“Unsere Leben implodieren”

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In 20 Jahren stark gewachsen Das Kollektiv YoNoFui begann mit einem Poesieworkshop und bietet heute Unterstützung in zahlreichen Bereichen an (Foto: YoNoFui)

Wir treffen uns einen Tag nach dem brutalen Anschlag auf vier Lesben – Pamela, Roxana, Andrea und Sofía – im Stadtteil Barracas von Buenos Aires. Wie lässt sich dieser Anschlag in der gegenwärtigen politischen Situation erklären?

Dieser spezifische Fall zeigt, wie die Hassreden der Regierung von Milei später konkrete praktische Auswirkungen haben. Wir halten es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Reden nicht erst von dieser Regierung stammen. Sie brodelten schon länger unter der allgemeinen Oberfläche, aber jetzt gibt es eine Legitimation von höchster institutioneller Ebene, diese expliziten Grausamkeiten auch auszuüben. Und das ist definitiv gefährlich. Die derzeitige Regierung ist erklärtermaßen antifeministisch und gegen dissidente Körper. Letzte Woche hat einer von Mileis Biografen gesagt, dass Homosexualität von linken Parteien finanziert sei.
Aber wir leisten auch Widerstand: Gestern gab es eine Versammlung von etwa 400 Lesben aus verschiedenen Teilen des Landes, um zu besprechen, was zu tun ist. Die Situation ist sehr kompliziert, aber sie hat gerade erst begonnen. Unsere Leben implodieren. Jeden Tag gibt es Nachrichten aus dem nahen Umfeld, die uns umhauen. Die Krise der mentalen Gesundheit, in der wir uns aktuell wiederfinden, wirft viele Fragen auf, etwa wie wir gegen diesen Krieg ankämpfen können, der nicht nur kulturell und ökonomisch, sondern auch emotional geführt wird.

Aber mit diesen Hassreden hat Milei doch Wahlkampf gemacht. Wie erklärt ihr euch, dass ihn so viele Menschen gewählt haben?

Es gibt nicht eine einzige Antwort, sondern viele Gründe. Wir beobachten eine Veränderung in den Subjektivierungsprozessen, die sich nach der Pandemie verstärkt haben. Dabei gehen historische, geteilte Erfahrungen verloren, die dazu geführt haben, dass wir heute stehen, wo wir stehen. Zum Beispiel, dass wir ein Land sind, das Prozesse der Bildung und des Kampfes um eine historische Erinnerung hat oder hatte. Wir dachten, dies sei eine feste Säule der Gesellschaft, aber uns wurde klar, dass sie sehr fragil ist.
Als Teil einer Selbstkritik glauben wir, dass dies mit einer Omnipotenz der Menschenrechtsbewegungen und der linken Bewegungen zu tun hat, die einige Diskussionen bereits für erledigt hielten, anstatt sie zu radikalisieren. Ökonomisch hat der Kirchnerismus einen großen Teil der Bevölkerung über Konsum integriert – mit dem ganzen neoliberalen Ballast. Letztlich war es aber kein „wir konsumieren alle“ als Modus einer Umverteilung von Reichtum, denn es gab gleichzeitig viele Menschen in sehr prekären Situationen, denen es schlecht ging. Die Kluft hat sich weiter vergrößert. Jetzt ist es offensichtlich schlimmer. Die Mittelschicht hat noch nie derartige Verluste erlebt.

Bevor wir zu dieser Selbstkritik kommen: Könnt ihr uns mehr über YoNoFui erzählen?

YoNoFui entstand im Jahr 2002 aus einem Poesieworkshop, den María Medrano, eine unserer Genoss*innen, im Gefängnis von Ezeiza gegeben hat. Dort sind wir auf die Schwierigkeiten gestoßen, die jemand hat, der*die die Freiheit wiedererlangt. Es gab keine öffentliche Politik für die Zeit nach der Inhaftierung. Also begannen wir, uns zu treffen und Workshops an verschiedenen Orten zu veranstalten. Das Kollektiv wurde größer, es vergingen mehr als 20 Jahre. Heute sind wir ein Kollektiv mit verschiedenen Bereichen. In unserem Gemeinschaftshaus befindet sich die Kooperative mit verschiedenen Produktionseinheiten: Textil, Buchbinderei und Siebdruck. Dann gibt es noch die neuste Produktionseinheit für Ästhetik und Körperpflege mit dem Namen „Bell, jede Schönheit ist Politik“, die sich in unseren anderen Räumlichkeiten im Stadtteil Palermo befindet. Hier im Gemeinschaftshaus in Flores hast du die Anti-Knast-Bibliothek. Wir machen auch Bücher, wir haben einen Verlag. Unser Kollektiv ist ja aus einem Poesieworkshop hervorgegangen – es gibt also etwas an der Sprache, das uns stetig herausfordert zu hinterfragen.
Ein weiterer Bereich des Kollektivs ist der Segundeo. Das ist ein bisschen schwierig zu erklären. Hier auf der Straße sagt man primerear, um sich vor jemanden zu stellen, als ob man konkurrieren würde – ohne, dass dir der*die andere etwas ausmacht. Stattdessen meint segundear zusammen gehen. Es ist sozusagen das Gegenteil von primerear. Segundeo zeigt auch die Art, wie wir uns im Laufe der Zeit umbenannt haben: Am Anfang haben wir „soziale Unterstützung“ gesagt, dann „Begleitung“ und heute macht der Begriff Segundeo für uns mehr Sinn, denn Segundeo ist eine Praktik der Gegenseitigkeit, zu zweit, des gemeinsamen Werdens darin, es ist eine ganz bestimmte Haltung, die wir sehr schätzen.

Was heißt das in der konkreten Praxis?
Segundeo hat mehrere Instanzen. Im juristischen Segundeo haben wir aktuell Genoss*innen, die aus ihrer Zeit im Gefängnis viel juristische Erfahrung haben, und vier antikarzerale und abolitionistische (Strömungen, die sich für die Überwin­dung von Institutionen staatlicher Gewalt wie Gefängnissen einsetzen, Anm. d. Red.) Anwält­*innen. Gemeinsam verfolgen wir die Fälle der Genoss­*innen. Wir haben auch Ansätze der kollektiven Mediation. Wir sind ein Kollektiv und auch hier gibt es Konflikte. Mit dem Segundeo versuchen wir dafür Lösungen zu finden, die weder strafend noch sanktionierend sind. Einen anderen Segundeo nennen wir „Autonomie und Selbstverwaltung des Alltagslebens“: staatliche Beihilfen beantragen, einen Lebenslauf erstellen, Orte zum Wohnen suchen und das Alltagsgeschäft des Gemeinschaftshauses verwalten. Nach der Pandemie haben wir gesehen, dass es einen großen Bedarf an Raum für psychische Gesundheit gab. Deshalb haben wir auch noch den Segundeo für mentale Gesundheit eröffnet. Hier haben wir Raum für Gruppen- und individuelle Betreuung. Wir arbeiten ausgehend von einer Idee, die sich vielleicht gegen die hegemoniale Vorstellung richtet, die Gesundheit nur im Sinne von individuellem Wohlbefinden und Glück versteht.
Obwohl wir seit sehr vielen Jahren Erfahrungen mit Kunst- und Handwerksworkshops sammeln, haben wir erst dieses Jahr unsere Schule für Kunst, Handwerk und politisches Experimentieren eröffnet. Wir sind sehr verliebt in dieses pädagogische und politische Projekt, weil wir unseren Raum für die Community öffnen und etwas sehr Lebendiges entsteht, ein Zufluchtsort in einem so komplexen Moment. Es sind 70 Personen eingeschrieben und fast alle sind queer.

Ihr habt die Selbstkritik in diesen Zeiten schon angesprochen. Vielleicht etwas allgemeiner: Mit welchen Problemen seid ihr heute konfrontiert?

Wir sind der Meinung, dass wir immer noch nicht genügend berücksichtigen, welche Auswirkungen das Gefängnis auf jegliche Bindungen in unserem täglichen Leben hat. Nicht nur, ob du im Gefängnis warst oder nicht. Da gibt es etwas, das gesellschaftlich geleugnet wird, etwas in den prak­tischen und alltäglichen Auswirkungen unseres Umgangs miteinander, das als ständige Bedrohung mit uns lebt wie ein Gerücht, das nicht verstummt.
Eine weitere Herausforderung, der wir uns zu stellen versuchen, ist die Notwendigkeit, eine Sprache zur Abschaffung der Gefängnisse aus südamerikanischer Perspektive oder aus dem Globalen Süden zu schaffen. Denn alle Vorstellungen, die wir haben, kommen aus dem Globalen Norden mit der Entstehung der kritischen Kriminologie oder Angela Davis. Das ist alles brillant und hilfreich, aber wir wollen auch in einem regionalen Kontext denken: Was ist hier ein Gefängnis? Was ist hier Bestrafung? Welche ist hier die Ökonomie der Bestrafung? Wie denkt man Gerechtigkeit? Die Konzepte aus dem Globalen Norden kommen wie eine verschlossene Kiste bei uns an. Also haben wir angefangen, ein Mapping von alternativen Gerechtigkeiten anzulegen, zum Beispiel indigene Gerechtigkeiten oder die Art, wie wir im Alltag Konflikte lösen, die auch Teil einer anderen Art von Gerechtigkeit ist. Das Gleiche gilt auch für innerhalb des Gefängnisses: Was bedeutet es, Gerechtigkeit innerhalb des Gefängnisses herzustellen? Was bedeutet es, Gemeinschaft innerhalb des Gefängnisses aufzubauen? In einer Welt, die zur Hyperindividualisierung neigt, kann der Aufbau von Gemeinschaft ein Weg sein, Gerechtigkeit zu schaffen.
Und gleichzeitig ist es jetzt sehr schwierig. Jetzt haben wir zum Beispiel das Problem, dass sie mit einer Justizreform das Alter der Strafmündigkeit auf 12 Jahre senken wollen. Aber was machst du da? Plötzlich vertrittst du eine konservative Position und sagst: „Nein, halt! Lasst uns nicht auf die 12, lasst uns auf die 18 zurückgehen.” Aber auch das funktioniert für uns nicht. In einem Punkt ist es zwar weniger schlimm, aber als Kollektiv sind wir nicht einverstanden mit diesem strafenden System. Vielleicht wäre jetzt ein guter Moment, uns zu fragen: Was wird kriminalisiert?

Wie arbeitet ihr in dieser Situation mit anderen, vielleicht transfeministischen oder auch anarchistischen Bewegungen zusammen?

Im Allgemeinen sind wir wenige Kollektive aus unabhängigen Aktivist*innen, die keine Parteifahnen hinter sich haben. Und wir halten diesen autonomen Raum aufrecht. Uns erscheint es sehr wichtig aus der Autonomie heraus zu sprechen. Eine Autonomie, die immer in wechselseitiger Abhängigkeit steht. Dieses Jahr haben wir für den 8. März zusammen mit transfeministischen und queeren Aktivist*innen den Mostri-Block gebildet. Das hat uns sehr begeistert, denn die Idee dieses Blocks war es, über die Diskussion um Identität hinauszugehen. Mostri kann jemand sein, der*die im Knast war, Mostri kann eine Person mit Behinderung sein, Mostri können wir antipunitivistischen Kollektive sein, Mostri kann die queere Community sein. Und dann begannen wir uns mit travesti-trans, schwulen, lesbischen Kollektiven, dem gesamten LGBT-Kollektiv und anderen Mostri-Aktivist*innen zu versammeln. Im Alltag kooperieren wir mit dem Kollektiv der Sexarbeiterinnen und mit No Tan Distintes („Nicht so verschieden”), ein Kollektiv, das mit Menschen auf der Straße arbeitet. Aber mit manchen Feminismen ist es kompliziert, vor allem wenn sie sehr frauenzentriert, akademisch und punitivistisch sind. Als antipunitivistisches Kollektiv zur Abschaffung von Strafen beharren wir darauf, dass das Gefängnis keine Lösung ist. Deshalb sagt eine Genossin, Eva Reinoso, immer: „Wir sind unbequem für den Feminismus, aber die Betten in den Gefängniszellen sind viel unbequemer.”
Und mit anarchistischen Bewegungen gibt es eine Nähe zu bestimmten Ideen, sofern wir Anarchismus als Praxis gegen Autorität verstehen. Außerdem stehen die Bündnisse in einer historischen Tradition: Die Anfänge der Kriminalisierung sexuell dissidenter Menschen und Sexarbeiterinnen fallen mit der Kriminalisierung von anarchistischen und kommunistischen Bewegungen zusammen.

Vielleicht hilft das auch die Beziehungen innerhalb des Kollektivs, aber auch nach außen zu stärken. Wie blickt ihr auf die nächsten Wochen?

Uff, schwierig. Wir glauben, dass die nächsten Wochen immer komplexer werden, aber gleichzeitig ist es auch wichtig, dass wir uns weiter verbünden. Mit der Erfahrung des Macrismo, der nicht mal ein Zehntel so schlimm, aber dennoch schrecklich war, können wir vielleicht eine Haltung weder der Hoffnung noch des Optimismus haben. Denn das war auch ein großer Moment der Alternativen: Wir waren so erstickt, so unterdrückt, so unfähig gemacht zu leben, dass wir Leben schaffen mussten. Und die einzige Möglich­keit war, sich zusammenzuschließen und zu mobilisieren. Das Gleiche tun wir jetzt. Aber die Aussicht ist ziemlich entmutigend und eine große Herausforderung. Es ist sehr traurig und schmerz­haft. Gleichzeitig war zum Beispiel der Mostri-Block auf der Demo vom 8M ein Fest und hat uns eine Lebendigkeit wiedergegeben. Deshalb beharren wir, ohne Hoffnung und ohne Optimismus, auf die Traditionen des Kampfes in un­seren Territorien, die sehr mächtig sind und die in uns wohnen.

Prämien statt Lohn sind 
ein Problem

Demonstration am 1. Mai Mobilisierung mit der CUTV und dem Frente Nacional de Lucha de la Clase Trabajadora, Foto: Camilo Arias, @kmilo100fuegoss

Wie ist die aktuelle Situation der Arbeiter*innen in Venezuela?

Schlecht. Das monatliche Mindesteinkommen fiel von 283 US-Dollar im Jahr 2009 auf 18,77 US-Dollar pro Monat im Jahr 2015. Außerdem gibt es seit 2014 ein Lohnprämiensystem, das heißt, es werden immer weniger Lohn und immer mehr Prämien gezahlt. Heute liegt der Mindestlohn in Venezuela bei 3,50 US-Dollar monatlich, dazu kommen noch einige Prämien. Zusammen ergibt das etwa 130 US-Dollar im Monat, während die Kosten zur Deckung der Grundbedürfnisse moderat geschätzt bei 500 US-Dollar im Monat liegen. Das Leben der Arbeiter*innen in Venezuela ist von extremer Prekarität geprägt. Hauptsächlich durch den Lohnverfall.

Warum sind die Prämien ein Problem?
Weil nur 2,62 Prozent der gesamten Vergütung als Lohn betrachtet werden, was für die Berechnung aller Ausgleichszahlungen für Überstunden, Nachtzuschläge und Abfindungen bei Entlassung, Ruhestand oder Pensionierung relevant ist.

Abgesehen vom Lohn: Wie wirkt sich die neue Wirtschaftspolitik sonst aus?
Die Einkommensverteilung in Venezuela ist extrem ungleich. Der letzte offizielle Stand von 2017 zeigt eine Verteilung des Einkommens mit 75 Prozent für Unternehmensgewinne und 25 Prozent für Löhne. Heute ist es vermutlich noch extremer. Zudem sind Tarifverträge im öffentlichen wie auch im privaten Sektor praktisch abgeschafft, es gibt keine Verhandlungen mehr. Und die geltenden Tarifverträge werden kaum durchgesetzt.

Warum werden die geltenden Tarifverträge nicht durchgesetzt?
Erstens wegen des extremen Lohnverfalls und zweitens hat die Regierung Maßnahmen ergriffen, um Tarifverträge außer Kraft zu setzen. 2018 hat das Arbeitsministerium eine Richtlinie erlassen, die die Kürzung und Nichtanwendung von Gehaltsklauseln in Tarifverträgen ermöglichte, wenn Arbeitgeber diese als zu kostspielig erachteten. Dies wurde sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor umgesetzt.

Wie konnte es zu solch nachteiligen Vereinbarungen kommen?
Die Arbeitgeber forderten die Arbeitsinspektion in jeder Region auf, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter zusammenzubringen, um auf Basis der neuen Richtlinie neu zu verhandeln. Dagegen gab es kein Entkommen. Die Gewerkschaften waren nicht bereit, Widerstand zu leisten.

Wie ist die Passivität der Gewerkschaften zu erklären?
Die Regierung schuf ihre eigene Gewerkschaftsbewegung, die Central Bolivariana Socialista de Trabajadores. Sie ist ein Instrument der Regierungspolitik. Dadurch wurden die Bedingungen, die vom Staat vorgegeben wurden, auch von großen staatlichen Unternehmen wie PDVSA, CORPOELEC, und der öffentlichen Verwaltung problemlos umgesetzt. Dies geschah auch im privaten Sektor. Nun erleben wir die Konsequenzen.

Gibt es andere Beispiele für die nachteilige Arbeitsmarktpolitik der Regierung?
Mitte 2022 erließ die Regierung ein Verwaltungsinstrument für den öffentlichen Sektor, dass die Zahlung der Gehälter nach einer von der Exekutive festgelegten Tabelle vorsah, ohne die Errungenschaften der Tarifverträge zu berücksichtigen. Viele Arbeiter*innen wurden davon schwer getroffen. Bereiche wie Bildung, Gesundheit und öffentliche Verwaltung verloren bis zu 75 Prozent ihrer durch Tarifverträge erreichten Vorteile.

Gab es Widerstand gegen diese Politik?
Im Juni 2023 legten die Arbeiter im Unternehmen Siderúrgica del Orinoco (SIDOR) die Arbeit nieder und stoppten eine Anlage vorübergehend, nachdem ihre Forderungen nicht gehört wurden. Aber die Regierung ging den Konflikt juristisch an. Ein Gericht erließ eine einstweilige Verfügung, um die Protestaktion unter Androhung der Verhaftung aller Beteiligten zu stoppen. Alle führenden Aktivisten durften das Werk nicht betreten und ihnen wurde verboten, das Vorgehen in den sozialen Medien anzuprangern. Zwei von ihnen, Leonardo Azócar und Daniel Romero, sind seit fast einem Jahr in Haft.

Mobilisieren Arbeiter*innen noch zum 1. Mai?
Dieses Jahr haben wir in einem breiten Bündnis aus unabhängigen Gewerkschaften, verschiedenen Berufsverbänden und rechten Gewerkschaften eine nationale Protestaktion durchgeführt. Wir planten eine Kundgebung auf der Plaza Venezuela in Caracas und eine anschließende Demonstration. Am Anfang der Demo stürmten Motorrad­fahrer, die der Regierung angehörten, auf die Anwesenden zu, insbesondere auf ältere Menschen und Frauen. Dies haben wir scharf verurteilt. Die Polizei stellte Barrikaden auf, um uns am Weitergehen zu hindern. Wir konnten nur die Kundgebung abhalten. Es scheint, als wolle die Regierung ein Klima politischer Gewalt schaffen, um die Wahlen am 28. Juli zu verhindern oder um die Menschen von Protesten abzuhalten.

Wie ist der Zustand der Gewerkschaften heute?
Unsere Freiheit ist stark eingeschränkt. Viele Gewerkschaften werden nicht zugelassen, wenn sie nicht von der offiziellen Gewerkschaftszentrale anerkannt sind. Zudem werden gewählte Gewerkschaftsführungen von der Regierung nicht anerkannt. Das Schlimmste ist, dass Gewerkschafts­führer jederzeit verhaftet werden können. Die Regierung übt fast absolute Kontrolle aus, vor allem im öffentlichen Sektor: administrative, politische, polizeiliche und militärische Kontrolle, um zu verhindern, dass aus dem Widerstand gegen die Wirtschaftspolitik eine Arbeiterbewegung entsteht.

Wie sehen Sie die Situation im Hinblick auf die Wahlen im Juli?
Der Trend geht zum Rechtsextremismus. Wir werden in der gleichen Situation leben wie jetzt. Wir wollen weder die einen noch die anderen. Man muss sich auf den Kampf gegen beide vorbereiten. Aber diese Regierung richtet mehr Schaden an: Historisch gesehen ist es schlimmer, im Namen des „Sozialismus” Einkommen zu vernichten, Gewerkschaftsführer zu inhaftieren, unab­hängige Gewerkschaften einzuschränken und das Streikrecht zu unterdrücken.

Was halten Sie von der Haltung der internationalen Linken zu Venezuela?
Leider glauben viele linke Aktivist*innen im Ausland, dass die Regierung von Nicolás Maduro eine linke, sozialistische, progressive Regierung ist. Ihre Propaganda vermittelt ein Bild, das durch ihre Praxis völlig widerlegt wird, die darauf abzielt, die Bedingungen für maximale Gewinne des Kapitals zu fördern und den Staat zu reduzieren.

„Jeden Morgen bin ich erleichtert, dass er noch da ist!“

Über den Dächern von Ciudad Bolívar Der Eukalyptusbaum als Hoffnungssymbol (Foto: Ingolf Bruckner)

Don Héctor, Leiter der Gemeindebibliothek Senderos de Progreso, nennt ihn nuestro abuelo sabedor („unseren weisen Großvater“), Andere bezeichnen ihn als „Baum des Gehenkten“ oder auch als „Lebensbaum“. Wieder Andere behaupten, es gäbe keinen geeigneteren Ort auf der Welt, um fliegende Untertassen zu beobachten; auch würden hier Hexen und Zauberer ihr Unwesen treiben.

Der Cerro Seco ist ein kahler, narbiger Hügelrücken voll blonden Grases, geschwürartiger Kiesgruben und Steinbrüche. Man sagt dem Taxifahrer im Stadtzentrum von Bogotá, man wolle zu den Canchas Dobles im Barrio Potosí. Der Taxifahrer wird dort nicht gern warten oder sein Fahrzeug zumindest zwischen den Mauern der niedrigen, selbst gezimmerten Behausungen verbergen wollen, damit es keine Aufmerksamkeit erregt. Das Viertel liegt im fernen Süden der Neun-Millionen-Metropole Bogotá, in der Zone der riesigen, zum großen Teil ungeplant errichteten, Ciudad Bolívar, die von Opfern des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts in Kolumbien besiedelt wird. Paramilitärs, korrupte Unternehmen und Banden halten hier viele der Entrechteten und Geflohenen in einem Würgegriff aus Angst, ökonomischer Abhängigkeit und sozialer Isolation wie in der Schlinge eines Galgens. Die Menschen aber haben nie aufgegeben. Sie haben in der Schlinge gestrampelt und sich herausgekämpft: Im Dezember 2023 konnten sie mit der Ernennung zum Kulturerbe durch das IDPC einen wichtigen Schritt auf dem Weg ins Licht der Öffentlichkeit feiern.

Im Umkreis von Kilometern scheint es in diesem Teil der Stadt nur einen einzigen Baum zu geben: Jenen alten Eukalyptusbaum mit charakteristischer, dreieckiger Silhouette vor einem wolkenzerfetzten Himmelszelt, welches sich unglaublich weit zu spannen scheint, von blauer Ferne links in blaue Ferne rechts, hier, mehr als 2.500 Meter über dem Meeresspiegel. Keine*r der entwurzelten Bewohner*innen unterhalb seiner Äste hat je einen Tag im Leben verbracht, ohne dass es diesen Baum gab. Keine*r einen Tag, ohne ihn bewusst oder unbewusst gesehen zu haben, versichert mir Lorena Montes, die gerade mit anderen Sozialarbeiter*innen in der Nachbarschafts­hilfe im Barrio Potosí ein Dach neu errichtet hat. Als Fixpunkt ist der Baum „allgegenwärtig wie der Geist von Großeltern. Er mahnt und erdet, als wolle er in Erinnerung rufen, dass alles aus der Natur kommt und dahin strebt”, erklärt Lorena. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Jeden Morgen, wenn ich aufwache, geht mein Blick als erstes zu ihm und ich bin erleichtert, wenn er noch da ist – das war zuletzt keine Selbstverständlichkeit!“ Diese unmittelbare Zuneigung zu dem Baum, so als sei er ein Mitmensch, mag Uneingeweihte zunächst verwundern. Denn die Geschichten, die über den gespenstisch hageren, schwarzbelaubten Baum auf dem Cerro Seco kursieren, sind oft düster, geheimnisvoll, schrecklich.

Der wohl mindestens hundertjährige Baum mit dem Namen Palo del Ahorcado soll seit 1938 Pilgerstätte von Selbstmörder*innen, Verzweifelten, vom Teufel Besessenen und Verfolgten gewesen sein. „Höllenhunde“ – in Wahrheit dürften es ganz gewöhnliche streunende Hunde gewesen sein, die nachts aufgeschreckt wurden – kündigten etwa den Tod des exkommunizierten Ehebrechers Pablo an und einige Zeit später baumelte seine Geliebte Ernestina leblos an einem Ast. Mit der Ausdehnung der Stadt folgten weitere Todesfälle. Zuletzt, im Februar 2023, fand man nahebei die zerstückelte Leiche eines Jugendlichen namens Brayner Stiven Asprilla.

Das „Trotzdem“ vereint

Als Lorenas Mutter Blanca Luz Rosas de Montes in den 1980ern, vertrieben aus dem gewaltgeschüttelten Departamento Caquetá nach Ciudad Bolívar kam, war sie wie so viele Andere auf der Suche nach einem Leben in Frieden. Viele der Anwohner*innen kamen zu dem Baum, um Drachen steigen zu lassen oder einfach frische Luft zu atmen.

Mit der Zeit entwickelte sich der Brauch einer Karfreitagsprozession, die jährlich anwachsend und inzwischen viele Tausend Menschen zählend, hinaufführt zum Eukalyptus. Es ist der Glaube, es ist auch ein „Trotzdem“, dass die Pilgernden auf ihrem Weg vereint. Direkt am Fuße des Baumes legen sie Kreuze, Rosenkränze, Amulette, Bittgesuche ab, beten und errichten unweit ein großes Holzkreuz. Man spricht miteinander, plant die Zukunft und es entsteht eine Gemeinschaft, in der sich gegenseitig hilft, wer kurz zuvor noch fremd war.

Zerzaust, angegriffen und hager Der Eukalyptusbaum Palo del Ahorcado blickt vom Cerro Seco aus über Ciudad Bolívar (Foto: Ingolf Bruckner)

Ein Baum aber, der sein dämonisches Image verliert und stattdessen Menschen in ihrer Hoffnung und ihren Zielen vereint, ist ein Stachel. Ein Stachel für Immobilien-, Sand- und Kiesgruben­-unternehmen, die den Cerro Seco jahrzehntelang ausgebeutet haben und unter Ausschluss der Öffentlichkeit ohne Rücksicht auf die Natur illegal weiter ausbeuten möchten; für Politiker*innen, die die Nöte der unterprivilegierten Stadtviertel und deren Bedarf an Infrastruktur und Daseinsvorsorge ignorieren, und für Drogenbanden, denen das Vergessen, das Schweigen und die Unter- und Fehlentwicklung in die Hand spielt.

„Unsere Gegner denken, mit dem Symbol würde auch unsere *Solidarität enden“


Lorena erklärt, man habe versucht, den Baum zu verbrennen, abzusägen, umzuhauen und zuletzt sogar, ihn zu vergiften. Sie zeigt auf die Wurzeln des Baumes – eine musste sogar entfernt werden, um ihn zu retten. „Unsere Gegner denken, wenn dieses Symbol der Gemeinschaft, des Umweltschutzes und des Widerstandes erst weg wäre, dann würde auch unsere Solidarität enden, dann könnten sie weiter das Ökosystem, die natürlichen Wasserläufe, die Orchideen und anderen Pflanzen zerstören, mühsam gebaute Wege und Straßen mit ihren volquetas (Schwertransportern) zerfurchen und unser letztes Erholungsgebiet zunichtemachen.“

Sie berichtet von Kämpfen und Erfolgen. 2015 etwa kam es zum offenen Konflikt, weil Sicherheitsleute der Kiesgrubenfirma die Karfreitagsprozession nicht durchlassen wollten. Als eine volqueta die Nachbarin Doña Yineth, eine mehrfache Mutter, überfuhr, errichteten Anwohner*innen Blockaden an den Zufahrtswegen der Sand- und Kiesunternehmen. Waren Bittgesuche an die Politik zunächst ungehört geblieben, schwoll die Stimme der Menschen aus dem Viertel immer mehr an und schließlich stieß man den Prozess an, den Cerro Seco mit dem Palo del Ahorcado zum Kulturerbe der Stadt Bogotá zu erklären.

Im Dezember 2023 kam schließlich der Durchbruch! Mit dem frisch errungenen Status des kulturellen Erbes ist der Weg zum Schutz des Symbols der Gemeinschaft und der Umwelt gestärkt. Das Erbe von Lorenas Mutter und anderen Aktivist*innen aus der Nachbarschaft, die längst nicht mehr leben, ist gesichert.

Lorena zeigt Mappen mit Fotos aus vier Jahrzehnten. Vergilbte und neue. Schwierige Anfänge. Gemeinsame Arbeit. Gemeinsame Proteste. Gemeinsame Feste. Organisationen wie die Fundación Blanca Luz, die nach Lorenas Mutter benannt ist, widmen sich der Verbesserung der Gemeindeinstitutionen. Heute gibt es Kindergärten, eine Volkshochschule, in der Erwachsene Lesen und Schreiben lernen können, einen Abendabiturkurs, eine Schneiderei, eine Tanzschule, die von Don Héctor betreute Gemeindebibliothek, eine Schule für Gründerinnen von Kleinunternehmen, Lehrgänge zur Selbstfürsorge und Selbsthilfe, Stadtgärten zur Selbstversorgung mit Gemüse und ein Kollektiv für humane Stadtentwicklung, Zivilschutz und Schutz des Cerro Seco. Aus seinem dürren Boden sprießen Ideen und Projekte wie frische Blumen. Keine Erosion mehr. Und keine Illusion. Die Wurzeln des Palo del Ahorcado halten fest.

Indigene Völker 
unter Beschuss

“Empörung ohne Handeln bringt nichts”: Politisches Symbol des regionalen Widerstands des CRIC (Fotos: Consejo Regional Indigena del Cauca (CRIC))

El Palo ist ein kleines Dorf in der Gemeinde Caloto im Norden des kolumbianischen Departamentos Cauca. Es ist aber nicht einfach irgendein Dorf. El Palo ist eine unsichtbare Grenze und ein Gebiet von großer geostrategischer Bedeutung, da es direkt an der Kreuzung der Straßen nach Toribío, Corinto und Santander de Quilichao liegt. Gleichzeitig ist El Palo geschichtlich relevant. Um das Dorf zu erreichen, muss man zwei historische Schauplätze von Gewalt und Widerstand durchqueren.

Der erste ist die Farm El Nilo, auf der am 16. Dezember 1991 paramilitärische Gruppen 21 Menschen der Nasa, einer indigenen Gruppe, folterten und ermordeten – nur wenige Monate nach der Verkündung der neuen kolumbianischen Verfassung, durch welche indigene Völker wie die Nasa ihr Land zurückerhalten sollten. Ermittlungen des Gerichts für öffentliche Ordnung in Cali ergaben, dass das Massaker in Zusammenarbeit mit staatlichen Sicherheitskräften verübt worden war. Der Fall wurde vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) gebracht, welche die kolumbianische Regierung aufforderte, das Volk der Nasa durch die Übergabe von 15.000 Hektar Land zu entschädigen. Der zweite bedeutsame Ort ist die Farm La Emperatriz. Hier haben die Nasa 2014 im Rahmen des „Prozesses der Befreiung der Mutter Erde (uma kiwe)“ Zuckerrohrmonokulturen angepflanzt – ein Protest gegen die Nichteinhaltung der Versprechen und Verpflichtungen des Staats.

Vorbei am Dorf El Palo steigt die Straße bis zum Rand eines Tals an, von dem aus man in etwas über einer Stunde das indigene Reservat Toribío erreicht. Hier sind die cabildos (indigene Räte, Anm. d. Red.) von Toribío, Tacueyó und San Francisco im plan de vida des Nasa-Projekts vereinigt. (Dabei handelt es sich um einen Ansatz zur Stärkung der Autonomie, Gemeinschaft, Lebensqualität und kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung, Anm. d. Red.)

Trotz der Schönheit seiner Landschaft ist das Gebiet stark von wirtschaftlicher und soziopolitischer Gewalt betroffen: Der Drogenhandel hat einen Großteil der lokalen Wirtschaft übernommen und bei Auseinandersetzungen um die Kontrolle der Drogenhandelswege werden täglich Menschen ermordet. Gemeinsam mit den Gemeinden Corinto und Miranda ist Toribío Teil des „Marihuana-Dreiecks“. Dazu gehören auch Gebiete, in denen sich der illegale Koka-Anbau konzentriert (Argelia, El Tambo, López de Micay), denen Drogenhandelswege entspringen (Río Naya) und in denen bewaffnete Akteure besonders präsent sind (Buenos Aires, Suárez, Santander de Quilichao, Caloto, Caldono, Morales und Silvia). Das Dreieck stellt einen der Brennpunkte des bewaffneten Konflikts im Departamento Cauca dar.

Entschlossen trotz Bedrohung Jugendliche geraten besonders ins Visier bewaffneter Gruppen

Am Nachmittag des 16. März 2024 entführte die in der Gegend agierende bewaffnete Gruppe Front Dagoberto Ramos einen Jugendlichen aus der Gemeinde Toribío zur Zwangsrekrutierung. Bei der Front handelt es sich um Dissident*innen der FARC-EP, welche sich zum selbsternannten Zentralen Generalstab (EMC) zusammengeschlossen haben. Aufgrund der Entführung versammelte sich die Gemeinde im Ortsteil La Bodega, um die Befreiung des Jugendlichen zu fordern. Dort schoss die Front auf die indigene Garde und die Teilnehmenden und verletzte mehrere Personen. Francia Liliana Pequi berichtete später erschüttert: „Dann drehte ich mich um und die ganze Gemeinde lief verängstigt rückwärts, rannte weg (…), denn sie schossen. Sie waren schwer bewaffnet. Zuerst schossen sie in die Luft, und als wir sie nicht gehen ließen, fingen sie an, auf alle Leute zu schießen, die da waren.“

Unter den Verletzten befand sich auch die 62-jährige mayora (indigene Autorität, Anm. d. Red.) Carmelina Yule Pavi, Mitglied der Garde und indigene Anführerin. Sie starb am Sonntag, den 18. März, an ihren Verletzungen.

Angesichts dieser Ereignisse reagierten die indigenen Gemeinden und der Regionale Indigene Rat im Cauca (CRIC) mit Nachdruck und auf verschiedenen Ebenen. Die traditionellen Autoritäten erließen mit Hilfe der indigenen Sondergerichts­barkeit Haftbefehle gegen die Anführer der bewaffneten Gruppe, während die indigene Garde Streifzüge durchführte, um die illegale bewaffnete Gruppe aus dem Gebiet zu vertreiben. Der schwere Angriff auf die indigene Gemeinde war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und die nationale Regierung dazu veranlasste, den mit der EMC bestehenden bilateralen Waffenstillstand auszusetzen.

Widerstand gegen die Gewalt bewaffneter Gruppen CRIC und weitere indigene Gemeinden schließen sich zusammen

Obwohl dieser Waffenstillstand schon vorher nicht eingehalten worden war und die indigenen Gemeinden und Gebiete von Gewalt betroffen sind, hat sich die Situation seit dem 17. März deutlich verschlechtert. Die Militarisierung des Territoriums und die Offensiven der Nationalen Armee gegen die illegalen bewaffneten Gruppen führen zu fast täglichen Kämpfen, bei denen die Zivilbevölkerung häufig Opfer von Übergriffen wird. Auch die Angriffe von FARC-EP-Dissident*innen auf indigene Gemeinschaften haben zugenommen: Drohungen, Angriffe mit Sprengkörpern, Zwangsrekrutierungen und illegale Straßensperren sind an der Tagesordnung. Außerdem haben die Dissident*innen den Plan bekanntgegeben, jede*n Vertreter*in des CRIC als militärisches Ziel einzustufen.

Marisol Peña, indigene Autorität von Tacueyó, einer Gemeinde von Toribío, klagt: „Wir sind militärische Ziele, weil wir immer deutlich gemacht haben, dass unsere Autoritäten im Gebiet bleiben werden, um das Leben zu verteidigen.“ Der Tod der mayora Carmelina letzten Monat sei für die Gemeinden der Auslöser gewesen, auf die Straße zu gehen, Druck auszuüben und zu sagen: Wir werden nicht mehr zulassen, dass sie uns ermorden, dass sie unsere Jugendlichen mitnehmen und töten. Die Gemeinden sind fest entschlossen, die Kontrolle über ihr Gebiet zurückzuholen.

Heute befinden sich die indigenen Gemeinden und Gebiete von Cauca in einer ähnlichen humanitären Notlage wie in den dunkelsten Jahren des bewaffneten Konflikts. Wie Francia Liliana Pequi berichtet, hört man Schüsse, es gibt Konfrontationen und ständige Drohungen, weil sie sich nicht zum Schweigen bringen lassen. „Wir sind nicht wie die, die meine Großmutter ermordet haben – wir werden uns nicht verstecken.“

¡Guardía guardía, fuerza fuerza! Die Guardía Indígena kämpft für ein Leben in Frieden

Als Folge der Schießerei wurden in dem Gebiet Kontrollpunkte eingerichtet. Francia Liliana Pequi erklärt dazu: „Hier, wo wir sind, ist ein strategischer Punkt, weil sie sich vorher hier aufhielten. (…) Jetzt sind wir diejenigen, die diesen Kontrollpunkt haben.“

Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von La Habana im Jahr 2016 gab es eine kurze Phase relativer Ruhe im Land. So auch im Departamento Cauca, welches eine lange Geschichte mit der sechsten Front der FARC-EP hat. Es gehört zu den am stärksten vom bewaffneten Konflikt betroffenen Gebieten, insbesondere nach dem Auftauchen paramilitärischer Gruppen in den 1990er und 2000er Jahren.

Doch bereits 2018 wurde die Situation in den Gebieten wieder kritischer. Dies geschah zeitgleich mit dem ersten Jahr der friedensfeindlichen Regierung von Iván Duque, dem politischen Ziehsohn des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe. Die Ursachen für diese Verschlechterung waren Versäumnisse des Staates in Bezug auf die Landreform, Landrückgabe, den Ersatz illegaler Anbaukulturen und die territoriale Entwicklung. Darüber hinaus bot die Regierung den indigenen Gemeinschaften keinen Schutz und weigerte sich das Wirtschafts- und „Entwicklungs“-Modell in Frage zu stellen, womit die historischen und strukturellen Ursachen der Gewalt intakt blieben. Infolgedessen haben sich neue bewaffnete Gruppen schnell die nach der Demobilisierung der FARC-EP „freigewordenen“ Gebiete einverleibt, die der Staat noch immer nicht mit an die Grundversorgung angeschlossen hatte. Neben den schon länger existierenden, bewaffneten Gruppen wie der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) haben sich neue bewaffnete Akteure organisiert. Insbesondere Dissident*innen der FARC-EP, die sich vom Friedensprozess losgesagt haben und heute unter dem Kommando von Iván Mordisco stehen. Diese bewaffnete Gruppe ist im ganzen Land mit Einheiten präsent und ihr Interesse gilt dem Drogenhandel sowie der sozialen und territorialen Gebietskontrolle. Obwohl sie sich auf den politischen Diskurs und die Erinnerung der FARC-EP beziehen, haben diese Gruppen keinen wirklichen ideologischen Gehalt.

Dies spiegelt gut das neugestaltete Szenario des bewaffneten Konflikts wider: Es geht nicht um den Kampf bewaffneter Gruppen mit einem sozialen Bezug, die die Macht ergreifen wollen um die Politik und das Modell des Landes grundlegend zu verändern. Vielmehr handelt es sich um verschiedene Konflikte mit territorialem Fokus auf geostrategische Gebiete mit illegalen Wirtschaftszweigen. Natürlich geht das Ausmaß der Gewalt viel weiter und überschneidet sich mit historischen Konflikten um Landbesitz, sowie mit Interessen transnationaler Akteure an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Auch Faktoren der historischen Ausgrenzung von indigenen Völkern, Afroamerikaner*innen und Bäuer*innen bleiben bestehen.

Übergriffe im Cauca 800 Opfer im Jahr 2023 (Statistik: Consejo Regional Indigena del Cauca (CRIC))

Fest steht, dass die Zivilbevölkerung am meisten leidet. Insbesondere die indigenen Gemeinden und Gebiete sind dem Konflikt stark ausgesetzt. Im Jahr 2023 zählte der CRIC 800 indigene Opfer der verschiedenen Übergriffe in den traditionell indigenen Gebieten. Die Zwangsrekrutierung von Minderjährigen, Ermordungen, Drohungen und Zwangsvertreibungen stellten hierbei die häufigsten Menschenrechtsverletzungen dar. Für das aktuelle Jahr wurden bereits 320 Opfer gezählt. Die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen sind Jugendliche und diejenigen, die eine Führungsrolle ausüben und das Gebiet verteidigen, weil sie ein Hindernis für die Interessen der bewaffneten Gruppen darstellen.

Die Auswirkungen sind jedoch viel weitreichender und von struktureller Natur. Sie beschränken sich nicht auf die humanitäre Notlage, die die indigenen Völker im Cauca erleben und die sich seit Mitte März 2024 verschlimmert hat. Die grundlegende Auswirkung ist ein andauernder Völkermord. Durch den Einsatz von physischer Gewalt, Rekrutierungsstrategien und sozialer Kontrolle können die indigenen Gemeinden ihre Autonomie und ihre eigene Regierung nicht voll entfalten, was den möglichen Verlust ihrer Identität mit sich zieht. Auch wenn die verschiedenen bewaffneten Akteure in den Gebieten diejenigen sind, die die Gewalt ausüben, so sind die Hauptverantwortlichen doch die Feinde des Friedens, der Autonomie der indigenen Völker und des strukturellen Wandels des sozioökonomischen Modells unseres Landes.

Eigene Bildung von unten Aus dem Herzen von Abya Yala

Aus dem Südwesten Kolumbiens kommt deshalb der Weckruf an die Welt: Die indigenen Völker des CRIC stehen unter Beschuss. Der 53-jährige Organisationsprozess, der auf dem Widerstand der Indigenen Garde unter der Führung der 139 traditionellen Autoritäten beruht, wurde zum militärischen Ziel erklärt. Es ist trotzdem wichtig, weiterhin auf den Frieden zu setzen und Mechanismen für multilaterale Waffenstillstände zu schaffen. Die indigenen Territorien und Gemeinden müssen dabei aktive Akteure beim Aufbau einer echten Alternative zu Krieg und Ausbeutung sein.

Auch Francia Liliana Pequi teilt diese Meinung. In Gedanken an ihre Großmutter betont sie, dass sie eine große Anführerin war und sich sehr für die Rechte der Frauen eingesetzte. In Bezug auf den sehnlichst erwünschten Frieden in der Region fügt sie hinzu: „Sie hat viel für den Prozess getan. Auch wenn sie nicht mehr bei uns ist, weiß sie, dass wir ihr unendlich dankbar sind, dass sie uns den Weg für diesen wunderschönen Prozess geebnet hat.“

Theater der Widerstands

Kunst und Protest Eine Straßentheatergruppe setzt sich in Szene (Fotos: Josue Guerra Alvarado)

Am 18. und 19. Oktober 2019 wehte in Chile ein Frühlingswind. Er brachte widersprüchliche Nachrichten über eine „soziale Explosion”, die sich an verschiedenen Stellen des U-Bahn-Netzes von Santiago entzündet und mit ihren Barrikaden schnell auf die Straßen der ganzen Stadt und aller Regionen des Landes ausgebreitet hatte. Nach zwei rätselhaften Tagen war der schmale Landstreifen Chiles mit Transparenten übersät, die zahlreiche historische soziale Forderungen verkündeten, im Mittelpunkt jene nach einer verfassunggebenden Versammlung. Die Chilen*innen forderten ein Ende des neoliberalen Modells, das von der Diktatur Augusto Pinochets in der noch heute gültigen Verfassung von 1980 festgeschrieben wurde.

Die Diktatur (1973 bis 1990) war eine Abfolge grausamer Jahre, denn für die Einführung dieses sozioökonomischen Modells brauchte man ein hohes Maß an Gewalt. Hierfür sorgten die Militärinstitutionen des chilenischen Staates in Ab- stimmung mit der US-Regierung im Rahmen des Kalten Krieges und der sogenannten Operation Condor. Ihr Experiment führte zur Einführung einer Weltanschauung, die sich wie eine Epidemie ausbreitete und jede Art von Beziehung zwischen dem Sein und dem Leben nur noch auf seine Wirtschaftlichkeit bezog.

Dazu gehörten jahrelang Hausdurchsuchungen bei allen, die auch nur ansatzweise mit indigenen, anarchistischen oder marxistischen Idealen in Verbindung gebracht wurden; die Anwendung systematischer Foltermethoden, die an der Escuela de las Américas erlernt wurden; der Zwang ins Exil und die Errichtung von Konzentrationslagern im ganzen Land. Mehr als 3.000 Menschen wurden ermordet, weitere 1.000 gewaltsam verschwunden gelassen. Die überwiegende Mehrheit dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit blieb in den folgenden 33 Jahren ungestraft – und die, die sie ausführten, in Machtpositionen.

Wie ein donnerndes Echo der dunklen Vergangenheit dieser 17 Jahre Staatsterrorismus waren die Gesichter der Menschen in Chile im Oktober 2019 erneut von großer Angst und Wut erfüllt. Die Geschichte unseres Landes nahm eine neue Wendung. Wieder waren wir im Abgrund einer ungeheuren Unterdrückung gefangen. Die Regierung von Sebastián Piñera trat im Fernsehen auf und erklärte den Krieg. Sie setzte die Militärs auf den Straßen ein und verkündete den Ausnahmezustand. Ausgangssperre und Augenverstümmelungen begannen. Die altbekannte Figur des „Feindes im Inneren“ erwachte wieder zum Leben.

Das politische Straßentheater als widerständige Erinnerungsstrategie

Wenige Tage nach Beginn der „sozialen Explosion“ im Oktober 2019 haben wir das Kunstkollektiv Ejercicio Libertario Almado del Sur (E.L.A.S.) gegründet. Zusammen mit einem sehr gemischten Grüppchen von Theaterkünstler*innen aus Valparaíso wollten wir auf den Demonstrationen die Erinnerungen wachhalten. Erinnerungen daran, was die Diktatur, ihr neoliberales und neokoloniales Erbe sowie die Revolte verbindet. Seitdem sind wir auf der Straße geblieben, haben das Theater als Protestform und sozialen Kitt genutzt. Wir sind Teil einer großen Bewegung, die das Straßentheater und seine Sprache in Chile spätestens seit den 1970er Jahren weiterentwickelt hat. Wir haben dabei viel von den großen Straßentheaterkompanien der Diktatur- und Nachdiktaturzeit gelernt und ihre Methoden an unsere Zeit und Produktionsmittel angepasst.

Über unsere Geschichte haben wir nicht aus Schulbüchern gelernt, denn die große Tragödien sind bei uns in Chile noch immer ein Tabu. Diejenigen von uns, die zuhören wollten, haben aus den Geschichten der Überlebenden gelernt, von unseren Familien, Freund*innen und Lehrer*innen, aus Gedichten und Musik, aus Filmen und Theaterstücken. So sind auch städtische Theaterbewegungen gemeinschaftliche Strategien des Widerstands und der Erinnerung. „Ich möchte unsere ermordeten, verschwundenen und gefolterten Menschen ehren. Ich denke, man muss den 50. Jahrestag des Putschs unbedingt nutzen, um ihre Geschichte zu erzählen, sie aufzuschreiben, Filme zu drehen. Alles, was man sich als eine Form der Didaktik vorstellen kann, damit wir nie wieder vergessen”, sagt mir Myriam Espinoza, als ich sie besuche, um mich mit ihr über die Visionen des politischen Theaters in Chile auszutauschen.

Myriam ist Professorin, Forscherin, Schauspielerin und Theaterregisseurin und arbeitet derzeit als Wissenschaftlerin an der Theaterfakultät der Universität von Valparaíso. Bekannt ist sie vor allem als Aktivistin in politischen Theatergruppen, darunter die Gruppe Cristal für soziale Wiedereingliederung, die sich aus Insass*innen des Hochsicherheitsgefängnisses von Valparaíso zusammensetzt. Während der Militärdiktatur rettete Myriam mithilfe der Theaterkunst mehreren ihrer verfolgten Kamerad*innen das Leben, zum Beispiel, indem sie mit Verkleidungen und gefälschten Pässen ihre Flucht nach Argentinien ermöglichte. Die Lebensgeschichten dieser Menschen sind schockierend, denn mit dem Straßentheater riskierten sie damals buchstäblich ihr Leben. „Ich stehe voll und ganz hinter dem Straßentheater. Denn es ist eine Art der Unterhaltung, die die Dinge beim Namen nennt”, sagt Myriam heute.

Das Straßentheater ist in Chile als Ausdrucksform der untersten sozialen Schichten entstanden, als Waffe des Widerstands und des gemeinschaftlichen Ausdrucks. Und der gewalttätige Kontext, als dessen Produkt es entsteht, kehrt immer wieder. So wird das Straßentheater damals wie heute praktiziert, indem es die Kunst mit der großen Kraft eines drängenden gesellschaftlichen Sinnes in die Prekarität des Verborgenen spinnt. Es geht um den hartnäckigen Widerstand der Gemeinschaften von Bürger*innen, die versuchen, ihre Geschichte und ihre grundlegende Identität am Leben zu erhalten.

„Die Wahrheit muss heute nicht auf der Bühne, sondern auf der Straße gesucht werden. Und wenn man dem Publikum auf der Straße die Möglichkeit gibt, seine Menschenwürde zu zeigen, wird es das immer tun“, sagte der französische Dramatiker Antonin Artaud in Das Theater und sein Doppelgänger. Und wenn der Zugang zur Theaterbühne aus politischen Gründen versperrt ist, nutzen die Theaterleute eben die Straße als Bühne.

Es gibt große Vertreter*innen des Straßentheaters, darunter Regisseur*innen und Theatergruppen, die einen wertvollen Beitrag dazu geleistet haben, Chiles Geschichte auf volkstümliche Weise zu erzählen und den Menschen näher zu bringen. Dazu gehören, um nur einige zu nennen, Mauricio Celedón mit dem Teatro del Silencio, Arturo Rossel mit der Kompanie Equilibrio Precario oder Andrés Perez mit dem Gran Circo Teatro und den Yeguas del Apocalipsis. Natürlich gibt es auch in anderen Ländern Südamerikas große Vertreter*innen ähnlicher Ausdrucksformen. Wir erkennen sie alle als Früchte einer großen historischen Entwicklung an, die uns vereint.

Die eigentliche Bedeutung dieses politischen Theaters liegt jedoch nicht so sehr im Genius einzelner Autor*innen, sondern in der Zusammenarbeit und darin, die einzelnen Zuschauenden einzubeziehen und zu einer rituellen Durchquerung des öffentlichen Raums einzuladen. So wird die von den Autoritäten aufgestellte Ordnung und Erzählung hinterfragt.

Normalerweise inszeniert eine Gruppe von Bühnenkünstler*innen die Aktionen, wählt die geeigneten szenischen Mittel für jeden Anlass aus, entwickelt eine Dramaturgie, verwaltet die Proberäume und die technischen Bedingungen sowie den Entwurf von Kostümen, Kulissen, Pyrotechnik und Requisiten. Vervollständigt wird jede öffentliche Inszenierung aber erst durch die Teilnahme von Lai*innen. Das sind Teilnehmende ohne professionelle Ausbildung, die diese Art des szenischen Ausdrucks lieben und ihre Energie einbringen.

Unsere Ästhetik ruft zum Mitmachen auf. Wir wollen, dass die Menschen aus ihrem alltäglichen Individualismus heraustreten und interagieren, indem sie öffentliche Räume einnehmen – und das entgegen der Aufforderung der staatlichen Sicherheitskräfte, die uns einsperren wollen. Zu diesem Zweck schaffen wir attraktive, nicht alltägliche Bilder, die zum Nachdenken und zur Teilnahme an unseren Aktionen einladen. Wenigstens für einen Moment befreien sich die Teilnehmenden damit von der Unterdrückung. Zusammen schaffen wir eine kollektive Katharsis, die auf Zuschauer*innen und Vorbeigehende überspringt.

Diese performativen Akte sind Formen des Widerstands gegen neoliberale Logiken. Sie sind ein kollektives Angebot von uns Theaterleuten und allen, die sich dazu berufen fühlen. Ich wage zu behaupten, dass das Straßentheater für uns, die wir an diesem südamerikanischen Erbe teilhaben, eine warme Zuflucht und auch unser Schutzschild ist.

Eine der stärksten Strategien, die wir in unseren Straßentheatergruppen anwenden, ist die Konstruktion von allegorischen Figuren. Diese sind so entworfen, dass sie über das Menschliche hinausgehen, da ihre Aufgabe darin besteht, übergeordnete Konzepte darzustellen. Außerdem gibt es oft einen großen Chor, der aus einer Masse von Darsteller*innen besteht, die von diesen allegorischen Figuren bewegt werden. Anstelle von Worten sprechen Material, Musik, Farben, Zeichen, Gesten und Bewegungen. Bei den vielen Ablenkungen auf der Straße bleibt für ausführliche Dialoge ohnehin kein Platz. Visualität und Silhouette müssen attraktiv genug sein, um die Reizüberflutung in den heutigen Städten zu überwinden. Wir arbeiten mit Abfall oder recycelten Materialien, es gibt keine kommerziellen Beziehungen zu unserem Theater oder seinen Objekten. Stattdessen ist der Charakter unseres Strassentheaters flüchtig, er erfüllt die Funktion des jeweiligen Ereignisses.

Wir verwenden Zeichen, die an historische Kämpfe erinnern und mischen sie mit aktuellen Symbolen. So entsteht ein verschlüsseltes Potpourri, das historische Verbindungen zwischen den Gemeinschaften der jeweiligen Zeiten webt. So passt sich unser Erbe, das Straßentheater, mit der Zeit immer wieder an. Es stirbt nie, denn auch die Unterdrückung ist nicht tot.

Was sind zwei Monate gegen 500 Jahre?

Straßenblockade Protestcamp bei Salinas Grandes (Foto: Lisa Pausch)

Es ist Winter in Argentinien. In Buenos Aires berichteten Protestierende, dass die Polizei es ihnen nicht erlaubte, Chemietoiletten aufzustellen oder Zelte zum Schutz gegen Kälte, Wind und Regen zu nutzen. In Jujuy hatten sich seit Mitte Juni teilweise bis zu 20 Protestcamps gebildet, der jüngste Teilnehmer war nicht einmal ein Jahr alt, die ältesten über 80. „Was sind zwei Monate auf der Straße gegen 500 Jahre Widerstand?“, sagte eine Frau in ihren 30ern an einem der Lagerfeuer.

Die Proteste in Jujuy finden unter dem Motto El Tercer Malón de la Paz statt. Malón kommt aus dem Mapudungun und bedeutet „Invasion”. Der Name knüpft an die beiden historischen Protestzüge der indigenen Völker im Norden Argentiniens an. Die Malones 1946 und 2006 versuchte die Politik mit der Aussicht auf Landtitel zu beruhigen, auf die warten die allermeisten Gemeinden bis heute.

17 Jahre später protestiert nun eine neue Generation. Die Geschichte wiederholt sich, und die Reaktionen sind immer die Gleichen. „Das ist doch alles politisch”, sagen viele und winken sogleich ab. Die Proteste seien finanziert von der Regierung in Buenos Aires. Dieses Narrativ nähren auch Medien, die der konservativ-bürgerlichen Regierung in Jujuy nahestehen. Der Gouverneur der Provinz, Gerardo Morales, spricht von einem „versuchten Staatsstreich”. Noch während der Proteste wurde bekannt, dass Morales als Vize hinter dem Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, Horacio Larreta, bei den Vorwahlen im August antreten würde. Es brauchte also ein gutes Bild aus Jujuy – und so entstanden, während die indigenen Gemeinden in den Anden protestierten, im Tal der Hauptstadt San Salvador de Jujuy Pressebilder von Handschlägen mit chinesischen Investoren. Am Tag nach den Vorwahlen und nach einem ernüchternden Ergebnis für Jujuys Gouverneur Morales, begann die Polizei, gegen das Protestcamp in Purmamarca vorzugehen. „Unser Zelt wurde zerstört, unsere Decken und Vorräte verbrannt“, berichten mehrere Teilnehmer*innen.

Am 29. August schuf die Regierung in Buenos Aires nun per Dekret eine Kommission, die innerhalb von 60 Tagen Beschwerden zu institutioneller Gewalt im Zusammenhang mit den Protesten untersuchen soll. Für die Demonstrierenden ist das ein kleiner Fortschritt, doch längst nicht genug. „Wir werden weiter protestieren, bis die Verfassungsreform fällt”, sagte Geronimo. Er ist um die 40 und gehört dem Volk der Kolla an. Geronimo heißt eigentlich anders. Seinen richtigen Namen möchte er nicht in den Medien sehen, aus Angst vor Verfolgung. Straßensperren sind als Protestform laut der neuen Verfassung verboten, um – so steht es in dem Text – das „Recht auf sozialen Frieden“ zu schützen. Geronimo befürchtet, dass die Regierung mit der Verfassungsreform eine Art Blankoscheck für Bergbauprojekte über die Köpfe der indigenen Gemeinden hinweg schafft.

„Die meisten Verfassungsartikel richten sich gegen die indigene Bevölkerung”, sagt er, „sie richten sich gegen die Mutter Erde, die Pachamama, gegen unseren Lebensraum.” Mit der Reform verändert sich an vielen Stellen der Ton der Verfassung. Mehrere Sätze zur zur Verhinderung von Umweltschäden wurden gestrichen. Prominent steht in dem Text nun insbesondere der Teil, der bei schon entstandenen Umweltschäden Entschädigungen garantiert. Besonders problematisch ist ein Artikel, der sich auf staatliche Grundstücke bezieht. Viele indigene Gemeinschaften haben nach wie vor keine Landtitel und leben damit offiziell auf staatlichen Grundstücken. Die alte Verfassung garantierte die Vergabe von Landtiteln bevorzugt an Anwohner*innen und Kooperativen, die darauf arbeiten und heimisch sind. Dieser Teil wurde gestrichen.

„Lithium ist Brot für heute und Hunger für morgen”

An den Salinas Grandes kämpfen mehr als 30 Gemeinden seit 2010 auch mithilfe von Anwält*innen gegen den Lithiumabbau. Damals hatten ausländische Unternehmen Testbohrungen durchgeführt. Das ILO-Übereinkommen über indigene Völker (ILO-Konvention 169) sieht zwar vor, dass indigene Gemeinschaften konsultiert werden müssen, „wann immer gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen, die sie unmittelbar berühren können, erwogen werden”. Die Befragungen müssen frei und unabhängig stattfinden. Doch die Unternehmen versuchen immer wieder die ILO-Konvention 169 zu umgehen, sagt die Politikwissenschaftlerin Melisa Argento. Argento forscht zu Nachhaltigkeit von Lithiumprojekten in der Region. „Die Unternehmen werben um die Zustimmung dieser vulnerablen Gruppen“ mittels Jobangeboten. Gemeinden, die sich im Widerstand gegen die Lithiumprojekte organisiert haben, lehnten solche Angebote pauschal ab, sagt Geronimo. „Es geht um unsere Zukunft, denn wenn unser Ökosystem zerstört wird, dann können wir hier nicht mehr leben.”

Nach den Zahlen zu urteilen, werden dabei kaum neue Arbeitsplätze geschaffen, meint Argento, „vor allem in der ersten Projektphase, beim Bau wird lokale Arbeitskraft gebraucht. Danach läuft das Projekt vielleicht vierzig Jahre, zerstört die Umwelt und vertreibt die lokale Wirtschaft.” Viele Gemeinschaften sagen: Lithium ist Brot für heute und Hunger für morgen.

Inzwischen hat Lipán, eine der Gemeinschaften an den Salinas Grandes, ein Abkommen mit der Regierung unterschrieben. Wenig später veröffentlichte die Pressestelle ein Foto von Kindern mit Laptops in der Hand, gespendet von einem Lithiumunternehmen. Berichten aus Lipán zufolge ist die Gemeinde inzwischen gespalten: Die Entscheidung hätten einige wenige Personen um die Gemeindevorsteherin getroffen.

Nachrichten wie diese versetzen Geronimo in Alarmbereitschaft. Denn das Grundstück, auf dem Lipán liegt, ist Teil der Salzwüste und damit Teil des Ökosystems, in dem auch Geronimo lebt. Schon in der Vergangenheit gab es Bergbauprojekte in der Region, die Mensch und Umwelt belastet haben. „Die Minen haben besser bezahlt und eine Unterkunft gestellt“, erzählt Geronimo. Eine weiterführende Schule gab es damals – anders als heute – nicht in seinem Dorf. „In der Schule haben wir nichts über unser kulturelles Erbe gelernt“, kritisiert er. „Ich habe mich erst nach der Schule mit meiner Herkunft beschäftigt. Ich habe in San Salvador gearbeitet als Bäcker, als fliegender Händler.” Auf den Straßen der Hauptstadt habe er zwar einiges gelernt, doch Diskriminierung war Teil des Alltags. Geronimo ist nach Quebraleña zurückgegangen. Heute engagiert er sich als Teil des Dorfvostands. Er möchte für die Jugendlichen Perspektiven schaffen. „Vielleicht können wir auch mit dem Tourismus beginnen. Wenn wir im Dorf noch mehr Leute sind, dann haben wir auch mehr Gewicht. Und wenn es Arbeit gibt, finden die jungen Leute hier ihre Zukunft.”

KOLONIALISMUS, GENOZID UND PALMÖL

Niedergerissen und abgebrannt
 Die Bewohner*innen des Dorfes Chinebal mussten fliehen (Foto: Prensa Comunitaria)

„Dieser Räumungsbefehl, war eine illegale Anordnung. Der Richter Anibal Arteaga stempelte und unterschrieb lediglich ein Blatt Papier ohne Ortsangabe, auf dessen Basis die Räumung angeordnet wurde.“ So äußerte sich ein Gemeindemitglied, das aus Sicherheitsgründen anonym bleiben will, gegenüber dem Radiosender America Rompe El Cerco. Im Zuge der Räumung, ging die Polizei gewaltsam gegen die Bewohner*innen vor, die sich weigerten ihre Häuser zu verlassen, insbesondere gegen Frauen und Kinder. Nur eine Stunde nach der Räumung wurden die Häuser der Gemeindemitglieder von Beauftragten des Unternehmens NaturAceites angezündet, wie die guatemaltekische Tageszeitung Prensa Comunitaria berichtet.

Tatsächlich ist die Anordnung, die im Juni ausgestellt wurde, unvollständig und enthält keine Details zum Datum oder Motiv der Räumung. Darüber hinaus sind laut Prensa Comunitaria zahlreiche Verbindungen des genannten Richters zu Korruptionsfällen, Drogengeschäften und der Kriminalisierung von Menschenrechtsverteidiger*innen bekannt.

Die Quiché Aktivistin Lucia Ixchíu begleitet das Gebiet rund um El Estor, in dem Chinebal liegt, seit 2016 im Rahmen der Solidaritätsfestivals, einem Kollektiv von Künstlern, Korrespondent*innen und indigenen/mestizischen Forscher*innen, die sich mit historischer Erinnerung, territorialer Verteidigung und politisch motivierter Inhaftierung beschäftigen.

Im Interview mit LN bestätigt Lucía Ixchíu: „Was in El Estor geschah war buchstäblich eine Strategie des Staatsterrorismus, eine Schock-Strategie und die Fortsetzung des rassistischen und kolonialen Genozids.” Über Prensa Comunitaria erkärt sie: „Die indigenen Q’eqchi’ Gemeinden kämpfen seit etlichen Jahren darum, dass ihr Landbesitz anerkannt wird. Sie bewohnten dieses Land als Erste.”

Seit der liberalen Landreform von 1871 andauernde Repression

Um die Ereignisse und die Kämpfe der indigenen Gemeinden in El Estor zu verstehen, ist es laut Lucía Ixchíu notwendig, zu begreifen, dass die Repression gegen das Volk Q’eqchi’ in dieser Region bereits seit der liberalen Landreform von 1871 und der Präsenz der Bananengesellschaft United Fruit Company in der Region andauert. „Es ist von fundamentaler Bedeutung, die Geschichte der indigenen Bevölkerung, des Genozids und der permanenten kolonialen Plünderung zu verstehen, in der sich Guatemala aktuell befindet; es handelt sich nicht um einen Diskurs der Vergangenheit, sondern um eine aktuelle Erfahrung in Chinebal, wo die Vertreibungen stattfinden.” Lucía Ixchíu verweist auf den Genozid, der während des internen bewaffneten Konflikts an der indigenen Bevölkerung begangen wurde, der sich über drei Jahrzehnte erstreckte und formell in den Friedensverträgen von 1996 sein Ende fand. Heute setze sich die Politik der Vernichtung durch den Extraktivismus fort, so Lucía Ixchíu.

Die vertriebenen Familien sind Nachkommen derer, die 1978 flohen, als 57 Bauern der Q’eqchi’ während des Massakers von Panzós von der guatemaltekischen Armee ermordet wurden. Großgrundbesitzer benutzten daraufhin die Ländereien für Viehhaltung und später für den industriellen Anbau der afrikanischen Palme. Zur Zeit der Unterzeichnung der Friedensverträge kehrten die Gemeinden auf ihr Land zurück und bauten ihre Häuser in demselben Gebiet wieder auf. Die Räumung im November 2021 war innerhalb der vergangenen zwei Jahre der elfte Versuch die Gemeinschaft zu vertreiben.

Guatemala ist nach Kolumbien in Lateinamerika das zweitgrößte Erzeugerland von Palmöl und das sechste weltweit. Palmöl wird genutzt für verarbeitete Lebensmittel, Kosmetik und Reinigungsprodukte. Zu den Auswirkungen dieser Industrie gehören die Umweltzerstörung, wie der Ökozid am Fluss La Pasión in Guatemala, sowie Hunderte von Landkonflikten und die Verletzung der Menschenrechte der indigenen und bäuerlichen Bevölkerung.

Juan Maegli Müller ist der Eigentümer der Palmölfirma NaturAceites. Er stammt aus einer Familie deutscher und schweizerischer Herkunft, die während der Liberalen Reform 1871 nach Guatemala kam.

Er beteiligte sich an der rechtsextremen Partei Nationale Befreiungsbewegung (MLN), finanzierte während des Bürgerkriegs 1970 und 1980 Paramilitärs und die repressive Aufstandsbekämpfungskampagne. Seine Familie gehört nach wie vor zu den reichsten der wirtschaftlichen und politischen Oligarchie des Landes sowie zu den größten Großgrundbesitzerfamilien in der Region. Sein Unternehmen NaturAceites exportiert in verschiedene Länder der Welt, darunter auch Deutschland. Es verfügt über das Zertifikat für Nachhaltigkeit RSPO, welches Kriterien der umweltbezogenen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit fördert, wie die Webseite des Unternehmens mitteilt.

Lucía Ixchíu stellt im Interview mit der Prensa Comunitaria fest, dass die Region rund um El Estor zusätzlich zu seiner jüngeren Geschichte des Genozids eines der komplexesten Gebiete in Guatemala ist. Es ist die Region Guatemalas, in der gerade ein starker Widerstand gegen den Bergbau stattfindet, und in der wo seit dem 25. Oktober 2021 ein Belagerungszustand herrscht, der auch die gewaltsame Räumung von Chinebal und die Straflosigkeit erleichterte. Im Gespräch mit LN sagte Lucía Ixchíu: „Der Widerstand gegen den Bergbau in El Estor besteht aus indigenen Autoritäten aus der gesamten Region, 97 indigenen Gemeinden, und einigen der Sprecher*innen von El Estor. In Anbetracht der Art und Weise wie die Aktion durchgeführt worden ist, glauben wir, dass die Räumung ein Racheakt gegen den Widerstand ist.“

WIDERSTAND IN EINER DIGITALISIERTEN WELT

Protestaktion kolumbianischer Migrant*innen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin am 24. Mai 2021 (Foto: Juan Camilo Alfonso)

Können Sie uns ein wenig über die digitalen Protestformen in Lateinamerika erzählen, die Sie kennen und zu denen Sie forschen?
Auf diese Frage gibt es so viele Antworten, ich glaube, ich würde nicht fertig werden, wenn ich hier alle Proteste nennen würde. Wenn wir andersherum fragen, wäre die Antwort, dass es sehr wenige Proteste gibt, die nicht zumindest für einen Teil ihrer Interventionen oder Partizipationsformen das Internet einbeziehen. Da ist immer irgendeine Person, die ein Foto oder Video aufnimmt und dieses dann viral gehen lässt. Das Internet stellt eine Kontinuität des uns bekannten sozialen Raums dar und eine politische Arena; in dem Sinne, dass Personen sagen: Ich werde mir diesen Raum aneignen, um meine Forderungen zu artikulieren, um zu demonstrieren, dass ich mit etwas nicht einverstanden bin und gleichzeitig möchte ich ein bestimmtes Thema mithilfe diverser Strategien sichtbar machen.

In meiner Forschung beobachte ich, wie feministische Kollektive derzeit gegen geschlechtsspezifische Gewalt auf die Straße gehen. Zum einen ist in aller Munde, dass der Körper immer mehr politisiert wird, da der Protest sich so sehr gegen den Zustand der Gewalt wendet. Zum anderen politisieren sich die sozialen Netzwerke, da wir uns diese Räume für unsere Ziele aneignen, um das Ende der Gewalt und konkrete Aktionen einzufordern.

Welche digitalen Räume und Kanäle sind bisher über die sozialen Medien hinaus genutzt und sich in den Protesten angeeignet worden?
Es stimmt, dass es sich beim Internet als sozialem Raum nicht nur um die sozialen Medien handelt. Wir wissen, dass es darüber hinaus alternative Netzwerke gibt, die von Communities geschaffen werden. In Lateinamerika weitet sich die Schaffung dieser Räume gerade aus. Vor allem wird eigene Infrastruktur genutzt, zum Beispiel Server, die nicht oder in ihrer Verkettung nur teilweise mit den großen Unternehmen verknüpft sind. Außerdem wird sehr darauf gesetzt, Inhalte mit alternativen Narrativen zu schaffen, Narrative von Personen, Geschichten und Standpunkte, die nicht die hegemonialen sind. Die Mehrheit dieser Räume sind Blogs, Webseiten oder Wikis, die den sozialen Bewegungen als Archive für alle ihre Aktivitäten dienen. Die Schaffung von Inhalten hat sehr innovative Züge, hier wird das Digitale mit dem Analogen verknüpft: Die Kreation von Pamphleten wie PDF-Dokumenten, die auf den Straßen und auch auf Webseiten zirkulieren. Danach ist die große Herausforderung, all diese Inhalte archivieren zu können, weil diese oft verschwinden.

Trotzdem spielen die sozialen Netzwerke eine sehr wichtige Rolle in der Organisation der Proteste. Ich gehe hier von zwei strategischen Formen aus, die sich das Internet zum Protestieren aneignet: Einerseits sagen Aktivist*innen: „Wir wollen uns nicht die kommerziellen Räume aneignen, denn im Grunde sind Facebook, Twitter, Instagram und TikTok Unternehmen. Es ist wie in ein Einkaufszentrum zu gehen, um zu protestieren, damit füttern wir nur die Firmen und garantieren ihnen Profite.“ Denn jeder Like, auch wenn dieser im Protest gegeben wurde, bedeutet Profit für diese Unternehmen. Dagegen steht eine zweite Position, die mit dem Dilemma der Aneignung der sozialen Medien zur Organisation zu tun hat. Diese zweite Gruppe sagt: „Wir müssen uns diese Räume aneignen, weil wir so die Leute erreichen, die ihre Beziehung zu Technik politisieren müssen und auf die Straße gehen müssen.“ Das ist das doppelte Spiel des Systems.

Können Sie uns Beispiele zu weiteren Technologien geben, die sich soziale Bewe-gungen aneignen?
Es gibt eine große Diskussion darum, was wir überhaupt als Technologie verstehen können. Es geht nicht nur um diese Geräte, sondern auch darum, die Machtverhältnisse zu hinterfragen, die bestimmen, was als Technologie kategorisiert wird und was nicht. Außerdem ist die Beziehung zwischen Mensch und Maschine sehr dynamisch. Es gibt keine Trennung zwischen der Maschine und mir.

Eine dieser weiteren Technologien sind die Drohnen. Drohnen sind sich in Lateinamerika von Aktivist*innen als gegenkulturelle Objekte angeeignet worden, um Technologien mit einer militärischen und patriarchalen Genealogie zu kritisieren und um das Stereotyp der Maschine als Mann oder eines männlichen Experten hinter der Maschine zu beseitigen. In Mexiko zum Beispiel brechen feministische Kollektive genau diese Idee auf und führen eine Gegen-Überwachung des Staates als Protest durch.

Das Interessante daran ist, dass sich feministische Kollektive Drohnen nicht nur als ein Objekt der Gegenkultur aneignen, sondern eine fiktionale feminine Figur schaffen: Droncita. Diese Drohne hat ihren eigenen Twitteraccount und setzt sehr polemische Kommentare zur Politik ab. Es gibt ein Video, in dem sie eine Abbildung des damaligen Präsidenten Peña Nieto mit Graffiti besprüht, wegen des Konfliktes um Ayotzinapa und die 43 verschwundenen Studierenden, in dem der Staat verantwortlich war. Droncita besprüht ihn, um auszudrücken: Alles was du fabriziert hast, ist eine Lüge. Du bist verantwortlich.

In Brasilien gibt es beispielsweise auch ein Kollektiv, das Fones konstruiert. Fones sind Telefone, die wie eine Drohne fliegen und dabei DIY-Technologien nutzen. Diese Fones wurden in Hacktivist*innen-Schulen in lokalen Gemeinschaften kreiert, um die Gewalt der Bauunternehmen während der Arbeiten für die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro offenzulegen. Diese Fotos wurden sogar in einem Prozess eingesetzt, um diese Gemeinschaften vor Raub durch Baufirmen zu schützen.

Also werden die sozialen Netzwerke und die digitalen Räume zusammen mit den Protesten auf der Straße genutzt. Wie wirkten sich diese Verbindungen im Fall von Droncita aus?
Droncita war während verschiedener sozialer Konflikte in Mexiko aktiv, besonders im Fall der 43 verschwundengelassenen Studierenden von Ayotzinapa. Droncita wurde 2015 geboren und hat seitdem die Proteste dokumentiert, um dem Diskurs der Polizei etwas entgegenzusetzten, der betroffene Familien und Protestierende revikti- misiert. Vor allem wollte sie Beweise dafür liefern, dass alles, was die Polizei gesagt hat, um die Proteste zu kriminalisieren, eine Lüge war.

Heute werden viel mehr Drohnen in Protesten eingesetzt. So viele, dass ihr Einsatz während Protesten in Mexiko sowie in ganz Lateinamerika verboten wurde. Wo sich mehr als 50 Personen versammeln, dürfen keine Drohnen fliegen. Tatsächlich gab es während der zwei letzten feministischen Proteste schon Polizist*innen die von ganz oben den Regierungspalast in Mexiko-Stadt mit Geräten, die Waffen zu sein schienen, schützten. Danach wurde in der Zeitung bekannt, dass es sich nicht um Waffen handelte, sondern um Geräte, die das Signal der fliegenden Drohnen unterbrechen konnten. Die Regierung hat wirklich Angst. Droncita missfällt ihnen.

Was tun die sozialen Bewegungen, um digitale Räume für den Protest und auch für User*innen im Allgemeinen sicher zu machen?
Das ist eine große Herausforderung, die viel Kampf und Widerstand erfordert. Der Punkt ist, dass die Gewalt während und nach einer Demonstration anhält. Es handelt sich um einen Kreislauf der Gewalt und des Widerstandes: Die Frauen gehen wegen der Gewalt protestieren, aber trotzdem sind sie am Ende des Widerstands der Gewalt ausgesetzt. Das liegt daran, dass die Plattformen zwar bei der kollektiven Organisation helfen, aber auch zu Räumen geworden sind, in denen sich die Gewalt fortsetzt. Beispielsweise gab es im Jahr 2019 zwei Proteste in Mexiko-Stadt. Vier Polizisten hatten eine Minderjährige vergewaltigt. Nach zwei Wochen hat ein in einem Museum angestellter Polizist eine weitere Minderjährige vergewaltigt (siehe LN 543/ 544). Die Straflosigkeit, besonders bei geschlechtsspezifischer Gewalt in Mexiko und Lateinamerika, ist bereits bekannt. Damals wurde zunächst eine Kundgebung mit Performances vor der Generalstaatsanwaltschaft und vor der Polizeistation von Mexiko-Stadt organisiert. Das reichte nicht aus, weshalb zu einer weiteren Demonstration am 16. August 2019 aufgerufen wurde. Diese war nicht die erste feministische Demonstration, aber sie war insofern besonders, dass die Frauen ihren Frust an strategischen Orten ausließen, wie vor der Polizeistation und an Denkmälern, auf die sie feministische Slogans oder Hashtags wie #EstadoFeminicida malten. Sie brachen mit allen Stereotypen davon, wie Frauen protestieren. Als Reaktion gab es einen Shitstorm in den sozialen Medien, der forderte, dass die Frauen an in ihren Platz, also die Küche, zurück gehen sollten. Es zirkulierten Drohungen und Aufrufe zu digitaler und sexualisierter Gewalt gegen die Aktivist*innen. Außerdem erhielten Kollektive, die zur Demonstration aufgerufen hatten, Nachrichten mit Fotos von verstümmelten und enthaupteten Körpern.

Sie haben erklärt, dass der Staat Räume reguliert, wenn soziale Bewegungen neue Technologien nutzen, wie zum Beispiel beim Verbot des Einsatzes von Drohnen. Gibt es andere Technologien oder Geräte, die genutzt werden, weil Drohnen verboten wurden?
Mir fällt nicht so ein klares Beispiel ein wie die Drohnen. Ich denke, der Staat erkennt, dass er alles, was das Internet und Apps betrifft, derzeit nicht komplett kontrollieren kann. Also wurde die Cyberpolizei verstärkt. Hier wurde viel Geld investiert, um Hacker auszubilden und generell in allen Bereichen, die etwas mit der Kontrolle von Applikationen und der Überwachung von Menschenrechtsverteidiger*innen zu tun haben. Dieses Konfliktfeld wird in den kommenden Jahren immer weiter reguliert werden.

Ich glaube, dass der Kampf in den nächsten Jahren über die Regulation des Internets ausgetragen werden wird, es wird mit dem Urheber*innenrecht anfangen und der Kontrolle der Apps, die nicht kommerziell sind. Die Mobilisierung und Proteste sind dem Staat ein Dorn im Auge und er versucht jetzt den Zugang zu Daten zu erhalten, um die Rechte im Internet weiter zu beschneiden. Das wird der nächste Kampf sein, in bestimmten Bereichen wird er schon ausgetragen und er wird sich ausweiten.

ILLUSTRATOR*INNEN

 

 

Agustina Di Mario kommt aus Alta Gracia in der Provinz Córdoba, Argentinien. Sie zeichnet, um, wie sie selbst sagt, auszudrücken, was sie denkt und fühlt. Instagram: @aguslapiba
(Bild: Agustina Di Mario)

 


Die afrobrasilianische Illustratorin Denise Silva ist aktivistisch im Kontext des Schwarzen Feminismus organisiert. Mit ihrer Kunst protestiert sie, wie sie selbst sagt, gegen jede Art von Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Dabei richtet sie ihren Fokus auf die Ermächtigung Schwarzer Frauen. Instagram: @ise_camaleoa
(Foto: privat)

 


In ihrer Kunst kombiniert Emmalynn González ihre Praxis auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit mit ihren Erfahrungen als Frau aus Puerto Rico. Hierfür wählt sie bunte, helle und retro anmutende Farben, um ernste und tabuisierte Themen gleichermaßen zugänglich zu machen. Instagram: @eg_atelier
(Foto: privat)

 

Magda Castría ist eine argentinische Illustration, Grafikde-signerin, Feministin und Antispeziesistin. Instagram: @magdacastria
(Bild: Magda Castría)

 


Manai Kowii
ist kichwa Künstlerin und glaubt, wie sie selbst schreibt, an das Träumen und an die Arbeit im Kollektiv. Sie ist Mitbegründerin des Kollektivs Warmi Muya, in dem Künstlerinnen verschiedener indigener Gruppen in Ecuador aktiv sind. Instagram: @narymanai
(Foto: privat)

 


Mora Galafassi aus Argentinien arbeitet als Illustratorin und Verlagsgraphikerin. Ihre Zeichnungen wurden in mehreren Büchern und der Zeitschrift Prosódica arte y pensamiento desde los márgenes veröffentlicht. Instagram: @mora.gala
(Foto:privat)

 


Die Zeichnerin und Malerin Paulyna Ardilla beschäftigt sich in ihrer Kunst mit sexueller Aufklärung und weiblicher Lust. Instagram: @paulyna_ardilla
(Foto: privat)


Pilar Emitxin ist feministische Illustratorin und Graphikdesignerin. Sie ist Teil des Bündnisses Ni Una Menos Córdoba und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Amazonas. Außerdem arbeitet sie mit selbstverwalteten feministischen Organisationen und Asambleas zusammen, die im Kontext von Landkämpfen in Argentinien und ganz Abya Yala aktiv sind. Instagram: @emitxin
(Foto: privat)

 

Producciones y Milagros Agrupación Feminista sind eine kleine mexikanische Organisation mit einem der größten auf feministische Bewegungen und Frauenkämpfe spezialisierten Fotoarchiv in Mexiko und Lateinamerika. Unter dem Motto „Lebendiges Archiv – Lebendige Erinnerung“ bringen sie Archivaufnahmen als kollektive Paste-up-Aktionen in Form von Illustrationen oder interaktiven Fotoausstellungen wieder zurück auf die Straße. Instagram: @produccionesymilagros

 


Shawna Pancarita Farinango ist otavalo-kichwa digitale Künstlerin. Ihre Arbeit ist, wie sie selbst sagt, inspiriert von der Widerstandskraft ihrer Gemeinschaft, der Schönheit der Pachamama und den starken und mächtigen warmí (Frauen), die sie umgeben. In ihrer Arbeit thematisiert sie, was es bedeutet, in einem „marginalisierten Braunen indigenen Körper zu leben.“ Instagram: @jasmine_shawnaf
(Foto: Eli Farinango)

 


Die Illustratorin Valeria Araya aus Santiago de Chile ist Teil der Colectiva Mecha. Sie wurde für die Publikation „Latin Identities: The best Latin American Illustrations 2019“ und im Jahr 2020 für den Publikumspreis der 14. Ausgabe des Illustrationspreises Lateinamerika ausgewählt. Ihre Kunst ist eine ständige Kreuzung zwischen dem Analogen und Digitalen und betrachtet Frauen aus einer alltäglichen und politischen Sicht. Wenn sie nicht gerade zeichnet, probiert sie neue Techniken wie Collage oder Keramik aus und schaut Filme, statt zu schlafen. Instagram: @onreivni
(Bild: Valeria Araya)


Xueh oder Xuehka bezeichnet sich als Verteidigerin von Gleichheit und Vielfalt und glühende Verfechterin der Freiheit. Sie studierte Bildende Kunst an der Nationalen Universität von Kolumbien, Illustration an der Kunstschule Diez in Madrid und Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Weissensee in Berlin, wo sie derzeit auch lebt. Instagram: @xuehka
(Foto: María Luisa Rapela)

 

WIE GEHT ES WEITER NACH DER PANDEMIE?

Luftbild von Tribugá Eine Strategie jenseits des Extraktivismus wird dringend gesucht (Foto: Andrés Bateman)

Wenn ein Satz die Haltung der kolumbianischen Machtzentren gegenüber dem Departement Chocó charakterisiert, dann der, den der Abgeordnete des Departamentos Antioquia, Rodrigo Mesa, während einer Sitzung 2012 sagte: „Das Geld, das man in den Chocó steckt, ist wie Parfüm, das man auf einen Scheißhaufen sprüht.“ Laut dieser Aussage ist der Chocó also ein Stück Scheiße, dessen Gestank durch nichts in der Welt überdeckt werden kann. Und damit fasst dieser Satz, der so offen rassistisch, diskriminierend und voll Verachtung gegenüber den Menschen der Region ist, die gesamte Geschichte der Unterwerfung und Unterdrückung zusammen, unter der der Chocó seit der Kolonialisierung leidet.

Das Gebiet wurde ursprünglich von Indigenen bewohnt, doch nach der Ankunft von in Westafrika versklavten Menschen entstand eine Bevölkerungsmehrheit von Afrokolumbianer*innen und Schwarzen. Die Region des heutigen Chocó wurde zu einem Ort des Rückzugs und Widerstands. In den so entstandenen Gemeinden, die cimarronas oder palenqueras genannt werden, lebten entflohene Sklav*innen, die durch den Austausch mit Indigenen ein spezielles und innovatives Wissen über das Territorium entwickelten. Trotz der Handelsbeziehungen zu den kommerziellen Zentren des Landes, blieben diese Siedlungen während des 19. und 20. Jahrhunderts in Teilen unabhängig von der Zentralregierung. Dank dieser Unabhängigkeit setzten einige Gemeinden viele der Praktiken fort, die sie seit der Kolonialzeit entwickelt hatten.

Nach einem langen Prozess sozialer Mobilisierung konnten im Rahmen der Verfassung von 1991 die Schwarzen Gemeinden des Chocó das Gesetz „Ley 70 de 1993“ durchsetzen, welches ihre soziale, kulturelle und wirtschaftliche Identität sichern sollte. Das Gesetz, das auch unter dem Namen „Gesetz der Schwarzen Gemeinden“ (Ley de las Comunidades Negras) bekannt ist, zielt darauf ab, „das Recht kollektiven Eigentums der Schwarzen Gemeinden anzuerkennen“. Es sind die Gemeinden, die sich, mit ihren traditionellen Produktionspraktiken, „auf dem verlassenem Land in den an die Flüsse des Pazifikbeckens angrenzenden, ländlichen Gebieten niedergelassen haben“.

Die Region des heutigen Chocó wurde zu einem Ort des Rückzugs und Widerstands

Trotz der Errungenschaften des besagten „Ley 70“ sieht die Realität anders aus. Der Anbau illegaler Pflanzen (in diesem Zusammenhang meist Kokapflanzen, Anm. d. Red.), Kokainhandel, infrastrukturelle Megaprojekte, Agrarindustrie und der großangelegte Bergbau gefährden die Koexistenz auf und mit dem Land, die von den Schwarzen Gemeinden seit Jahrhunderten dort gepflegt wird. Darüber hinaus bedrohen diese Aktivitäten auch die Ernährungssouveränität, die nicht-kapitalistische Nutzung des Territoriums und die Diversifizierung der Produktionsformen.

Seit der Kolonialisierung wurde so durch unterschiedlichste Interventionen Druck auf die lokale Bevölkerung ausgeübt, wurden autonome Führungen zum Schweigen gebracht, die Bevölkerung vertrieben und getötet, Flüsse ausgetrocknet und Berge entwaldet. Diese Eingriffe sowie die im eingangs erwähnten Satz angedeuteten Investitionen haben im Zusammenspiel mit Fortschritts- und Entwicklungsforderungen aus einer der artenreichsten Regionen der Welt eine der ärmsten und gewalttätigsten des Landes gemacht.

Auf dieses Szenario trifft nun noch die Corona-Pandemie und verschärft die Probleme der Ausgrenzung und Marginalisierung, mit denen die Bevölkerung des Chocó seit Jahrhunderten zu kämpfen hat. Mit fast 3.800 Infektionen und mehr als 135 Toten wird die Pandemie zu einer Lupe, durch die die Dimension der sozialen Probleme und des Schadens, der durch die in der Region angewandten Maßnahmen zur „wirtschaftlichen Entwicklung“ angerichtet wurde, sichtbar werden. Überfüllte Krankenhäuser, mangelndes medizinisches Gerät und Ausrüstung, Anstieg von Armut und Hunger, der Bankrott lokaler Unternehmen, ein Ansteigen der Morde an sozialen Führungspersonen sowie der Druck auf indigene und Schwarze Gemeinden, mehr Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppen, mehr Vertreibungen und mehr irreparable Umweltschäden sind die Folge. Die Pandemie hat all das in noch intensiverem Ausmaß hervorgerufen.

Gefahren der Ausbeutung natürlicher Ressourcen müssen erkannt werden

Die Verschärfung der Probleme im Chocó aufgrund der globalen Pandemie stellt in Frage, was so oft über Viren gesagt wird, nämlich dass sie uns alle gleichermaßen betreffen und niemanden diskriminieren. Vielleicht diskriminiert das Virus tatsächlich nicht den Wirt, aber es bringt je nach Region und Bevölkerung unterschiedliche Konsequenzen mit sich. Im Falle des Chocó gibt es über die humanitäre Tragödie hinaus zwei Auswirkungen, die soziale Bewegungen und Gemeinderäte alarmieren sollten. Die erste, die bereits im Gange ist, ist die Verschlechterung der sowieso schon schwierigen Lebensbedingungen der Bevölkerung in der Region, die Zunahme der Gewalt und die steigende soziale Segregation nach Hautfarbe, Geschlecht, Gender und Einkommen. Die zweite und eher langfristige Konsequenz ist die Ausweitung der Wirtschaftsmaßnahmen im Sinne des desarrollismo in der Region unter dem Vorwand, die Ökonomie nach den Auswirkungen der Pandemie wieder anzukurbeln. (Damit ist eine Wirtschaftstheorie gemeint, die besagt, dass sich weniger entwickelte Volkswirtschaften am besten durch die Förderung der Industrialisierung, eines starken und vielfältigen Binnenmarkts und die Erhebung hoher Zölle auf importierte Waren entwickeln könnten, Anm.d. Red.).

Die Tageszeitung El Espectador titelte in ihrer Online-Ausgabe vom 18. August 2020 „Bergbau: eine mögliche Rettungsleine für die Wirtschaft nach der Pandemie?“ Wie die Schlagzeile schon vermuten lässt, bedienen sich die im Artikel herangezogenen Entwicklungsexpert*innen der gesamten Palette technokratischer Argumente um einen Extraktivismus zu preisen, der nur den Reichtum einiger weniger fördert, dabei aber ganze Gebiete zerstört, in denen vor allem Schwarze und indigene Gemeinden leben. Ohne eine mögliche Kontrolle durch die Bürger*innenschaft und unter dem Vorwand der Wirtschaftsförderung werden Anreize und Steuererleichterungen für die Agrar- und Fischereiindustrie gewährt, Diskussionen über Megaprojekte der Infrastruktur neu angestoßen und der Massentourismus gefördert. Begünstigt durch die Ausgangssperren und mit der Begründung eines durch die Coronavirus-Pandemie ausgelösten Wirtschaftsnotstandes, werden so die sozioökonomischen Strukturen, die das Schicksal des Chocó bis heute bestimmt haben, fortgesetzt und weiter vertieft.

Doch nicht alles ist schlecht. Die Pandemie hat auch dazu geführt, die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken, nämlich die Notwendigkeit staatlicher Interventionen, die primär den Menschen und nicht das Kapital im Blick haben und die darüber hinaus Strategien zum Aufbau der Region jenseits des desarrollismo entwerfen. Letztlich geht es darum das umzusetzen, wofür die Gemeinschaften seit ihrer gewaltsamen Verschleppung in das Gebiet gekämpft haben: Ein friedliches und heterogenes Nebeneinander vielfältiger Lebensweisen, das die Diversität und das ökologische Gleichgewicht erhält und den gleichberechtigten Dialog zwischen dem medizinischen Wissen und den unterschiedlichen Erziehungs- und Wirtschaftsformen aller Akteur*innen im Gebiet fördert. Wie die afrokolumbianische Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Francia Márquez im Juni im Internetportal Diaspora schrieb, sei die einzige Lösung ein Zusammenleben am Pazifik, „ausgehend von den ökologischen, kulturellen, spirituellen und sozialen Potentialen zur Förderung einer nachhaltigen Wirtschaft im Dienste und zur Pflege des menschlichen Lebens, des Territoriums und seiner biologischen Vielfalt“.

In der Interaktion all derer, die auf dem Gebiet zusammen leben, einschließlich staatlicher Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, darf die Rolle der Gemeinden aber nicht auf die einer bloßen Empfängerin überkommener Entwicklungsrezepte reduziert werden. Genauso wenig braucht es Dialoge, in denen lokale Praktiken als Ausdruck von Folklore abgetan werden, die nur dem Konsum dienen, wie es der neoliberale Multikulturalismus diktiert. Was wir brauchen ist eine radikal interkulturelle Interaktion, bei der sich das unterschiedliche Wissen der Indigenen, Schwarzen und Bauern und Bäuerinnen und das, welches sich in den Großstädten entwickelt, gegenseitig befragen und nähren kann. Interaktionen die das Eigene und das Andere hinterfragen. Die all jenes in Frage stellen, was das Wohlergehen des Territoriums und die Autonomie der Bevölkerung bedroht.

Diese Vorstellung der radikalen Interaktion, wenn auch erst noch ein fernes Wunschbild, steht in der Tradition der zapatistischen Idee eine Welt aufzubauen, in die alle Welten hinein passen. Mit diesem Ziel vor Augen wurden sowohl im Chocó als auch in verschiedenen Teilen Kolumbiens schon Fortschritte erzielt, die die Bedeutung und das Potenzial dieses politischen Ansinnens widerspiegeln. Neben Hunderten von Initiativen, die im Alltagsleben der Gemeinschaften verankert sind, gibt es eine Reihe von Bemühungen, die schon durch ihre Konzeption die Fixierung der staatlichen Institutionen auf den wirtschaftlichen Fortschritt in Frage stellen. Diese Bemühungen zielen darauf ab, Dialoge zwischen den verschiedenen Akteur*innen der Region zu forcieren und schaffen es so, auch unter Einbeziehung der staatlichen Institutionen, einige der historischen Forderungen der Gemeinden umzusetzen.

Eine Welt aufbauen, in die alle Welten hinein passen

Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Erklärung des Flusses Atrato zum eigenständigen Rechtssubjekt zielt nicht nur auf dessen Schutz ab, sondern erkennt auch die besondere Beziehung der dort ansässigen Gemeinden zum Wasserlauf an. Die Ausrufung eines speziell geschützten Gebietes im Golf von Tribugá (Distrito Regional de Manejo Integrado en el Golfo de Tribugá, DRMI) entstand ebenfalls aus der Gemeinde heraus und zielt darauf ab, die Fischereiindustrie zu kontrollieren und bestimmte Praktiken umweltverträglicher zu machen. Eine Sonderzone für nachhaltige Fischerei (Zona Exclusiva de la Pesca Artesanal, ZEPA) zwischen den Gemeinden Bahía Solano und Juradó versucht, Fischereiaktivitäten zu entwickeln, die zur Erhaltung der Arten und des marinen Ökosystems beitragen.

All diese Strategien sind Errungenschaften der Gemeinden. Sie führen zu einer Umgestaltung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Institutionen und Praktiken und schaffen so die Voraussetzungen für eine Koexistenz der verschiedenen Lebensweisen in der Region. Diese Veränderungen stehen aber auch der Ausweitung kapitalistischer Entwicklungsmuster im Weg. Die in einer solchen Logik geschulten Institutionen zu verändern ist ein anstrengender Kampf und die Bevölkerung führt ihn gegen legale und illegale Kräfte, die die Region seit Jahrhunderten plündern. Auf lange Sicht arbeiten die indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden des Chocó durch ihre sozioökonomischen und institutionellen Vorstöße nicht nur an der Förderung ihrer eigenen Autonomie und ihres Wohlergehens, sondern tragen auch dazu bei, rassistische und diskriminierende Strukturen zu eliminieren.

Die Gefahren zu erkennen, die eine Ausweitung des Extraktivismus als Retter der Wirtschaft nach der COVID-19-Pandemie birgt, heißt auch die Fortschritte der Bevölkerung zu unterstützen, die sie im Kampf um ihr Gebiet bereits erzielt haben. Nur indem man den Institutionen Einhalt gebietet und ihre Ausrichtung durch sozialen Druck verändert, kann der Weg frei gemacht werden für einen neuen gesunden Menschenverstand, der das Leben, das Territorium und die Gemeinschaften wertschätzt. Die Abhängigkeit von Kapital und der Fortschrittsglaube um jeden Preis müssen neu durchdacht werden: Nur so kann die koloniale Beziehung, die die Machtzentren des Landes gegenüber dem Chocó haben, überwunden werden. Nur so kann eine Region entstehen, in die viele Welten passen. Nur so wird der Satz des Abgeordneten aus Antioquia undenkbar sein.

FLANKE GEGEN RECHTS

Fußballfans Sprechröhre für die Demokratie und gegen Präsident Bolsonaro (Foto: Pam Santos @soupamsantos)

Am Ende eines langen Tages brannten auf der Avenida Paulista in São Paulo die Barrikaden lichterloh, Scherben von Bankfilialen lagen auf dem Asphalt verteilt, in den Seitenstraßen wuschen sich Menschen das Tränengas aus den Augen. Eine Demonstration gegen Präsident Jair Bolsonaro war eskaliert. Am Vormittag hatten sich die ersten Demonstrant*innen vor dem weltbekannten Kunstmuseum MASP eingefunden. Fußballfans hatten über die sozialen Medien zu dem Protest aufgerufen. Bereits Mitte Mai demonstrierten Fans des Kultklubs Corinthians gegen einen rechten Aufmarsch von Bolsonaro-Unterstützer*innen. Diese gehen seit Wochen gegen die von der Landesregierung verhängten Isolationsmaßnahmen auf die Straße. So auch zwei Wochen später. Doch diesmal waren sie weit in der Unterzahl.

