Nicaragua | Nummer 593 - November 2023

Schutzlos vor dem Neo-Extraktivismus

Interview mit Amaru Ruíz von der nicaraguanischen Umweltorganisation Fundación del Río

Seit 30 Jahren kämpft die Fundación del Río als Nichtregierungsorganisation für den Erhalt der Artenvielfalt und die nachhaltige Entwicklung in den Biosphärenreservaten im Südosten Nicaraguas. Die LN sprachen im September mit Amaru Ruíz über die verzweifelte Lage der indigenen und afro-deszendenten Gemeinschaften, deren Lebensraum durch illegale Landnahme, Gewalt und Bergbau zunehmend bedroht ist.

Interview: Elisabeth Erdtmann

Der Sitz der Fundación del Río, deren Präsident Sie sind, befindet sich jetzt − wie der Großteil der nicaraguanischen Diaspora − in Costa Rica. Was ist nach dem Verlust des Rechtsstatus und der Konfiszierung des Vermögens von der Organisation geblieben?
Die Arbeit der Umweltorganisation wurde willkürlich eingestellt, nachdem sie im Dezember 2018 durch das Ortega-Regime aufgelöst wurde. Einer der Gründe für die Auflösung war, dass die Organisation einen absichtlich gelegten Brand im Naturschutzgebiet Indio Maíz öffentlich angeprangert hatte. Auch im Fall des Interozeanischen Kanalprojekts, das weder aus ökologischer noch aus sozialer Sicht tragfähig war, hat die Stiftung Kritik geäußert. Beide Positionen führten dazu, dass das Regime uns als oppositionelle Akteure betrachtete. Mit der Auflösung haben wir mehr als 22 Grundstücke in Schutzgebieten, Herbergen, Büros und zwei kommunale Radios verloren. Außerdem musste leider auch ich ins Exil gehen, da mir ein Gerichtsverfahren drohte.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit im Exil?
Zunächst begann eine Phase der Reorganisation, um die Arbeit vom Exil aus weiterzuentwickeln. Die Organisation besaß früher drei Büros, verteilt über das gesamte Departement Río San Juan, und verfügte über die Kapazitäten, um bäuerliche, indigene und afro-deszendente Gemeinschaften zu unterstützen und zu begleiten. Durch die Auflösung und die Enteignung unserer Vermögenswerte sind diese Kapazitäten verlorengegangen. Unsere Arbeit wurde neu definiert: Wir sind in den Gebieten nicht mehr so präsent wie früher. Stattdessen sind dort indigene und bäuerliche Gemeinschaften aktiv, die weiterhin an die Arbeit der Organisation glauben. Das bedeutet, dass wir dank ihres Engagements weiterhin überwachen und dokumentieren können, was in Indio Maíz und den anderen indigenen und afro-deszendenten Gebieten geschieht. Mit Hilfe neuer Technologie können wir Waldbrände und das Ausmaß der Abholzung in den Schutzgebieten des Landes überwachen. Diese neue Art zu arbeiten hat es uns ermöglicht, weiterzumachen.
Wir haben auch begonnen, mit den aus Nicaragua vertriebenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften zu arbeiten, die heute im Norden Costa Ricas leben. So können wir die Nicaraguaner unterstützen, die es besonders schwer haben.

