Sieg gegen den Bergbau

Das Fass ist übergelaufen Über 50.000 Panamaer*innen demonstrierten von Oktober bis Dezember 2023 gegen das Bergbaugesetz (Fotos: Carlos Escudero-Nuñez)

Unter der aktuellen Regierung von Laurentino Cortizo und seinem Bündnis aus der nominell sozialdemokratischen, aber de facto eher neoliberalen Partido Revolucionario Democrático (PRD) und der liberal-konservativen Movimiento Liberal Republicano Nacional (MOLIRENA) hat es drei große gesellschaftliche Mobilisierungen gegeben: Die massiven Proteste im Jahr 2019 forderten vor allem Änderungen an der Verfassung. Die Proteste von 2022, die sich gegen die steigenden Preise für Benzin und Waren des täglichen Bedarfs sowie die sich ausbreitende Korruption richteten, hatten starke Auswirkungen auf das soziale Gefüge in Panama. Die jüngste Protestwelle von 2023 hat jedoch sowohl das Ausmaß dieser beiden Proteste als auch ihre Auswirkungen übertroffen. Sie richtete sich gegen die Verabschiedung des Gesetzes 406, das dem Unternehmen Minera Panamá im Rahmen einer Bergbaukonzession weitreichende Rechte gewährte, wie die mögliche Ausweitung auf weitere Flächen oder den Zugang zu geschütztem Meeresgrund. Auch sollte es verboten sein, das Minengelände im Bezirk Donoso an der Atlantikküste zu überfliegen. Minera Panamá ist ein Tochterunternehmen des kanadischen Konzerns First Quantum Minerals Ltd..

Die schnelle Verabschiedung des Gesetzes brachte das Fass schließlich zum Überlaufen: Mehr als 50.000 Panamae*rinnen gingen über 40 Tage lang auf die Straßen, um ohne Pause zu demonstrieren. Oft blockierten sie Verkehrswege, obwohl die Polizei sich ihnen mit harter Repression – unter anderem dem Einsatz von Tränengas und Schrotkugeln – entgegenstellte. Dazu kam die Unterversorung mit grundlegenden Lebensmitteln, die sich durch die Straßensperren ergab.

Mehr als 1.000 Festnahmen bei den Protesten

Teile der Bevölkerung und verschiedene organisierte Gruppen sahen in der Lahmlegung der Arbeit und des Verkehrs im Land das einzige Druckmittel gegen eine Regierung, die ihnen nicht zuhörte. Organisationen wie die Baugewerkschaft SUNTRACS; die panamaische Lehrer*innenvereinigung ASOPROF; bäuerliche, indigene und studentische Bewegungen, die sich im Bündnis Alianza Pueblo Unido por la Vida (APUV) zusammengeschlossen hatten und die in digitalen Plattformen wie Sal de las Redes oder der Bewegung „Panama ist ohne Bergbau mehr wert” organisierte Jugend schafften es, zum größten Aufstand der vergangenen Jahre zu mobilisieren.

Während der Demonstrationen kam es zu Zwischenfällen mit Demonstrierenden und Gegner*innen der Proteste, vier Demonstrierende wurden dabei getötet. Ein Fotograf verlor durch eine Schrotkugel der Polizei ein Auge. Laut der Tageszeitung La Prensa wurden während der Demonstrationen mehr als 1.061 Menschen festgenommen, gegen 175 von ihnen wurden Strafprozesse wegen Vandalismus eröffnet.

Die Proteste gegen das Bergbaugesetz haben eine Vorgeschichte: Bereits im Jahr 2017 hatte der Oberste Gerichtsof Panamas den ursprünglich 1997 verabschiedeten Vertrag zur Ausbeutung der Mine, die damals noch zum Unternehmen Minera Petaquilla Gold S.A. gehörte, für verfassungswidrig erklärt. Erst 2021 wurde mit der Regierung ein neuer Vertrag ausgehandelt, bis dahin hatte Minera Panamá illegalerweise ohne Vertrag weitergearbeitet. Außerdem bezahlte das Unternehmen weder Lizenzgebühren noch Steuern. Am 20. Oktober 2023 trat der neue Vertrag in Kraft, nachdem die Regierung in mehreren Verhandlungsrunden nicht auf die Bevölkerung gehört hatte. Innerhalb nur eines Tages wurde das Gesetz vom Parlament angenommen, unterzeichnet und im Amtsblatt veröffentlicht. Der neue Vertrag wies jedoch die gleichen Mängel auf wie der alte.

Als beschwichtigende Maßnahme verabschiedete das Parlament am 3. November eine Sperre für neue Bergbaukonzessionen. Diese Maßnahme galt jedoch nicht, wie von der Bevölkerung gefordert, rückwirkend, so dass sie nicht die geringsten Auswirkungen auf das umstrittene Gesetz 406 hatte. Nach mehreren Wochen des Wartens und des Drucks aus der Bevölkerung erklärte der Oberste Gerichtshof schließlich am 28. November, dass das Gesetz 406 verfassungswidrig sei. Es verstoße gegen 25 Artikel der Verfassung der Republik Panama. Damit wurde der Bergbauvertrag zum zweiten Mal für verfassungswidrig erklärt.

Warum haben sich die Panamaer*innen derart über ein Bergbaugesetz empört? Seit den Protesten der Jahre 2022 und 2023 hat sich die Situation im Land nicht verbessert. Im Gegenteil: Korruptionsfälle und mangelnde Transparenz bei Exekutive und Legislative sind an der Tagesordnung. Im Gespräch mit den LN meint der Soziologe Jesús Alemancia: „Um zu verstehen, wie es zu den Geschehnissen im Oktober und November 2023 kam, müssen zwei Konfliktebenen erkannt werden. Auf der einen, eher generellen Ebene geht es um die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik der vergangenen 30 Jahre. Auf der anderen Ebene hat die Bevölkerung von den vielen Korruptionsfällen die Nase voll und ist unzufrieden.”

“Mein Land hat es satt, Wohltäter für die Welt zu sein” Demonstrierende in Panama-Stadt hinterfragen den Wappenspruch ihres Staates

In den Protesten entlud sich die Wut über eine ganze Reihe von Umständen, denn auch im Bergbau finden sich Korruption, Ungerechtigkeit und Straffreiheit. Die Verabschiedung eines Bergbaugesetzes, das genau bei diesen Themen Mängel aufwies, war schließlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die Geduld der Panamaer*innen war am Ende, auch, weil ein großer Teil der wirtschaftlichen und politischen Kräfte des Landes ein Interesse am Bergbau hat und einige Medien ihnen zudem eine Bühne verschafften.

Der panamaische Vizepräsident Gabriel Carrizo Jaén war beispielsweise vor Amtsantritt als Anwalt des Bergbauunternehmens Petaquilla Gold tätig, wie Mi diario berichtet. Auch im Umfeld des ehemaligen Ministers für Handel und Industrie, Alfaro Boyd, finden sich Aktieninhaber des Konzerns Minera Panama, so FRENADESO, ein Netzwerk aus Gewerkschaften und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen.

Der Hauptgrund für das gesellschaftliche Aufblühen, das man auch als revolutionären sozio-ökologischen Frühling bezeichnen könnte, ist die Wut der Bevölkerung über die anhaltenden Ungerechtigkeiten im Land. Laut der Weltbank weist Panama ein Bruttoinlandsprodukt von 63,61 Milliarden US-Dollar auf und ist eines der ungleichsten Länder Lateinamerikas: der Gini-Koeffizient, ein Maß für die Ungleichheit, kommt für Panama auf einen Wert von 49, für die ganze Region nur auf 46. Trotz des großen Wirtschaftswachstums hat die Ungleichheit im Land seit 2007 mit 2,4 Punkten vergleichsweise wenig abgenommen – im lateinamerikanischen Durchschnitt sind es 4,5 Punkte.

Für Alberto Agrazal von der kirchlichen Organisation Comisión de Justicia y Paz gibt es noch einen Grund für das Ausmaß der Proteste: „In den neuen Generationen des sozialen Gefüges in Panama hat es ein Erwachen gegeben. Wegen des Bergbauthemas hat sich ein Bewusstsein dafür gebildet, wie wichtig Umwelt und Umweltschutz sind – und wie wichtig es ist, die Gesellschaft zu mobilisieren. Das hat auch mit einem Reifungsprozess zu tun, der von unterschiedlichen Umweltorganisationen und gemeinschaftlichen Bewegungen ausgeht”, so Agrazal. Einer Umfrage des internationalen Zentrums für politische und soziale Studien aus dem Jahr 2023 zufolge ist für zwei von drei Befragten die Umwelt wichtiger als das Wirtschaftswachstum. Dennoch spielte das Thema bei den Debatten im Parlament keine Rolle, bevor Ende Oktober die Proteste ausbrachen. Ramón Rivera aus dem Bezirk Donoso erzählt den LN: „Wir sind keine Bergarbeiter, wir sind ein Land des Umweltschutzes, das an die Erhaltung der Umwelt glaubt. Die Leute in unserer Region leben auf friedliche und harmonische Weise mit der Umwelt zusammen.”

„Das hier ist nicht irgendein Erfolg.“

Einen weiteren wichtigen Aspekt erläutert die Universitätsdozentin und Community-Journalistin Claudia Figueroa: „Mehr noch als ein ökologisches Bewusstsein ist es eine Verwurzelung mit dem Territorium, denn unter (der Aneignung seitens der USA, Anm. d. Red) der Kanalzone haben wir gelitten… so etwas soll nicht noch einmal passieren. Ich denke also, dass es mehr um eine Idee geht, die sich durch Bildung und Kultur in der Bevölkerung geformt hat.”

Einen derart massiven gesellschaftlichen Aufstand mit so klaren Auswirkungen hatten die Regierung und das Bergbauunternehmen nicht erwartet. Niemand hätte sich ausgemalt, dass es an einem Sonntag um vier Uhr nachmittags in den sozialen Medien heißen würde: „Gehst du zur Demonstration? Los gehts!” Das Gefühl, in einem Kampf gegen einen transnationalen Megakonzern gewonnen zu haben, hält in der panamaischen Bevölkerung noch immer an. Es wurde an vielen Fronten gekämpft: in den Stadtvierteln, indigenen Gebieten, an spontanen Straßensperren in vielen Orten, in Gewerkschaften und anderweitig organisierten Bereichen der Gesellschaft. Sogar die Fischereien und Bootsführer*innen von Donoso kämpften mit: Unter großem Arbeitsaufwand verhinderten sie, dass Schiffe weiterhin das im Tagebau gewonnene Kupfer und Gold im Hafen von Punta Rincón abholten.

Am 11. Januar dieses Jahres unternahm eine Delegation unterschiedlicher Regierungs- und zivilgesellschaftlicher Organisationen eine der ersten Exkursionen auf das Minengelände mit dem Ziel, für eine geordnete und transparente Schließung des Tagebaus zu sorgen. Die Bevölkerung jedoch fordert, sich an den dafür geschaffenen Arbeitsgruppen noch sichtbarer beteiligen zu können. Laut Mario Almanza, einem der Sprecher des Bündnisses APUV, handelt es sich bei der Exkursion um eine Dreistigkeit – es gäbe keine Vereinbarungen, nicht einmal einen Fahrplan.

Auf der anderen Seite herrscht in den ersten Wochen dieses Jahres eine scheinbare Gelassenheit. Es ist ein Zeichen für die politischen Kandidat*innen, die am 5. Mai dieses Jahres bei den Präsidentschaftswahlen antreten werden. Sie sollten darauf setzen, der Bevölkerung und ihren Forderungen nach besseren Lebensbedingungen zuzuhören und ihre Klagen und Bereitschaft zur Mobilisierung ernstzunehmen. Denn wir stehen am Beginn eines Prozesses, in dem es kein Zurück gibt und der einen tiefen Reifungs-, Organisations- und Bildungsprozess aller gesellschaftlichen Sektoren erfordert. Das hier ist nicht irgendein Erfolg. Es ist der Sieg der Leute von unten, der Arbeiter*innen, der bäuerlichen und indigenen Bevölkerung, der Jugendlichen und Studierenden gegen den Metallabbau in panamaischen Tagebauen!

Neues Lithiumabkommen ignoriert Indigenenrechte

Mineral von nationalem Interesse In einem Salzsee in der Atacamawüste wird Lithium abgebaut (Foto: Sophia Boddenberg)

Unter der Erde des Salar de Atacama, einem Salzsee in der Atacamawüste, schlummern die größten Lithiumreserven der Welt. Chile ist nach Australien der wichtigste Lithiumexporteur auf dem Weltmarkt. Exportiert wird hauptsächlich nach China, aber auch nach Europa und in die USA. Die globale Nachfrage nach Lithium boomt, weil das Metall ein zentraler Bestandteil für die Herstellung von Batterien für Elektroautos ist. Bisher dominieren das chilenische Unternehmen SQM und der US-amerikanische Konzern Albermarle den Lithiumbergbau in Chile. SQM hat keinen guten Ruf. Pinochets Schwiegersohn, Julio Ponce Lerou, war lange Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender. Außerdem läuft ein Gerichtsverfahren gegen Politiker*innen und ehemalige Manager*innen von SQM, denen Bestechung, illegale Politikfinanzierung und Steuerhinterziehung vorgeworfen wird.

Lithium ist in Chile gesetzlich als ein Mineral von nationalem Interesse definiert und nicht konzessionsfähig. Unternehmen müssen deshalb Verträge mit dem Staat abschließen, um das Metall abbauen zu dürfen. Der Vertrag, der SQM den Lithiumabbau in der Atacama-Salzwüste genehmigt, läuft 2030 aus, der von Albermarle 2043. Die von Boric angekündigte Absichtserklärung sieht vor, dass Anfang 2025 aus dem Staatskonzern Codelco und SQM ein Gemeinschaftsunternehmen hervorgehen soll. Codelco soll mit 50 Prozent plus einer Aktie Mehrheitseigentümer sein und von 2031 bis 2060 einen Vertrag zum Abbau erhalten. Das bedeutet, dass der Staat die Kontrolle über das neue Unternehmen haben wird. SQM wird bis 2031 eine zusätzliche Produktions- und Verkaufsquote von 165.000 Tonnen gewährt. Das Abkommen ist Teil der Nationalen Lithiumstrategie, die Boric im April 2023 angekündigt hatte.

Die indigenen Gemeinden der Likan Antai, auch bekannt als Atacameños, die seit Tausenden von Jahren in der Atacamawüste leben, protestierten Anfang Januar tagelang gegen die Vereinbarung. Sie sperrten die Zufahrtsstraße zur Anlage von SQM in der Wüste, woraufhin das Unternehmen die Produktion einstellen musste. „Wir sind nicht bereit, weiterhin eine Opferzone zu sein“, heißt es in einer Erklärung des Rats der Völker der Atacameños, dem 18 Gemeinden angehören. Sie fordern Boric auf, die Salzwüste zu besuchen und „sich vor Ort ein Bild von den Schäden zu machen, die durch den Abbau in den umliegenden Gemeinden entstanden sind“, heißt es weiter. Die indigenen Gemeinden waren nicht an den Verhand­lungen zum Abkommen zwischen Codelco und SQM beteiligt, werden aber die sozialen und ökologischen Kosten tragen.

Die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, die Chile unterschrieben hat, sieht vor, dass die indigenen Völker konsultiert werden müssen, wenn gesetzgeberische Maßnahmen sie unmittelbar berühren. Die Vereinbarung zwischen Codelco und SQM sieht vor, die Lithiumabbaumengen bis 2030 um ein Drittel auf 300.000 Tonnen pro Jahr zu erhöhen. Derzeit wird Lithium aus Salzwasser gewonnen, das aus der Wüstenerde in riesige Becken gepumpt wird und dort unter der Sonne verdunstet. Zusätzlich wird auch Süßwasser verbraucht. Dieser Prozess wirkt sich auf das Ökosystem der Wüste aus und auf die ohnehin knappen Wasserressourcen. Eine erhöhte Abbauquote wird die indigenen Völker vor Ort also unmittelbar betreffen.

Auch chilenische Umweltorganisationen sehen das Abkommen kritisch. Lucio Cuenca, Direktor der Lateinamerikanischen Beobachtungsstelle für Umweltkonflikte OLCA, spricht von einer „Verantwortungslosigkeit gegenüber der Umwelt und den indigenen Völkern“. Er kritisiert, dass die Vereinbarung keine Studien über die Auswirkungen der erhöhten Abbauquoten auf die Umwelt beinhaltet. Die Regierung hat zwar angekündigt, dass neue Technologien und Verfahren angewandt werden sollen, darunter die sogenannte direkte Extraktion, bei der Lithium direkt aus der Flüssigkeit extrahiert und das Restwasser zurück in den Untergrund gepumpt wird, um die Wasserressourcen zu schonen. „Diese Technologie wird bisher nicht angewandt und wurde nicht für Projekte dieser Größenordnung entwickelt. Es handelt sich um einen Slogan, um den Lithiumabbau zu rechtfertigen, ohne die nötigen Umweltstudien durchzuführen“, sagt Cuenca.