Das lag daran, dass sich Fans der vier großen Fußballvereine aus São Paulo – die eigentlich miteinander verfeindet sind – zusammengeschlossen hatten. Auch einige organisierte Linke ließen sich blicken, doch das Bild prägten sportliche Jungs aus der armen Vorstadt. Es wurden Sprechchöre für die Demokratie und gegen Präsident Bolsonaro gerufen, Feuerwerk krachte in der Luft. „Heute zählt die Vereinsfarbe nicht“, sagt der komplett in Grün gekleidete Palmeiras-Fan Samiquel. „Wir stellen uns heute gemeinsam den Rechten entgegen.“

Tonangebend waren wieder die Ultras vom Weltpokalsieger Corinthians aus dem Osten von São Paulo. Dass Fans von Corinthians gegen Bolsonaro protestieren, überrascht nicht. Der Verein kann auf eine widerständige Geschichte während der Militärdiktatur zurückblicken (s. LN 471/472). Damals kämpfte der Arbeiterverein in der Kurve und auf dem Platz gegen die rechten Generäle und wurde zu einem wichtigen Sprachrohr der Opposition. Die Spieler trugen auf ihren Trikots politische Botschaften gegen die Diktatur. „Verlieren oder gewinnen, aber immer mit Demokratie“, lautete ihr Leitspruch. Der selbstverwaltete Verein gewann im Jahr 1982 überraschend die Meisterschaft. Vor allem drei Spieler drückten dem Projekt ihren Stempel auf: Neben dem jungen Stürmer Walter Casagrande und dem Linksverteidiger Wladimir war es Sócrates, der dieses einmalige Kapitel der brasilianischen Fußballgeschichte prägte. Der Kinderarzt verkörperte die Antithese zum klassischen Fußballspieler. Der bekennende Linke rauchte Kette, las Marx und unterstützte die „Direitas já“-Bewegung für demokratische Wahlen. Nach dem Ende seiner Karriere machte der „Doktor“ als bissiger politischer Kommentator und Autor der linken Wochenzeitung Carta Capital weiter von sich reden – bis er 2011 an den Folgen seiner Alkoholkrankheit verstarb (s. LN 451).

Fanszene in Brasilien politisiert sich

Heute ist sein Verein, der Weltpokalsieger Corinthians, einer der reichsten Lateinamerikas. Von den Visionen der 1980er Jahre und dem selbstproklamierten Anspruch, der „Verein des Volkes“ zu sein, ist nur wenig übrig geblieben – außer vielleicht in der Kurve. Dort gibt die mächtige Ultragruppe Gaviões da Fiel (Treue Falken) den Ton an. Zur Zeit der Militärdiktatur forderte die Gruppe eine Amnestie für die politischen Gefangenen. Heute zählen die Falken mehr als 100.000 Mitglieder in ganz Brasilien. Sie führen gleichzeitig eine der wichtigsten Sambaschulen des Landes und sind im armen Stadtrand von São Paulo verwurzelt.

In den vergangenen Jahren scherten sich die Fanszenen Brasiliens wenig um Politik und sorgten eher durch gewaltsame Ausschreitungen für Aufmerksamkeit. Seit der Wahl von Bolsonaro haben sich jedoch viele Fans wieder politisiert – vorneweg die Anhänger*innen von Corinthians. Vor der Wahl 2018 kritisierte der Präsident der Gaviões da Fiel den damaligen Kandidaten Bolsonaro. Auf zahlreichen antifaschistischen Demonstrationen marschierten die Ultras mit. Und im Stadion wurden Banner gegen den autoritären Präsidenten präsentiert.

Bolsonaro selbst gibt gerne Interviews in Fußballtrikots und sucht immer wieder medienwirksam die Nähe zu Profis. Mit Erfolg: Etliche Spieler unterstützten ihn im Wahlkampf, darunter Superstar Neymar oder Dribbelkönig Ronaldinho. Auch während der Corona-Krise versucht Bolsonaro, den Fußball für sich zu nutzen. So forderte er, der Corona lediglich für eine „kleine Grippe“ hält, nicht nur eine Wiedereröffnung des Handels, sondern auch eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs. Denn für die jungen Sportler, so Bolsonaro, bestehe schließlich durch das Virus keine Gefahr. Durch den Ausfall aber drohten vielen Spielern schwerwiegende finanzielle Einbußen. Damit hat Bolsonaro nicht ganz unrecht. Nicht alle Profifußballer sind Topverdiener, was aber auch an dem komplizierten Ligabetrieb mit einer lokalen und einer nationalen Spielklasse liegt.

Es geht um mehr als die Verhinderung eines rechten Aufmarsches

Die Debatte über die Spielaufnahme spaltet den brasilianischen Fußball. In einem Video der Spielervereinigung Fenapaf meldeten sich 16 namhafte Profis zu Wort und forderten eine Rückkehr zum Spielbetrieb – allerdings nur, wenn ihre Sicherheit garantiert werde. Dagegen spricht: Mehrere Spieler haben sich bereits mit dem Coronavirus infiziert. Allein bei Flamengo, derzeitiger Titelträger der südamerikanischen Champions League, sind es drei Fußballer. Der Kult-Masseur Jorginho starb sogar an den Folgen einer Covid-19 Erkrankung.

Dennoch startete der Klub – entgegen der Auflagen der Stadt – mit dem Training. Unter Einhaltung aller Sicherheitsvorschriften, wie schnell betont wurde. Mehr noch: Am 19. Mai traf sich Flamengos Präsident Rodolfo Landim in der Hauptstadt Brasília mit Präsident Bolsonaro, der ein Trikot des Klubs aus Rio de Janeiro trug. Bei den Fans kam das nicht gut an. Die Außenwand der Vereinssitzes wurde besprüht und die Vereinsbosse dort als „Faschisten“ bezeichnet.

Auch Chico Malfitani, Mitbegründer der Ultragruppe, ist sich seiner Sache sicher und auch jetzt wieder bei dem Protest gegen Bolsonaro dabei. „Wir haben die Militärdiktatur am eigenen Leib erlebt und wollen nicht dorthin zurück“, sagt Malfitani, der einen Corinthians-Trainingsanzug und Maske mit dem Vereinslogo trägt. „Es ist surreal, was gerade in Brasilien passiert. Mit Bolsonaro droht ernsthaft eine Rückkehr zur Diktatur.“

In den letzten Wochen hatte sich die Situation in Brasilien zugespitzt. Das Bolsonaro-Lager drohte offen den demokratischen Institutionen. Nach Razzien bei Verbündeten des Präsidenten verkündete dieser, in Zukunft keine „absurden Befehle“ mehr zu befolgen, und sagte, dass sich so ein Tag nicht wiederholen werde. Präsidentenspross Eduardo forderte eine „energische Maßnahme“ und sprach von einem „Moment des Bruchs“. Augusto Heleno, Minister für institutionelle Sicherheit, warnte vor „unvorhersehbaren Konsequenzen“, sollte das Handy des Präsidenten beschlagnahmt werden. Dieser ließ sich wiederholt bei rechten Protesten in der Hauptstadt Brasilia blicken, wo auch antidemokratische Banner gezeigt wurden.

„Heute zählt die Vereinsfarbe nicht“

Auch in São Paulo forderten etliche rechte Demonstrant*innen eine Schließung des Obersten Gerichtshofes (STF) und des Parlaments. In Sicht- und Hörweite der Fußballfans hatten sich die Anhänger*innen des Präsidenten, in die Nationalfarben gehüllt, versammelt. Mehrere Rechte präsentierten Fahnen von Neonazi-Gruppen, unter anderem des rechtsextremen, ukrainischen Prawyj Sektors.

Warum die Situation auf der Avenida Paulista Ende Mai eskalierte, ist unklar. Die antifaschistischen Fußballfans hätten versucht, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen und an die Rechten heranzukommen, heißt es. Linke widersprechen und erklärten, dass der Protest friedlich war bis Rechte provozierten. Eine wilde Straßenschlacht entwickelte sich in der Folge: Die Polizei schoss mit Tränengas und Schockgranaten, die Fußballfans erwiderten mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern. Die Polizei ging jedoch nur gegen die Fußballfans vor. Eine aggressive Bolsonaro-Unterstützerin näherte sich mit einem Baseball-Schläger dem Protest, wurde jedoch freundlich von Polizist*innen abgeführt. Es ist kein Geheimnis, dass der Großteil der brasilianischen Polizisten*innen rechtsradikal ist und an der Seite Bolsonaros steht. An den Sprechchören der überwiegend jungen, nicht-weißen Ultras merkte man auch an, dass es an diesem Tag nicht nur um die Verhinderung des rechten Aufmarsches ging. Der Frust über die tägliche Polizeigewalt, Ausgrenzung und hoffnungslose Situation im Land ist groß.

Am Rand des Protests wurden provozierende Bolsonaro-Fans von den Ultras zusammengeschlagen. Viele fürchten, dass die Bilder der Gewalt dem Protest schaden könnten und die Regierung das nutzen wird, um die Repression und Militarisierung anzukurbeln. Bolsonaro teilte jüngst einen Tweet von US-Präsident Donald Trump, in dem er ankündigt, die Antifa als kriminelle Vereinigung einzustufen. Eine klare Kampfansage an den Protest in São Paulo.

Jedoch ist der Zusammenschluss der eigentlich verfeindeten Fans historisch in Brasilien. Mehr noch: Er ist ein wichtiges Lebenszeichen des Widerstandes gegen die Regierung. Und die Fußballfans haben geschafft, was der Linken nicht gelungen ist: eine lautstarke Protestbewegung gegen Bolsonaro aufzubauen. Die organisierte Linke ist orientierungslos und schwach – nicht erst seit der Corona-Pandemie. Das sieht auch ein Ultra-Veteran so: „Wir können nicht länger hinnehmen, was in Brasilien passiert. Wenn die Linke nichts macht, übernehmen wir Fußballfans das halt.“

KUGELSICHERE WESTEN HELFEN NICHT

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SAMUEL ARREGOCES
ist einer von vielen wichtigen sozialen Aktivist­*innen (líderes sociales) in Kolumbien, die bedroht werden. Er organisiert im Bundesstaat La Guajira den Widerstand der Wayuu und Afro-Gemeinden gegen die Vertreibung und Umweltzerstörung durch den Kohleabbau in der Mine von El Cerrejón. Samuel Arregoces‘ Dorf Tabaco wurde 2005 gewaltsam von der Betreiberfirma der Mine und dem kolumbia­nischen Staat vertrieben. Seitdem unterstützt er andere Gemeinden im Kampf gegen die Mine und für das Wasser im trockenen La Guajira. (Foto: Daniel Céspedes)


Seit vielen Jahren werden Sie wegen Ihres politischen Engagements bedroht. Wann fing das an?
Das erste Mal wurde ich 2011 bedroht, als wir eine Demonstration zum Gedenken an die gewaltsame Vertreibung des Dorfes Tabaco für den Ausbau der Kohlemine El Cerrejón vor damals zehn, inzwischen 19 Jahren, abhielten. Ich erhielt einen Anruf, in dem es hieß: „Vergessen Sie nicht, dass Sie eine Familie haben”. In der Zeit danach gingen die Drohungen per Telefon weiter, gleichzeitig bekam ich zum ersten Mal seltsame Textnachrichten. Im Jahr 2016 wurden die Drohungen noch intensiver, am 14. Februar bei der Vertreibung der Gemeinde Roche rief mich jemand an, um mir zu sagen, dass ich getötet werden sollte. In diesem Jahr reichte ich auch die erste öffentliche Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein, doch die Bedrohungen gingen weiter. Ich wurde schon mehrfach von einem Auto verfolgt, teilweise bis zu mir nach Hause und eines Tages beobachtete meine Schwester, wie ein Mann, der mich verfolgt hatte, sich unserem Haus näherte. Als er sah, dass sie ihn gesehen hatte, rannte er weg.

Wie haben Sie auf diese Bedrohungen reagiert? Welche Möglichkeiten gab und gibt es?
Ich traf Vorsichtsmaßnahmen: Ich kam immer früh nach Hause und verließ es nur, wenn ich zu wichtigen Versammlungen musste. Wegen der fehlenden Reaktion der Staatsanwaltschaft suchte ich Hilfe beim Volksbildungszentrum und der Organisation Somos Defensores. Diese Organisation prüfte meinen Fall und riet mir, La Guajira zu verlassen und wenn möglich sogar Kolumbien. Aber für mich war es schon sehr schwierig, unseren Bundesstaat zu verlassen und unvorstellbar, das Land zu verlassen. Ich habe drei Monate außerhalb von La Guajira verbracht. Am Schwierigsten war für mich, dass ich mein Land wie ein Krimineller auf der Flucht verlassen musste, während die wahren Verbrecher hier bleiben durften. Dazu kam, dass es für mich sehr schwierig war, woanders Arbeit zu finden.

Gab es in Ihrem Fall Unterstützung durch staatliche Institutionen?
Im Mai 2018 wandte ich mich an die Nationale Einheit für den Schutz von Opfern von Bedrohungen (UNP). Ich füllte ein Formular aus und sie beantworteten meinen Antrag erst im November, also ein halbes Jahr später. Sie schrieben mir, dass ich nicht in Gefahr sei, weil ich ein gewöhnlicher Bürger sei. An diesem Tag fühlte ich mich sehr schlecht, weil sie leugneten, dass ich ein líder social bin. Deswegen legte ich gegen diese Entscheidung Berufung ein. Im März 2019 führten sie eine erneute Risikostudie durch und antworteten mir im August, dass ich außerordentlich gefährdet sei und, dass sie dementsprechend Sicherheitsmaßnahmen für mich treffen würden. Diese bestanden aus drei Dingen: Einem Alarmknopf, einer kugelsichere Weste und einem Mobiltelefon. Das half gar nichts, im Gegenteil: In einer kugelsicheren Weste bist du viel auffälliger und die Leute in deinem Umfeld werden unruhig. Ich habe gegen diese Entscheidung also erneut Berufung eingelegt. Weil kurz darauf jemand versuchte, in mein Haus einzudringen und schon die Gitterstäbe vor meinem Fenster verbogen hatte, überprüften sie meine Situation nochmal, aber ich habe bis heute immer noch keine Antwort erhalten.

Was macht das mit einem, ständig mit der Angst zu leben?
Es ist nicht leicht, mit diesen Bedrohungen zu leben, denn sie verändern dein Leben. Es ist traumatisch, jeden Tag mit dem Gedanken zu leben, man könnte getötet oder ein Familienmitglied verletzt werden. Wir haben uns mit der Familie zusammengesetzt und entschieden, uns zu verschulden, um uns ein Auto zu kaufen, das in dieser Situation eigentlich nicht das richtige Auto ist. Jemand aus meiner Familie hat sich bereit erklärt, immer mit mir zu fahren. Wir haben aber keine Waffe, um uns zu verteidigen. Es ist nicht der beste Sicherheitsmechanismus, aber es ist das Beste, was ich umsetzen konnte. Jedes Mal, wenn wir das Haus verlassen, wissen wir nicht, ob wir zurückkommen. In Angst zu leben ist schwierig, aber es kommt eine Zeit, in der du dich entscheiden musst und ich bin sicher, dass wir es sind, die etwas verändern und weiterkämpfen müssen. Die Regierung wird das Land nicht verändern. So viele von uns mussten ihr Leben deswegen lassen; in diesem neoliberalen, extraktivistischen Staat sind wir militärische Ziele. Ein sozialer Aktivist zu sein, gilt hier als ein Verbrechen.

Wissen Sie denn, woher die Bedrohungen kommen?
Ich bin mir nicht sicher, woher die Drohungen kommen, aber ich bin mir sicher, dass Samuel Arregoces mit niemandem ein Problem hat, außer mit dem Bergbauunternehmen El Cerrejón und dem kolumbianischen Staat. Viele Führungspersönlichkeiten, die dasselbe tun wie ich, sind getötet worden. Dazu kommt, dass die Bedrohungen immer dann kommen, wenn wir gerade in entscheidenden Verhandlungen mit El Cerrejón sind – das ist systematisch. Dabei sind die Drohungen gegen Frauen jeweils noch aggressiver. Sie richten sich gegen ihre Töchter und machen sich deren Verwundbarkeit zu Nutze. Dazu kommt, dass wir líderes sociales kaum Arbeit finden. Die Arbeitgeber denken, wir sind Gewerkschafter, die später jedes Unternehmen in Schwierigkeiten bringen. Das ist auch eine Art der Verfolgung. Ein líder social zu sein bedeutet auch, ständig Angst zu haben, dass man kein Essen mit nach Hause bringen kann, weil man nicht arbeiten kann.

Die Regierung unter Präsident Iván Duque ergreift bisher keine sichtbaren Maßnahmen gegen die selektiven Tötungen und Bedrohungen. Was verlangen Sie von Kolumbiens aktueller Regierung?
Meine Forderungen sind sehr klar: Die nationale Regierung muss die Kontinuität unserer Arbeit als líderes sociales garantieren, es ist das Wertvollste, was wir haben. Darüber hinaus sollten sie uns daran beteiligen, wenn es darum geht, Sicherheitsvorkehrungen zu entwickeln. Jetzt ist es zum Beispiel so, dass, wenn Bedrohte Schutz erhalten, es in der Regel fremde Bodyguards sind. Die kommen nun in dein Haus, kennen aber deine Familie, deine Sitten und Traditionen nicht.