Warum sind Naturschutzgebiete und die Lebensräume der indigenen Gemeinschaften heute durch illegale Besiedlung und Ausbeutung ihrer Naturreserven stärker bedroht denn je?
In Nicaragua gibt es sieben indigene Volksgruppen und zwei afro-deszendente Gemeinschaften. Die meisten von ihnen, die ihre Kultur noch bewahren, befinden sich an der Karibikküste. Die Gebiete mit den größten Konflikten liegen in der nördlichen Karibikregion. In der südlichen Region, wo die Rama- und Kriol-Gemeinschaften von Bluefields ansässig sind, gibt es weniger Konflikte. Im Jahr 2011 wurden dort die ersten Vorstöße von Siedlern in indigene Gebiete gemeldet. Aber über die Invasionsprozesse in der nördlichen Karibik, insbesondere in den Gebieten der Miskito und Mayanga, wird schon seit 2005 berichtet. Doch war dieser Prozess nicht so massiv, es wurden nicht so viele Menschen getötet wie heute. Dieses neue Ausmaß ist auf das vom Ortega-Murillo-Regime seit 2007 geförderte neo-extraktivistische Modell zurückzuführen. Es zielt darauf ab, die natürlichen Ressourcen zu gewinnen, die von wirtschaftlichem Interesse sind.
Die indigenen Territorien an der nördlichen und südlichen Karibikküste sind die reichsten Gebiete des Landes. Vor allem, weil die dort lebenden Gemeinschaften sie bewahrt haben: Dort sind die meisten natürlichen Wälder zu finden, es gibt die größte biologische Vielfalt, die Niederschlagsmengen sind höher und es leben weniger Menschen dort. Es besteht ein öffentliches politisches Interesse, den neo-extraktivistischen Prozess in diesen Regionen zu fördern.

Was bedeutet das?
Klassischer Extraktivismus liegt vor, wenn sich ein Unternehmen mit inländischem oder meist ausländischem Kapital in Gebieten niederlässt, um eine natürliche Ressource zu gewinnen, etwa um Ölpalmen anzubauen, Bananen oder Produkte, die auf dem internationalen Markt verkauft werden. Beim klassischen Extraktivismus ist der Einfluss des Staates wie ein Regulierungsorgan. Er greift nicht in das Geschäft ein, sondern versucht, den Geschäftsprozess zu regulieren und zu kontrollieren, damit bestimmte Parameter eingehalten werden. Außerdem werden die Ressourcen ohne jegliche Verarbeitung geplündert. Mit anderen Worten: Die ausgeführten Produkte haben keinen Mehrwert.
Beim Neo-Extraktivismus ist die Beteiligung des Staates oder von Gesellschaften, die mit den Regierenden in Verbindung stehen, wesentlich stärker. Es werden staatliche Unternehmen und öffentlich-private Partnerschaften gegründet, die die ebenfalls Ressourcen ausbeuten. Oder es werden neue Unternehmen gegründet, die mit der Macht oder den Familien verbunden sind, die politische Positionen besetzen. Was wir im Fall Ortega-Murillo sehen, ist der Wechsel vom extraktivistischen Modell der neoliberalen Regierungen zu einem neo-extraktivistischen Modell mit einer Verbindung zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen in diesen Gebieten. Dies hat zu einem großen Druck auf die natürlichen Ressourcen und auf die Schutzgebiete selbst geführt.

Was sind die Hauptursachen für die Gewalt in den indigenen Gebieten?
Der industrielle Bergbau ist auf dem Vormarsch, ebenso der handwerkliche, so dass viele der Konflikte in den indigenen Territorien auf den Bergbau zurückzuführen sind. Siebzig Prozent der Bergbauprodukte werden vom industriellen und dreißig Prozent vom handwerklichen Bergbau produziert. Beide sind jedoch miteinander verbunden, da der Gewinn des Goldes aus dem handwerklichen Bergbau an die Minenunternehmen verkauft wird, die das Gold exportieren. Dies hat viele Menschen dazu gebracht, in diese Gebiete einzudringen, um die Ressourcen zu plündern. An genau solchen Orten entstehen die Konflikte.
Der Staat hat die Verpflichtung, die territoriale Sicherheit der indigenen Gemeinschaften zu garantieren, da es sich um per Rechtstitel anerkannte Territorien handelt. Mindestens 23 Gebiete sind infolge indigener Kämpfe bereits an die Gemeinschaften überschrieben worden. Allerdings hat die Regierung die Legalisierungsphase – die letzte Phase des Titulierungsprozesses – nicht eingehalten. Diese Phase umfasst die Kontrolle der Menschen, die sich in diesen Gebieten aufhalten. Sollte die indigene Gemeinschaft zu dem Schluss kommen, dass Personen sich unbefugt dort aufhalten, dann muss die Regierung dafür sorgen, dass diese das Gebiet verlassen, da sie in ein geschütztes Territorium eindringen. Das ist jedoch nie geschehen.
Daher haben indigene und afro-deszendente Gemeinschaften damit begonnen, ihr Territorium selbst zu verteidigen – natürlich nicht mit den gleichen Möglichkeiten, die der Staat zur Verfügung hat. Das hat dazu geführt, dass die Waldhüter der Gemeinden zu den Hauptangriffszielen wurden, denn sie sind diejenigen, die diese Gebiete überwachen, Verstöße dokumentieren und melden. Seit 2005 haben wir mehr als 75 Morde erlebt. Allein in diesem Jahr wurden acht Waldhüter und Gemeindevorsteher ermordet, die sich Menschen widersetzt haben, die unrechtmäßig in ihr Gebiet eingedrungen sind.