Venus Reyes, Forscherin der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol, kritisiert, dass die Vereinbarung zwischen Codelco und SQM eine neokoloniale Logik wiederholt. „Chile soll Lithium für den Globalen Norden bereitstellen und dafür eine ganze Region austrocknen. Und das wird als Weg der Entwicklung präsentiert“, sagt sie. Zwar würde der chilenische Staat durch das Abkommen höhere Einnahmen aus dem Lithiumabbau erzielen. „Aber zu welchem Preis?“ Die Vereinbarung vertiefe das exktraktivistische Wirtschaftsmodell, das auf den Abbau und Export unverarbeiteter Rohstoffe basiert und das für einen langen Zeitraum, nämlich bis 2060. „Dieses Abkommen schafft einen Präzedenzfall“.

Boric hat damit zwar sein Ziel erreicht, dem Staat eine stärkere Rolle im Lithiumbergbau einzuräumen. Aber die Garantien für soziale und ökologische Gerechtigkeit, die Indigene und Umwel­tschützer*innen erwarten, hat er nicht geschaffen.

Schutzlos vor dem Neo-Extraktivismus

Der Sitz der Fundación del Río, deren Präsident Sie sind, befindet sich jetzt − wie der Großteil der nicaraguanischen Diaspora − in Costa Rica. Was ist nach dem Verlust des Rechtsstatus und der Konfiszierung des Vermögens von der Organisation geblieben?
Die Arbeit der Umweltorganisation wurde willkürlich eingestellt, nachdem sie im Dezember 2018 durch das Ortega-Regime aufgelöst wurde. Einer der Gründe für die Auflösung war, dass die Organisation einen absichtlich gelegten Brand im Naturschutzgebiet Indio Maíz öffentlich angeprangert hatte. Auch im Fall des Interozeanischen Kanalprojekts, das weder aus ökologischer noch aus sozialer Sicht tragfähig war, hat die Stiftung Kritik geäußert. Beide Positionen führten dazu, dass das Regime uns als oppositionelle Akteure betrachtete. Mit der Auflösung haben wir mehr als 22 Grundstücke in Schutzgebieten, Herbergen, Büros und zwei kommunale Radios verloren. Außerdem musste leider auch ich ins Exil gehen, da mir ein Gerichtsverfahren drohte.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit im Exil?
Zunächst begann eine Phase der Reorganisation, um die Arbeit vom Exil aus weiterzuentwickeln. Die Organisation besaß früher drei Büros, verteilt über das gesamte Departement Río San Juan, und verfügte über die Kapazitäten, um bäuerliche, indigene und afro-deszendente Gemeinschaften zu unterstützen und zu begleiten. Durch die Auflösung und die Enteignung unserer Vermögenswerte sind diese Kapazitäten verlorengegangen. Unsere Arbeit wurde neu definiert: Wir sind in den Gebieten nicht mehr so präsent wie früher. Stattdessen sind dort indigene und bäuerliche Gemeinschaften aktiv, die weiterhin an die Arbeit der Organisation glauben. Das bedeutet, dass wir dank ihres Engagements weiterhin überwachen und dokumentieren können, was in Indio Maíz und den anderen indigenen und afro-deszendenten Gebieten geschieht. Mit Hilfe neuer Technologie können wir Waldbrände und das Ausmaß der Abholzung in den Schutzgebieten des Landes überwachen. Diese neue Art zu arbeiten hat es uns ermöglicht, weiterzumachen.
Wir haben auch begonnen, mit den aus Nicaragua vertriebenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften zu arbeiten, die heute im Norden Costa Ricas leben. So können wir die Nicaraguaner unterstützen, die es besonders schwer haben.

Warum sind Naturschutzgebiete und die Lebensräume der indigenen Gemeinschaften heute durch illegale Besiedlung und Ausbeutung ihrer Naturreserven stärker bedroht denn je?
In Nicaragua gibt es sieben indigene Volksgruppen und zwei afro-deszendente Gemeinschaften. Die meisten von ihnen, die ihre Kultur noch bewahren, befinden sich an der Karibikküste. Die Gebiete mit den größten Konflikten liegen in der nördlichen Karibikregion. In der südlichen Region, wo die Rama- und Kriol-Gemeinschaften von Bluefields ansässig sind, gibt es weniger Konflikte. Im Jahr 2011 wurden dort die ersten Vorstöße von Siedlern in indigene Gebiete gemeldet. Aber über die Invasionsprozesse in der nördlichen Karibik, insbesondere in den Gebieten der Miskito und Mayanga, wird schon seit 2005 berichtet. Doch war dieser Prozess nicht so massiv, es wurden nicht so viele Menschen getötet wie heute. Dieses neue Ausmaß ist auf das vom Ortega-Murillo-Regime seit 2007 geförderte neo-extraktivistische Modell zurückzuführen. Es zielt darauf ab, die natürlichen Ressourcen zu gewinnen, die von wirtschaftlichem Interesse sind.
Die indigenen Territorien an der nördlichen und südlichen Karibikküste sind die reichsten Gebiete des Landes. Vor allem, weil die dort lebenden Gemeinschaften sie bewahrt haben: Dort sind die meisten natürlichen Wälder zu finden, es gibt die größte biologische Vielfalt, die Niederschlagsmengen sind höher und es leben weniger Menschen dort. Es besteht ein öffentliches politisches Interesse, den neo-extraktivistischen Prozess in diesen Regionen zu fördern.

Was bedeutet das?
Klassischer Extraktivismus liegt vor, wenn sich ein Unternehmen mit inländischem oder meist ausländischem Kapital in Gebieten niederlässt, um eine natürliche Ressource zu gewinnen, etwa um Ölpalmen anzubauen, Bananen oder Produkte, die auf dem internationalen Markt verkauft werden. Beim klassischen Extraktivismus ist der Einfluss des Staates wie ein Regulierungsorgan. Er greift nicht in das Geschäft ein, sondern versucht, den Geschäftsprozess zu regulieren und zu kontrollieren, damit bestimmte Parameter eingehalten werden. Außerdem werden die Ressourcen ohne jegliche Verarbeitung geplündert. Mit anderen Worten: Die ausgeführten Produkte haben keinen Mehrwert.
Beim Neo-Extraktivismus ist die Beteiligung des Staates oder von Gesellschaften, die mit den Regierenden in Verbindung stehen, wesentlich stärker. Es werden staatliche Unternehmen und öffentlich-private Partnerschaften gegründet, die die ebenfalls Ressourcen ausbeuten. Oder es werden neue Unternehmen gegründet, die mit der Macht oder den Familien verbunden sind, die politische Positionen besetzen. Was wir im Fall Ortega-Murillo sehen, ist der Wechsel vom extraktivistischen Modell der neoliberalen Regierungen zu einem neo-extraktivistischen Modell mit einer Verbindung zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen in diesen Gebieten. Dies hat zu einem großen Druck auf die natürlichen Ressourcen und auf die Schutzgebiete selbst geführt.

Was sind die Hauptursachen für die Gewalt in den indigenen Gebieten?
Der industrielle Bergbau ist auf dem Vormarsch, ebenso der handwerkliche, so dass viele der Konflikte in den indigenen Territorien auf den Bergbau zurückzuführen sind. Siebzig Prozent der Bergbauprodukte werden vom industriellen und dreißig Prozent vom handwerklichen Bergbau produziert. Beide sind jedoch miteinander verbunden, da der Gewinn des Goldes aus dem handwerklichen Bergbau an die Minenunternehmen verkauft wird, die das Gold exportieren. Dies hat viele Menschen dazu gebracht, in diese Gebiete einzudringen, um die Ressourcen zu plündern. An genau solchen Orten entstehen die Konflikte.
Der Staat hat die Verpflichtung, die territoriale Sicherheit der indigenen Gemeinschaften zu garantieren, da es sich um per Rechtstitel anerkannte Territorien handelt. Mindestens 23 Gebiete sind infolge indigener Kämpfe bereits an die Gemeinschaften überschrieben worden. Allerdings hat die Regierung die Legalisierungsphase – die letzte Phase des Titulierungsprozesses – nicht eingehalten. Diese Phase umfasst die Kontrolle der Menschen, die sich in diesen Gebieten aufhalten. Sollte die indigene Gemeinschaft zu dem Schluss kommen, dass Personen sich unbefugt dort aufhalten, dann muss die Regierung dafür sorgen, dass diese das Gebiet verlassen, da sie in ein geschütztes Territorium eindringen. Das ist jedoch nie geschehen.
Daher haben indigene und afro-deszendente Gemeinschaften damit begonnen, ihr Territorium selbst zu verteidigen – natürlich nicht mit den gleichen Möglichkeiten, die der Staat zur Verfügung hat. Das hat dazu geführt, dass die Waldhüter der Gemeinden zu den Hauptangriffszielen wurden, denn sie sind diejenigen, die diese Gebiete überwachen, Verstöße dokumentieren und melden. Seit 2005 haben wir mehr als 75 Morde erlebt. Allein in diesem Jahr wurden acht Waldhüter und Gemeindevorsteher ermordet, die sich Menschen widersetzt haben, die unrechtmäßig in ihr Gebiet eingedrungen sind.

Heißt das, dass die Eindringlinge bewaffnet sind?
Nicht alle sind bewaffnet. Viele dieser Eindringlinge haben sich bewaffnet, um sich mit Gewalt durchzusetzen. Das Regime hat sie als kriminelle Banden bezeichnet, man wollte nicht anerkennen, dass es sich um Paramilitärs handelt, um Leute, die mit Gewalt diese Gebiete besetzen und die natürlichen Ressourcen plündern.

Gibt es noch weitere Akteure in den indigenen Territorien?
Ja, die extensive Viehzucht breitet sich zunehmens aus und führt heute am stärksten zur Entwaldung im Land. Viele dieser Viehzuchtbetriebe haben von einer für sie günstigen öffentlichen Politik profitiert, weil sie neue Märkte erschlossen und Finanzierungen erhalten haben. Dieses Modell hat dazu geführt, dass der Druck auf die Bevölkerung in den indigenen Territorien aufgrund wirtschaftlicher Interessen zu Lasten ihrer Rechte enorm zugenommen hat. Aber nicht nur das, es gibt noch andere Interessen, etwa der illegale Bodenhandel oder der Handel mit nativen Tier- und Pflanzenarten aus diesen Regionen. Da es sich um Gebiete mit hohen Niederschlagsmengen handelt, die die Ölpalme benötigt, spielen auch diese kommerziellen Interessen eine Rolle.

Wie bewerten Sie die Wirtschaftssanktionen der internationalen Gemeinschaft gegen Nicaragua?
Wer Nicaragua wirklich beeinflussen kann, ist der wichtigste Exportmarkt unseres Landes – die USA. Die wichtigsten Produkte sind Gold und Fleisch. Der größte Teil des Fleischmarktes sowie der größte Teil des Goldes geht in die Vereinigten Staaten, der zweitgrößte Goldanteil in die Schweiz, Leder geht nach Europa. Die Maßnahmen sollten entschiedener sein, vor allem bei einigen Produkten der Wertschöpfungsketten in den Händen der Diktatur. Mit einem Viertel der Wirtschaftssanktionen, die sie gegen Russland verhängt haben, hätten sie morgen jedes Abkommen mit Ortega unterzeichnen können. Es besteht also kein wirkliches Interesse daran, eine Diktatur zu stürzen: Auf politischer Ebene kritisiert man zwar die Menschenverletzungen und spricht von einer Diktatur, aber auf Handelsebene macht man gerne Geschäfte mit Ortega. Aus meiner Sicht ist das eine widersprüchliche Politik.

Energiewende und sozialer Dialog

Treffen sozialer Bewegungen an der Uni (Foto: Laura Chaparro)

La Guajira spricht mit Offenheit in einem neuen sozialen Dialog über seine Zukunft. Dies war auf dem Forum „Produktive Diversifizierung, Klimawandel und sozialer Dialog” zu beobachten, das am 17. März in der Universität von La Guajira, der öffentlichen Universität des kolumbianischen Bergbaudepartamentos, stattfand. Die Veranstaltung zog in den lokalen Medien großes Interesse auf sich und die Beteiligung von zivilgesellschaftlichen, akademischen und indigenen Bewegungen, wie etwa dem Bürger*innenkomitee für die Würde von La Guajira und dem Jugend- und Frauenverband der Wayuu war deutlich zu spüren. Auf der Veranstaltung diskutierten verschiedene Organisationen und Redner*innen zur Situation in der Region, und das entlang zweier vereinbarter thematischer Achsen: Der erste Fokus „Klimawandel und Energiewende” befasste sich mit den Fragen der nachhaltigen Entwicklung und den von der Regierung Gustavo Petro vorgeschlagenen Umstellungsprojekten auf erneuerbare Energiequellen. Der zweite Teil der Veranstaltung, „Produktive Diversifizierung und sozialer Dialog“ widmete sich den Folgen der Spezialisierung der Region auf den Kohleabbau und der Notwendigkeit, ein Gespräch zu eröffnen, um die Herausforderungen eines Strukturwandels zu überwinden.

„Dieses Forum ist der Beginn eines Dialogs mit den lebendigen Kräften des Departamentos“, sagte Felipe Rodríguez – Koordinator des Bürgerkomitees für die Würde von La Guajira – in seiner Eröffnungsrede. In diesem Dialog würden die zukünftigen Herausforderungen für das Departamento angesprochen, wobei das Forum die Bedeutung der Energiewende anerkennen werde, ohne die Entwicklungsprobleme der Region zu vernachlässigen. Denn diese bleiben groß: „Die Informalität (in der Beschäftigung Anm. d. Red.) liegt bei 77 Prozent und die Hälfte der Bevölkerung von Guajira ist von Ernährungsunsicherheit betroffen“, so Felipe bei der Eröffnung des Forums.

Die Veranstaltung fand nur wenige Tage nach dem Kolumbienbesuch von Cem Özdemir und Robert Habeck statt. Auf ihrer Reise diskutierten die deutschen Politiker mit ihren kolumbianischen Amtskolleg*innen über die anvisierte Energiewende, namentlich die Möglichkeit von Investitionen in grünen Wasserstoff und die Transformation in der Landwirtschaft. Obwohl die Minister La Guajira nicht besucht haben, sind die deutschen Interessen an den dortigen Rohstoffen größer denn je. Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist der Bedarf Deutschlands an kolumbianischer Kohle gestiegen. Im Jahr 2022 wurden 2,3 Millionen Tonnen davon importiert, hauptsächlich aus dem Tagebau El Cerrejón, dem größten in Lateinamerika. Er gehört dem Schweizer Konzern Glencore (siehe LN 545).

Die Auswirkungen des Krieges und die Rolle, die Deutschland in der Region spielt, hat Laura Chaparro, kolumbianische Studentin der politischen Ökonomie und Entwicklung in Kassel und Koordinatorin der Gruppe Aktion Guajira, in einem Beitrag noch deutlicher zusammengefasst: „Die deutsche Regierung ist auf der Suche nach Energieressourcen für ihr Land“, sagte sie, „das ganze kommt dabei mit neokolonialen Konnotationen daher, wobei Lateinamerika als eine Art Hinterhof betrachtet wird. Man holt sich die Ressourcen und lässt die Bevölkerung verarmen”.

Wie weg von der Kohle? Der Tagebau El Cerrejón (Foto: Hour.poing via Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Anders als nach der Wahl der progressiven Regierung Gustavo Petros vielleicht einige erwartet hatten, scheinen sich die deutschen Beziehungen zu Kolumbien nicht geändert zu haben. Wie der Besuch der deutschen Entscheidungsträger nun zeigte, werden die energiepolitischen Verflechtungen zwischen beiden Ländern sogar enger.

Das Hauptproblem in La Guajira und ein Grund für das Feststecken in neokolonialen Wirtschaftsstrukturen ist jedoch nicht nur die fehlende Erneuerbarkeit solcher Export-Energien wie Steinkohle. Der neue Fokus der deutschen Regierung liegt auf grünem Wasserstoff und anderen Energiequellen, das Handeln der Minister zeigt gleichzeitig das Interesse an einem Markt für europäisches und transnationales Finanzkapital in Kolumbien sowie an Investitionsgelegenheiten für Energiekonzerne wie Glencore und Enel.

Diese Interessen spiegeln sich auch in der Politik der Ampelkoalition in Deutschland wider. Einerseits hat man nach dem Wegfall des bisherigen Hauptkohlelieferanten die Importe aus Kolumbien erhöht. Dabei werden die tiefgreifenden ökologischen, sozialen und kulturellen Schäden ignoriert, die Glencore in La Guajira verursacht. Andererseits birgt das Versprechen von alternativen Energien für Europa das Risiko, neokoloniale Verhältnisse zwischen Deutschland und Kolumbien zu reproduzieren.

Die von der Regierung Petro geförderten und von der deutschen Regierung politisch und finanziell unterstützten Projekte für erneuerbare Energien haben zudem starke Auswirkungen auf die Wayuu-Gemeinden vor Ort. Jazmín Romero, eine Vertreterin der Wayuu, kritisiert diesen grünen Extraktivismus: „Die 65 Windparks, die auf dem Gebiet der Wayuu gebaut werden, haben hier die Vertreibung der Bevölkerung zur Folge“. Um solche Vertreibungen zu vermeiden, bräuchte die nationale Regierung echte Konsultationsprozesse, die sich nicht auf die Seite der Energieunternehmen stellen. „Sie sagen uns, dass jedes Unternehmen frei und autonom seine eigenen Konsultationen durchführen kann“, sagt Jazmín. „Das hat dazu geführt, dass diese sehr großzügig durchgeführt werden, um schließlich die Wayuu-Bevölkerung zu beseitigen und zu vertreiben.“

Obwohl die Wayuu-Gemeinden die Regierung von Gustavo Petro aufgefordert haben, die laxen „vorherigen Konsultationen“ auszusetzen, scheinen sie von Bogotá ignoriert zu werden. „Ich mache mir keine Illusionen über Veränderungen, wenn es das gleiche neoliberale und transnationale extraktivistische Modell ist. Und die Wayuu? Sind geliefert …“, so beendete Jazmín ihren Beitrag.

Die Spezialisierung des Departamentos auf den Bergbau hat sich auf La Guajira tragisch ausgewirkt. „Wir sind an ein Wirtschaftsmodell gebunden, in dem wir von ausländischen Märkten abhängig sind“, sagt Enrique Daza, Direktor von Cedetrabajo. Diese Art von Wirtschaftspolitik wurde vor allem durch die wirtschaftliche Liberalisierung in den 1990ern und die Freihandelsabkommen mit Ländern wie den USA und der EU durchgesetzt. Ein Beweis dafür: die Energiepreise in der Region La Guajira gehören zu den höchsten des Landes, obwohl Kohlelieferungen 98 Prozent der Exporte der Region ausmachen.

Zum Abschluss des Forums bekräftigen die anwesenden Organisationen die Notwendigkeit, in La Guajira einen sozialen Dialog und dauerhafte gemeinsame Diskussionen einzurichten. Die Initiative werde „der größte Einigungsprozess, den es je im Departamento gegeben hat“. Die Gruppen verpflichteten sich außerdem, einen Fahrplan für die energiepolitische Diversifizierung und den Übergang zur nachhaltigen Energieversorgung zu erstellen, der über die Grenzen des Departamentos hinausgeht.

NICHT ALLES HARMONISCH

Für die MAS läuft nicht alles rosig Präsident Luis Arce und Expräsident Evo Morales bei einer Demonstration (Foto: ABI)

Als Luis Arce im Oktober 2020 mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien gewählt wurde, war das Ergebnis in dieser Deutlichkeit für viele eine große Überraschung. Die Wahl brachte somit die Erkenntnis: Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) kann auch ohne ihre Identifikationsfigur Evo Morales, Präsident von 2006 bis 2019 und immer noch Parteivorsitzender, Wahlen gewinnen. Sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat erreichte die linke Partei 2020 wieder eine absolute Mehrheit.

Ein Jahr zuvor hatte es noch ganz anders ausgesehen: Die Wahlen 2019 hatten Morales und die MAS zwar gewonnen. Nach Vorwürfen des Wahlbetrugs und tagelangen Protesten auf den Straßen sowie einem Aufstand von Teilen der Polizei forderten Militärs jedoch Morales Rücktritt und er flüchtete aus dem Land. Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin die rechte Senatorin Jeanine Áñez, die dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt. In den Wochen nach ihrer Amtsübernahme lieferten sich Anhänger*innen aus verschiedenen politischen Lagern gewalttätige Auseinandersetzungen – sowohl untereinander als auch mit Polizei und Militär. Im November 2019 kam es dabei an mehreren Orten zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Massakern und außergerichtlichen Hinrichtungen durch die De-facto-Regierung von Áñez, beklagte die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in ihrem Bericht vom Juli 2021. Dabei wurden mindestens 37 Menschen getötet und Hunderte verletzt.

Mit der Wahl von Luis Arce ist die Linke wieder an der Macht und die Lage scheint sich beruhigt zu haben. Arce, der als enger Vertrauter von Morales gilt, ist Ökonom und war während dessen Präsidentschaft Wirtschaftsminister. Er steht für den sozial gerechten wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien. Nach zwei Jahren ist die Bilanz seiner Regierung nicht schlecht:

Die COVID-19-Pandemie hat zwar schmerzhaft die Schwächen der Gesundheitsversorgung in Bolivien aufgezeigt, monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte trafen vor allem Menschen, die ihr Essen und Geld für andere Ausgaben von Tag zu Tag verdienen müssen: Taxifahrer*innen und Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen und die bäuerliche Bevölkerung. Die wirtschaftliche Situation hat sich inzwischen aber erholt, Boliviens Bruttoinlandsprodukt wuchs im Jahr 2021 um 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Land weist derzeit die niedrigste Inflationsrate in ganz Lateinamerika auf, im August 2022 lag sie im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 1,6 Prozent.

Die Regierung Arce setzt auf öffentliche Investitionen und verspricht eine Strukturpolitik, die Wertschöpfungsketten zunehmend im Land hält. Nach dem jahrzehntelangen Ausverkauf der heimischen Rohstoffe an ausländische Firmen kündigt die Regierung eine nationale Industrialisierung von Lithium an. Bislang ist Bolivien jedoch weiter stark vom Export von Rohstoffen wie Erdgas und Gold abhängig, und damit auch von der Höhe der Preise auf dem Weltmarkt. Zudem plant die Regierung staatlich finanzierte Megaprojekte, den Bau von Straßen, Industrieanlagen, Gesundheitszentren, Plätzen und Parks im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar. So soll bis zum „Bicentenario“, dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Boliviens am 6. August 2025, die Wirtschaft des Landes gestärkt und die Lebenssituation der Bolivianer*innen verbessert werden.

Sogar der IWF hob Mitte September 2022 die Erfolge des Landes bei der Stabilisierung der Wirtschaft und der Armutsbekämpfung hervor. Er empfahl aber auch, die Bindung der bolivianischen Währung Boliviano an den Dollar-Kurs und staatliche Subventionen wie die für Kraftstoffe zu überprüfen. Präsident Arce lehnte diese „alten Rezepte“ umgehend ab: „Unser soziales, gemeinschaftliches und produktives Wirtschaftsmodell ist souverän und zeigt weiterhin seinen Erfolg beim Abbau sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten in Bolivien“, twitterte er.

Auch im Ausland wirbt Boliviens Präsident für das, was er in seinem gleichnamigen Sachbuch als ein „erfolgreiches und gerechtes Wirtschaftsmodell“ beschreibt. Anfang September traf er sich in Brasilien mit Präsidentschaftskandidat Lula da Silva und schenkte ihm das Buch. Zu anderen sich als links verstehenden Regierungen Lateinamerikas suchte Boliviens Staatschef ebenfalls den Kontakt, traf sich in den vergangenen Monaten mit den Präsidenten von Chile und Peru, Gabriel Boric und Pedro Castillo. Mitglieder des chilenischen Verfassungskonvents erkundigten sich außerdem im Zuge der Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Bolivien zu Themen wie Plurinationalität.

Als besonders eng gilt das Verhältnis zu Argentinien und dem dortigen Präsidenten Alberto Fernández. Beide Staaten gehören zu den Ländern mit den größten Vorkommen an Lithium weltweit und vereinbarten eine Zusammenarbeit bei der Herstellung von Zellen und Batterien. Im September 2022 präsentierte Luis Arce dann in der UN-Vollversammlung 14 Vorschläge für eine sozial gerechtere Welt, darunter der Zugang zu Gesundheitssystemen für alle Menschen, die Industrialisierung von Lithium zum Wohle aller und als Grundpfeiler einer Energiewende sowie Ernährungssouveränität in Harmonie mit der Erde.

Dennoch ist nicht alles harmonisch in Bolivien. Ausgerechnet an einem nur scheinbar wenig konfliktgeladenen Thema entzündete sich im August 2022 der permanent schwelende Konflikt zwischen der Zentralregierung und der MAS einerseits und ihren politischen Gegner*innen vor allem im östlichen Tiefland Bolivien andererseits: am Zensus. Präsident Arce hatte die für November 2022 geplante Erhebung statistischer Bevölkerungsdaten auf Mitte 2024 verschieben lassen. Darauf folgte ein Aufschrei der Opposition. Der ultrarechte Gouverneur des Departements Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, rief im August 2022 zu einem zweitätigen Streik auf und forderte, der Zensus müsse noch 2023 stattfinden. Zuletzt drohten die einflussreichen Bürgerkomitees in Santa Cruz sogar mit einem unbefristeten Streik, falls die bolivianische Regierung dieser Forderung nicht nachkommt.

Denn beim Zensus, der etwa alle zehn Jahre erhoben wird, geht es nicht zuletzt um Geld und politischen Einfluss. Das Departement Santa Cruz gilt als wirtschaftsstärkste Region des Landes, seine Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ist mittlerweile die bevölkerungsreichste Stadt Boliviens und wächst weiter. Eine höhere Zahl an Einwohner*innen bedeutet für Städte und Regionen wiederum mehr finanzielle Zuwendungen aus Steuern und mehr Parlamentssitze. Hinzu kommt der andauernde Konflikt zwischen dem in der Mehrheit politisch konservativen, von Nachkommen der Einwander*innen aus Europa geprägten Santa Cruz und der Zentralregierung in La Paz im Hochland. Luis Fernando Camacho selbst spielte bei den Protesten gegen Morales 2019 eine zentrale Rolle, als er mit der Bibel in der Hand in den Präsidentenpalast eindrang, um Morales zum Rücktritt zu drängen. Den Streik in Santa Cruz bezeichneten Anhänger*innen der Regierung als erneuten Versuch eines rechten Staatsstreichs. Ende August 2022 zogen Zehntausende Menschen bei einem „Marsch zur Verteidigung der Demokratie und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus“ von der Millionenstadt El Alto zum Regierungssitz La Paz, um ihre Unterstützung für die Regierung von Präsident Arce zu demonstrieren. „Das Volk will keine Putsche mehr!“, betonte Arce dort in einer Rede. „Es wird sich nicht von der Rechten verführen lassen, weil es seit 2019 gelernt hat, dass die Rechte sich nur die eigenen Taschen füllen und die der Bevölkerung leeren will“. Zum Protest aufgerufen hatten auch Basisbewegungen, die traditionell eng mit der MAS verbunden sind: der Pakt der Einheit, der Dachverband der Gewerkschaften Boliviens (COB) sowie die Organisation indigener Bäuerinnen Bartolina Sisa.

Doch das Verhältnis der Regierung zu anderen Gruppen der Zivilgesellschaft wirkt getrübt. So wurde die frühere Übergangspräsidentin Jeanine Áñez im Juni 2022 für die Amtsübernahme 2019 zu zehn Jahren Haft wegen Verstößen gegen die Verfassung verurteilt, ein Prozess wegen der Massaker im November 2019 steht aber noch aus. Opfer und ihre Angehörigen klagen bis heute darüber, dass sie von der Regierung im Stich gelassen und nicht entschädigt worden seien. Indigene Organisationen und Naturschützer*innen kritisieren die Zerstörung der Umwelt und indigener Territorien durch den Bau von Straßen und Staudämmen sowie durch den Bergbau ebenso wie die immense Abholzung des Regenwaldes für Sojaanbau und Viehwirtschaft. Auch gegen den Machismo und geschlechtsspezifische Gewalt, die allgegenwärtige Korruption, Vetternwirtschaft und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz werden Proteste lauter. Diese kritischen Stimmen zu ignorieren, könnte für Luis Arce und der MAS durchaus gefährlich werden. Die Mobilisierungen gegen Morales in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba im Jahr 2019 hatten bereits gezeigt, dass es der MAS in der wachsenden urbanen Mittelschicht an Rückhalt fehlt. Und auch bei den Regionalwahlen im März 2021 erzielte die Partei ein eher durchwachsenes Ergebnis.

Neue Goldgrube Der Lithiumabbau im Salar de Uyuni könnte Bolivien wirtschaftlich nachhaltig stärken (Foto: Coordenação-Geral de Observação da Terra/INPE via Flickr , CC BY-SA 2.0)

Die Wahl von Arce schien auch die Möglichkeit einer leichten politischen Neuausrichtung, doch offenbar ist es für den Präsidenten und Teile der MAS schwierig, den langen Schatten von Evo Morales zu verlassen. Morales selbst hatte Anfang 2020 in seinem damaligen Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, 2019 noch einmal anzutreten und für eine insgesamt vierte Amtszeit in Folge zu kandidieren. Jetzt scheint sich der immer noch einflussreiche Parteivorsitzende der MAS für eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2025 vorzubereiten. Dabei kommt es auch innerhalb der Partei zu Streitereien, die von den oppositionellen Medien genüsslich als Zeichen eines kommenden Zusammenbruchs der MAS gedeutet werden: Anfang September beschwerte sich Morales, dass Regierungsminister Eduardo del Castillo und Teile des Kabinetts einen „Plan Negro“ verfolgten, um ihn zu diskreditieren und seine Kandidatur im Jahr 2025 zu verhindern. Del Castillo antwortete darauf nicht weniger drastisch und bezeichnete die früheren Minister der Regierung Morales als „Krebsgeschwüre“, die den Staatsstreich im Jahr 2019 nicht verhindert hätten. Diese Auseinandersetzungen innerhalb der MAS übertönen im aktuellen politischen Geschehen gesellschaftliche Probleme wie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit und Armut, Kriminalität und Korruption und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die strukturelle Diskriminierung von Frauen und Mädchen und Umweltzerstörungen. Gerade diese Themen sind es jedoch, die in einem Land wie Bolivien, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist, derzeit an Aufmerksamkeit gewinnen. Anfang dieses Jahres waren mehrere Tausend Frauen zum Gerichtshof in La Paz gezogen, um gegen machistische Gewalt und die Korruption in der Justiz zu demonstrieren. In Bolivien werden jedes Jahr mehr als 100 Frauen und Mädchen Opfer von Feminiziden, werden aufgrund ihres Geschlechts getötet. „Ist Dir klar, wie wenige der mehr als 100 Feminizide, die in Bolivien jedes Jahr verübt werden, vor Gericht gebracht werden und wirklich Gerechtigkeit erfahren? Es gibt so viele Fälle von Morden an Frauen, und viel zu häufig bleiben Vergewaltiger und Frauenmörder unter dem Schutz von Staat und Justiz straffrei“, mahnte Kiyomi Nagumo, Aktivistin der ökofeministischen Gruppe Salvaginas.

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

Zu diesen neuen, progressiven Forderungen gehört auch der Anspruch, dass die linke Regierung das häufig betonte Leben im Gleichgewicht mit der Mutter Erde verwirklicht und das neo-extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja und der Viehwirtschaft für den Export überdenkt. Die Geschichte Boliviens ist geprägt von der Ausbeutung von Ressourcen auf Kosten der Menschen und der Natur – erst durch die spanischen Invasoren, die Silber aus Bolivien raubten, nach der Unabhängigkeit machten dann lokale Eliten und transnationale Konzerne mit Zinn und Kautschuk ein Vermögen.

Diesen historischen Fehler will die bolivianische Regierung beim Metall Lithium nicht wiederholen und kündigt deshalb eine Industrialisierung des Rohstoffes im eigenen Land an. Nach Lithium gibt es weltweit eine sehr große Nachfrage, der seltene Rohstoff gilt als Schlüsselmetall in der Batterietechnologie für Elektrofahrzeuge. Bolivien verfügt im Salar der Uyuni, dem größten Salzsee der Erde, über etwa ein Fünftel der weltweit bekannten Vorkommen an Lithium. Von Bedeutung ist deshalb, wie die Regierung den Abbau und eine Industrialisierung umsetzt, die Ansprüche der am Salar de Uyuni lebenden Gemeinschaften regelt und gleichzeitig mögliche Umweltzerstörungen durch den Abbau von Lithium und durch den hohen Verbrauch von Wasser für die Gewinnung des Metalls verhindert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

„DIE MENSCHEN SIND ENTTÄUSCHT VON CASTILLO“

Kupfermine in Peur (Foto: privat)

Aktuell befinden sich weiterhin viele Bergbau-Großprojekte in Planungsphasen. Welche sind die wichtigsten und welche Auswirkungen erwarten Sie?
Eines davon ist die Kupfermine Tía María in Arequipa, im Tal des Tamboflusses, ein fruchtbares Tal mit viel Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion. Viele Menschen dort leben von Zucht, Verkauf und Export von Zwiebeln und Knoblauch. Wenn dieses Projekt zustande kommt – und die Regierungen haben bisher darauf bestanden, obwohl sich die Bevölkerung seit mehr als zehn Jahren öffentlich gegen dieses Bergbauprojekt ausgesprochen hat – könnte diese Lebensgrundlage davon betroffen sein. Da es zwei riesige Tagebaugruben geben wird, denke ich, dass das gesamte Tal betroffen sein wird. Da es in Küstennähe liegt, wird es auch dort einige Ökosysteme und Naturgebiete beeinträchtigen.

Sie arbeiten auch zu Enteignungen von Gemeinden unter der Komplizenschaft des peruanischen Staates. Wie kann man sich das vorstellen?
Der Fall des Kupfertagebaus Toromocha im Departement Junín ist hierfür ein herausragendes Beispiel, denn er zeigt die Gefahr der Enteignung von Gemeindeländern durch die missbräuchliche Anwendung von Rechtsnormen. Im Jahr 2017 wurde vor dem Hintergund des El Niño-Phänomens ein Gesetz eingeführt. Artikel 49 dieses Gesetzes besagt, dass der Besitz von Immobilien nur in bewohnbaren Gebieten legal ist, und ermächtigt die Nationale Aufsichtsbehörde für Staatsvermögen (SNB), die Räumung der Bewohner in Risikozonen durchzuführen. In Morococha, einem vom Bergbauprojekt betroffenen Distrikt, wurde das Gesetz so ausgelegt, dass die Stadt Morococha in einer solchen Risikozone läge. Dort leben noch etwa 25 Familien, der Rest wurde bereits vor längerem umgesiedelt. Die SBN hat dann ein 34 Hektar großes Gelände an Activos Mineros überschrieben, einer staatliche Bergbaugesellschaft, die sich ausschließlich den Umwelt- und Bergbauverbindlichkeiten widmet. Kurioserweise gab Activos Mineros es dann sehr schnell an den chinesischen Investor Chinalco weiter, der die dortige Mine betreibt – am eigentlichen Eigentümer, der Gemeinde, vorbei. Das ist ein Einfallstor für die Enteignung weiterer Gebiete nach diesem Muster. In anderen Fällen wird auch mit niedrig angesetzten Kompensationsleistungen bei Landverkäufen gearbeitet.

Welche weiteren rechtlichen Mechanismen werden zur Durchsetzung der Bergbauinteressen eingesetzt?
Es gibt viele Fälle von líderes sociales und Umweltschützern, deren Aktivitäten von staatlicher Seite kriminalisiert werden. Das reicht von verschleppten Prozessen wegen vermeintlicher Verantwortung für Proteste bis hin zu Inhaftierungen ohne Rechtsgrundlage.

Während der Pandemie ist auch die Zahl der ermordeten Umweltschützer*innen in Lateinamerika gestiegen. Wie verhält sich das in Peru?
In letzter Zeit wurden auch in Peru vermehrt Umweltschützer ermordet, die meisten davon im Amazonasgebiet. Es gibt laut der nationalen Ombudsstelle mehr als 208 soziale Konflikte, zwei Drittel davon mit Umweltbezug, von denen 70 Prozent mit dem Bergbau zusammenhängen. Es sind zwar in der Vergangenheit bereits Menschen bei diesen Konflikten getötet worden, aber eher im Kontext von Protesten. Wenn es zum Beispiel Morde an Anführern in Bergbaukonflikten gäbe, wäre das meiner Meinung nach sehr gravierend. Es herrscht Angst. Viele líderes sociales fühlen sich bedroht und fordern Garantien zum Schutz ihrer Rechte ein. Bisher gab es diesbezüglich allerdings keine Fortschritte.

Welche Rolle spielen die staatlichen Sicherheitsorgane in den sozialen Konflikten?
Es gibt eine Regelung, die aus Vereinbarungen zwischen der Polizei und den Bergbauunternehmen hervorgegangen ist. Darin heißt es eindeutig, dass Polizisten zum Schutz des Eigentums von Bergbauunternehmen verpflichtet sind. Es wird ihnen zudem teilweise erlaubt, auch außerhalb ihrer Tätigkeit für die Polizei von den Unternehmen angestellt zu werden und deren Uniformen und Waffen zu benutzen. Sämtliche Gemeinden in den bestehenden sozialen Konflikten fordern daher, dass die Polizei im Dienst der Bevölkerung stehen und sie beschützen sollte. Wenn du zum Beispiel nach Cajamarca gehst, ist daher das erste, was sie fragen, ob die Polizei im Dienst der Unternehmen oder der Bevölkerung steht. Dasselbe anderswo. Die Leute wissen sehr genau, dass die Polizei da ist, um die Unternehmen zu unterstützen. Daher ist die Aufhebung der entsprechenden Vereinbarungen ein zentraler Aspekt der Forderungen.

Was sind weitere Aspekte, die sich ändern müssen?
Eine zentrale Forderung von uns bei Red Muqui ist, dass die verfassungsgemäßen Rechte geachtet werden, das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheit. Das impliziert auch, dass etwas gegen das von den Minenbetreibern mit Schwermetallen und Arsen kontaminierte Wasser getan wird, das die Bevölkerung trinkt. In den betroffenen Gebieten wachsen Kinder teils mit Blei im Blut auf. Wie man in der Pandemie gesehen hat, ist die Antwort des Staates auf gesundheitliche Ausnahmesituationen absolut unzureichend. Zudem ist es wichtig, dass das Recht auf Information ermöglicht wird. Die betroffene Bevölkerung hat oft kein Internet und wenig Zugang zu Informationen über die konkreten oder geschätzten Folgen des Bergbaus. Die Studien zu seinen Umweltfolgen werden zudem häufig nachträglich abgeändert, etwa im Falle Las Bambas (Anm. d. Red: einer der größten Kupfertagebaue der Welt in der Region Apurímac). Es gibt diesbezüglich keine gut aufgestellten staatlichen Stellen, die Kontrollsysteme sind sehr schwach. In Peru ist die Umweltverschmutzung zu billig. Wir liegen in dieser Hinsicht weit hinter Chile, wo man über ausgereiftere Überwachungssysteme verfügt. Auch die Bergbausteuern sind hier niedrig, das ist für Investoren attraktiv. Sie wollen, dass es schnell geht, und kümmern sich nicht um die Belange der Bevölkerung und mittel- bis langfristige Umweltfolgen. Die Gemeinden selbst kümmern sich mit selbst eingesetzten Umweltkomitees um das Monitoring des Wassers und die Überwachung ihrer Territorien. Es ist für sie daher wichtig, dass der peruanische Staat das anerkennt, und dass sie von der OEFA (Anm. d. Red.: Agentur für Umweltkontrolle) unterstützt werden, sobald ihnen etwas auffällt.

Der 2021 neu gewählte Präsident Pedro Castillo hatte vor allem im Corredor Minero del Sur in einigen Gemeinden bis zu 90 Prozent der Bevölkerung hinter sich. In seinem Wahlkampf hatte er vorgeschlagen, den Bergbau zu verstaatlichen. Wie hat sich die Bergbaupolitik in den ersten Monaten der Regierung Castillo gestaltet?
Castillos Wahlkampf stand ganz im Zeichen der Verteidigung der Rechte der Bevölkerung. Viele Menschen haben sich mit ihm identifiziert, weil er aus den bäuerlichen Selbstorganisationen der rondas campesinas kommt und vom Land ist. Es gab diese Hoffnung, dass er einer von ihnen ist und sie verteidigen wird. Es hat sich allerdings gezeigt, dass er ein weiterer Vertreter des extraktivistischen Wettbewerbsmodells ist. Denn am Projektportfolio der Regierung für 2022 ist deutlich zu sehen, dass es sich um eine Kontinuität der Politik der vorherigen Regierungen handelt. Die Menschen sind ein bisschen enttäuscht, auch die von Castillo angekündigte zweite Agrarreform hat nicht viele substanzielle Änderungen herbeigeführt. Weder ist die Vergabe von Landrechten an die Gemeinden abgeschlossen noch die Festlegung der Territorien, in denen Bergbau betrieben oder nicht betrieben werden kann. Der Schutz der Flussoberläufe steht ebenfalls nicht auf der Tagesordnung. Immerhin tötet die Regierung niemanden in den sozialen Konflikten. Das wäre bei einer Regierung unter Keiko Fujimori katastrophal gewesen, da hätte es sicherlich mehr Repression und Tote gegeben. Die ehemalige Premierministerin Mirtha Vázquez oder auch der damalige Wirtschaftsminister Pedro Francke (Anm. d. Red.: beide wurden von Pedro Castillo ernannt) haben wohl versucht, einige Änderungen im Sinne der Bevölkerung vorzunehmen, aber ich denke, dass Castillos Gefolge ihnen die Arbeit erschwert hat. Trotz des Ansturms der Rechten, ihre eigene Agenda durchzusetzen, indem sie Medien nutzen und jeden Tag die Amtsenthebung Castillos fordern, besteht in der Bevölkerung noch Hoffnung. Die Menschen befinden sich allerdings in einer Schwebesituation: Was hat man davon, Castillo zu unterstützen? Aber wenn man es nicht tut, leistet man der Rechten und der Forcierung des extraktiven Modells Vorschub.

Welche Mittel stehen der Bevölkerung in dieser Situation zur Verfügung?
Zunächst einmal können die Organisationen auf regionaler Ebene durch die rondas campesinas und die Gemeinden weiter gestärkt werden. Auf der anderen Seite stehen wir mit den Regional- und Kommunalwahlen im November vor dem Problem, dass es für die Teilnahme hohe Hürden gibt, die lokale Parteien benachteiligen. Daher herrscht heute eine gewisse Unzufriedenheit in der Bevölkerung und es besteht die Gefahr, dass diejenigen gewählt werden, die sie nicht vertreten. Aufgrund dieser Umstände denke ich, dass man auch eine internationale Agenda verfolgen und auf die Ratifizierung des Abkommens von Escazú (Anm. d. Red.: internationales Abkommen zur Umsetzung von Umweltstandards und Informationsrechten sowie Schutz von Umweltschützer*innen) durch den peruanischen Kongress drängen müsste.

Was würde sich durch eine Ratifizierung ändern?
Es gibt internationale Gremien, zu denen man dann Zugang hätte, um das Wasser, das Territorium der indigenen Völker, vor allem die in Peru besonders gefährdeten Menschen- und Umweltrechte zu schützen. Die Parteien und der Kongress lehnen das bisher ab, denn sie sehen vor allem ihr Geschäft gefährdet. In Peru gibt es eine Menge Lobbyarbeit. Die Regierung Castillos hat die Ratifizierung zwar selbst vorgeschlagen, aber sie braucht eine Parlamentsmehrheit, was sehr schwierig wird.

DER NEUE GOLDRAUSCH

(Foto: Rolf Schümer)

Nicht Zehntausende haben sich auf den Weg gemacht, um das Edelmetall zu schürfen, sondern nur ein Einziger. Sein Name: Barrick Gold, ein transnationales kanadisches Bergbauunternehmen. Im vergangenen Jahr erreichte es auch über die Börsennachrichten der ARD-Tagesschau ein breites Publikum in Deutschland, das sich, nach Meinung des Sprechers, von Inflationsangst gebeutelt wieder mehr für Gold interessiert.

Nicht so positiv scheinen diejenigen die Lage zu sehen, die unweit der ertragreichsten Goldmine Lateinamerikas leben, in der im Tagebau knapp 30 Tonnen Gold im Jahr verarbeitet werden. Nur 100 Kilometer von der Hauptstadt Santo Domingo entfernt bohrt Barrick Gold bis zu zwei Kilometer breite und hunderte Meter tiefe Trichter in die gebirgige Landschaft. Seit 2013 werden vor allem Gold, aber auch Silber und Kupfer gefördert. Pueblo Viejo, altes Dorf, heißt der Ort, der seinen Namen von den spanischen Kolonisatoren erhielt. Bereits diese hatten hier im 16. Jahrhundert Gold entdeckt, es aber als nicht erschließenswert erachtet. Anders verhält es sich bei der heutigen Goldgewinnung, die hochgiftige und tödliche Chemikalien, wie Zyanid und Quecksilber verwendet. Im großindustriellen Goldabbau wird das äußerst umweltschädliche Zyanid-Lauge-Verfahren angewandt. Um eine Tonne Gold zu fördern, müssen durchschnittlich 150 Tonnen Zyanid eingesetzt werden. Bereits wenige Milliliter davon sind tödlich für den Menschen. Wegen der hohen Gefahr und Umweltbelastung ist dieses Verfahren in den meisten Ländern der Welt verboten, nicht jedoch in der Dominikanischen Republik.

In den Dörfern rund um die Kleinstadt Cotui überspannen Protestbänder die Durchfahrtsstraße. Selbstgemalte Plakate vor den mit Wellblech überdachten Holzhütten warnen vor den Gefahren der neuen „Presa de Cola“, dem geplanten Auffangbecken für giftige Abfälle aus der Goldproduktion. Barrick Gold hat angekündigt, die Förderung bis 2040 kontinuierlich auszuweiten, und dafür sei eine solche Anlage unabdingbar, begründete Mark Bristow, Direktor des Unternehmens dies am 4. Oktober 2021 in Toronto. „Unser Ziel in der Dominikanischen Republik, wie auch im Rest der Welt, ist es, durch unsere Strategie der nachhaltigen Entwicklung langfristige Werte für unsere Interessengruppen zu schaffen. Das Erweiterungsprojekt Pueblo Viejo hat das Potenzial, den enormen Beitrag, den es bereits zur Wirtschaft der Dominikanischen Republik geleistet hat, zu verdoppeln. Ohne dieses Projekt könnte dieser Beitrag jedoch bald enden”, sagte er. Wer hier eine leise Drohung heraushört, irrt sich nicht. Bristow hat mindestens zweimal schlechte Erfahrungen mit Landesregierungen oder Gerichten gemacht. Zuerst, als er als Manager eines südafrikanischen Gold-Unternehmens den Rückzug desselben aus der Kap-Republik einleitete. Zu groß war die Furcht, dass Nelson Mandela und der ANC das Unternehmen für die in den Minen praktizierte Apartheid zur Rechenschaft ziehen würde. Nachdem 2019 das südafrikanische „Randgold“ von Barrick Gold gekauft worden war, ging Bristows Karriere dort weiter. Doch am 17. September 2020 erfolgte ein weiterer Rückschlag: Das chilenische Umweltgericht fällte ein Urteil, wonach Barrick Gold das Bergbauprojekt Pascua Lama nicht wieder in Betrieb nehmen darf.

Tulio Pimentel, Redakteur der in Santo Domingo erscheinenden Monatszeitschrift Trinchera Unitaria, empört sich: „Von wegen enormer Beitrag für unsere Wirtschaft! 97 Prozent des Nettogewinns sind für das Unternehmen, nur 3 Prozent für den dominikanischen Staat!“ Das hatte der damalige Präsident Leonel Fernandez (2004-2012) mit Barrick Gold vereinbart, obwohl viele Dominikaner*innen dagegen protestierten. Nicht wiedergewählt bot ihm Barrick Gold einen Direktorenposten im Unternehmen an. Da hätte er dann neben dem Ex-Präsidenten der USA, George Bush, gesessen. „Aber die Angst vor der Empörung im Volk ließ ihn ablehnen“, ergänzt Pimentel. Und: „2013 gab es sogar landesweite Streiks gegen Barrick Gold. Der neue Widerstand gegen die Ausbaupläne formiert sich noch.“ Das will Barrick Gold nicht erst abwarten. Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass den Einwohner*innen von Cotui und Umgebung von Beauftragten des Unternehmens, aber auch von regionalen Politiker*innen gesagt wird, sie brauchten sich nicht zu sorgen. Barrick Gold investiere in soziale Projekte der Gemeinden und es stünden auch beträchtliche Summen für den Ankauf von Land zur Verfügung. Nach dem Verkauf können die Bäuerinnen und Bauern dann woanders ihre Landwirtschaft betreiben. Außerdem würden die Umweltgefahren übertrieben dargestellt, seit der Inbetriebnahme von Pueblo Viejo habe sich dort die Wasserqualität in zwei Flüssen sogar verbessert. Auch weist das Unternehmen darauf hin, dass es der „Charge on Innovation Challenge“, einer branchenweiten Initiative zur Bewältigung der Klimaherausforderungen nicht nur beigetreten sei, sondern auch die Schirmherrschaft übernommen habe.

97 Prozent des Gewinns bleibt für Barrick Gold

Sind die Sorgen der Einwohner*innen unberechtigt? Ein Eindruck vom Tagebau lässt sich kaum gewinnen. Das gesamte Gelände ist von einem drei Meter hohen und stacheldrahtbewehrten Stahlzaun umgeben. Das Eingangsportal wird von mit Schnellfeuergewehren oder Pumpguns bewaffneten Werkschutzangehörigen bewacht. Warnschilder weisen darauf hin, dass sich nur zugelassene LKW nähern und passieren dürfen. Hundert Meter weiter steht in einer Ecke des Betriebsgeländes ein Informationszentrum für soziale Kooperativen. Der dortige Werkschutzmann legt sein Gewehr in die Armbeuge und erklärt: „Es ist geschlossen. Geöffnet wird nur nach vorheriger Anmeldung und auch nur für Vertreter der Gemeinden, nicht für Journalisten.“ Gegenüber befindet sich die Einfahrt zum Absetzbecken. Diese ist für anliefernde LKW täglich geöffnet, da im Tagebau rund um die Uhr gearbeitet wird. Daneben sitzt gerade vor drei niedrigen Steinhäusern eine Gruppe von mehreren Männern. Einer von ihnen, Pablo Leon, meint: „Die Mine hat auch positive Seiten. Meine beiden Söhne arbeiten dort.“ Ein junger Mann aus der Gruppe fügt hinzu: „Barrick Gold zahlt hohe Gehälter, 1.300 Dollar im Monat.“ Der Frage nach negativen Folgen weicht Leon verschmitzt aus: „Wenn das Gold das Ihre wäre, würden Sie es in der Erde lassen?“

Nur eine Straßenkurve weiter ein ganz anderes Bild. Auf der bunt bemalten Wand eines Hauses steht: „Ja zum Leben“ und „Barrick bedeutet Tod“. Hier halten die „Encadenados“ (die Angeketteten) eine permanente Mahnwache vom „Comite Nuevo Renacer“ (Komitee der Wiederbelebung der Region) ab. Zwei Männer und eine Frau geben darin Auskunft. „Vor vier Jahren haben wir die Gruppe gegründet,“ beginnt Teresa Jimenez zu erklären, „weil sich die Lage der Familien immer mehr verschlechtert hat.“ Das freundliche Lächeln der etwa Sechzigjährigen ist verflogen, Zornesfalten bilden sich an den Schläfen: „Vor acht Jahren hat alles angefangen. Erst gab es keine Fische mehr in den beiden Flüssen hier, dann versiegte der eine völlig, der andere führte kaum noch Wasser. Plötzlich kippten die Hühner tot um, auch Schafe, Ziegen, Schweine, Rinder und Pferde erkrankten oder verendeten. Bei den Menschen häuften sich die Krebsfälle.“ Hector Zarzuela pflichtet ihr bei: „Früher konnten wir das Flusswasser sogar trinken, heute muss sich jede Familie das Trinkwasser kaufen, mindestens vierzig Liter pro Woche, aber das reicht natürlich nicht für die Tiere.“ Allerdings gehört der Trinkwasserkauf für viele Menschen in der Dominikanischen Republik zum Alltag, da in vielen Orten, auch unabhängig vom Bergbau, die Wasserqualität schlecht ist. Auf den Wassermarkt drängen ausländische Konzerne, zwei der größten sind der französische Multi „Veolia“ und das chinesische Unternehmen „China Water“. Juan Zabalo ergreift das Wort: „Vom Absetzbecken sickern kontinuierlich Gifte ins Grundwasser und gelangen in die Nahrungskette von Tier und Mensch. Aber was ist, wenn der Damm bricht? Woanders gab es schon solche Unglücke und wir leben in einer Erdbebenzone!“ Angesprochen auf die sozialen Leistungen von Barrick Gold und den hohen Löhnen, schüttelt sich Jimenez vor Lachen. „Die wohnen vor dem Absetzbecken, also auf Werksgelände, da würde ich auch nichts Schlechtes über Barrick sagen. Die Arbeiter verdienen den dominikanischen Durchschnittslohn, maximal 300 US-Dollar im Monat. Und von den sozialen Leistungen der Kanadier habe ich in unserer Gegend nicht viel gesehen, vielleicht ein paar neue Bürgersteige oder Parks in der Stadt, aber hier auf dem Land geschieht nichts. Aber wir werden den Menschen in den Dörfern, die von der geplanten Erweiterung und dem neuen Auffangbecken betroffen sind, von unseren Erfahrungen berichten.“ Als die drei erfahren, dass Barrick Gold in Chile bereits eine Niederlage einstecken musste, ist die Freude groß.

Der industrielle Goldabbau benötigt Unmengen an Wasser. Durchschnittlich sind es 140.000 Liter Wasser pro Stunde, was dem Jahreswasserverbrauch eines Drei-Personen-Haushalts in Deutschland entspricht. Bei der geplanten Erweiterung der Goldmine sind dafür vier weitere Flüsse als Wasserlieferanten vorgesehen. Aber der hohe Wasserverbrauch des Tagebaus bedroht auch das „grüne“ Gold, die Avocados. Nachdem die Weltmarktpreise für Zuckerrohr stark gefallen waren, haben viele Landwirt*innen auf den Avocado-Anbau umgestellt, ein wasserintensives Unterfangen. Die dominikanische Republik ist drittgrößter Exporteur der Schalenfrüchte, ganze Täler sind bereits von den Plastikplanen der Plantagen bedeckt. Die Nachfrage boomt, vor allem die chinesische Mittelschicht hat den Geschmack entdeckt und kann ihn sich auch leisten. Hinzu kommt das zweibeinige Gold, jährlich acht Millionen Tourist*innen, davon 220.000 Deutsche, Tendenz steigend. Wie sollen diese vielen konkurrierenden Interessen unter einen Hut gelangen?

„Plötzlich kippten die Hühner tot um, auch Schafe, Ziegen, Schweine, Rinder und Pferde erkrankten oder verendeten.“

„Wasser ist ein Schatz, der wertvoller ist als Gold“ hatte Pimentel seinen Artikel in der Trinchera Unitaria überschrieben. Hier würden auch „Veolia“ und „China Water“ zustimmen. Soll ein Land wegen Umweltgefährdung auf die Förderung seiner Goldvorkommen verzichten? Es gibt Konzepte zum nachhaltigen Goldabbau, zum Beispiel unter Verwendung von zusätzlichen Wasserrückhaltebecken, um das benötigte Wasser mehrfach zu nutzen. Es gibt Verfahren, die ohne Verwendung giftiger Substanzen funktionieren. Die transnationalen Konzerne, die in den Industrieländern viel Geld für Werbekampagnen im Sinne des „Greenwashing“ ausgeben, scheinen sich in den Förderländern bisher herzlich wenig für Maßnahmen zum Schutz von Mensch und Natur zu interessieren.

SEIT 18 JAHREN „NEIN“ ZUR MINE

„Das Wasser bleibt unverkäuflich“ Klare Ansage an die megaminería in Chubut (Foto: Nicolás Palacios, Luan – Colectiva de Acción Fotográfica

Zwei Tage nachdem die Legislaturperiode des Parlaments von Chubut eröffnet wurde, sollte in einer außerordentlichen Sitzung am 4. März über den Gesetzesentwurf entschieden werden. Doch bereits in den frühen Morgenstunden blockierten die Bergbau-Gegner*innen in Esquel an der Kordillere und den größeren Küstenstädten Puerto Madryn und Trelew wichtige Straßen, unter anderem die viel befahrenen Ruta 3, die eine essenzielle LKW-Route zwischen Buenos Aires und Feuerland darstellt. Daraufhin wurde die Parlamentssitzung unterbrochen und die Entscheidung zum wiederholten Male vertagt. Gegen das Vorhaben, Großbergbau-Projekte in bestimmten Zonen der Provinz zu erlauben, gibt es eine breite Bewegung in der lokalen Bevölkerung. Im Rahmen einer Volksinitiative sammelten die Einwohner*innen von Chubut innerhalb weniger Wochen und unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Pandemie über 30.000 Unterschriften. Damit wurde Anfang 2021 erfolgreich der Prozess für ein alternatives Gesetzesvorhaben eingeleitet, das ein komplettes Verbot sowohl von Tagebauen als auch von unterirdischem Bergbau in Chubut etablieren soll.

In den vergangenen Monaten hatte die Regierung der Provinz versucht, zum Teil in außerordentlichen Sitzungen des Parlaments, eine Entscheidung zum Gesetzesentwurf 128/20 zu erzwingen, der eine Zonen-Einteilung für Großbergbauprojekte etablieren soll. Damit soll das bestehende Gesetz 5001 gekippt werden, das seit 2003 den Bergbau unter freiem Himmel sowie den Einsatz des giftigen Stoffes Cyanid verbietet, der vor allem im Gold- und Erzbergbau Anwendung findet (siehe LN 548). Mit der sogenannten Zonen-Einteilung wären Großbergbauprojekte auf dem patagonischen Hochplateau im zentralen Norden Chubuts rund um die Departamentos Gaste und Telson erlaubt. „Die sogenannte zonificación ist eine imaginäre Linie, die die Anden-Kordillere vom Hochplateau trennt – als ob die Umweltverschmutzung und die Habsucht sich an diese Linie halten würden“, so Nina D’Orazio von der Bewegung „No a la mina“ in Esquel. Das Gesetzesvorhaben würde unter anderem den Weg für das umstrittene „Navidad“-Projekt der kanadischen Firma Pan American Silver freimachen, die 2010 Landrechte im Norden von Chubut erworben hat – genau dort, wo das größte unerschlossene Silbervorkommen der Welt vermutet wird.

Die Bewegung „No a la mina“ gibt es seit nunmehr 18 Jahren


Für Bergbauprojekte braucht es eigentlich eine licencia social und damit die Akzeptanz der lokalen indigenen Bevölkerung. Das patagonische Hochplateau Chubuts ist zwar relativ dünn besiedelt, aber es leben dort allein acht Mapuche- und Tehuelche-Gemeinden. Eine Information der ansässigen indigenen Gemeinden oder gar eine Einbindung hat nicht stattgefunden. „Dabei gehören die Mapuche und Tehuelche zu denjenigen, die am stärksten von den extraktivistischen Vorhaben betroffen sein würden“, führt Zulma Usqueda aus, die sich in der Stadt Comodoro Rivadavia in der Bewegung „No a la mina“ engagiert.

Die Bewegung gibt es seit nunmehr 18 Jahren. Sie geht zurück auf einen Umweltkonflikt aus dem Jahr 2003, als bekannt wurde, dass eine riesige Goldmine in der unmittelbaren Umgebung der Kleinstadt Esquel geplant war. „Wir organisierten uns mit Mund-zu-Mund-Propaganda, mit Telefonkette über Festanschluss – damals gab es weder Handys noch WhatsApp“, beschreibt D’Orazio. Die asambleas, die Versammlungen, in der sich die Anwohner*innen zusammenfanden, spielen heute noch eine zentrale Rolle in der Organisation der Anti-Bergbau-Demonstrationen. „Wir entwarfen Flugblätter, um die Nachbar*innen darüber zu informieren, wie das Gold gefördert werden sollte: mit tausenden von Litern an Wasser und unter Einsatz von Zyanid. Als die Leute mitbekamen, was los war, gab es kein Zurück mehr“, bekräftigt D’Orazio.

Mit Großdemonstrationen erkämpften die Anwohner*innen ein Plebiszit, bei dem 81 Prozent gegen den Bergbau stimmten. Daraufhin brachten sie selbst ein Gesetzesvorhaben ein, das als Gesetz 5001 verabschiedet wurde und Großbergbauprojekte mit Chemikalieneinsatz bis heute untersagt. Der zweite Artikel des Gesetzes allerdings beinhaltet eine Klausel zur besagten Zonen-Einteilung, die damals auf Druck der Bergbau-Befürworter*innen im Parlament Einzug in das Gesetz fand und vorsah, innerhalb von 180 Tagen spezielle Zonen außerhalb der Kordillere für Bergbauprojekte auszuweisen. Dies ist bis heute nicht geschehen. Jedoch macht sich der Gouverneur von Chubut, Mariano Arcioni, wie schon andere Provinzregierungen vor ihm diese Klausel zunutze, um einen erneuten politischen Versuch zu starten, Großbergbauprojekte in Chubut durchzusetzen. Arcioni trägt mittlerweile den Spitznamen „traicioni“ (traicionero – Verräter), da er sich im Wahlkampf vor weniger als drei Jahren noch klar gegen den Bergbau in seiner Provinz positioniert hatte. Jetzt argumentiert er mit neuen Arbeitsplätzen für die Region und einer „nachhaltigen“ Entwicklung des Bergbaus. Die Provinz hat hohe Schulden und die Gehaltszahlungen an die öffentlichen Angestellten sind seit Monaten im Rückstand. D’Orazio kann über das Arbeitsplatz-Argument nur den Kopf schütteln: „Das ist eine Erfindung der Bergbau-Leute. Für den Bau eines Tagebaus werden etwa 1000 Leute angestellt, aber danach braucht man sie nicht mehr, nur noch technische Fachleute. Der Provinz bleiben nur drei Prozent an Abgaben. Und die Umweltverschmutzung.“

Die Waldbrände machen das Thema zusätzlich brisant


Der Begriff „nachhaltiger Bergbau“, der sich im Gesetzesentwurf findet, wird von Umweltverbänden stark kritisiert. „Von einem nachhaltigen Bergbau zu sprechen ist quasi ein Widerspruch in sich“, so Leandro Gómez von der Nichtregierungsorganisation Fundación Ambiente y Recursos Naturales (FARN). „Wissenschaftliche Studien warnen vor den Risiken für die Wasserqualität, die die Erlaubnis von Großbergbauprojekten in Zeiten des Klima-wandels und im Kontext einer zunehmenden Wüstenbildung und einer wachsenden Bevölkerung hätte, wie es hier in der Provinz Chubut der Fall ist.“ Die Wasserverschmutzung erzürnt auch die Anwohner*innen. „Hier gibt es Berghänge mit absolut reinem Wasser. Wir möchten nicht, dass sich das ändert“, bekräftigt D’Orazio. Die Waldbrände, die im Nordwesten der Provinz über 500 Häuser und etwa 15.000 Hektar Wald zerstörten, machen das Thema zusätzlich brisant. Als der Mitte-links-Präsident Alberto Fernández Mitte März die besonders betroffene Region rund um die kleine Stadt Lago Puelo besuchte, kam es zu einem Zwischenfall: Das Auto des Präsidenten wurde mit Steinen angegriffen. In den Medien wurden „militante Bergbau-Gegner*innen“ dafür verantwortlich gemacht. Die Bewegung „No a la mina“ erklärte ihrerseits, eine pazifistische Bewegung zu sein, und sprach von eingeschleusten Polizist*innen, mithilfe derer man die Protestbewegung diskreditieren wolle. Tatsächlich ist auf einem Video des Vorfalls zu sehen, wie die Angreifer*innen in ein Auto stiegen, das über das Kennzeichen als Wagen der Provinz-Polizei identifiziert wurde.

Die Bergbaulobby übt derweil massiv Druck aus


Die ansässigen Mapuche- und Tehuelche-Gemeinden sehen sich derweil in einer doppelten Opferrolle: Sie sind mit Anschuldigungen von einzelnen Politiker*innen und rechtsgerichteten Medien konfrontiert, die sie als Brandstifter*innen bezichtigen – obwohl es dafür keine Anhaltspunkte gibt und sie selbst stark von den Bränden betroffen sind. „Wir Mapuche und Tehuelche sind es, die das Gebiet vor dem Raubbau schützen, der nach dem Feuer kommen wird. Wir verteidigen das Land vor den Klauen der Bergbau-, Forst- und Elektrizitätswirtschaft“, erklärt das Parlament der Mapuche der angrenzenden Provinz Rio Negro in einer Pressemitteilung. Der Spruch „todo fuego es político” (Jedes Feuer ist politisch), der aus der Umweltbewegung Argentiniens kommt, verdeutlicht diese Konflikte.

