Freiheit hinter Gittern

© Gema Films

Zwischen Gesang und Tanz fesselt Reas (Verurteilte), ein Gefängnis-Musical, das die Erfahrungen von Frauen und Transpersonen behandelt, die in verschiedenen argentinischen Gefängnissen inhaftiert waren. Der Dokumentarfilm vermittelt ihre Lebensgeschichten über einen theatralen Ansatz. Die Protagonist*innen rekonstruieren Anekdoten und Fantasien durch Inszenierungen. Die Bühne: Das ehemalige Gefängnis von Caseros, ein verlassener Ort, der nach dem panoptischen Modell (kreisrunde Anordnung mit Wachturm in der Mitte) gebaut wurde und Insass*innen und Zuschauer*innen in einen klaustrophobischen Raum versetzt, der harte Erfahrungen zwischen seinen Mauern birgt.

Die argentinische Regisseurin Lola Arias ist auch interdisziplinäre Künstlerin. Schon mit ihrem Erstlingswerk Teatro de Guerra (Kriegstheater, 2018) hat sie ihr virtuoses Talent gezeigt. Dort verwischte sie die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation und nahm das Leben ehemaliger argentinischer und britischer Soldaten, die am Falklandkrieg teilgenommen hatten, unter die Lupe. Und auch in Reas verkommt die Frage “Fiktion oder Dokumentarfilm” zur Nebensache, sobald die Zuschauer*innen in die Geschichten der Protagonist*innen von “Reas” eintauchen. In einem Interview im letzten Jahr auf dem Filmfestival von San Sebastián erzählte Arias, dass die meisten von ihnen bei Theaterworkshops ausgewählt worden waren, die sie selbst im Frauengefängnis Ezeiza geleitet hatte. Dies zeigt, dass der Dokumentarfilm aus einem langen Arbeits- und Annäherungsprozess mit seinen Protagonist*innen entstanden ist.

Das foucaultsche Element der Schaffung utopischer Orte, die Machtverhältnisse umkehren, ist in Arias’ Werk wiederkehrend. In Reas verwendet sie künstlerische Ausdrucksformen, die mit Körperlichkeit verbunden sind, wie Theater und Tanz, um über eine Institution zu sprechen, die paradoxerweise auf der Entwicklung von Mechanismen zur Kontrolle des Körpers basiert. In einer der denkwürdigsten Szenen tanzen die Protagonist*innen Vogue vor den Wärtern des Gefängnisses, die als Jury fungieren. Vogue ist ein Tanzstil, der in den letzten Jahren populär geworden ist und seine Ursprünge in randständigen Gruppen der LGBTQ+-, afroamerikanischen und lateinamerikanischen Gemeinschaft hat.

Ein weiteres bemerkenswertes Merkmal der filmischen Erzählung in Reas ist die Schaffung einer Mikrowelt: Außerhalb der Gefängnismauern existiert für die Insass*innen für die Zeit ihrer Inhaftierung nichts. Auch wenn sich die Protagonist*innen eine Zukunft dort vorstellen, können sie doch für lange Zeit nicht in Kontakt mit der Außenwelt treten. Die Probleme der sozialen Wiedereingliederung von Personen, die inhaftiert waren und nach ihrer Rückkehr in die Freiheit in ihrem Leben mit Stigmatisierung zu kämpfen haben, lassen sich für sie nur schwer erahnen.

Reas feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale in der Sektion Forum. Es ist zweifellos ein Film, der Beachtung verdient hat. Nicht nur, weil er sich von den ästhetischen und erzählerischen Konventionen des Dokumentarfilms entfernt, sondern auch wegen seines Humanismus und seiner Sensibilität, mit der er die Inhaftierten porträtiert.

LN-Bewertung: 4 / 5 Lamas

Vom Heft auf die Leinwand

Von Archiv bis Interview Die Aufnahmen für den LN-Film sind inzwischen alle im Kasten (Foto: Jan-Holger Hennies)

Ein Film über 50 Jahre Lateinamerika Nachrichten. Wo könnte dieser beginnen? Was würde dieser Film erzählen? An einem kühlen Frühlingsabend 2022 sitzt eine kleine Runde aus ehemaligen und aktiven LN-Redakteur*innen im Clash, der Kneipe unterhalb der Redaktionsräume der LN, und stellt sich diese Fragen.

Dass ich zu diesem Zeitpunkt inzwischen ein paar Jahre als Dokumentarfilmer arbeite, hat viel mit meinen journalistischen Anfängen im Redaktionskollektiv zu tun. Auch deshalb gefällt mir die Idee, einen Film über die LN zu machen, als sie mir ein weiterer Redakteur einige Zeit zuvor das erste Mal erzählt.

Bei Cocktails und Cumbia während der Linken Buchtage 2022 wird das erste Mal gedreht.

Wo also anfangen? Am besten in den Mehringhöfen in Berlin, genauer gesagt auf der vom Redaktionskollektiv geliebten Dachterrasse. Bei Cocktails und Cumbia während der Linken Buchtage 2022 wird dort das erste Mal gedreht. Aus der Kneipenrunde, in der die anfängliche Idee diskutiert wurde, ist eine Gruppe von Redakteur*innen geworden, die sich innerhalb des nächsten Jahres auf die Suche machen wird: Nach der Wiese in Hessen, auf der die LN angeblich gegründet wurden (Spoiler: Es gibt sie und wir haben sie gefunden). Aber vor allem auf die Suche nach dem, was das Kollektiv schon so viele Jahre zusammenhält.

Behind the scenes Die Filmgruppe spricht mit Bernd Pickert und Bert Hoffmann über die LN der 90er Jahre (Foto: Mirjana Mitrovic)

Es entsteht ein Film über Menschen, die weiter über das aktuelle Heft reden anstatt den Mauerfall mitzuerleben. Über feministische Revolutionen in Lateinamerika und innerhalb der Redaktion. Über alternativen Journalismus und kritische Solidarität. Über Schreibmaschinen und Open-Source-Software. Über Chili Con Carne und grüne Wiesen. Ein Film über Heftzyklen und die Liebe zum Print-Journalismus. Über kollektive politische Arbeit und Freund*innenschaft. Über prekäre Produktionsbedingungen und ehrenamtliches Engagement. Über Generationen von Redakteur*innen und die stetige Neuerfindung der LN. Nach über einem Jahr und vielen mehrstündigen Interviews mit ehemaligen und aktuellen Redakteur*innen aus allen Dekaden der Zeitschrift steht fest: Der Redaktionstisch lädt zum Verweilen ein, die Redaktionsräume wecken viele liebevolle Erinnerungen. Wir könnten noch ewig weiterreden.

Deutlich geworden ist aber auch, dass die monatliche Heftproduktion mit mal mehr und mal weniger sanftem Druck verbunden ist. Letztlich ist dieser sicher nicht unerheblich für das 50-jährige Bestehen der Zeitschrift. Auch der Film befindet sich nun im Schnitt, in dieser Ausgabe geben einige Filmstills und Auszüge von Interviews bereits einen Vorgeschmack. Ende September wird die Premiere stattfinden – schließlich bietet der 50. Geburtstag Anlass genug, um ihn mehrmals zu feiern.

Die Revolte nicht verwelken lassen

In Flammen Foto aus dem Herzen der Revolte (Foto: Real Fiction Filmverleih)

Am Ende seines letzten Dokumentarfilms Die Kordillere der Träume hatte der chilenische Regisseur Patricio Guzmán einen Wunsch geäußert: Chile möge seine Kindheit und seine Freude wiederfinden. Wenige Monate, nachdem der Film 2019 in Cannes Premiere feierte, sprangen Hunderte Schüler*innen über die Drehkreuze der U-Bahnhöfe in Santiago de Chile und lösten damit eine Revolte aus, die das Land von einem Tag auf den anderen umkrempeln sollte. „Chile hatte sein Gedächtnis wiedergefunden“, so beschreibt es Guzmán. Sein Wunsch schien in Erfüllung zu gehen.

Ein Jahr nach Beginn der Revolte fliegt der in Frankreich lebende Regisseur nach Chile und beginnt die Arbeit am Dokumentarfilm Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume, der ab Mitte April auch in deutschen Kinos zu sehen ist. Obwohl er auf einen Umbruch in Chile gehofft hat, haben die Revolte und ihre Form Guzmán überrascht: Es gebe „keine Anführer, keine Ideologie, das ist neu“. Anders als in Guzmáns Naturtrilogie stehen diesmal auch nicht die eindrucksvollen Naturelemente metaphorisch für die komplexe Geschichte des Landes, sondern das Hier und Jetzt in der in Schutt und Asche liegenden Hauptstadt Santiago und die Menschen im Mittelpunkt. „Diese Bewegung trägt die Stimme und das Gesicht der Frauen“, heißt es im Film. Und wohl aus einer bewussten Entscheidung heraus, aber ohne es groß betonen zu müssen, hat Guzmán für Das Land meiner Träume ausschließlich Frauen interviewt. Neben intellektuellen Chileninnen, Verfassungsdelegierten und dem Performance-Kollektiv LasTesis kommen vor allem die zu Wort, die bei den Protesten in erster Reihe standen. „Mit der Revolte bin ich aufgeblüht“

Da ist zum Beispiel die Fotografin Nicole Kramm, die nach Beschuss mit einem Gummigeschoss der Carabineros die Sicht auf einem Auge fast gänzlich verloren hat. Guzmán begleitet eine Rettungssanitäterin, die sich im Straßenkampf um Verletzte kümmert und eine Landbesetzerin, an deren Beispiel die gesellschaftliche Ungleichheit in Chile wohl am stärksten deutlich wird. Besonders bleibt aber das einleitende Gespräch mit einer protestierenden Mutter im Gedächtnis. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie trotz aller Gefahren auf die Straße geht, ihr Hass auf Parteien und Institutionen und ein Satz, der einen an die ersten Tage der Proteste im Oktober 2019 erinnert: „Mit der Revolte bin ich aufgeblüht.“

Gemeinsam Krach machen Die Revolte brachte zu Hochzeiten mehrere Millionen Menschen auf Santiagos Straßen (Foto: Real Fiction Filmverleih)

Das Land meiner Träume bleibt ein typischer Guzmán-Film. Im Oktober 2020 sind die Bürgersteige von Santiago abgetragen und zu kleineren und größeren Steinbrocken zerklopft, die Polizei rast mit Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen durch die Stadt, Tausende Menschen üben sich in kreativen Protestformen und klopfen mit allem Möglichen im gemeinsamen Rhythmus an Mauern und Wände. Guzmán gelingt es, diese Atmosphäre filmisch einzufangen: Zuschauer*innen blicken entweder aus nächster Nähe oder aus der Luft auf die Masse der Protestierenden und das Geschehen. Die grundlegenden und radikalen Forderungen der Straßenkämpfer*innen verbindet er mit den ruhigen Einordnungen der Interviewten. Vereinzelt werden Schwarzweißfotos aus dem Alltag in Santiago eingeblendet, auch die Pandemie findet so Einzug in den Film. Dazu gesellt sich die Stimme des Regisseurs, der seine persönlichen Eindrücke verarbeitet.

Die Geschehnisse wecken in Guzmán, der selbst zu Beginn der Diktatur im September 1973 15 Tage lang als politischer Gefangener im Nationalstadion eingesperrt war, die Angst vor staatlicher Repression und dem Ausgang der Ereignisse. Vor allem machen ihm die Revolte, der anschließende verfassunggebende Prozess und der Amtsantritt von Gabriel Boric aber Hoffnung. Nicht nur in seinen Schilderungen werden Parallelen zur Allende-Zeit gezogen: Auf Archivaufnahmen sieht man Allende; die Menschenmassen um ihn genauso wie 2022 um Gabriel Boric; das ehemalige Kongressgebäude, in dem der Verfassungskonvent tagt. So stehen am Ende der Dokumentation die Zeichen wieder auf Veränderung und Aufbau, Guzmán sieht „allmählich ein neues imaginäres Land“ – das Land seiner Träume.

„Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?“, fragt der Regisseur die Verfassungsdelegierte Damaris Abarca. Sie antwortet: „Dass die neue Verfassung abgelehnt wird und die Rechte in der Politik wieder erstarkt“. Wer die Ereignisse in Chile weiter verfolgt hat, weiß, dass dieser schlimmste Fall heute eingetreten ist, und wird Guzmáns neuen Film voller Träume und Hoffnungen daher mit Wehmut ansehen. Angesichts aktueller Entwicklungen scheint statt dem hoffnungsvollen Fazit eine im Film aufgeworfene Frage passender: „Ich sorge mich um den Ausgang dieses Kampfes. Wer wird zu den Verlierern und wer zu Siegern werden?“

Dass der schon vergangenes Jahr fertiggestellte Film erst jetzt in die deutschen Kinos kommt, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass Guzmán der Revolte mit Das Land meiner Träume ein sehr gefühlvolles Zeitdokument geschaffen hat. Es bleibt zu hoffen, dass dieses auch hierzulande ein großes Publikum finden und berühren kann. Vielleicht hilft der Film auch dabei, sich auf die ursprüngliche Kraft der Revolte zurückzubesinnen. Denn angesichts des aktuellen Stillstands scheint es unerlässlich, dass der Druck der Straße zurückkommt und die Revolte wieder aufblüht.

Erschütternd wie ein Spielfilm

Am 9. Dezember des Jahres 1985 widerfuhr den Kläger*innen gegen die abscheulichen Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur Gerechtigkeit. Nach einem über 6-monatigen Verfahren, dem sogenannten Prozess gegen die Juntas (Juício a las Juntas), verurteilte zum ersten Mal eine Demokratie selbst, die vorherigen Verbrechen der Diktatur im eigenen Land.

© Memoria Abierta

Bereits im vergangenen Jahr lief mit Argentina 1985 ein fiktionalisierter Film über den Prozess (mit Superstar Ricardo Darín in der Hauptrolle) auf dem Filmfestival in Venedig. Um die filmisch-dokumentarische Aufarbeitung der Verurteilung der Militärjunta hat sich nun Regisseur Ulises de la Orden verdient gemacht. Er vollendete die Mammutaufgabe, aus 530 Stunden Videomaterial der Gerichtsverhandlungen einen dreistündigen Dokumentarfilm zu destillieren. Der Vergleich mit dem emotionalen Argentina 1985 ist interessant. Denn El Juicio kommt ohne Interviews, ohne Off-Kommentar und fast ohne musikalische Untermalung aus. Das klingt im Zusammenhang mit der Länge erst einmal trocken. Dennoch steht er dem Spielfilm an Dramatik kaum nach, denn Regisseur de la Orden ist auch ohne diese Mittel eine packende und erschreckende Bestandsaufnahme über die Zeit der argentinischen Militärdiktatur gelungen. Zum einen liegt das an der gekonnten Montage des Filmes. De la Orden lässt die Zeug*innen und Anwälte als Gegenspieler*innen auftreten und legt ihre Strategien und Charaktere offen. Durch die sehr emotionalen Zeug*innenaussagen und das kalte und zynische Verhalten der angeklagten Militärs, das sich in Habitus und Argumentation ausdrückt, bleibt diesbezüglich nichts im Unklaren. Selten waren Gut und Böse so deutlich erkennbar, wie in diesem Prozess. Während die Opfer der Diktatur im Zeug*innenstand teils unter Tränen von unfassbaren Unmenschlichkeiten und Gräueltaten berichten, sehen die Angeklagten ihnen abschätzig zu, Zeitung lesend und Kette rauchend (Zigaretten waren 1985 im Gerichtssaal noch allgegenwärtig). Mehr und mehr fügt sich dabei ein Mosaik des Grauens aus den sieben Jahren der argentinischen Militärregierungen zwischen 1976 und 1983 zusammen.

Kindsentführungen, Gefangennahmen, Raub, Folter, Zwangsarbeit, Verschwindenlassen, kaltblütiger, massenhafter Mord: Zu jedem dieser Verbrechen sagt im Film mindestens ein*e Zeug*in in einer Deutlichkeit vor Gericht aus, die keinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Aussagen lassen. Die Reaktion der Militärs: Gleichgültigkeit, Rechtfertigungen, sogar Unschuldsbeteuerungen. Man habe „christliche Werte gegen Marxisten“ verteidigen müssen, sehe sich einer „Inquisition“ und „Nürnberger Prozessen“ ausgesetzt, könne sich nicht erinnern, auf „menschliche Ziele“ geschossen zu haben oder nicht. Die Zeug*innen beklagen weinend, dass die Massengräber ihrer Kinder nicht einmal wieder zugeschaufelt worden seien – die Angeklagten beschweren sich, dass sie im Gerichtssaal auf zu schlechten Plätzen sitzen würden. Besser als sie selbst hätte niemand ihre kalte Grausamkeit und Weltfremdheit illustrieren können. Symbolisch dafür steht auch das Duell der Anwälte der beiden Parteien – der engagierte Julio Cesar Strassera (Anklage) gegen den schmierigen Juan Maria Orgeira (Verteidigung) – auf das Regisseur de la Orden den Film mehrfach fokussiert.

El juicio ist ein hervorragend geschnittener Dokumentarfilm über einen Prozess, der auch 40 Jahre nach Ende der Militärdiktatur nichts von seiner Relevanz verloren hat. Die Statements der gefolterten, entführten, ihres Hab und Guts und ihrer Kinder beraubten Menschen im Zeug*innenstand sind erschütternd und wegen der Ungeheuerlichkeit der geschilderten Verbrechen teils schwer zu ertragen. Wer sich dennoch auf die drei Stunden Dokumentation einlässt, bekommt ein eindrucksvolles Zeitdokument zu sehen, das in allen Facetten zeigt, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Dabei nimmt El juicio emotional so mit, dass man sich am Ende den Zuschauer*innen im Gerichtssaal anschließen möchte. Diese erhoben sich – obwohl eigentlich untersagt – geschlossen von ihren Sitzen, und klatschten laut Beifall, nachdem Chefankläger Strassera sein Schlussplädoyer beendet hatte. Seine letzten Worte lauteten: „¡Nunca mas!“ – „Nie wieder!“

Triggerwarnung: Drastische verbale Schilderungen von Gewalt und sexuellen Übergriffen

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Schmerzhafte Hingabe

Was bleibt von einem Menschen, wenn er sich an nichts mehr erinnern kann? Schon oft haben sich  Filmemacher*innen dieser Frage gewidmet und die Antwort war meist ein ernüchterndes: Nicht viel. In fiktionalen Werken wie Memento oder Die Bourne Identität lässt der Erinnerungsverlust Menschen zu getriebenen, empathielosen Kampfmaschinen werden. Wie Angehörige von Alzheimer-Patient*innen wissen, hat das mit der (nicht weniger schwierigen) Realität kaum etwas zu tun. Ein besonders schmerzhaftes Beispiel aus dem echten Leben hat die chilenische Filmemacherin Maite Alberi mit The Eternal Memory jetzt dokumentarisch verarbeitet.

© Micromundo, Fabula

The Eternal Memory folgt dem früheren chilenischen Fernsehjournalisten Augusto Góngora, der heute an Alzheimer leidet und pflegebedürftig ist und seiner Frau Paulina Urrutia, ehemalige Kulturministerin Chiles, die sich liebevoll um ihn kümmert. Das Besondere an Góngora ist – oder vielmehr war -, dass er sein Lebenswerk der Erinnerung gewidmet hat. Einer Erinnerung, die sich während und nach der Diktatur Pinochets mit deren Verbrechen und ihrer Aufarbeitung beschäftigt hat. Tragischerweise verliert gerade dieser Mann, der sein Leben der Erinnerungskultur gewidmet hat, nun nach und nach sein Gedächtnis.

Finanziell geht es dem Paar nicht schlecht, sie wohnen in einem hübschen Häuschen im Grünen, wo sich der Film auch zum großen Teil abspielt – unterbrochen nur von Archivmaterial, das kurze Flashbacks auf Augustos Leben und Arbeit wirft. Sein Zustand, das ist deutlich zu erkennen, verschlechtert sich im Laufe der Dreharbeiten des Films rapide. Herrschen am Beginn noch Lebensfreude und Optimismus vor („Ich möchte nicht sterben!“), schwindet diese im weiteren Verlauf der Dokumentation immer mehr. So liebenswert der alte Mann auch ist, es lässt sich nicht übersehen, dass er Dinge, die Paulina, seine Hauptbezugsperson ihm erzählt, nur noch wiederholt und nicht wirklich weiß, worüber er spricht. Am Bittersten ist, dass irgendwann das Gefühl entsteht, er sage gewisse Dinge nur, um ihr zu gefallen. Denn sie, die ihn nach wie vor sichtbar liebt (und ihn erst kurz vor Ausbruch seiner Krankheit nach 20-jähriger Beziehung geheiratet hat) reibt sich im Kontakt mit ihm völlig auf, versucht verzweifelt, ihm glückliche Tage ins Gedächtnis zu rufen („An was möchtest du dich heute erinnern?“), verliert fast die Fassung, als er sie eines Tages nicht mehr erkennt. Dass Augusto sich manchmal sogar für seinen Zustand entschuldigt, bestärkt noch das Gefühl einer schmerzhaften beiderseitigen Abhängigkeit.

Maite Alberi bleibt in ihrem filmischen Porträt sehr nahe an ihren beiden bekannten Protagonist*innen. Augusto und Paulina sind bis auf die Rückblenden aus Góngoras Leben und einem kurzen Besuch seiner Tochter die einzigen Personen, die im Film zu sehen sind. Dadurch entstehen große Intimität und viele berührende Momente, die angesichts der Privatheit des Gezeigten manchmal aber an der Grenze zum Voyeurismus stehen. Wenn Augusto in einem Anfall von Verzweiflung völlig die Orientierung verliert und bemerkt, er möchte nun nicht mehr lange leben, fragt man sich beim Zusehen, ob er wohl selbst seine Zustimmung dafür gegeben hätte, in so einem Moment potenziell von Millionen von Menschen beobachtet zu werden. Zudem macht die isolierte Fokussierung auf die Zweierbeziehung von Augusto und Paulina die Bewertung des Films zur Geschmackssache. Für die einen kann der Film als bewegendes Dokument von Liebe und Hingabe unabhängig von den Lebensumständen gesehen werden. Für andere könnte wegen des Verzichts auf eine externe Einordnung der Krankheit (beispielsweise durch  eine*n medizinische*n Expert*in) am Ende des Films nicht mehr als Schmerz und das Gefühl bleiben, dass der Kampf gegen Alzheimer selbst bei liebevollster Pflege ein hoffnungsloser Kampf gegen Windmühlen ist.

LN-Bewertung: 3/5 Lamas

DIE SPIRALE VON CHAOS UND ZEIT

© courtesy of The Living and the Dead Ensemble/Spectre Productions

Ouvertures vermittelt einen zeitgenössischen Blick auf die Geschichte der Sklavenaufstände, die zur Gründung des Staates Haiti geführt haben. Im Mittelpunkt steht Toussaint Louverture, der Anführer der Haitianischen Revolution. Der Dokumentarfilm beginnt mit einer Spirale, danach wird eine Bibliothek in Paris eingeblendet, wo ein studentischer Forscher aus Haiti die Memoiren von Louverture liest. Die Szene ändert sich danach schlagartig, der Student marschiert durch den Schnee auf die Burg Château de Joux im Jura-Gebirge (Französische Schweiz) zu, wo der Revolutionsführer 1803 verstorben ist und erkundet alle Räume, auch die Todeszelle von Louverture. Im weiteren Verlauf des Films geht es von den Stalaktiten (in einer Höhle unter der Burg), durch die der Forscher die Vergangenheit zu lesen versucht, zurück nach Haiti. Zur selben Zeit, rund 7.700 km auf der anderen Seite der Welt, in Port-au-Prince, übersetzt eine Gruppe von Schauspieler*innen die Szenen der letzten Tage vor Louvertures Tod von Französisch auf Haitianisches Kreol. Beim Spielen eines Theaterstücks von Édourd Glissant verschmelzen die Schauspieler*innen immer mehr mit ihren Rollen und spüren die Anwesenheit des Geistes von Louverture.

Schnell wird klar, dass der Dokumentarfilm kein konventioneller westlicher Film ist, sondern ein Film aus haitianischer Perspektive. Besonders der Teil, der in Haiti spielt, ist geprägt von unzähligen haitianischen Symbolen, Einfluss des Voodoos, Musik (von Perkussion bis Hip Hop) und der Sicht der Haitianer*innen auf Revolution, Kolonialisierung und Weltordnung. Das Symbol der Spirale stellt dabei das Chaos der Welt dar, das durch die Sklaverei verursacht wurde und das Orte unabhängig von Ort und Zeit vereint. Der gesamte Film ist spiralförmig aufgebaut, es gibt Ortswechsel von Frankreich, Schweiz und Haiti, die alle miteinander durch die Geschichte von Toussaint Louverture verbunden sind. Für  den britischen Filmregisseur Louis Henderson und den französischen Produzenten Olivier Marbeouf stellt genau diese Symbolik einen Versuch dar, ein kreolisches Kino zu erschaffen, „wo Zeit und Raum auf den Kopf gestellt werden.“ Zusammen mit acht haitianischen Schauspieler*innen haben sie das Living and the Dead Ensemble gegründet und Ouvertures in eine Theaterinszenierung verwandelt, die vom Geist des Revolutionsführers heimgesucht wird.

© courtesy of The Living and the Dead Ensemble/Spectre Productions

Die Proben des Theaterstücks erstrecken sich über mehrere Tage an verschiedenen Schauplätzen in Port-au-Prince, meistens im Freien, bei Tag und Nacht. Die Theaterszenen bestehen aus Wiederholungen und Improvisation und vermischen sich in den Pausen mit Gesprächen über Feminismus, Identität und der Illusion des Kosmopolitismus. Der Film ist für das westliche Auge etwas zu lang geraten und einige Szenen hätten gekürzt werden können. Besonders die Anfangsszenen in Frankreich und der Schweiz sind etwas langatmig und man wartet darauf, dass die Geschichte in den Gang kommt.

Davon abgesehen ist Ouvertures jedoch ein sehr gelungener Dokumentarfilm, der Haiti aus dem Blickwinkel seiner Bewohner*innen darstellt und mit einem Hauch von Magischen Realismus verknüpft. Das Filmdebüt ist nicht nur eine Hommage an Toussaint Louverture, sondern auch eine Kritik am Postkolonialismus, ein Empowerment der Haitianer*innen und ein Aufruf Haiti trotz aller Armut und Probleme zu schätzen und an den Fortschritt zu glauben. Ein sehr detailreicher, spannender und innovativer Dokumentarfilm, der besonders für Haiti-Interessierte und Theaterliebhaber*innen zu empfehlen ist.

SCHLICHT UND EINFACH VERSPIELT

Die faltigen Hände zittern, als sie über das Klavier gleiten. Scheinbar orientierungslos tasten sie die Abstände zwischen den Tönen ab, rücken die vergilbten und zerfledderten Notenblätter zurecht. Doch dann bricht die Anfangssequenz von Medium die erzeugten Erwartungen: Die eben noch so müden Finger beginnen ihren Tanz über die Tasten, konzentriert und ohne Fehler führen die Hände eine perfekte Inszenierung des Intermezzo Opus 117 Nr. 3 von Brahms auf, dessen Melodien den ganzen Film begleiten werden.

Die Hände, denen die gut einstündige Dokumentation aus Argentinien eine so eindrückliche Szene widmet, gehören Margarita Fernández. Die inzwischen über 90 Jahre alte Pianistin und Künstlerin aus Buenos Aires ist eine langjährige Freundin des argentinischen Filmemachers und Autors Edgardo Cozarinsky. Dass der Regisseur die Porträtierte gut kennt, fällt bald auf: keine einleitenden Worte über Fernández, kaum biografische Bezüge oder Anekdoten. Cozarinsky konzentriert sich in Medium allein auf Margarita Fernández als Künstlerin und Vermittlerin – zwischen Film, Musik und Theater ebenso wie zwischen Jung und Alt. Historische Aufnahmen von Theater- und Musikperformances werden mit aktuellen Szenen kombiniert, die den Alltag der Pianistin zeigen. Darin wandert sie durch die Stadt und vermittelt ihren jugendlichen Schüler*innen das Werk von Komponisten aus dem 19. Jahrhundert, mit deren Persönlichkeiten sie sich intensiv auseinandergesetzt hat. Deren Musik, etwa die von Chopin oder Brahms, versteht Fernández als Quelle menschlicher Gesten.

So schön anzusehen diese intensive Beschäftigung mit der Musik auch ist, lässt Cozarinskys Dokumentation gleichzeitig zu viele interessante Aspekte von Margarita Fernández‘ Leben unerwähnt und driftet in Schlichtheit ab. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Pianistin und Filmemacher wirft Fragen auf, die filmisch nicht beantwortet werden. Cozarinskys Annäherung auf persönlicher und musikalischer Ebene sieht über die interessante Biografie der Künstlerin hinweg, ihr politisches Engagement wird nur angedeutet, über ihre Herkunft erfahren die Zuschauer*innen nichts. Die Einzelheiten ihrer musikalischen und spirituellen Auseinandersetzung mit romantischen Komponisten mögen für Freund*innen und Fans von Margarita Fernández interessant sein, für Außenstehende fehlen jedoch von Anfang an zu viele Informationen über sie als Person. Auch die zuweilen sehr inszeniert wirkenden Dialoge zwischen Pianistin und Musikschüler*innen passen zu dem künstlerisch anmutenden, aber insgesamt zu oberflächlichen Filmprojekt. Abseits der sehr gelungenen und beeindruckenden Eingangssequenz schafft Medium leider nur eine blasse Erinnerung.

UNGEAHNTE REALITÄTEN

© Spectre Productions, Stenar Projects

Kurzfilm-Fans haben es bei der Berlinale nicht immer leicht. Im Programm finden sich zwar meist zahlreiche Beiträge des Formats, aber neben dem offiziellen Programm Berlinale Shorts sind viele in anderen Sektionen versteckt. Abgesehen davon macht auch die fehlende regionale oder thematische Einteilung die Entscheidung für einen Kurzfilmblock oft schwierig. Umso schöner, dass die Berlinale-Sektion Forum Expanded dieses Jahr drei halbstündige Kurzdokumentationen aus Lateinamerika im Paket zeigt, die noch dazu ähnliche Themen behandeln (indigene bzw. rurale Gemeinschaften). Ein gelungenes Experiment, denn alle drei Filme sind durchaus sehenswert.

Die Reise in entlegene Regionen des südamerikanischen Kontinents führt zunächst nach Kolumbien. In Jiíbie zeigt Regisseurin Laura Huertas Millán die traditionelle Herstellung von grünem Koka-Pulver in der indigenen Gemeinschaft der Muiná-Muruí im kolumbianischen Amazonasgebiet. Für die Muiná-Muruí ist die Koka-Pflanze ein heiliges Medium, das für rituell-spirituelle und medizinische Zwecke benutzt wird. An rituellen Stätten, den Malokas wird das Jíibie oder Mambe genannte Pulver während gemeinschaftlicher Versammlungen konsumiert, um den kommunikativen Austausch und die Entscheidungsfindung zu fördern. Anders als das mit Chemie vermischte weiße Kokain ist Jíibie ein rein natürliches Produkt, das nur aus den Blättern des Kokastrauchs und des Yarumobaums besteht. Der Film zeigt in ruhigen Bildern die traditionelle Verarbeitung der Pflanzen (Ernte, Rösten, Mahlen, Koka mit Yarumo-Asche mischen, Sieben), untermalt mit rituellen Erzählungen der Muiná-Muruí. So kreiert Jiíbie ein gutes Gefühl für die spezielle Bedeutung der heiligen Pflanze, ohne allerdings Aufnahmen der Versammlungen, auf denen das Koka-Pulver als Vermittlung zur kollektiven Erfahrung eingesetzt wird, zu zeigen.

Weniger meditativ geht es in Jogos Dirigidos von Regisseur Jonathas de Andrade zu. Der Film zeigt die Bewohner*innen der 900-Seelen-Gemeinde Várzea Queimada („Verbrannte Ebene“) im Hinterland des nordöstlichen brasilianischen Bundesstaates Piauí. Die Besonderheit der Siedlung besteht darin, dass dort überdurchschnittlich viele taubstumme Menschen leben. Die kommunale Infrastruktur ist jedoch sehr schwach ausgeprägt, so dass für sie keine Gebärdendolmetscher*innen zur Verfügung stehen. Statt zu jammern, hat die Dorfgemeinschaft aber aus der Not eine Tugend gemacht und kurzerhand ihre eigene Gebärdensprache erfunden. Die ist, wie im Film schnell klar wird, sehr lebendig und expressiv und auch für Nicht-Eingeweihte relativ leicht verständlich. Die Aufnahmen zeigen die titelgebenden Jogos Dirigidos („angeleitete Spiele“), bei denen die Bewohner*innen mit großer Begeisterung Kinderspiele wie Stuhltanz oder Ochs am Berg durchführen und dann auf einer Bühne in der selbst entwickelten Gebärdensprache Geschichten aus ihrem Leben preisgeben. Dabei werden die Erzählungen zunächst meist ohne Erklärung gezeigt und danach noch einmal mit Untertitelung der wichtigsten Wörter und Ausdrücke wiederholt. Interessant ist das nicht nur aus sprachlichen Gesichtspunkten, sondern auch, weil die Geschichten viel über das nicht immer einfache Leben in der ländlichen Umgebung der brasilianischen Peripherie verraten. Die Lebensfreude der Bewohner*innen und deren oft emotionale Reaktionen beim Spiel und beim Hören der Geschichten machen Jogos Dirigidos zu einem aufschlussreichen und vergnüglichen Filmerlebnis.

Den Abschluss der Trilogie bildet der ebenfalls brasilianische Beitrag Apiyemiyekî? von Regisseurin Ana Vaz. Der Titel bedeutet „Warum?“ in der Sprache der indigenen Gruppe der Waimiri-Atroari aus dem brasilianischen Amazonasgebiet. Diese wurden Opfer des größten Genozids unter der Herrschaft der brasilianischen Militärdiktatur, der Film erzählt ihre Geschichte. Weil die Regierung Mitte der 1970er Jahre eine Straße nach Manaús baute, vertrieb sie die Waimiri-Atroari mit brutalen Mitteln aus ihrem Territorium, das auf dem Weg dorthin lag. Durch chemische Waffen wie Napalm und Massenexekutionen mit Macheten und Gewehren wurden bis zu 3000 Menschen ermordet. Erst 2019 kam es zum Prozess gegen die Regierung, der bis heute andauert.

Die Regisseurin verwendet für die künstlerisch ansprechende Dokumentation gemalte Bilder und erste schriftliche Zeugnisse der kurz vor dem Terror der Militärs alphabetisierten Mitglieder der indigenen Gemeinschaft. Visuell aufwändig werden diese wie transparente Folien über die reale Naturlandschaft des Gebietes der Waimiri-Atroari gelegt. Besonders gut gelingt dies bei den Aufnahmen von fließendem Wasser, auf die gezeichnete Boote montiert werden. Die grafischen und schriftlichen Zeugnisse dienen als Beweisstücke im Prozess gegen den Staat und bewahren eine kollektive Erinnerung der grausamen Begegnung mit den sogenannten „zivilisierten Menschen“. Die Frage nach dem Warum der Tötungen durch die „Zivilisierten“ wurde von den Indigenen am häufigsten gestellt und deshalb auch als Titel des Films ausgewählt. Mit Apiyemiyekî? ist Ana Vaz eine eindrucksvolle und visuell ambitionierte Verarbeitung eines der düstersten Kapitel der brasilianischen Militärdiktatur gelungen, die im Grunde einen Langfilm verdient hätte.

Das verbindende Element zwischen den drei filmischen Beiträgen ist der Einblick in lateinamerikanische Welten, deren Realitäten bislang vielen nicht bekannt sein dürften und die einfühlsam und informativ auf die Leinwand transportiert werden. Bleibt zu hoffen, dass trotz der etwas versteckten Platzierung als Programm 6 der Experimentalfilm-Sektion Forum Expanded viele diese empfehlenswerte Kurzfilm-Trilogie im Programm entdecken und auf dem Festival ansehen.

AKT DER BEFREIUNG

1968, zur Hochzeit der ultrakonservativen Regierungen und Militärregimes in Lateinamerika, begann ein verbotener und verrufener Film, sich über den Kontinent zu verbreiten. La Hora de los Hornos („Die Stunde der Feuer“) [ursprünglich als „Die Stunde der Hochöfen“ übersetzt, Anm. der Red.] wurde in geheimen Aufführungen, in Stadtteilorganisationen, Gewerkschaften, Kirchengemeinden, Privathäusern, Schulen und Universitäten gezeigt. Jede Filmvorführung war ein Akt des Widerstandes, der sich an Aktivist*innen, Mediengruppen oder studentische und politische Führungspersönlichkeiten richtete. Sie kamen zusammen, um den Film zu sehen und dabei über künftige Strategien zu diskutieren. Nicht nur die Vorführenden, sondern auch die Teilnehmenden setzten sich der Gefahr aus, festgenommen und wegen subversiver Aktivitäten angeklagt zu werden. Die Filmrollen wurden in Kellern, Lagern oder Garagen versteckt. Während die staatliche Repression umgangen werden musste, perfektionierte sich der Vertrieb. In den ersten fünf Jahren sahen schätzungsweise mehr als 250.000 Zuschauer*innen den Film. In diesem alternativen Vorführungssystem mit rund 50 zirkulierenden Kopien von La Hora de los Hornos wurden auch andere Produktionen des revolutionären lateinamerikanischen Kinos gezeigt. Erst im Jahr 1973 konnte der Film in Kinosälen vorgeführt werden.

Doch die Aufhebung des Verbots war nur von kurzer Dauer. Nach dem argentinischen Militärputsch von 1976 konnte La Hora de los Hornos erneut nur unter großer Gefahr im Untergrund in geheimen und verbotenen Aufführungen gezeigt werden. Die Mitglieder der Gruppe Cine Liberación (Befreiungskino), die den Film gedreht und produziert hatten, mussten ins Exil. Viele verschwanden gewaltsam aufgrund der entfesselten staatlichen Repression dieser Jahre. Erst 1989, 20 Jahre nach seiner Fertigstellung, kehrte der Film in die argentinischen Kinosäle zurück.

La Hora de los Hornos ist eine vierstündige Trilogie aus voneinander unabhängigen Filmen, die aber ein Leitmotiv zusammenhält: Abhängigkeit und Freiheit. Es geht um die soziale und politische Situation Argentiniens in den Jahren 1945 bis 1968, verbunden mit einem Aufruf zur Aktion und zum Kampf gegen den Neoliberalismus. Versatzstücke aus Literatur, Aufrufe zum Kampf, Filmaufnahmen der gesellschaftlichen Realität der unteren Klassen, historische Einordnungen und Archivmaterial von Fidel Castro, Che Guevara, Mao Zedong und Juán Perón wurden zu einer Collage montiert. Die häufig eingeblendeten Zitate und Überschriften erzeugen einen atemlosen Rhythmus. Der Film ist zugleich theoretischer Essay, stilistisches Avantgardewerk und revolutionäres Propagandamaterial. Von Anfang an war ein offenes Werk beabsichtigt, in das nachträglich neue Sequenzen eingebunden werden konnten. Das war schon dem historisch unvollendeten Charakter der Thematik geschuldet. So war es – selbst als der Film eigentlich schon fertig produziert war – möglich, weitere Interviews und Reportagen einzufügen. Aus diesem Grund sprachen die Macher von La Hora de los Hornos auch nicht von einem Film, sondern von einem „Akt“ – einem Akt der Befreiung.

Die Arbeit an der revolutionären Filmfront war aber nicht nur gefährlich, sondern auch extrem aufwändig. Eine Produktionsfirma war in Zeiten der Staatszensur ebenso unmöglich aufzutreiben wie ein professioneller Vertrieb. Das machte die Filmproduktion zu einem langwierigen und arbeitsintensiven Vollzeitjob, der nur mit extremem Idealismus und Learning-by-Doing umzusetzen war. Der Dreh von La Hora de los Hornos erforderte drei Jahre Arbeit. Seine Macher, Fernando „Pino“ Solanas und Octavio Getino, reisten dafür mehr als 18.000 Kilometer durch das Land und nahmen 180 Stunden Material auf. Außerdem durchforsteten sie Filmarchive, Museen, Kinematheken, stellten Statistiken staatlicher und privater Organisationen zusammen und recherchierten Hintergründe in aktuellen lokalen und internationalen Medien. Solanas selbst sagt heute, er könne diese Arbeitsweise niemals mehr in dieser Form durchhalten. Gedreht wurde größtenteils auf 16-Millimeter mit Kameras von Bolex oder Beaulieu. In den Laboratorios Alex in Buenos Aires wurde der Film geschnitten und auf 35 Millimeter erweitert, für die Überspielung mussten die Filmrollen jedoch außer Landes – nach Rom – geschmuggelt werden. Bei Ager Film, der Produktionsfirma des Regisseurs Valentino Orsini und der Brüder Taviani, die später mit ihren Filmen Preise auf den großen Festivals in Cannes und Berlin gewinnen sollten.

Einmal exportiert und fertiggestellt, ließ der Erfolg von La Hora de los Hornos nicht lange auf sich warten. Die erste öffentliche Aufführung fand am 2. Juni 1968 auf dem Filmfestival Mostra Internazionale del Nuovo Cinema in Pesaro (Italien) statt, wo er erstmals einen Preis gewann. Es folgten weitere Preise auf zahlreichen Filmfestivals. Heute zählt ihn die internationale Kritik zu den Klassikern des politischen Dokumentarfilms; unter anderem wird er mit dem legendären russischen Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin verglichen. La Hora de los Hornos wurde in 70 Ländern von schätzungsweise 40 Millionen Zuschauer*innen gesehen. Der Film wurde auf der ganzen Welt zu einem Symbol für den Kampf der Generation der 1960er und 1970er Jahre. Und er bleibt aktuell: Im Mai ist Solanas in Cannes eingeladen, um den Film auf dem dortigen Festival in der Sektion „Retrospektiven“ erneut zu zeigen; zusammen mit Werken von Bergman, Welles, Kubrick, Hitchcock und anderen, die in Cannes entdeckt wurden und heute zu den Klassikern des Weltkinos gehören.

Das internationale Interesse verschaffte La Hora de los Hornos erneut eine große Bekanntheit in Argentinien, wo der Film verboten und verleumdet worden war. Er rückte wieder ins Bewusstsein eines großen Teils der Aktivist*innen und politischen Kämpfer*innen, die begannen, neue Vorführungen zu organisieren, und dies bis heute tun. Dass La Hora de los Hornos immer wieder veröffentlicht, verboten und wieder gezeigt wurde, ist kein Zufall. Denn er ist nicht als abgeschlossenes Kunstwerk, sondern als Prozess zu begreifen. Oder, um es mit den Worten von Solanas auszudrücken: „Der Film ist durchaus noch nicht beendet, wenn man bedenkt, dass ein aktuell-geschichtlicher Film kein Ende haben kann. Er wird erst enden, wenn wir die Macht haben, wenn die Revolution stattgefunden hat.“

 

SOJAMEER STATT PFIRSICHBÄUME

Grünes Meer soweit das Auge reicht. Millionen Hektar Sojaplantagen bedecken das Land und auch wenn Argentiniens Soja-Problematik ökologisch interessierten Menschen geläufig sein mag, wurde sie selten so plakativ und geballt vorgeführt, wie in Viaje a los pueblos fumigados (Reise in die verseuchten Dörfer).

Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte des Sojabooms in Argentinien, die gefeierten Anfänge, die Entwicklung, die extremen Folgen. Dafür reist Regisseur Fernando „Pino“ Solanas durch verschiedene Provinzen Argentiniens und widmet sich der dortigen Sojaproduktion und den damit verbunden Problematiken – es geht um Entwaldung, Vertreibung von indigenen Gemeinden, Landflucht, Binnenmigration. Aber auch um Agrobusiness, transnationale Verflechtungen, Patentrechte, die extremen gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und Rückstände von Pestiziden in Flüssen, in Böden, im Gemüse, in Blutanalysen.

So reist das Team von Pino Solanas in die Provinz Salta, trifft dort auf Wichi-Communities, die mit Pflanzenschutzmittel geradezu „bombardiert“ und von Gebieten, in denen sie über 200 Jahre ansässig waren, vertrieben werden, da diese als Sojaanbaugebiete genutzt werden. Oder nur noch eingezäunt in Arealen leben, weil Straßen und Zugangswege bereits privatisiert sind. Solanas besucht ländliche Schulen, über die die Sprühflugzeuge ohne Beachtung vorgeschriebener Distanzen hinwegfliegen; Dörfer, in denen überdurchschnittlich viele Menschen an Krebs erkranken oder mit Missbildungen geboren werden und Gemeinden, in denen Kinder sterben, weil sie pestizidverseuchten Flüssen gespielt haben.

„Es gibt kein Leben, keine Insekten mehr“, beschweren sich Landwirt*innen in Entre Ríos, nur ein kleines „subversives Unkraut“ finden sie, das ob des Einsatzes der Pestizide überlebt hat. Hunderttausende Menschen haben das traditionelle Campo und die Arbeit in der Landwirtschaft verlassen. Dabei galt das genmanipulierte Saatgut zu Beginn des Sojabooms als Zeichen der Modernität. So weit ging der Fortschrittswahn, dass alles, was nicht genmanipuliert war, als rückständig, ja fast schon reaktionär galt. Doch nach dem Boom kam der Fall und die Krise nach dem Preisverfall auf dem Weltmarkt trieb hunderttausende abhängige kleine Produzent*innen in den Ruin. Was geblieben ist, ist eine Landwirtschaft ohne Landwirt*innen (gepflanzt wird nur noch übers Telefon), Quantität ohne Qualität, verlassene Bauernhöfe, verwaiste Schulen, abgeholzte Bäume und Wälder, Erinnerungen an Pfirsichbäume, wo nun Sojameere wachsen.

Solanas Film ist dicht, fast etwas erschlagend und vor allem deprimierend. Die Wörter „traurig“ und „machtlos“ fallen oft in den Interviews und wirken fast alternativlos angesichts einer Rhetorik in der Regie, die oft an Kriegsszenarien erinnert und vom Soja wie von einem übermächtigen Feind spricht, von Invasion, Überfall, Bombardierung, Zerstörung.

Eindeutig kommen alle Beteiligten des Films zu dem Schluss, dass diese Form der Landwirtschaft nicht den versprochenen Fortschritt gebracht hat, sondern den größten Rückschritt für ihr Land bedeutet. Und suchen daher wieder nach Alternativen zum Sojamodell, die im Film auch nicht zu kurz kommen. So entdecken sie heimische Gemüsesorten wieder neu, erzählen von Mischwirtschaft und Biohöfen, von Protesten der betroffenen Dorfgemeinschaften und wissenschaftlichen Studien an Universitäten und aus medizinischer Forschung. Diese belegen die Zusammenhänge zwischen dem Unkrautbekämpfungsmittel Glyphosat und den gestiegenen Zahlen an Krebserkrankungen, an Allergieleiden und schweren Missbildungen.

Viaje a los pueblos fumigados ist der achte Dokumentarfilm des argentinischen Filmemachers und grünen Politikers Fernando „Pino“ Solanas. Bereits im Jahr 2004 hatte Solanas einen Goldenen Bären für seinen Film Memorias del Saqueo gewonnen. Viaje a los pueblos fumigados läuft in der diesjährigen Berlinale im Programm Berlinale Special, das außergewöhnliche Filmpersönlichkeiten ehrt.

Pino Solanas als die besondere Persönlichkeit, die er ist, ist dann auch durchweg präsent im Film, meist kommt er im Auto (immer in verschiedenen) an seine Schauplätze gefahren, zeigt sich hinter und vor der Kamera, baut Nähe zu seinen Interviewpartner*innen auf, indem er sie immer mit Vornamen anredet und mit ihnen Mate trinkt. Jedenfalls ist er immer im Bild. Die Nähe aber ist spürbar, seine Protagonist*innen schätzen Pino und vertrauen ihm, er ist ein willkommener Gast, ein Freund, ein angesehener Aktivist.

Durch die entsättigten Farben der Aufnahmen, erinnert die Bildsprache an die 70er Jahre, was ästhetisch (und manchmal leider pathetisch) wirkt, aber vielleicht der Aktualität und Brisanz des Materials entgegenwirkt. Denn so scheint es fast, als ginge es um längst vergangene Kämpfe und könnte darüber hinwegtäuschen, dass diese bodenlosen Dummheiten in den letzten Jahren geschehen und immer noch aktuell sind.

Was der Film deutlich macht, ist die Abwesenheit des Staates, die fehlende Kontrolle der Politik. Keine Politiker*innen kommen zu Wort, niemand, der*die die (fehlende) Politik zu rechtfertigen sucht. Alle noch so extremen Konsequenzen der Sojaproduktion werden verleugnet oder verschwiegen. „Alle wissen es, aber niemand spricht darüber“, ist der Tenor, der zuletzt auch durch Bilder jener, die diese Katastrophe zu verantworten haben, emblematisch wird: stumme Präsident*innen und Minister*innen, die nur als Fotografien eingeblendet werden und nicht sprechen. Ob sie nicht wollten oder nicht durften, bleibt unklar.

Viaje a los pueblos fumigados ist zugleich Zeugnis und Anklage. Zeugnis einer, wie Solanas sagt, sozio-kulturellen und politischen Krise seines Landes und eine Anklage gegen Kontrollbehörden und Politiker*innen, die die Zerstörung der Ökosysteme und Beeinträchtigung der Gesundheit durch Pflanzenschutzmittel und Pestizide zulassen. Es ist ein Film, der vor allem auch in Argentinien gesehen werden sollte.

 

Viaje a los pueblos fumigados lief im Berlinale Special und ist vielleicht bald in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

KEINE EINFACHEN WAHRHEITEN

Als der Abend des 16. April 1989 in Montevideo hereinbricht, regnet es in Strömen. Hörbar prasselt das Wasser auf Straßen und Dächer, während sich nach langen Stunden der Anspannung die Müdigkeit in den Auszählungsräumen breit macht. Vor den Augen vieler Beobachter*innen sind die Stimmzettel zu farbigen Stapeln angewachsen: Grün, das ist die Farbe der Referendumsbefürworter*innen, steht für eine Aufhebung des Amnestiegesetzes. Gelb, die Farbe der Referendumgsgegner*innen, steht für ein weiter wie bisher.

Als sich die ersten Ergebnisse der Auszählung wenig später herumsprechen, ist kein Jubel auf den Straßen zu vernehmen. Gelb gewinnt. Nur wenige Menschen trotzen dem Regen und lassen sich vor der Kamera befragen. Vor allem die Jungen wirken ungläubig bis fassungslos.

Unas preguntas von Kristina Konrad ist eine Art teilnehmende Beobachtung, welche die Geschichte der Volksabstimmung über das „Ley de la Caducidad“ Ende der 80er Jahre in Uruguay erzählt. Über jenes Gesetz also, das Militär und Polizei Straffreiheit für die in der Zeit der Militärdiktatur begangenen Verbrechen gewährt – darunter Entführung, Folter und Mord.

Über einen Zeitraum von zwei Jahren haben Kristina Konrad und ihre Freundinnen Maria und Gabriella den Prozess des Referendums begleitet. Initiiert von einer Koalition aus Hinterbliebenen, einer linken urbanen Mittelschicht und Gegner*innen der Militärdiktatur, liegt in diesem Referendum über die Abschaffung der Straffreiheit die Hoffnung auf eine Aufarbeitung der Diktatur und ihrer Gräueltaten und auf einen Aufbruch in eine gerechtere Zukunft. Es sind auffällig viele Frauen, die die Demonstrationen anführen, unerschrocken und fordernd in den ersten Reihen stehen.

Konrad und ihre BegleiterInnen waren stets dabei – vom Sammeln der für den Antrag notwendigen Stimmen über die Mobilisierungsprozesse von Gegner*innen und Befürworter*innen des Referendums bis zum Referendum selbst und dieser Nacht am 16. April 1989.

Was sie mit ihren einfachen Handkameras eingefangen haben, ist heute, fast 30 Jahre nach den Geschehnissen, ein historisches Dokument. Die Qualität der alten Bilder, das Rauschen, haben heute einen ästhetischen Charakter – die gezeigten Auseinandersetzungen jedoch zum Teil erschreckende Gemeinsamkeiten mit aktuellen Geschehnissen.

Klug geschnitten wechseln sich Bilder der Straßenszenerie mit einfachen Interviews ab. Zusammen mit immer wieder eingeschobener Fernsehwerbung vermittelt diese ein Gefühl für die Zeit der 80er in Uruguay. Die Zeit nach langen Jahren der Diktatur und wirtschaftlicher Rezession.

Im Mittelpunkt stehen hierbei die Menschen und die Straße als Ort des Austausches. Der Film tut gut daran, unterschiedlichste Menschen an unterschiedlichsten Orten des Landes, ihre Motive und Gedanken, vor die Kamera zu bringen. Maria und Gabriella leiten mit ihren intervenierenden aber immer beruhigenden und klaren Fragen durch den Film. Zum Teil fällt der Ton aus, oder ist ganz leise. Dann sprechen die Bilder für sich.

Der Film zeigt eine sich politisierende Gesellschaft, welche nach Jahren der Militärdiktatur auf der Suche danach ist, was Gerechtigkeit und Frieden, was Erinnerung und Vergessen sind.

Befürworter*innen wie Gegner*innen polarisieren, wobei die Seite der Gegner*innen stark polemisiert und Drohszenarien heraufbeschwört. Da ist die Rede von marxistischen Sekten, Subversion und einer kommunistischen Bedrohung. Angesichts eines prophezeiten Bürgerkriegs fällt es ihnen leicht, Begriffe wie Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit für sich zu vereinnahmen und umzudeuten. In Funk und Fernsehen entwickelt sich ein propagandistischer Schlagabtausch, bei dem nur Kleidungsstil, Automodelle und die Tatsache, dass die Menschen sich Radios statt Smartphones an die Ohren halten, daran erinnern, dass diese Auseinandersetzung weit in der Vergangenheit zurückliegt.

Wie Konrad selbst sagt, soll der Film zeigen, wie Demokratie funktioniert. Allerdings wird ebenso ersichtlich, wie schwierig es ist, Gerechtigkeit über ein Referendum herzustellen, und dass Demokratie nicht automatisch zu Gerechtigkeit führt.

Das Referendum entwickelt sich zu mehr als einer bloßen Frage der Zustimmung oder Ablehnung des Gesetzes. Gedanken, Gefühle und Ängste der Befragten vermischen sich und es zeigt sich eine zunehmende Unmöglichkeit ,die Pluralität der Meinungen auf eine binäre Entscheidungsstruktur des 1 oder 0, des Entweder-Oder, des Ja oder Nein zu reduzieren.

Auf die leitende, so einfache wie komplexe Frage „Was ist Frieden?“ gibt es selten eine klare und deutliche Antwort. Und auch in den Interviews, die außerhalb der beiden Lager geführt werden, zeigt sich, dass für viele, deren soziale Realität von Armut, Gewalt und einem Bedürfnis nach sozialer und ökonomischer Sicherheit geprägt ist, Frieden und Gerechtigkeit eine Abstraktion darstellen, welche nicht mit einem Referendum hergestellt werden kann.

Unas preguntas von Kristina Konrad ist ein Film, der durch verschiedene Lebensrealitäten geht und diese offen und ehrlich zeigt, der zuhört und nachhakt, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Der sich Zeit nimmt und lange dauert, aber nicht langweilig wird, der die Anspannung und Verunsicherung Vieler und die Hoffnung Einiger darstellt.

Der Film ist sicherlich spannend für historisch Interessierte, hat aber auch einen gewissen Lehrstückcharakter für alle, die Fragen danach umtreiben, ob und wie ein bisschen mehr Gerechtigkeit möglich ist.

Unas preguntas lief 2018 im Forum der Berlinale.

REISE IN DIE TIEFE SEELE AMAZONIENS

Ex Pajé erzählt die Geschichte eines Kriegers, der außerhalb seiner gewohnten Umgebung, dem brasilianischen Amazonasgebiet, leben muss. Perera und seine Familie gehören zu den Paiter Suruí, einer indigenen Gemeinschaft, die jahrzehntelang im Regenwald nach ihrer eigenen Weltanschauung lebte, bis die Modernisierungswelle sie erreichte. Perera lebt jetzt umgeben von Handys, Waschmaschinen und anderen Objekten des Systems derWeißen Männer”. Er ist aber eigentlich ein Krieger und ehemaliger Schamane (portugiesisch: Pajé) der seine Gruppe durch das Amazonasgebiet leitete. Der Film entwickelt sich ausgehend von diesem Konflikt.

Die Gefahren im Urwald haben sich verändert. Heute muss Pereras Familie gegen das illegale Holzfällen kämpfen und die Beschwerden darüber mit Fotos auf Facebook posten. Dazu kommt die moderne Medizin: Früher hat der Schamane, also Perera, mit den Geistern des Waldes gesprochen, um seine Verwandten zu heilen, aber jetzt bekommen sie moderne Pillen für moderne Schmerzen. Um zu guter Letzt alles noch schlimmer zu machen ist auch noch die Heilige Katholische Kirche im Ort und hat ein strenges Verbot der Paiter SuruíWeltanschauung ausgesprochen, die als Teufelswerk verdammt wurde.

Perera bewacht nachts die Türen der Kirche und bekommt Besuch von den Dschungelgeistern, die ihn als Strafe für seine Unterwerfung unter das Verbot seiner Traditionen durch die Kirche schlagen. Aber etwas Unerwartetes geschieht in Pereras Familie und er muss die Entscheidung treffen, wieder ein Schamane zu werden, um seiner Gruppe zu helfen.

Diese Dokumentation des brasilianischen Regisseurs Luiz Bolognesi (u.a. Uma História de Amor e Fúria; Amazônia Desconhecida) wird bei dieser 68. Berlinale in der Sektion Panorama gezeigt. Die Geschichte trifft mit dem Konflikt des Protagonisten und der Herausforderung, der er begegnen muss, ins Herz der Zuschauer. Was den Film besonders macht, ist die Perspektive von Bolognesi: die Welt durch Pereras Augen zu sehen und seine Weltanschauung zu zeigen.

Spezielle Erwähnung muss der Filmsound bekommen: Er ist sehr wichtig. weil es die Sprache des Urwalds ist, der Perera ständig zuhört. Daher wurde hier richtig gut gearbeitet, um dem Publikum die mächtige akustische Präsenz Amazoniens nahezubringen.

Mit Ex-Pajé schafft Bolognesi etwas Wunderbares: Die orale Geschichte der Paiter Suruí durch Pereras Aktionen und Gespräche mit seinem Enkel aufzunehmen. Gedreht mit Empathie und Respekt zeigt die Dokumentation, wie wichtig es ist, die Natur zu verstehen und stellt auch die Frage, wie weit entfernt wir selbst in der “Westlichen Welt” von einer Beziehung mit der Natur sind.

Ex Pajé wurde auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama Dokumente gezeigt und erhielt neben einer Lobenden Erwähnung den Glashütte Original Dokumentarfilmpreis.

SCHMUTZIGES GESCHÄFT

In Ihrem Dokumentarfilm betreten Sie die Stadt Rinconada und erzählen uns, wie wenig Kontrolle es in der Region gibt. Sie führen uns auch in verschiedene Gemeinden, die von starker Umweltverschmutzung durch den Bergbau betroffen sind. Was ist die Antwort des Staates darauf?
Der Staat verhält sich genauso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern: Er versucht Profit aus dem Rohstoffabbau zu schlagen und denkt in keiner Weise an diejenigen, die unter dessen Folgen leiden, nämlich an die Bewohner der Region. Wenn es in Peru zu einem Konflikt zwischen Anwohnern und Bergbauunternehmen kommt, scheint der Staat den Vermittler zu spielen. Am Ende schenkt dieser Vermittler den Opfern jedoch kein Gehör, weil es in seinem Interesse liegt, dass weiterhin Rohstoffe abgebaut werden. Bevor er als Vermittler auftritt, sollte der Staat als Erstes den Aussagen der Opfer zuhören – das geschieht in Peru aber nicht.

Dieses Auftreten lässt sich in Ihrem Film an einem Beamten nachvollziehen, der bei einem Konflikt zwischen dem Staat und Menschen, die von der Umweltverschmutzung durch den Bergbau betroffen sind, vermittelt. Wie haben sich die Gespräche in diesem Fall entwickelt?
Bei der Ortschaft, die wir zeigen, handelt es sich um Llallimayo. Die Bewohner dort protestieren seit 2006. Elf Jahre schon dauert ihr Protest und immer noch hört niemand zu. Martín Carbajal vermittelte bei den Gesprächen als Vertreter des Bergbauministeriums. Im Film kann man sehen, wie er das Gespräch mit den Bewohnern beendet. Man merkt, dass diese Person eigentlich nicht geeignet ist, um als Vermittler aufzutreten. Ich frage mich, ob die Beamten, die der Staat schickt, die nötige Ausbildung für diese Aufgabe besitzen. Es könnte ja sein, dass sie einfach unfähig sind. Aber nach so vielen Jahren stellt man fest, dass etwas nicht stimmt. Es scheint, als würde der Staat ein Programm verfolgen, mit dem er die Gemeinden beruhigt und die Konflikte weitestgehend eindämmt, während der Bergbau fortgesetzt wird.

Außer den Gebieten, in denen Sie für diesen Film recherchiert haben, gibt es sicherlich noch weitere Regionen, die ebenfalls betroffen sind. Gibt es einen Fall, der Ihre besondere Aufmerksamkeit erregt?
Natürlich, es gibt Bevölkerungsgruppen, die noch viel stärker betroffen sind als diejenigen, die wir im Film gezeigt haben, wie zum Beispiel die Uros. Die Uros teilen sich in zwei Gruppen: die Händler, die auf den touristischen Inseln arbeiten, aber auf dem Festland leben, und die Uros, die nur auf den Inseln leben. Letztere wohnen in San Pedro de Ccapi, und der See ist der einzige Ort, wo sie einen Wasserzugang haben. Zu ihrer Ernährung gehört die tontora, eine Pflanze, die im See wächst. Die Uros essen also all die Schadstoffe mit, die zusätzlich zum Abwasser, das aus Juliaca in den See gelangt, durch den Bergbau hineingespült werden.

Neben einer Stadt wie Juliaca mit ihren fast 300.000 Einwohner*innen leiden auch viele kleine Gemeinden unter der Verschmutzung der Flüsse. Gibt es eine Organisation oder ein gemeinsames ökologisches Interesse in diesen betroffenen Gebieten?
Ökologisches Interesse gibt es wenig, dafür viel Korruption. Die Gemeinden flussabwärts von Juliaca haben sich organisiert, in Juliaca dagegen geht es nur ums Kaufen und Verkaufen. Juliaca ist eine Stadt des Handels, also total chaotisch. Sie ist in ständiger Bewegung, die Leute kommen aus Puno, Bolivien, Chile und der ganzen dortigen Andenregion. Es ist eine sehr schmutzige Region und das ökologische Bewusstsein der Peruaner ist nicht sehr ausgeprägt. Man kann beobachten, wie sie den Müll in die Flüsse kippen und diese damit verseuchen. Die meisten derjenigen, die sich für die Umwelt interessieren, sind dagegen Indigene. Die, die sich nicht dafür interessieren, wohnen flussaufwärts. Schließlich sind es ja auch die, die flussabwärts leben, zu denen der Fluss seine Schadstoffe trägt.

Ein Teil Ihrer Recherchen führte Sie auch nach Köln, genauer gesagt nach Hambach. Warum wollten Sie diese Mine in Ihre Dokumentation mit aufnehmen?
Damit wollte ich versuchen, mit dem Klischee zu brechen, dass die Menschen im Süden die Unterentwickelten seien, die die Umwelt verschmutzen. Aber es ist festzustellen, dass das so nicht stimmt: Auch hier gibt es massive Umweltverschmutzung. Natürlich geschieht das nicht auf die gleiche Weise, aber die Brutalität, mit der die Erde verschmutzt wird, ist die gleiche. Da gibt es keinen Unterschied zwischen dem Norden und dem Süden – bewusst oder unbewusst zerstören wir alle zusammen den Planeten. Deutschland ist eines der führenden Länder, was ökologische Praktiken angeht, aber gleichzeitig führt es die Liste der Länder an, die die Umwelt am meisten verschmutzen. Das ist doch ein Widerspruch! Peru und andere lateiname= rikanische Länder zählen dagegen nicht zu den Spitzenländern bei Umweltverschmutzung. Deutschland muss Braunkohle in Kolumbien kaufen, um sie mit der Braunkohle aus Hambach zu vermischen, weil der Brennwert der deutschen Braunkohle niedriger ist – das ist aber noch umweltschädlicher. Und das ist noch nicht alles: Die deutschen Unternehmen könnten Filter einbauen, damit die Kraftwerke weniger Quecksilber ausstoßen. Aber es wird einfach nicht gemacht.

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