Heißt das, dass die Eindringlinge bewaffnet sind?
Nicht alle sind bewaffnet. Viele dieser Eindringlinge haben sich bewaffnet, um sich mit Gewalt durchzusetzen. Das Regime hat sie als kriminelle Banden bezeichnet, man wollte nicht anerkennen, dass es sich um Paramilitärs handelt, um Leute, die mit Gewalt diese Gebiete besetzen und die natürlichen Ressourcen plündern.

Gibt es noch weitere Akteure in den indigenen Territorien?
Ja, die extensive Viehzucht breitet sich zunehmens aus und führt heute am stärksten zur Entwaldung im Land. Viele dieser Viehzuchtbetriebe haben von einer für sie günstigen öffentlichen Politik profitiert, weil sie neue Märkte erschlossen und Finanzierungen erhalten haben. Dieses Modell hat dazu geführt, dass der Druck auf die Bevölkerung in den indigenen Territorien aufgrund wirtschaftlicher Interessen zu Lasten ihrer Rechte enorm zugenommen hat. Aber nicht nur das, es gibt noch andere Interessen, etwa der illegale Bodenhandel oder der Handel mit nativen Tier- und Pflanzenarten aus diesen Regionen. Da es sich um Gebiete mit hohen Niederschlagsmengen handelt, die die Ölpalme benötigt, spielen auch diese kommerziellen Interessen eine Rolle.

Wie bewerten Sie die Wirtschaftssanktionen der internationalen Gemeinschaft gegen Nicaragua?
Wer Nicaragua wirklich beeinflussen kann, ist der wichtigste Exportmarkt unseres Landes – die USA. Die wichtigsten Produkte sind Gold und Fleisch. Der größte Teil des Fleischmarktes sowie der größte Teil des Goldes geht in die Vereinigten Staaten, der zweitgrößte Goldanteil in die Schweiz, Leder geht nach Europa. Die Maßnahmen sollten entschiedener sein, vor allem bei einigen Produkten der Wertschöpfungsketten in den Händen der Diktatur. Mit einem Viertel der Wirtschaftssanktionen, die sie gegen Russland verhängt haben, hätten sie morgen jedes Abkommen mit Ortega unterzeichnen können. Es besteht also kein wirkliches Interesse daran, eine Diktatur zu stürzen: Auf politischer Ebene kritisiert man zwar die Menschenverletzungen und spricht von einer Diktatur, aber auf Handelsebene macht man gerne Geschäfte mit Ortega. Aus meiner Sicht ist das eine widersprüchliche Politik.

AMARU RUIZ

ist Präsident der Fundación del Río, einer nicaraguanischen Nichtregierungs- und Umweltorganisation, die sich für die Erhaltung der biologischen Vielfalt und die nachhaltige Entwicklung in den Biosphärenreservaten von Río San Juan einsetzt. Im Dezember 2018 wurde die Stiftung ihres rechtlichen Status beraubt und ihre Liegenschaften beschlagnahmt.

Foto: Elisabeth Erdtmann

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren