass unsere Rolle sich ab jetzt auf die Beobachtung beschränken wird.

Warum?

Es wird zwar Änderungen geben können, aber dieser Wandel wird nicht so großes Potenzial haben wie der vergangene Prozess. Denn es ist kein partizipativer Prozess: Das Recht auf Information, auf Partizipation, auf die politische Beteiligung derjenigen, die die Politik am Ende betrifft, ist in diesem Moment nicht gesichert, sondern in Gefahr.

Wo bleiben bei diesen enttäuschenden Aussichten die Ideen und die Kraft der Revolte, des Kampfes gegen Ungleichheit?

Diese Forderungen wird es auf dem Kontinent immer geben. Sie werden sich durch die maßlose Steigerung der Preise für Strom und Lebensmittel und durch den Klimawandel verschärfen. Die Bevölkerung wird weltweit, aber vor allem in Lateinamerika, weiter verarmen und das ist das Ergebnis politischer Entscheidungen. Es wird also weitere estallidos sociales geben, nicht nur in Chile. Das haben wir in Peru gesehen, in Ecuador und Bolivien, im Jahr 2020 in Kolumbien. Es wird sich fortsetzen, bis die strukturellen Bedingungen angegangen werden, die die Menschenrechte weiter Teile der Bevölkerung verletzen.

Lässt sich aus der Verfassungskampagne etwas für die internationale Menschenrechtsarbeit lernen?

Von Chile lässt sich viel lernen, sowohl was den Umgang mit dem estallido social angeht als auch den verfassungsgebenden Prozess. Bei Amnesty haben wir gelernt, wie wichtig Bildungsarbeit ist, wenn wir wirklich eine Bevölkerungsmehrheit wollen, die für die Menschenrechte einsteht. Gleichzeitig müssen wir den Staat unter Druck setzen, damit er seiner Pflicht, nämlich jener der Bildung der Bevölkerung in Menschenrechten, nachkommt. Aber auch für die nichtstaatliche Bildungsarbeit gilt: Wir müssen die Räume, in denen wir normalerweise tätig sind, verlassen. Dafür müssen wir Allianzen mit lokalen Organisationen schließen. Dank der Kampagne haben wir viele Kooperationen gestärkt und weitere ins Leben gerufen. Und natürlich müssen wir die strukturellen Gründe für Menschenrechtsverletzungen angehen. Die Forderung, dass der Staat seiner Pflicht nachkommt, muss gemeinsam mit Nachbarn, Kirchen, Versammlungen, Kollektiven, Gewerkschaften und weiteren Organisationen erhoben werden.

EIN NEUER VERFASSUNGSGEBENDER PROZESS

Im zweiten Anlauf der neuen Verfassung für Chile haben Anfang März die 24-köpfige Expert*innenkommission und der Ausschuss zur Prüfung technischer Vorgaben ihre Arbeit aufgenommen. Die vom Parlament ernannte Expert*innenkommission hat am 15. März eine erste Struktur mit 15 Kapiteln verabschiedet. Rechte bis Mitte-rechts Expert*innen stellen im Gremium eine leichte Mehrheit. So eröffnete ausgerechnet Hernán Larraín von der pinochetistischen UDI die erste Kommissionssitzung. Die Mitte-links-Politikerin Verónica Undurraga (PPD) wurde zur Präsidentin und Sebastián Soto (Mitte-rechts-Partei Evópoli) zu ihrem Vize ernannt. Auch den Vorsitz dreier wichtiger Arbeitsgruppen hat sich das rechte Lager gesichert: Politisches System, Rechtsprechung und Bürger*innen-, politische Rechte und Prinzipien. Nur die Arbeitsgruppe für wirtschaftliche, soziale, kulturelle und Umweltrechte wird mit Alejandra Krauss (DC) von einer Mitte-links-Politikerin geführt. Damit tragen neben rechten Parteien vor allem mitte-links-Kräfte wichtige Funktionen, linke Parteien bleiben im Hintergrund.