Die Bergbaulobby übt derweil massiv Druck aus, obwohl etwa die Firma Pan American Silver, deren umstrittenes „Navidad“-Projekt in den Start-löchern steht, das Bergbauverbot offiziell anerkennt. „Die Bergbaulobby hat nie nachgegeben, und mit jedem Wechsel der provinzialen und nationalen Regierung ist sie noch stärker geworden“, erklärt D’Orazio. Wie weit die Firmen dabei gehen, zeigen mehrere öffentlich gewordene Fälle von Korruption. Im Dezember 2020 bezichtigte eine Abgeordnete andere Parlamentarier*innen, zehn Millionen Pesos (rund 911.000 Euro) angenommen zu haben, um für das umstrittene Gesetz zu stimmen. Ebenso tauchte im gleichen Monat das Video eines Abgeordneten auf, der von der Lobby über 100.000 Pesos (rund 9110 Euro) für seine Zustimmung forderte. Ein besonders krasser Fall stammt aus dem Jahr 2014, als die erste Volksinitiative der „No a la Mina“-Bewegung im Parlament verhandelt wurde: Während der laufenden Sitzung wurde ein Abgeordneter dabei fotografiert, wie er Anweisungen eines Bergbau-Vertreters auf sein Handy bekam, wie bestimmte Formulierungen des Gesetzes zu ändern seien.

Wie geht es weiter? Seit 18 Jahren verteidigt die Bewegung „No a la mina“ erfolgreich das von unten durchgesetzte Verbot von Großbergbauprojekten. Im Zuge der schlechten wirtschaftlichen Lage Argentiniens dreht sich der politische Wind auf nationaler Ebene allerdings wieder in Richtung Extraktivismus, also der ungezügelten Rohstoff-ausbeutung, um Erlöse zu generieren – obwohl die Umweltprobleme des Landes derzeit ohnehin sehr stark sind, wie das Beispiel der Flächenbrände in den patagonischen Wäldern zeigt. Solange die wirtschaftliche Entwicklung gegen den Umweltschutz ausgespielt wird, scheint eine langfristige Lösung für den Bergbau-Konflikt nicht in Sicht. „Umweltschutz darf nicht wie ein Hindernis der wirtschaftlichen Entwicklung der Provinz interpretiert werden, sondern wie eine übergeordnete Entscheidung, um das Wasser zu schützen“, kommentiert die Nichtregierungsorganisation FARN in einer Pressemitteilung. Zulma Usqueda von der Bewegung „No a la mina“ spricht in Bezug auf die beiden Alternativen von „einem Gesetzes-entwurf des Todes oder einem Gesetzesentwurf des Volkes“. Die Protestbewegung wird deshalb weiter versuchen, den Politiker*innen ihren Slogan klarzumachen: „Wasser ist mehr wert als Gold“.

GEGEN DEN KONSENS

Nicht genug Versammlungen finden noch am 22. Streiktag statt (Foto: DHSF Cusco)

Die Bevölkerung in Espinar, einer zum Department Cusco gehörenden Provinz in den südlichen Anden, war von den Regierungsmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie besonders betroffen. Die über 100 Tage andauernde strikte Ausgangssperre, die der konservative Präsident Martín Vizcarra am 16. März verhängt hatte, traf vor allem Viehzucht und Landwirtschaft. Sie machen in der Provinz etwa ein Drittel der Wirtschaftskraft aus. Dennoch waren sie im Gegensatz zum Bergbau nicht in dem im April veröffentlichten Regierungsplan zur Wiederbelebung der Wirtschaft enthalten.

Aufgrunddessen einigten sich die Vereinigung der Stadtviertel und städtischen Ansiedlungen Espinars, des Salado-Flussgebiets und die Einheitsfront der Verteidigung sowie Vertreter*innen der Distriktbürgermeister*innen am 14. Mai auf eine gemeinsame Forderung, um die prekäre Situation vieler Bewohner*innen abzumildern. Sie forderten die Einmalzahlung von 1000 peruanischen Soles (umgerechnet rund 240 Euro, Anm. d. Red.) für 44 000 Personen. Das Geld sollte aus dem Entwicklungsfonds entnommen werden, der zwischen der Minengesellschaft Antapaccay, die zum multinationalen Glencore-Konzern gehört, und der Provinz Espinar besteht.

Seit 2003 besteht ein Abkommen, das die ökonomische Entwicklung der Region zum Ziel hat. Der Entwicklungsfonds soll laut Abkommen von städtischer, bäuerlicher, staatlicher und unternehmerischer Seite konsensuell verwaltet werden. Der zu entnehmende Betrag gehöre also nicht der Minengesellschaft, so Rolando Condori, Präsident des regionalen Kampfkomitees von Espinar, gegenüber dem peruanischen Journalismusportal OjoPublico. „Es handelt sich um einen Fonds aus dem geschlossenen Rahmenabkommen”. Ähnlich äußerte sich der Vertreter des Netzwerks von Entwicklungsorganisationen Red Muqui, Jaime Borda: “Es ist ein einvernehmlich geschlossener Vertrag. Die Fondsmittel sind kein Geschenk der Minengesellschaft, sondern ein Transferabkommen für einen Anteil der Gewinne aus der Mine. Daher verlangt die Bevölkerung, dass der Vertrag eingehalten wird”.

„Die Fondsmittel sind kein Geschenk der Minengesellschaft“

In den nachfolgenden Verhandlungen weigerten sich die Vertreter*innen Antapaccays mehrfach, den Transferleistungen zuzustimmen. Nach Ansicht des Unternehmens käme eine solche Verwendung der Gelder dem Vertragsbruch gleich. Als Gegenvorschlag unterbreitete es ein Maßnahmenpaket, das aus der Verteilung von Medikamenten, Nahrungsmitteln, der Einrichtung von kostenlosem Internet und einem Kreditfonds für wirtschaftlich angeschlagene Bauern und Bäuerinnen sowie Geschäftsinhaber*innen bestehen sollte.

Dieser Gegenvorschlag war für weite Bevölkerungsteile inakzeptabel, da er an ihren konkreten Bedürfnissen vorbeiging. Insbesondere, weil nur wenige Menschen die Direktzuwendungen der peruanischen Zentralregierung, den sogenannten bono universal, erhalten hatten, drängte die Lokalverwaltung Espinars weiter auf eine monetäre Lösung. Am 14. Juli riefen die Mitglieder des provinziellen Kampfkomitees von Espinar und die Einheitsfront der provinziellen Interessensvertretung schließlich den unbefristeten Streik aus. Nachdem die Polizeipräsenz in der Provinz massiv erhöht wurde, ließen die Konflikte zwischen Sicherheitskräften und den Protestierenden nicht lange auf sich warten. “Die Bevölkerung hat sich friedlich versammelt. Sie [die Polizei, Anm. d. A.] haben auf alle eingeschlagen. Es waren viele Einsatzkräfte aus Lima vor Ort. Unsere sozialen Proteste sind friedlicher Natur”, verurteilte Rolando Condori das Vorgehen der Polizei.

Die Regierung ist vor dem größten Arbeitgeberverband eingeknickt

Dem Bericht der Nationalen Menschenrechtskoordination (CNDDHH) und Human Rights without Frontiers zufolge wurden drei Personen durch scharfe Munition und acht weitere durch Schrotkugeln und Tränengas verletzt. Zeug*innen berichteten über die Anwendung von Folter bei 20 Festgenommenen. Außerdem veröffentlichte der nationale Journalistenverband ANP ein Statement, in dem berichtet wird, dass der Reporter Vidal Merma im Zuge der Proteste von der Polizei bedroht wurde. Neben bewährten Protestformen wie Straßenblockaden und Protestmärschen setzten sich die Demonstrierenden am 28. Juli, dem peruanischen Nationalfeiertag, demonstrativ über das geltende Versammlungsverbot hinweg und zogen durch die Provinzhauptstadt. Während Präsident Vizcarra in Lima die Ausweitung von Bergbauprojekten – unter anderem auch solche von Glencore – als Motor für den wirtschaftlichen Aufschwung anpries, gab man sich in Espinar kämpferisch. Sofern der Präsident nicht auf die Forderungen der Demonstrant*innen eingehen werde, würde „die Bevölkerung Maßnahmen ergreifen, um die Mine zu schließen“, sobald die Bevölkerung dies fordere, so Rolando Condori. Der Streik endete nach 24 Tagen, am 7. August, unter der Schlichtung des vorübergehenden Ministerratsvorsitzenden Pedro Cateriano. Jener war nur 20 Tage im Amt und wurde am 6. August durch den Ex-Militär Walter Martos abgelöst.

Konflikte zwischen der lokalen Bevölkerung und den Bergbaugesellschaften sind in Espinar keine Neuheit. Auch vor dem Rahmenabkommen 2003 hatte es Proteste gegen den Bergbau in der Region gegeben. 2012 wurde der Konflikt blutig, nachdem Bäuerinnen und Bauern über mit Schwermetallen verunreinigtes Land klagten: vier Personen kamen bei Protesten ums Leben. Trotz der Bergbauindustrie leben in der Region Espinar offiziellen Angaben zufolge 38 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 40 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Zentralregierung Limas hat bisher meist die Interessen der Industrie vertreten, ohne auf die Bedürfnisse der andinen Bevölkerung einzugehen.

Der schwelende Konflikt wurde durch das Reaktivierungsprogramm der Regierung verschärft. Mittlerweile ist die Regierung Vizcarras vor dem größten Arbeitgeberverband, der Confiep, eingeknickt. In den ersten Monaten dieses Jahrs schien es zunächst so, als könne Vizcarra die Distanz zur Großindustrie wahren. Doch ab Ende Mai folgte die Regierung beinahe jedem Vorschlag der Confiep, wobei sich insbesondere die Wirtschaftsministerin María Alva exponierte. Seither liegt das Hauptaugenmerk der Regierung darauf, den Wiederaufschwung der Wirtschaft offensiv zu forcieren. So wurden nach und nach Geschäfte, Industrie und Einkaufszentren geöffnet, während Krankenhäuser unter der Last der vielen Covidpatient*innen kollabierten. Bisher sind nach offiziellen Zahlen der Regierung zufolge über 29 400 Menschen an oder mit einer Sars-Cov-2-Infektion gestorben, damit hat Peru die höchste Sterberate in Lateinamerika.

Konflikte um extraktive Projekte kommen nicht zur Ruhe

Als eine der ersten Wirtschaftsmaßnahmen wurden die extraktiven Industrien wieder auf volle Auslastung gebracht. Eindrücklich brachte Pedro Cateriano, der kurzzeitige Premier, den neuen Regierungsfokus auf den Punkt. In seiner Antrittsrede vor dem Kongress belebte er einen der kolonialen Leitsprüche der neoliberalen peruanischen Rechten („Peru, Land des Bergbaus“) wieder. Dies war einer der Gründe, warum ihm verschiedene Fraktionen im Parlament die Vertrauensfrage negativ beschieden: die populistischen Parteien „Wir können“ (Podemos) und Union für Peru (UPP), die Bauernpartei FREPAP sowie der Linksblock Breite Front (Frente Amplio) stimmten gegen ihn. Vizcarra musste daraufhin ein neues Kabinett ernennen.

Das Reaktivierungsprogramm ist der ausschlaggebende Grund dafür, dass Konflikte um extraktive Projekte nicht einmal während einer globalen Pandemie zur Ruhe kommen. Noch immer stehen Beschwerdeverfahren über Bergbauvorhaben aus, etwa gegen die Kupferbergwerke Tía Maria und Las Bambas in den südperuanischen Andendepartments Arequipa und Apurímac. Bei Protesten gegen die von vielen empfundene staatliche Vernachlässigung in der Krise sowie gegen die Ölförderung durch das kanadische Unternehmen Petrotal im Amazonasdepartment Loreto wurden in der Nacht zum 9. August drei Kukama von der Polizei erschossen. Die Kukama hatten unter anderem eine bessere Gesundheitsversorgung gefordert.

In Espinar ist seit der Schlichtung mittlerweile ein Monat vergangen und die sozialen Konflikte in der Region schwelen weiterhin. Währenddessen breitet sich das Virus weiter aus: In der Region gibt es über 1500 Infizierte und bereits 10 Tote. Viele Bäuerinnen und Bauern fordern Gerechtigkeit für die Opfer der Polizeigewalt. Das Gelände der Mine befindet sich derweil unter Polizeischutz.

„WIR WERDEN HIERBLEIBEN UND KÄMPFEN“

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Narlis Guzmán Angulo

ist indigene Menschenrechts- und Umweltaktivistin aus La Sierra, das zur Gemeinde Chiriguaná im Departamento Cesar in Nordkolumbien gehört. In der Initiative „mujeres guerreras“ (Kämpferische Frauen) kämpft sie gegen die lokalen Steinkohletagebaue und Monokulturen

(Foto: privat)


Wann haben die Menschen in La Sierra die ersten Auswirkungen der Corona-Pandemie gespürt und welche waren es?
Am Anfang haben die Leute in meinem Gebiet dem Coronavirus nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil sie dachten, es wäre nicht so bedrohlich. Aber als es auch in Kolumbien immer mehr Infizierte gab und über die Medien verbreitet wurde, wie gefährlich die Krankheit ist, fing auch mein kleines Dorf an, sich verrückt zu machen. Hier gibt es zwar keinen Coronafall, im gesamten Departamento Cesar sind es 35 Infizierte (Stand Mitte April, Anm. d. Red.). Das heißt aber nicht, dass wir nicht vom Coronavirus betroffen sind. Die Zufahrtswege zum Dorf sind gesperrt. Wir sind arbeitslos. Besonders die Leute, die von Tag zu Tag leben, haben kein Essen für ihre Kinder. Zusätzlich zur Pandemie haben wir nur Wasser, das sich nicht als Trinkwasser eignet und das Bindehautentzündungen und Hautentzündungen hervorruft. Wir sind Bauern und Bäuerinnen. Ein starker Wind hat jedoch unsere Ernte zerstört. Deswegen haben wir auch mit Nahrungsmittelmangel zu kämpfen.

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Bergbau und den Problemen, denen Sie sich ausgesetzt sehen?
Wir haben überhaupt keinen Nutzen davon, in einer Bergbauregion zu leben. Die Profite werden nicht verteilt. In unserem Landkreis leben wir in absoluter Armut. Es gibt nicht mal eine grundständige ärztliche Versorgung durch Gesundheitsstationen, kein Trinkwasser, kein Gas, wir leben im totalen Elend. Und solange wir nicht arbeiten können, wird das so bleiben. Die Bergbaufirmen haben sich nie für unsere Probleme interessiert, nicht mal jetzt, in diesen schwierigen Zeiten.

Wird in den Minen denn weitergearbeitet?
Die Arbeit in den Minen geht weiter, wenn auch nicht im gleichen Maße. Die Gemeinden, die noch näher an den Minen dran sind, haben versucht, die Busse aufzuhalten, die in die Minen fahren. Das hat zu vielen, auch handgreiflichen Konflikten geführt.

Die Minen im Departamento Cesar gehören Großkonzernen wie Drummond und Glencore. Wie reagieren die Bergbaufirmen auf die Probleme Ihrer Gemeinde?
Es hat die Firmen nie interessiert, die Probleme der Gemeinden anzugehen. Sie sagen, dass das neue Gesetz des Präsidenten ihnen erlaubt, weiter zu arbeiten. Das tun sie, aber ohne sich um die diversen Probleme zu kümmern, die die Gemeinde hat. Nicht einmal um die Probleme der Arbeiter*innen kümmern sie sich.

Wie sieht es mit der medizinischen Versorgung vor Ort aus?
Die medizinische Versorgung ist sehr schlecht. Wir hatten mal ein Krankenhaus, das durch die unverantwortliche Politik des Staates geschlossen wurde. Als wir dagegen Widerstand leisteten, hat die Bereitschaftspolizei einen community leader von uns bei einer Demonstration erschossen. Heute wird davon gesprochen, das Krankenhaus wieder aufzubauen, aber das ist noch nicht vollständig geschehen. Laut Auskunft des Bürgermeisters gibt es 20 Betten und eine Intensivstation. Aber das Krankenhaus ist nicht so gut ausgestattet wie vorher und es gibt nicht genügend medizinisches Fachpersonal. Um unsere Gesundheit ist es sehr schlecht bestellt. Wenn wir eine fachärztliche Behandlung brauchen, müssen wir in eine der großen Städte fahren, was schwierig ist und mindestens drei Stunden dauert.

Wie denken Sie, wird die Situation nun weitergehen?
Die Pandemie ist auf ihrem Höhepunkt. Um nicht zu verhungern, müssen die Menschen arbeiten und ihr Leben gefährden, damit ihre Familien nicht sterben. Aber viele Menschen werden sterben, denn schon heute haben viele kein Essen mehr für ihre Kinder. Da wir hier in La Sierra in einer Bergbauregion leben, dachten wir, dass wir zumindest ausreichende Hilfen erhalten würden, um diese Pandemie zu überstehen, aber wir erhalten lediglich 60.000 Pesos (ca. 14 Euro). Wie soll ich damit meine 11 Personen starke Familie ernähren? Die Situation ist sehr kompliziert.

Die latino-deutsche Organisation Red de Iniciativas Comunitarias (RICO e.V.) möchte in den vom Bergbau betroffenen Regionen langfristige Strukturen für die Post-Steinkohlezeit aufbauen. Ihre Gemeinde ist eine von denen, die RICO e.V. in der Coronakrise mit einer Spendenkampagne unterstützt. Um was für ein Projekt handelt es sich?
Wir haben nicht nur mit der Pandemie zu kämpfen, sondern wir haben auch Probleme mit der Wasserversorgung. Daher kam die Idee mit den Wasserfiltern: Durch die Spendenkampagne von RICO e.V. werden 200 manuelle Wasserfilter für unseren Ort finanziert. Diese Filter werden nicht für alle reichen, aber so können zumindest die schwächsten Mitglieder unserer Gemeinschaft die Situation überstehen.

Wie stellen Sie sich die Zukunft Ihres Dorfes ohne den Bergbau vor? Ist das überhaupt denkbar?
Ich und meine „mujeres guerreras“ würden uns wünschen, dass eine Zukunft ohne den Bergbau möglich ist. Wir würden gerne so leben, wie unsere Vorfahren, die ihre eigenen Nahrungsmittel anbauen und essen konnten – ohne dass wir davon krank werden oder wir oder unsere Umwelt sterben. Wir haben alle Gründe der Welt, uns zu wünschen, dass der Bergbau aufhört. La Sierra ist ein sehr kleines Dorf, aber es gibt sieben Fälle von genetischer Missbildung bei Kindern, die wir den Folgen des Bergbaus zuschreiben. Der Bergbau hat uns eine Vielzahl von Problemen beschert: Kinderprostitution, Drogenabhängigkeit, Arbeitslosigkeit, politische Korruption, Umweltverschmutzung, die Zerstörung des sozialen Gefüges, Vertriebene, Vermisste, Tote. Einen ruhigen Ort zurückzugewinnen, wie den friedlichen Ort, den wir hatten, wäre ein großes Privileg. Wir wissen, dass das schwierig ist, doch wir werden hierbleiben und weiter vor Ort dafür kämpfen.

„IHR TRAUM IST UNSER ALPTRAUM“

Foto: Verena Glass

Der von Brasiliens Präsidenten dem Nationalkonkongress vorgelegte Gesetzesentwurf zur Änderung der möglichen wirtschaftlichen Aktivitäten in indigenen Territorien wurde von Jair Bolsonaro am 5. Februar in einer feierlichen Zeremonie anlässlich der ersten 400 Tage seiner Regierung unterzeichnet. Er bezeichnete das Gesetzesvorhaben als „Traum“. Bisher wurde der Entwurf der Presse nicht übergeben, sondern lediglich an den brasilianischen Nationalkongress weitergeleitet. Die endgültige Genehmigung der Gesetzesvorlage werden die beiden Kammern des Kongresses, Abgeordnetenhaus und Senat, treffen.

Laut Medienberichten sieht der Gesetzentwurf vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Erschließung von Erdöllagerstätten: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei bis zu einem Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden 50 Prozent des Wertes der finanziellen Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gemacht.

Die Reaktion einer der Sprecher*innen der indigenen Gemeinden in Brasilien, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker unterzeichnet hat, gibt der Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölerschließung geht es nur um Konsultationen ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen bei den indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.
Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er sich in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Dazu soll die nun vorgelegte Gesetzesinitiative ihren Teil beitragen, so es nach Bolsonaro geht. Das Agrarbusiness und die Bergbaukonzerne werden den Rest übernehmen.

WARUM LEBEN WIR IM PARADIES?

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Memo war kurz nach deren Gründung im Juni 2009 Kommandant der Guardia Comunal von Ostula. Seitdem ist ihm bewusst geworden, wie wichtig das Land für die Gemeinde ist. Er hat miterlebt, wie mehrere seiner compañeros von der kriminellen Vereinigung Caballeros Templarios gewaltsam verschwunden gelassen wurden.

Die 1531 gegründete Nahua-Gemeinde von Santa María Ostula an der Pazifikküste von Mexiko ist eigentlich eine paradiesische Gegend. Sie liegt in Aquila, einem der größten Kommunalverbände des Bundesstaates Michoacán und wahrscheinlich einem der rohstoffreichsten. Doch genau dies wird ihren Bewohner*innen zum Verhängnis. Seit 1964 kämpft die Gemeinde um die Wiederaneignung von 1.200 Hektar fruchtbarer Ländereien. Landraub, organisierte Kriminalität und politische Parteien verhindern seit Anfang des 20. Jahrhunderts aber immer wieder, dass die Nahua ihr Land nutzen können.

Pedro lebt in Xayacalan. Das gemeinsame Haus hat er zusammen mit seiner Frau Baudelia gebaut. Beide waren eng mit Don Trino befreundet, einem der beharrlichsten Kämpfer gegen die doppelte Macht aus Politik und organisiertem Verbrechen, der 2011 von den Caballeros Templarios ermordet wurde.

Ein Erlass des Präsidenten im Jahr 1964 ermöglichte zwar der Gemeinde, das Land legal zu nutzen. Doch weder die landwirtschaftlichen Gerichte noch irgendeine andere Behörde erkannten dieses Recht an. Stattdessen ließen sie weiteren Landraub zu, entweder durch die Lokalpolitik in Form von Vertreter*innen der langjährigen Regierungspartei PRI oder, wie in jüngster Vergangenheit, durch das organisierte Verbrechen, insbesondere durch die bekannte kriminelle Gruppe Caballeros Templarios (Tempelritter).

Doña Juana schaut skeptisch nach dem Fotografen. Die mexikanische Essayistin Marina Azahua nannte diese Reaktion ein „unfreiwilliges Porträt“. Aber in Doña Juanas Blick ist auch Neugier. Sie hat seit vielen Jahren Widerstand geleistet und um ihr Land gekämpft. In ihrem hohen Alter hat sie von der Geschichte der Gemeinde Ostula viel mitbekommen: Eine Geschichte von Stärke trotz des großen Leids, trotz Angst und Tod.

Bis 2009 hatte die Gemeinde von Ostula für politische Rahmenbedingungen gekämpft, die eine Legalisierung der wiederangeeigneten Landflächen ermöglichen sollten. Seitdem gehen das organisierte Verbrechen und die Politik gewalttätig gegen die Gemeinde vor. Die Bilanz: 34 Ermordete und sechs Verschwundene. Der eiserne Widerstand und die gesammelte Erfahrung im Kampf gegen solche Repressionen bilden heute die grundlegende Basis für den Zusammenhalt der Gemeinde.

Felipa und Rosendo lächeln in die Kamera, die etwas von der Friedlichkeit einzufangen versucht, in der sie leben. Sie bearbeiten Holz und Palmenblätter und bewahren damit eine Tradition: Sie weben equipales, eine Art kleine Korbstuhlbank die zum traditionellen Mobiliar der Gemeinde gehört. Während der Jahre der Gewalt konnten sie diese Arbeit lange nicht ausüben, weil kriminelle Gruppen das verboten.

Nach einer Offensive gegen die organisierte Kriminalität und institutionelle Korruption gelang es Santa María Ostula im Jahr 2014, mit ihrer selbst gegründeten Kommunalwache Guardia Comunal, die Bewohner*innen zu schützen. Sie beruft sich in ihrem autonomen Handeln auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das in Mexiko Anfang der Neunziger ratifiziert und 2011 in die Verfassung aufgenommen wurde. Das Abkommen gesteht indigenen Gemeinden unter anderem das Recht auf Land und eigene Kultur zu.
Bergbau, Straßenbauprojekte und Tourismus sind eine zusätzliche Bedrohung für Ostula, nicht nur durch die drohende Umweltzerstörung. Die naheliegende Mine Las Encinas des italienisch-argentinischen Unternehmens Ternium übt permanent Druck auf die Nahua-Gemeinde aus: Das Unternehmen will den Bergbau ausweiten und um jeden Preis auch die Grundstücke der Nahua-Gemeinde an sich reißen.

Trueno hat viel dafür gekämpft, dass seine Gemeinde die Landflächen behalten kann, ohne sich unter die Kontrolle des organisierten Verbrechens zu stellen. Seit 2009 – dem Jahr, in dem sich die Gemeinde 1.250 Hektar wiederaneignetete – hat Trueno an allen Initiativen von Ostula teilgenommen. Heute wird diese wiederangeeignete Fläche zum Wohnen und für Landwirtschaft genutzt. Auch Trueno hat hier seinen Wohnsitz.

Ein Abkommen zwischen der bundesstaatlichen Regierung von Silvano Aureoles und dem indischen Unternehmer Lakshmi N. Mittal (ArcelorMittal ist der weltgrößte Stahlproduzent, Anmerkung der Redaktion) bildet eine zusätzliche Gefahr für die Biodiversität der gesamten Küsten- und Gebirgsregion von Michoacán. Der Vertrag besiegelt den Ausbau des Hafens Lázaro Cárdenas sowie die Weiterentwicklung von Bergbauaktivitäten an der fast 300 Kilometer langen Küste – eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität aller dort angesiedelten Gemeinden.

Ariana hält in der Küche ihre kleine Tochter im Arm, während der Morgen sich langsam über der Hitze des Herdes ausbreitet. Zehn Jahre nach der Wiederaneignung des Landes, auf die damals eine Offensive krimineller Banden und der Politik mit 34 Ermordeten und sechs Verschwundenen folgte, hält sich die Gemeinde heute stabil, vereint und stark. Sie erbaut sich wieder einen Alltag.

Lakshmi N. Mittal, einer der hundert reichsten Menschen der Welt, konnte bei dem Abkommen mit der Regierung drei Forderungen durchsetzen: erstens, dass das organisierte Verbrechen verschwindet, zweitens: die juristische Zusicherung, die Landflächen nutzen zu können. Und drittens: die Abwesenheit von jeglicher Opposition, seien es Umweltschützer*innen oder indigene Gemeinden. Allein letzteres bedeutet ein ökologisches, soziales und kulturelles Desaster.

Alle machen mit Mehr und mehr nehmen junge Frauen eine entscheidende politische Rolle innerhalb der Gemeinde ein. Ihre Unterstützung der Familien, die für das Land kämpfen, macht sie zu gesellschaftlich handelnden Subjekten. Das geben sie auch an die nachfolgenden Generationen weiter.

Trotz der komplexen Situation ist die Nahua-Gemeinde von Ostula für viele ein Vorbild im Widerstand gegen das organisierte Verbrechen und Megaprojekte. Sie steht für ein Streben nach einem friedlichen Leben, im völligen Einklang mit der Umwelt.
Aktuell konnte Santa María Ostula die Sicherheit ihrer Grundstücke verbessern und andere benachbarte Gemeinden stärken, sodass die Region ein wenig friedlicher (und produktiver) ist.
Auf den wiederangeeigneten Landstücken hat die Gemeinde von Ostula eine Ortschaft gegründet: Xayacalan. Hier werden Papaya, Hibiskus, Melonen, Tamarindenfrucht und Mais gesät – statt Marihuana und Mohn. Statt der heimlichen Massengräber, wie sie von der organisierten Kriminalität geschaffen werden, entsteht etwas Neues.

 

SCHULD SIND IMMER DIE TOTEN

Würde für Minenarbeiter – Forderungen nach Gerechtigkeit und der Bergung der Opfer werden seit Jahren gestellt // Foto: Toño Hernández (CC BY-NC 2.0)

Wie sind Sie da­zu ge­kom­men, im Be­reich der Koh­le­mi­nen zu ar­bei­ten?
Seit 1997 ver­tei­di­ge ich die Ar­beits­rechte von Mi­nen­ar­bei­tern. In den er­sten Jah­ren habe ich für eine kirch­li­che Or­ga­ni­sati­on ge­ar­bei­tet, die aus der Tra­di­ti­on der Be­frei­ungs­theo­lo­gie he­r­aus agier­te. Da­mals kämpf­ten wir da­für, dass Ar­beits­rechte welt­weit als Men­schen­rechte an­ge­se­hen wür­den. Als am 19. Fe­bru­ar 2006 die Koh­le­mi­ne von Pas­ta de Con­chos in Coa­hui­la ex­plo­dier­te, wur­den wir dort­hin be­ru­fen. Uns wur­de ge­sagt, dass ein Un­fall pas­siert sei, Ent­schä­di­gun­gen fäl­lig wür­den und die sterbli­chen Über­res­te der Mi­nen­ar­bei­ter an die An­ge­hö­ri­gen der Op­fer über­ge­ben wer­den müss­ten. Schnell wur­de uns klar, dass es kein Un­fall gewe­sen war. Ziel war es nun, die Ver­ant­wort­li­chen für die Ar­beits­ver­hält­nis­se und den Zu­stand der Mine zu be­strafen. Am 25. Fe­bru­ar ver­öf­fent­lich­ten wir einen Be­richt, in dem wir das Un­ter­neh­men an­klag­ten, nicht die nö­ti­gen Sicherheits­maß­nah­men ge­trof­fen zu ha­ben, um das Un­glück zu ver­hin­dern.

Was passierte nach dem Un­glück mit der Mi­ne?
Pas­ta de Con­chos wur­de im Jahr 2007 ge­schlos­sen und die Ret­tungs­ar­bei­ten für die üb­ri­gen 63 ver­schüt­te­ten Mi­nen­ar­bei­ter wur­den ab­ge­bro­chen. Laut An­ga­ben des Un­ter­neh­mens, das da­bei vom Staat Rücken­de­ckung er­hielt, be­fand sich konta­minier­tes Wasser in der Mine und es wur­de be­hauptet, die Ret­tungs­kräf­te wür­den sich da­durch mit He­pa­ti­tis, Tu­ber­ku­lo­se, HIV und ähn­li­chem an­ste­cken. Das Un­ter­neh­men muss von den Ge­sund­heits­zu­stän­den der sich in der Mine be­fin­den­den Per­so­nen gewusst ha­ben. Wenn die­se krank gewe­sen wä­ren, hät­ten sie sie gar nicht erst in die Mine las­sen dür­fen. Aber so ist es im­mer: Sie wa­schen sich die Hän­de rein und Schuld sind die To­ten. Ich konn­te da­mals nicht glau­ben, dass sie die Ret­tungs­ar­bei­ten wirk­lich ab­ge­bro­chen hat­ten, aber noch we­ni­ger, dass der Staat die Grün­de da­für als le­gi­tim er­achtet hat

Wel­che wa­ren Ih­rer Mei­nung nach die wah­ren Grün­de da­für, dass die Ret­tungs­ar­bei­ten ab­ge­bro­chen wur­den?
Rück­bli­ckend sind mir zwei Din­ge auf­ge­fal­len. Er­stens: 2006 öff­ne­te sich der Koh­le­berg­bau ge­gen­über aus­län­di­schen In­ves­ti­tio­nen, be­son­ders aus Ka­na­da. Der Staat hat­te also kein In­ter­es­se dar­an, ein Berg­bau­unter­neh­men zu be­strafen. Bei uns den­ken die Regie­ren­den, dass Gerech­tig­keit die In­ves­toren ver­schreckt. Zweitens: Der Fall von Pas­ta de Con­chos ist der er­ste in der Ge­schich­te des me­xi­ka­ni­schen Koh­le­berg­baus, in dem die For­de­rung nach Be­stra­fung der Ver­ant­wort­li­chen laut gewor­den ist. Bis dato wa­ren in den Koh­le­mi­nen Coa­hui­las seit dem Jahr 1900 schon etwa 3.000 Ar­bei­ter ge­stor­ben und niemals hat­te je­mand die Grün­de da­für hin­ter­fragt oder Gerech­tig­keit ge­for­dert. Wenn Gru­po Mé­xi­co also die sterbli­chen Über­res­te an die Hin­ter­bliebe­nen über­ge­ben hät­te, hät­te das Un­ter­neh­men sei­ne Ver­ant­wort­lich­keit ak­zep­tiert. Mit die­sem Druck kon­fron­tiert, ha­ben sie sich dage­gen ent­schie­den und die An­ge­hö­ri­gen sich selbst über­las­sen. Die Mi­nen­ar­bei­ter, die ur­sprüng­lich mit der Ber­gung be­auf­tragt wor­den wa­ren, füh­len sich bis heu­te schul­dig, die Frus­tra­ti­on und die Wut hält auch bei ih­nen an. Seit dem Gut­achten der In­ter­a­me­ri­ka­ni­schen Men­schen­rechts­kom­missi­on gibt es Auf­schwung in der Regi­on, die dort an­säs­si­gen Mi­nen­ar­bei­ter wol­len die Kör­per un­be­dingt ber­gen.

Was ge­nau be­sagt das Gut­ach­ten der CIDH?
Die CIDH hat den Fall von Pas­ta de Con­chos an­ge­nom­men und fest­ge­stellt, dass nicht nur die Rechte auf Le­ben, kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit der Mi­nen­ar­bei­ter und ju­ris­tischen Schutz der Fa­mi­li­en ver­letzt wur­den, son­dern auch wir­t­schaft­li­che, so­zia­le und kultu­rel­le Rechte. Das Gut­achten der Kom­missi­on be­zieht sich so­wohl auf die Koh­le­mi­nen­ar­bei­ter, als auch auf die Ge­samt­heit der Mi­nen­ar­bei­ter in Me­xi­ko. Ich glau­be, dass nun wich­ti­ge Fort­schrit­te gemacht wer­den. Die neu ent­stan­de­ne Mög­lich­keit der Ber­gung in Pas­ta de Con­chos wird hof­fent­lich da­für sor­gen, dass die gan­ze Welt auf Coa­hui­la schauen wird und dar­auf, was Me­xi­ko, aber auch Ka­na­da und die ex­trak­ti­vis­tischen Un­ter­neh­men im Berg­bau an­stel­len.

Bis heu­te wur­de nie­mand für das Un­glück in Pa­sta de Con­chos be­straft?
Nein. Auch dann, wenn wir auf Kin­der­ar­beit und Ar­bei­ter ohne Ver­siche­rung hin­wei­sen, wird nie­mand be­straft. Die Un­ter­neh­men sa­gen zu mir: „Du kannst stram­peln so viel du willst, ich be­zah­le 170.000 Pe­sos und ma­che weiter wie bis­her.“ So­viel kos­tet ein to­ter Mi­nen­ar­bei­ter. Sie glau­ben, dass es da­mit be­ho­ben ist. Es über­rascht mich, dass im­mer wie­der er­mit­telt wird, doch die Ver­fah­ren ab­ge­bro­chen wer­den, be­vor ein Ur­teil ge­fällt wird. Als Un­ter­neh­men kannst du sa­gen: „Hier ist die Re­para­ti­ons­zah­lung. 170.000 Pe­sos.“

Und das Geld be­kom­men die Fa­mi­li­en?
“Das Geld wird den Rich­tern in Coa­hui­la über­ge­ben, die den Fall dann ohne Ur­teil schlie­ßen. Es ist kei­ne ech­te Straf­tat, Mi­nen­ar­bei­ter zu tö­ten. Es wird als ein Un­fall an­ge­se­hen, ohne Vor­satz. Sie zah­len also für ein ver­se­hent­li­ches Tö­tungs­de­likt. Die Akte wird ge­schlos­sen, dem Un­ter­neh­men wird ver­ge­ben und die Li­zenz kön­nen sie be­hal­ten. Nur wenn wir einen großen Skan­dal dar­aus ma­chen, pas­siert et­was. Wenn es nur um eine tote Per­son geht, pas­siert gar nichts. Das ge­hört zu den per­ver­ses­ten Din­gen auf die­ser Welt.”

Wie wur­de die Or­ga­ni­sa­ti­on Fa­mi­lia Pa­sta de Con­chos ge­grün­det, in der Sie heu­te ar­bei­ten?
Die Or­ga­ni­sati­on hat sich ganz or­ga­nisch und selbst­stän­dig ent­wi­ckelt. Im Jahr der Tra­gö­die be­merk­ten wir, dass der Staat nur die Wit­wen und Wai­sen als Op­fer der Ver­schüt­te­ten ak­zep­tier­te, nicht je­doch die El­tern oder Ge­schwis­ter. Wir gin­gen also in die Fa­mi­li­en hi­n­ein und zähl­ten die di­rek­ten An­ge­hö­ri­gen. Am An­fang hat­ten wir eine Lis­te von 350 Per­so­nen und be­gan­nen, von der Fa­mi­lie Pas­ta de Con­chos zu spre­chen, in der alle Be­trof­fe­nen ein­be­zo­gen wur­den. Da auch in an­de­ren Mi­nen im­mer wie­der Per­so­nen star­ben, wur­den wir zu ei­ner Or­ga­ni­sati­on, die sich auch um an­de­re Fäl­le küm­mer­te.

Wel­che Mi­nen ste­hen heu­te im Fo­kus und wie geht die Or­ga­ni­sa­ti­on vor?
Ich den­ke, dass alle Mi­nen im Fo­kus ste­hen. Die Leu­te der Or­ga­ni­sati­on sind über­all vor Ort. Wir be­nut­zen ein gut funk­tio­nie­ren­des Not­fall­pro­to­koll, aber vor al­lem ar­bei­ten wir an der Prä­ven­ti­on. Das ist der große Bei­trag der Or­ga­ni­sati­on in der Berg­bau­regi­on. Wir be­nach­rich­ti­gen die Fa­mi­li­en und die Berg­bau­ar­bei­ter, wenn wir glau­ben, dass an ei­ner be­stimm­ten Stel­le ein Ri­si­ko be­steht, das töd­li­che Fol­gen ha­ben kann. Seit 2013 ha­ben sich so die To­des­fäl­le um 97 Pro­zent ver­ringert.

Sie wer­den un­ter an­de­rem von pbi in Ih­rer Ar­beit ge­schützt. Was be­deu­tet das für Sie?
Ich wer­de seit Juni 2007 durch Vor­sichts­maß­nah­men ge­schützt, also schon seit ei­nem Zeit­punkt, als der Me­chanis­mus zum Schutz von Men­schen­rechts­ver­tei­di­gern und Jour­na­lis­ten der Regie­rung, von dem ich heu­te auch Teil bin, noch gar nicht exis­tiert hat. Mög­li­cher­wei­se ge­hö­re ich zu den Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­rin­nen, die am längs­ten ge­schützt wer­den. Die­ser Me­chanis­mus, der un­ter an­de­rem von der EU fi­nanziert wird, er­scheint mir al­ler­dings we­nig sinn­voll, weil sie nicht auf­pas­sen. Ich konn­te be­wei­sen, wer al­les Kam­pa­gnen ge­gen mich fährt und mich be­droht, aber es ist nichts pas­siert. Ich fin­de es ab­surd, dass der Staat mit ei­nem Arm den Koh­le­berg­bau för­dert und mit dem an­de­ren Vor­sichts­maß­nah­men trifft, die den Men­schen­rechts­ver­tei­di­gern hel­fen sol­len, die wie­der­um von den Ent­schei­dun­gen des sel­ben Staa­tes in Be­zug auf den Berg­bau be­trof­fen sind. Pbi be­glei­tet mich schon seit 2014. Das war das Jahr, in dem wir he­r­aus­fan­den, dass vie­le der Un­ter­neh­mer im Koh­le­berg­bau Politiker der da­ma­li­gen Regie­rungs­par­tei PRI wa­ren. Ich kann sa­gen, dass ich dank pbi noch am Le­ben bin. Die Un­ter­neh­men und Politiker füh­len sich von ei­ner in­ter­na­tio­na­len In­stanz be­ob­achtet, die niemals Teil von ih­nen sein wird.

Sie sind bis heu­te am Un­glück­sort von Pa­sta de Con­chos ge­blie­ben. Warum?
Es ist ein häss­li­cher Ort. Als ich an­kam, sag­te ich zu mir selbst: Nicht im Traum wer­de ich hier le­ben. Nun lebe ich seit neun Jah­ren dort. Jetzt ge­fällt es mir sehr gut, vor al­lem we­gen der Leu­te, mit de­nen ich zu­sammen­ar­bei­te. Koh­le­mi­nen­ar­bei­ter ha­ben die Fä­hig­keit, je­den Mo­ment zu ge­nie­ßen, weil sie nicht wissen, ob sie morgen ster­ben wer­den.

Vie­le Frau­en im Be­reich des Berg­baus agie­ren als Wit­wen von ver­stor­be­nen Mi­nen­ar­bei­tern. Gibt es auch Frau­en, die in den Mi­nen ar­bei­ten?
Nein, au­ßer mir kom­men kei­ne Frau­en in die Mi­nen hi­n­ein. Die­se Ar­beit war schon frü­her Männer­sa­che und ist es auch heu­te noch. Der Koh­le­berg­bau ist ein un­glaub­lich ma­chis­tisches Me­tier, denn das Ri­si­ko selbst ist mit klas­sisch männ­li­chen At­tri­bu­ten ver­bunden. Für vie­le Männer ist es sehr schwie­rig zu sa­gen, dass sie nicht in die Mine wol­len, weil sie Angst ha­ben. Heu­te ist es so, dass nicht nur die Wit­wen, son­dern auch die Frau­en und Töch­ter von Mi­nen­ar­bei­tern über die Sicherheit in den Mi­nen spre­chen. Wenn sie bei­spiels­wei­se se­hen wie der Va­ter, der kei­ne Ver­siche­rung be­sitzt, ver­letzt aus der Mine kommt, schi­cken sie mir eine Nach­richt. Frau­en ha­ben be­gon­nen, sich tech­ni­sches Wissen an­zu­eig­nen, um fest­zu­stel­len, ob eine Mine ein Sicherheits­ri­si­ko dar­stellt. Dies setzt den Sek­tor enorm un­ter Druck. Mitt­ler­wei­le ist es nor­mal, dass auch die Mi­nen­ar­bei­ter un­ter­ein­an­der und mit ih­ren Fa­mi­li­en über das The­ma Sicherheit spre­chen. Sie ha­ben ver­stan­den, dass sie so oder so in der Mine ar­bei­ten wer­den, aber dass sie Druck aus­üben kön­nen, um ihre Kon­di­tio­nen zu ver­bes­sern.

FRIEDEN RÜCKT IN WEITE FERNE

Der Druck auf die Regierung von Präsident Iván Duque wächst. Bäuer*innenverbände, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Organisationen hatten am 25. April zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Protestaktionen richten sich gegen den nationalen Entwicklungsplan der Regierung Duque, der Tage später, am 3. Mai, dennoch vom Senat bewilligt wurde. Tausende Menschen versammelten sich auf dem Bolívar-Platz im Herzen Bogotás, wo es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam. Elf Menschen wurden verletzt, 33 verhaftet. Die Arbeit von Journalist*innen wurde von Einheiten der mobilen Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD) behindert. Zwei Fotografen der kolumbia­nischen Presseagenturen Colprensa und Efe wurden von der ESMAD angegriffen.
Während die politischen Vorhaben der rechtskonservativen Regierungspartei CD das Land weiter polarisieren, rückt der Frieden in weite Ferne. Der Nationale Entwicklungsplan, ein Fahrplan der Regierung für die nächsten vier Jahre, hat zum Ziel, soziale Ungleichheiten unternehmerisch zu bekämpfen. Doch der als „Pakt für Kolumbien, Pakt für Gerechtigkeit“ getaufte Plan erinnert an die Politik des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez und sät große Zweifel an der Bereitschaft der jetzigen Regierung, das Friedensabkommen mit den entwaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) umzusetzen.

Wie kann Frieden hergestellt werden, wenn anstatt in Bildung in Verteidigung investiert wird?

So wie damals unter Uribe werden im Fahrplan der Regierung Duque Probleme wie Auslandsverschuldung, Ankurbelung von Wirtschaftswachstum und Fragen der Sicherheit in den Vorder­grund gestellt. Doch wie kann Frieden hergestellt werden, wenn in die Agrarindustrie anstatt in die kleinbäuerliche Landwirtschaft, wenn anstatt in Bildung in Verteidigung investiert wird?
Mit den Studierendenprotesten Ende vergangenen Jahres wurde die vielschichtige Krise in den Bildungsinstitutionen angeprangert, die jedoch mit dem Entwicklungsplan nicht gelöst wird. Darin werden sieben sehr allgemeine Ziele für Bildung genannt, aber „der Plan vermeidet eine tiefere Diskussion über das Hauptproblem im Bildungssektor – die Unterfinanzierung“ so Politikwissenschaftler Ángel Pérez im Wirtschafts­magazin Dinero. Auch im neuen Entwicklungs­plan sind den Zielen keine Finanzierungen zugeordnet. Es wird befürchtet, dass Schulen und Universitäten privatisiert werden, was die Wut der Studierenden weiter wachsen lässt. Auf den Demonstrationen am 25. April forderten die Studierenden, dass die Regierung sich an Abkommen hält, die im Dezember 2018 nach einem 65-tägigen Streik der Studierenden ausgehandelt worden waren. Vergeblich warten sie noch auf die 1,34 Millarden Pesos, die den öffentlichen Hochschulen zur Verfügung gestellt werden sollten.
Die sogenannte economía naranja, wie Präsident Duque die kolumbianische Kreativindustrie nennt, wird im Entwicklungsplan besonders hervorgehoben und zielt auf einen kulturellen Wandel in Kolumbien. Die „orangene Wirtschaft“ will Projekte von Kreativen und Tourismus fördern. Mit Krediten und Steuervergünstigungen sollen bildende Künste, Musikszene und Filmproduktion gestärkt werden. Auch soll in kulturelle Einrichtungen und in Schulbücher investiert werden. Was sich jedoch als Fortschritt anhört, entpuppt sich als widersprüchlich. Denn vor allem sollte Kunst und Kultur für die Menschen mit niedrigem Einkommen zugänglicher werden, es ist aber, „als ob nur die Leute der höheren Klasse ein Recht auf Unterhaltung hätten“, sagte der Unternehmer und Konzertveranstalter Ricardo Leyva gegenüber dem Kulturmagazin Arcadia im vergangenen November. Denn mit dem Finanzierungsgesetz der Regierung Duque (siehe LN 533) wurde unter anderem die Steuer auf Internet, Bücher und Konzertkarten erhöht.
Der Fokus des nationalen Entwicklungsplans auf die economía naranja bedeutet nicht, dass der Rohstoffsektor seine Stellung als Antriebskraft der kolumbianischen Wirtschaft verlieren wird. Elf Prozent der im Plan vorgesehenen Gelder sollen dem Ministerium für Bergbau und Energie zugute kommen. Auch Fracking wurde durch das Unterhaus in den Entwicklungsplan aufgenommen, noch muss der Senat entscheiden, ob die umstrittene Methode für Gasgewinnung in Kolumbien angewendet wird. Zurzeit laufen drei Fracking-Pilotprojekte in Kolumbien.

Die Regierung verpasst die Chance, die ländliche Entwicklung voranzutreiben

Für Kleinbauern und -bäuerinnen dürfte vor allem der kleine Etat für sie ein Dorn im Auge sein.
Das Budget für den Agrarsektor fällt dagegen klein aus. Zwei Prozent der Gelder sind für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vorgesehen, was in Zeiten des Post-Konflikts den Kleinbauern und -bäuerinnen ein Dorn im Auge sein dürfte. „Der nationale Entwicklungsplan zeigt, dass der Landverteilung, der Gesundheit, der Bildung in ländlichen Regionen, der Stromversorgung und weiterer nötigen Infrastruktur für die Verbesserung unserer Produktivität die Finanzierung entzogen wird“ schreibt Andrés Gil, Präsident von ANZORC, einer nationalen Vereinigung von Organisationen von Kleinbäuer*innen, in der Zeitung El Espectador.
Für den Landwirtschaftsminister Andrés Valencia sind Kritik und Proteste nicht gerechtfertigt. Im Interview mit dem Online Portal Agronegocios behauptet er, dass die Regierung eng mit Bauern und Bäuerinnen zusammenarbeite, um die Situation im ländlichen Raum zu verbessern. Doch dem widersprechen zivilgesellschaftliche Netzwerke wie ANZORC, die Cumbre Agraria (alternativer Agrargipfel) oder selbst die Minga (gemeinschaftliche indigene Protestorganisation), welche noch darauf warten, dass die Regierung sich an Verhandlungen beteiligt oder bereits ausgehandelte Abkommen aus dem vergangenen Jahr erfüllt. „Es ist inkohärent, dass sich die Regierung über die Proteste auf den Landstraßen wundert, wenn sie weiterhin die Wege für den Dialog versperrt“, erklärt ANZORCs Präsident Gil. Es kommt hinzu, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsplan und der Implementierung des Friedensabkommens mit der FARC gibt. Statt die historische Chance anzunehmen, die der Friedensvertrag bietet, um die landwirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, habe sich die Regierung Duque für den Weg der Polarisierung und Marginalisierung des ländlichen Kolumbiens entschieden, so Gil.
Ein weiteres Anliegen der Protestaktionen in der Hauptstadt war die gravierende Situation für Menschenrechtsaktivist*innen in Kolumbien. Dafür wurde ein humanitärer Zufluchtsort in Bogotá eingerichtet, wo zweitausend Menschenrechtsaktivist*innen die Gefahren sichtbar machen wollen, denen sie in ihrer Arbeit ausgesetzt sind. Letztes Jahr wurden 160 Menschenrechtsaktivist*innen getötet, ein Mord jeden zweiten Tag.

 

DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 

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