Am 8. März hat der Wahlkampf zum 50-köpfigen Verfassungsrat begonnen. Ab Juni wird er über den Entwurf der Kommission beraten. 350 Personen haben ihre Kandidaturen auf fünf Listen bekanntgegeben: Die beiden rechten Listen Chile Seguro (UDI, RN und Evópoli) und jene von José Antonio Kasts Republikanischer Partei wollen den Fokus auf das Thema Sicherheit legen. Als rechtspopulistische Partei tritt Partido de la Gente von Franco Parisi mit eigener Liste an. Auf der linken Seite stehen die Mitte-links-Liste Todo por Chile (PPD, DC und PR) und die Liste der Regierungsparteien Unidad para Chile (FA, PC, PS).

In der Bevölkerung herrscht indessen vor allem Desinteresse. In einer Umfrage von Pulso Ciudadano sind zwar über die Hälfte der Befragten für eine neue Verfassung. 57 Prozent setzen jedoch wenig bis gar kein Vertrauen in den neuen Prozess. // Susanne Brust

Die Revolte nicht verwelken lassen

In Flammen Foto aus dem Herzen der Revolte (Foto: Real Fiction Filmverleih)

Am Ende seines letzten Dokumentarfilms Die Kordillere der Träume hatte der chilenische Regisseur Patricio Guzmán einen Wunsch geäußert: Chile möge seine Kindheit und seine Freude wiederfinden. Wenige Monate, nachdem der Film 2019 in Cannes Premiere feierte, sprangen Hunderte Schüler*innen über die Drehkreuze der U-Bahnhöfe in Santiago de Chile und lösten damit eine Revolte aus, die das Land von einem Tag auf den anderen umkrempeln sollte. „Chile hatte sein Gedächtnis wiedergefunden“, so beschreibt es Guzmán. Sein Wunsch schien in Erfüllung zu gehen.

Ein Jahr nach Beginn der Revolte fliegt der in Frankreich lebende Regisseur nach Chile und beginnt die Arbeit am Dokumentarfilm Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume, der ab Mitte April auch in deutschen Kinos zu sehen ist. Obwohl er auf einen Umbruch in Chile gehofft hat, haben die Revolte und ihre Form Guzmán überrascht: Es gebe „keine Anführer, keine Ideologie, das ist neu“. Anders als in Guzmáns Naturtrilogie stehen diesmal auch nicht die eindrucksvollen Naturelemente metaphorisch für die komplexe Geschichte des Landes, sondern das Hier und Jetzt in der in Schutt und Asche liegenden Hauptstadt Santiago und die Menschen im Mittelpunkt. „Diese Bewegung trägt die Stimme und das Gesicht der Frauen“, heißt es im Film. Und wohl aus einer bewussten Entscheidung heraus, aber ohne es groß betonen zu müssen, hat Guzmán für Das Land meiner Träume ausschließlich Frauen interviewt. Neben intellektuellen Chileninnen, Verfassungsdelegierten und dem Performance-Kollektiv LasTesis kommen vor allem die zu Wort, die bei den Protesten in erster Reihe standen. „Mit der Revolte bin ich aufgeblüht“

Da ist zum Beispiel die Fotografin Nicole Kramm, die nach Beschuss mit einem Gummigeschoss der Carabineros die Sicht auf einem Auge fast gänzlich verloren hat. Guzmán begleitet eine Rettungssanitäterin, die sich im Straßenkampf um Verletzte kümmert und eine Landbesetzerin, an deren Beispiel die gesellschaftliche Ungleichheit in Chile wohl am stärksten deutlich wird. Besonders bleibt aber das einleitende Gespräch mit einer protestierenden Mutter im Gedächtnis. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie trotz aller Gefahren auf die Straße geht, ihr Hass auf Parteien und Institutionen und ein Satz, der einen an die ersten Tage der Proteste im Oktober 2019 erinnert: „Mit der Revolte bin ich aufgeblüht.“

Gemeinsam Krach machen Die Revolte brachte zu Hochzeiten mehrere Millionen Menschen auf Santiagos Straßen (Foto: Real Fiction Filmverleih)

Das Land meiner Träume bleibt ein typischer Guzmán-Film. Im Oktober 2020 sind die Bürgersteige von Santiago abgetragen und zu kleineren und größeren Steinbrocken zerklopft, die Polizei rast mit Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen durch die Stadt, Tausende Menschen üben sich in kreativen Protestformen und klopfen mit allem Möglichen im gemeinsamen Rhythmus an Mauern und Wände. Guzmán gelingt es, diese Atmosphäre filmisch einzufangen: Zuschauer*innen blicken entweder aus nächster Nähe oder aus der Luft auf die Masse der Protestierenden und das Geschehen. Die grundlegenden und radikalen Forderungen der Straßenkämpfer*innen verbindet er mit den ruhigen Einordnungen der Interviewten. Vereinzelt werden Schwarzweißfotos aus dem Alltag in Santiago eingeblendet, auch die Pandemie findet so Einzug in den Film. Dazu gesellt sich die Stimme des Regisseurs, der seine persönlichen Eindrücke verarbeitet.

Die Geschehnisse wecken in Guzmán, der selbst zu Beginn der Diktatur im September 1973 15 Tage lang als politischer Gefangener im Nationalstadion eingesperrt war, die Angst vor staatlicher Repression und dem Ausgang der Ereignisse. Vor allem machen ihm die Revolte, der anschließende verfassunggebende Prozess und der Amtsantritt von Gabriel Boric aber Hoffnung. Nicht nur in seinen Schilderungen werden Parallelen zur Allende-Zeit gezogen: Auf Archivaufnahmen sieht man Allende; die Menschenmassen um ihn genauso wie 2022 um Gabriel Boric; das ehemalige Kongressgebäude, in dem der Verfassungskonvent tagt. So stehen am Ende der Dokumentation die Zeichen wieder auf Veränderung und Aufbau, Guzmán sieht „allmählich ein neues imaginäres Land“ – das Land seiner Träume.

„Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?“, fragt der Regisseur die Verfassungsdelegierte Damaris Abarca. Sie antwortet: „Dass die neue Verfassung abgelehnt wird und die Rechte in der Politik wieder erstarkt“. Wer die Ereignisse in Chile weiter verfolgt hat, weiß, dass dieser schlimmste Fall heute eingetreten ist, und wird Guzmáns neuen Film voller Träume und Hoffnungen daher mit Wehmut ansehen. Angesichts aktueller Entwicklungen scheint statt dem hoffnungsvollen Fazit eine im Film aufgeworfene Frage passender: „Ich sorge mich um den Ausgang dieses Kampfes. Wer wird zu den Verlierern und wer zu Siegern werden?“

Dass der schon vergangenes Jahr fertiggestellte Film erst jetzt in die deutschen Kinos kommt, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass Guzmán der Revolte mit Das Land meiner Träume ein sehr gefühlvolles Zeitdokument geschaffen hat. Es bleibt zu hoffen, dass dieses auch hierzulande ein großes Publikum finden und berühren kann. Vielleicht hilft der Film auch dabei, sich auf die ursprüngliche Kraft der Revolte zurückzubesinnen. Denn angesichts des aktuellen Stillstands scheint es unerlässlich, dass der Druck der Straße zurückkommt und die Revolte wieder aufblüht.

AUS DEM HERZEN DER REVOLTE

Fotos: Ute Löhning

Wenn wir über das Radio Plaza de la Dignidad und seine Entwicklung als Medium von unten sprechen wollen, müssen wir bei der Bewegung breiter Teile der Gesellschaft anfangen, die sich im Oktober 2019 gegen die kapitalistische Herrschaft erhoben hat. Die vergangenen zwei Jahre über hat Chile diese Bewegung in all ihren Facetten erlebt.

Als Teil dieser Bewegung hat das Radio seine eigene Entwicklung durchlaufen. Dabei haben wir immer wieder abgewogen, was unsere gemeinsamen politischen und strategischen Ansichten sind. Die Redaktionslinie des Radios lässt sich heute als Summe der unterschiedlichen politisch-revolutionären Projekte verstehen, als Kollektiv gesellschaftlicher Kämpfer*innen, die in diesem Raum einen Kanal gefunden haben, über den sie ihre Vorstellungen einer neuen Gesellschaft ausdrücken können.

Um den Versuch einer Definition des Radios Plaza de la Dignidad zu wagen, müssen wir zunächst betonen, dass das Radio kein Kommunikationsmedium im traditionellen Sinne ist. Denn wir erkennen unsere Parteilichkeit und Subjektivität gegenüber des Kapitalismus und seiner kolonialen Institutionen an und machen sie transparent. Unser Ziel ist es, revolutionäre Teile der Gesellschaft zu unterstützen. Das tun wir, indem wir den Menschen im Rahmen unserer Möglichkeiten erklären, warum wir vom Kapitalismus wegkommen und eine neue Gesellschaft aufbauen müssen. Eine Gesellschaft, die ihre Wurzeln im Kommunitarismus, in der Brüderlichkeit, der Solidarität und dem harmonischen Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher Herkünfte hat. Eine respektvolle Gesellschaft in Verbindung mit der Natur, in der wir die Wissenssammlungen unserer indigenen Völker nutzen und das Buen Vivir ermöglichen.

Wie viele Projekte der letzten Jahre hat das Radio Plaza de la Dignidad seinen Ursprung im Oktober 2019. Damals beschlossen zwei Menschen, aus dem sechsten Stock eines Hochhauses Musik in Richtung der Plaza de la Dignidad zu spielen. Die Musik sollte den Kampf auf der Straße beleben. Wir wollen eine der Stimmen für die prekärsten, radikalen und antiinstitutionellen Bereiche der Gesellschaft und Bewegung sein. Mit Debatten, Weisungen und theoretischen Vorschlägen wollen wir gemeinsam mit Basisorganisationen und -aktivist*innen dazu beitragen, dass die prekarisierten Teile dieser Gesellschaft sich selbst zum politischen Objekt machen.

Zur Definition unserer Arbeit gehört auch das, was der Historiker Gabriel Salazar im September 2020 zu uns in einem Interview gesagt hat: „Ich bin dankbar für die Einladung, an diesen Debatten teilnehmen zu dürfen, die ihr vorantreibt, aufnehmt und weiterverbreitet und gegenüber der Bewegung einordnet. Für mich ist es eine Ehre, Teil einer Gruppe zu sein, die vom sechsten Stock mit Blick auf die Plaza de la Dignidad aus wusste, sich an der Bewegung zu beteiligen: Das zu nehmen, was von dort kommt und es den Menschen vor Ort zurückzugeben – all das, was dort gedacht, diskutiert und zur Bewegung beigetragen wird.“

Vielleicht ist das auch eine der Erfahrungen, die uns am meisten erfreut hat: Die Möglichkeit, Impulse aufzunehmen und sie in Radiosendungen, audiovisuellen Produktionen, Live-Schalten, Aufrufen, Interviews, Diskussionsrunden, Konzerten und Dokumentationen der Kämpfe auf der Straße und in den Vierteln zurückzugeben. Wir könnten auch sagen: Die Menschen versorgen uns. Und wir versuchen, sie zu unterstützen.

Im Jahr 2019 haben wir im sechsten Stock eines Bürogebäudes an der Plaza de la Dignidad zwei Lautsprecher aufgestellt. Wir wollten die Mobilisierungen gegen die Repression mit der historischen Musik der sozialen Bewegungen untermalen. Dazu spielten wir auch neue Stücke von Bands, die schon vor und während der Revolte die Anliegen der Protestierenden unterstützt hatten – wir nennen das die Kulturelle Revolte.

Schon bald stellte sich der große Erfolg dieser kleinen und spontanen Initiative ein: Die Protestierenden begannen, die Musik aus den Fenstern einzufordern. Oft riefen die Leute schon, wenn wir die Lautsprecher auch nur etwas zu spät herausstellten. Wenn dann eine weibliche Stimme die Übertragung eröffnete, war die Begeisterung groß. „Achtung, Achtung, Menschen aus Chile, wir übertragen Radio Plaza de la Dignidad!“, hieß es dann. Mit diesen Worten wollten wir auch die Besetzungen von Radiostationen während der Diktatur würdigen und wiederbeleben.

Ging es anfangs nur darum, während der Demos Musik zu spielen, führte die Entwicklung der Revolte bald dazu, dass wir unsere Arbeitsweise verändert haben. Wir erstellten ein Konto, mit dem wir 24 Stunden am Tag revolutionäre Musik online auf die Handys streamen konnten. Seitdem haben sich unzählige bekannte Künstler*innen bei uns gemeldet, die mit uns zusammenarbeiten oder ihre Songs auf die Playlists für die Streams setzen wollten. Auch jetzt, nach über zwei Jahren, bekommen wir noch solche Anfragen. Deswegen produzieren wir bis heute neue Programme. Irgendwann entstand dann auch eine Facebook-Seite, die viel Zuspruch erhielt: Jetzt haben wir mehr als 92.000 Follower, viele Beiträge werden über eine Million Mal gesehen.

Die Revolte ist überall präsent Straßenkunst im Zentrum von Santiago de Chile

Je bekannter unsere Arbeit wurde, desto stärker stiegen auch die Erwartungen. Deshalb stellten Freund*innen von uns ein Team von Reporter*innen zusammen, die Live-Übertragungen von den Demos organisierten. Diese und andere Gruppen spielten eine fundamentale Rolle beim Sichtbarmachen der Kämpfe auf den Straßen. Teilweise hat ihre Arbeit sogar bewirkt, dass die Sicherheitskräfte den Demonstrierenden weniger aggressiv begegneten, weil sie sich beobachtet fühlten. Die Reporter*innen dieser Basismedien sind heute zusammen mit Menschenrechtsorganisationen und den Brigaden von Sanitäter*innen Elemente der Revolte, die man nicht wegdenken kann. Es vergeht kein Protesttag, an dem man sie nicht auf den Straßen sieht – sowohl um den Protestierenden Mut zu machen als auch um die Repression des neoliberalen Staates anzuprangern.

Mit der steigenden Sichtbarkeit in der Revolte gab es immer mehr Menschen, die sich am Radio beteiligen wollten und wir bekamen unzählige Anfragen von Künstler*innen, die an den Freitagen von den Fenstern aus für die Proteste singen wollten. Die Umsetzung dieser Projekte bedeutete für uns vor allem eine Herausforderung in Sachen Technik und Infrastruktur, denn sonst hätte man die Künstler*innen unten auf der Straße gar nicht gehört. Wir stellten also ein Team von Tontechniker*innen zusammen und kauften neues Equipment. Unter den vielen Künstler*innen, die dort gespielt haben, sind Anita Tijoux, Santiago Rebelde, Evelyn Cornejo und La Bersuit Vergarabat. Ihre Konzerte haben auch dazu geführt, dass zahlreiche nationale und internationale Medien über uns berichteten, zum Beispiel der Rolling Stone, El Mundo aus Spanien oder die argentinische La Nación.

Was ursprünglich als einfache Idee zur Unterstützung der Proteste entstanden war, hat sich inzwischen zu einem viel größeren Projekt entwickelt. Das bedeutet, dass nicht nur mehr Arbeit und Hingabe nötig ist, sondern auch mehr Koordinationsarbeit, um die unterschiedlichen Arbeitsbereiche aufeinander abzustimmen. So entstanden weitere Initiativen. Wir erstellten audiovisuelle Produktionen wie El Vaso de Leche, ein Konzert für die Gefangenen der Revolte, eines gegen das Freihandelsabkommen TPP-11 und eines, bei dem Poesie aus der Revolte rezitiert wurde.

Die so entstandenen Programme übertragen wir wöchentlich aus unseren Räumen, die wir inzwischen in ein Studio umgewandelt haben, über Facebook. Dazu gehört das Programm Cancha Revuelta, das über verschiedene nicht-kommerzielle Fußballprojekte berichtet. Oder El Cancionero de la Revuelta, mit dem wir Live-Konzerte von Bands und Künstler*innen übertragen. Eines unserer wichtigsten Projekte im Rahmen der Kulturellen Revolte war zweifellos die Produktion der „Vinyl der Revolte“. Das war nicht einfach, aber dafür gibt es jetzt eine Platte mit den wichtigsten Songs der sozialen Bewegungen dieser Zeit.

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