Welche Verantwortung trägt ein Land wie Deutschland, dass die Kohle von El Cerrejón importiert, für die Gewalt gegen líderes sociales in La Guajira?
Deutschland trägt dazu bei, indem es Kohle aus La Guajira kauft, die mit Blut, mit Drohungen, mit Entwurzelung von Menschen und mit ihrer Trauer befleckt ist. Um diese Kohle zu kaufen, sollten sie in Deutschland Menschenrechtsstandards in den Gebieten fordern, aus denen sie gefördert wird. Viele, die in Deutschland leben, tun das mit ihren Privilegien und mit ihrer Entwicklung, wie sie es nennen. Aber sie bringen die Glühbirnen auf Kosten unseres Hungers zum Leuchten. Sie sollten sich ihre Hand auf ihr Herz legen und sich nach einer anderen Form von Energieproduktion umsehen.

NICHT EINMAL DER TOD

Aufmerksame Kritikerin Echeverría verstarb am 03. Januar 2020 (Foto: Gilberto Robles)

Ich kam im Jahr 1920 zur Welt, zu einer Zeit, als die Frauen in Chile weder das Recht hatten zu wählen, noch die Möglichkeit an einer Universität zu studieren. Chile war als Land damals absolut abhängig von Europa und den USA. Es verkaufte Salpeter, später Kupfer. Es war eine koloniale Realität. Mir war väterlicherseits ein oligarchisches Erbe in die Wiege gelegt worden, mütterlicherseits gab es Facharbeiter und Intellektuelle.

Ihr Großvater, Eliodoro Yáñez, erlangt in den 1920er Jahren einen Ruf als fortschrittlicher Senatspräsident, wird Ende der 1930er jedoch ins europäische Exil gezwungen. Echeverría verbringt große Teile ihrer Kindheit in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Ihre Mutter erinnert sich ihrer in Tagebüchern als anstrengendes Kind: „Sie ist ein unausstehlicher Schreihals, so intelligent und stolz sie auch sein mag.“ Die Mutter müht sich, dieses Temperament unter Kontrolle zu bekommen und sie auf den „gesellschaftlichen Einstand“ in Chile vorzubereiten.

Natürlich fügte ich mich erstmal den Normen meiner sozialen Klasse. Ich heiratete und bekam Kinder. Und dennoch zeigte ich immer auch Symptome einer Rebellion gegen all die Vorschriften, denen ich unterworfen war.

1950 reicht es Echeverría. Sie stellt ihren Ehemann und die drei gemeinsamen Kinder vor vollendete Tatsachen und geht als Stipendiatin für ein Jahr nach Spanien. Ihre Rolle als Ehefrau und Mutter interpretiert sie fortan selbstbestimmter, arbeitet als Lehrerin und gründet ein Theater. Nach dem Wahlsieg Salvador Allendes 1970 steigert Echeverría ihr künstlerisches Engagement weiter.

In diesen Jahren blühte die Kultur hundertprozentig auf. Es ging darum, die gesamte Bevölkerung zu erreichen und einzubeziehen. Überall waren für wenig Geld gute Bücher des staatlichen Verlags Quimantú zu kaufen. Überall wurde eifrig produziert. Folklore. Theaterstücke. Eine Explosion. Die Wände Santiagos waren voller Wandbilder, auch die Mauern entlang des Flussbettes des Rio Mapocho, der durch die Stadt fließt. Ich glaube, das war intellektuell die wachste Zeit Chiles, nie zuvor oder danach wurde so viel gelesen. Es war ein kreatives Fieber das sehr abrupt und tragisch endete.

Richard Nixon begriff schnell, dass er den sozialen Wandel in Chile aufhalten musste, denn sonst hätte dieser Weg in Lateinamerika weitere Nachahmer finden können. Sie begannen mit einem Embargo und organisierten viele weitere verdeckte Aktionen in Chile, an denen sich alle Kapitalisten der chilenischen Rechten beteiligten, besonders auch der Herausgeber der Tageszeitung El Mercurio, Augustín Edwards. Unglaublich, was für eine Hommage nach seinem Tod inszeniert wurde, und das für eine der unheilvollsten Gestalten der chilenischen Geschichte.

Unheilvoll ist auch der Putsch 1973. Echeverría nutzt den relativen Schutz ihrer privilegierten Herkunft und engagiert sich in der Fluchthilfe verfolgter Personen. Ihre Bemühungen, auch einflussreiche Frauen der deutsch-chilenischen Community für diese Aktionen zu gewinnen, schlagen fehl. In einem geheimen Treffen…

entgegneten die ehrenwerten Damen auf meinen Vorschlag, international Hilfe zu organisieren: ‚Weiß denn Lucía Pinochet [die Ehefrau des Diktators] von dieser Idee?‘ und ich sagte nur: ‚Na hoffentlich nicht! Auch die deutschen Nonnen aus der Oberschule Colegio Santa Ursula [wo Echeverría bis 1973 unterrichtete] hatten, gebildet wie sie waren, nichts verstanden. Ich wollte, dass sie eine ehemalige Schülerin verstecken, doch sie ließen mich abblitzen. Im Philosophieren waren sie stark, aber politisch gesehen absolute Faschistinnen.

Aus Sorge um zwei meiner eigenen Kinder, die nach dem Putsch im Untergrund weiterhin bei der MIR [Bewegungen der Revolutionären Linken] aktiv waren, suchte ich Hilfe bei einem deutschen Bischof [eigentlich Probst] der Lutherischen Kirche, Helmut Frenz. Ich war kurz davor, ins Exil zu gehen und meine Kinder mussten auch aus Chile raus. Noch von Cambridge aus [wo Echeverría und ihr Mann von 1974 bis 1979 lebten] hielten wir Kontakt mit ihm. Er hat so vielen geholfen und es war sicher nicht leicht für ihn, mit all den Nazis in Chile.

Ende der 1970er kehrt Echeverría nach Chile zurück. Gemeinsam mit einigen Eingeweihten gründet sie die Gruppe Mujeres por la vida (Frauen für das Leben).

Während der Diktatur begannen wir Dinge zu tun, die die Männer nicht zu tun wagten. Die hatte man nach dem Putsch zum Schweigen gebracht.

Echeverría und ihre Mitstreiterinnen zetteln mal szenische Tumulte in Supermärkten an, mal werfen sie Fußbälle mit der Aufschrift „Tretet Pinochet“ von den Dächern Santiagos. Oder sie protestieren gegen die unerträgliche parteiische Justiz.

Zu fünft schlichen wir uns in den Gerichtshof. Fünf Frauen, die Taschen gefüllt mit verfaultem Fisch und Muscheln. Mit eleganten Schritten liefen wir in den zweiten Stock und warfen von dort auf ein Kommando alle Fische und Muscheln in den Innenhof, wo die Richter herumliefen. Dann entrollten wir ein Transparent auf dem stand ‚In Chile ist die Gerechtigkeit verboten‘. Wir wurden alle festgenommen, aber was sollten sie machen? Wir hatten ja niemanden umgebracht. Also kamen wir nach zwei Tagen wieder frei. Und den Gerichtshof, den konnten sie zwei Wochen lang nicht benutzen, weil es so stank.

Auch nach dem Ende der Diktatur bleibt Echeverría eine wache Kritikerin der unvollendeten Redemokratisierung Chiles. So verfolgt sie die Lebensläufe prominenter Parteigänger Allendes, die sich nach der Diktatur als wirtschaftliche Berater, Geschäftsmänner und Politiker auf obszöne Weise bereicherten.

Diese unverschämten Scheißtypen, wie konnten sie, intelligent und gebildet wie sie sind, sich so einer perversen Mission verschreiben? Warum verlief mein Leben so anders? Ich, aus aristokratischen Kreisen, geprägt von einer elitären Bildung, ich machte mich zu einer Anderen, abseits des Wohlstands der für mich in einer glorreichen oligarchischen Zukunft reserviert war. Denn die Utopie einer anderen möglichen Welt, von einer menschlichen Gesellschaft, mit Würde und Solidarität, das ist die meine.

MUSEUM DER WÜRDE

Camilo Catrillanca Porträt des 2018 ermordeten Aktivisten vom Kollektiv Serigrafía Instantánea (Fotos: Museo de la Dignidad)

„Das Team des Museums der Würde besteht aus sieben Personen. Wir wollten die Kunstwerke konservieren, damit eine Aufzeichnung der Geschichte bleibt und wir nie vergessen, warum wir im Oktober 2019 auf die Straße gingen“, erklärt Felipe.

Die Öffentlichkeit schätzt die Arbeit der Initiator*innen; die Kunstwerke sind bisher von Eingriffen verschont geblieben. „Das Einrahmen der Werke bringt die Kunst den Menschen auf eine alltägliche Art nahe. So kann sie Tag für Tag genossen werden, ungeplant, ohne eine Eintrittskarte zu kaufen oder eine Einladung haben zu müssen“, erläutert Felipe

Aufgrund der unzählbaren Masse an Werken, muss das Team einige auswählen. Zum Redaktionsschluss verzeichnete das Museum der Würde 15 Werke, darunter Grafittis, Collagen, Digitaldrucke auf Papier und Gemälde. Waren die Künstler*innen zunächst anonym geblieben, ermittelte das Museumsteam ihre Namen, um sie für die Öffentlichkeit sichtbar zu machen.

„Ein Ereignis hat uns sehr inspiriert. Ein oder zwei Tage, nachdem wir zum ersten Mal losgezogen sind, um die Rahmen anzubringen, fanden wir alle Wandgemälde innerhalb der Umgebung grün überstrichen vor. Es gab zwei deutliche Anhaltspunkte, die darauf schließen ließen, dass es die Polizei selbst gewesen sein musste. Es wurde alles in grüner Farbe überstrichen und in weißen Lettern Phrasen zur Unterstützung der Polizei geschrieben. Die Botschaft war wörtlich: „Carabineros von Chile, Vielen Dank!“ In dieser Nacht hatten sie alle Kunstinterventionen in der Zone übermalt. Die einzigen, die sie verschonten, waren jene mit dem goldenen Rahmen des Museums der Würde. Wir dachten uns danach: „Krass! Das hier hat bereits eine gewisse Bedeutung erlangt“, erzählt Felipe. Die nächste Herausforderung besteht nun darin, die Werke auf lange Sicht zu erhalten und natürlich weiterhin all jene zu rahmen, die neu erscheinen und den Anforderungen des Museums entsprechen.

Chiles Guernica von Miguel Ángel Kastro

Eine Hauptattraktion des Museums ist die chilenische Version von Guernica. Urheber Miguel Ángel Castro berichtet: „Ich habe mitbekommen, dass mein Guernica Teil des Museums der Würde ist, als ich an einem Tag durch die Straßen ging und es eingerahmt vorfand. Es war sehr bewegend für mich, da es eines der ersten Wandgemälde ist, das von dem Museum eingerahmt wurde.“ Der Künstler erklärt zudem, dass er seine chilenische Version von Guernica zunächst auf Instagram veröffentlichte. Einer seiner Follower nahm es und druckte es aus, sodass das Werk von heute auf morgen Teil des Museums der Würde wurde. „Guernica ist der größte künstlerische Anti-Kriegsausruf des 20. Jahrhunderts. An einem Sonntag mitten im spanischen Bürgerkrieg wurde ein spanisches Dorf bombardiert, wobei fast 3000 Menschen starben. Diese Geschichte erzählt Pablo Picasso in seinem Originalwerk. Als Appell an den Präsidenten Sebastián Piñera, der die Situation in Chile als Krieg bezeichnete, erstellte ich dann eine an die örtliche Realität angepasste Version von Guernica. Ich verfügte über so viele Informationen, dass es mir leicht fiel, für jedes Detail des Gemäldes eine passende Figur zu finden“, so Castro.

Santísima Dignidad von Paloma Rodríguez

Die Heilige Würde (Santísima Dignidad), symbolisch als Wächterin des Aufstandes. In dieser Darstellung finden sich einige zentrale Symbole der Proteste: Das grüne Halstuch für das Recht auf legale und sichere Abtreibung. Die hervorgehobene Figur steht für die Frauen Chiles, welche die Bewegung anführen und in ihren Armen hält sie einen Pikachu. Als Pikachu war eine Lehrerin verkleidet, die sehr viel Sichtbarkeit bei Freitagsdemonstrationen erlangt hatte.

Gabriela Mistral von Fabián Ciraolo

Unter den ausgewählten Werken sticht eines hervor, das die Dichterin Gabriela Mistral darstellt. „Mit jugendlichem Anmut vereint sie alle Elemente, die heute in Chile zur Diskussion stehen: Die Verfassung, über deren Änderung im April durch eine Volksabstimmung entschieden wird, das grüne Halstuch, Symbol der feministischen Bewegung und der Legalisierung der Abtreibung, die schwarze Flagge, die zum Zeichen der Revolution wurde und Gabriela Mistral, die selbst eine Botschaft darstellt.“, so Felipe. Würde Gabriela Mistral noch leben, würde sie ohne Zweifel ihr Gedicht „Wir sollten einst alle Königinnen sein“ wiederaufleben lassen.

Jesús von Caiozzama

Die chilenische Polizei wurde aufgrund ihrer exzessiven Anwendung von Gewalt sehr stark in Frage gestellt. Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses zählte das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) 3.583 Verletzte, darunter 359 mit Augenverletzungen. Sie verloren ihr Augenlicht teilweise oder komplett auf Grund von Gummigeschossen, die direkt auf die Augen abgefeuert wurden. In einer Collage des Künstlers @caiozzama ist Jesus dargestellt, der vor Carabineros flieht: In Anlehnung an die letzte Botschaft Jesu, hält der Verfolgte ein Schild hoch mit der Aufschrift „Vergib ihnen nicht, denn sie wissen genau, was sie tun“.

WIDERSTAND IM CHOCÓ

Die autonome Dorfgemeinde von Marcial / Foto: Javier Serna

Kinder sitzen aneinander gekauert in einem Loch in der tiefroten Erde, vielleicht ein, zwei Meter tief. Sie ducken sich verängstigt, ziehen die Köpfe ein, ein paar etwas Ältere drücken die Kleinsten eng an sich. Diese Bilder aus dem Chocó, dem nordwestlichen Department Kolumbiens zwischen Pazifik und Karibik, gingen im August durch die Medien. Aufgenommen mit Handys von Familienangehörigen. Grund für die Situation waren Hubschrauberflüge vom Militär über der Gemeinde. Solche Drohgebärden verängstigen die Menschen, wurden ihre Gemeinden in der Vergangenheit doch immer wieder von Militär und Paramilitär bombardiert.
Hier im Norden Kolumbiens, ein paar Tage mit dem Boot von Panama entfernt, befinden sich zahlreiche Autonomiegebiete von Indigenen und Afrokolumbianer*innen. Sie umfassen insgesamt über 93 Prozent der Fläche des Chocó. Die Autonomie dieser Gebiete wurde in der Verfassung von 1991 legal verankert. Zur Wahrung der ethnisch-territorialen Rechte müssen die Bewohner*innen im Falle einer Intervention auf ihrem Gebiet vorher befragt werden, denn die Landtitel sind kollektiv, können nicht an externe Akteure veräußert, sondern maximal verpachtet werden. In den Gebieten der Indigenen ist zudem die eigene Justiz per Gesetz anerkannt. Im Chocó existieren 120 solcher indigener Autonomieregionen, zumeist bewohnt von Embera und Wounaan.

“Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die […] seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind”

Eine davon ist Jagual-Río Chintadó, in der sich auch das Dorf Marcial befindet. Es liegt am Fluss Chintadó, einem Nebenarm des Atrato, und wurde 1984 von rund 1000 Indigenen gegründet. „Die Geschichte der Siedlung Marcial reicht aber mindestens 500 Jahre zurück“, erzählt Pedrito García von den Wounaan: „Während all dieser Zeit waren wir auf der Suche nach einem geeigneten Territorium, wo der Boden eine gute Ernte garantiert, wo genügend Fische und andere Tiere leben.“ Bevor die Familien in Marcial siedelten, waren sie als Halbnomad*innen in großen Familienzusammenhängen organisiert. Erst mit den Jahren wurden immer mehr Familien in Marcial sesshaft und bauten Häuser. „Es ist eine Gemeinde von Vertriebenen, die wegen der verschiedenen bewaffneten Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten des Bürgerkriegs auf der Flucht sind – teilweise waren sie sogar bis nach Panama geflohen“, erklärt García. Die Region ist von dichtem Urwald bewachsen, es gibt keine Straßen oder befestigten Wege, nur über die Flusswege gibt es Zugänge. Die Bezirkshauptstadt ist acht Stunden mit dem Boot entfernt, sofern der Fluss nicht vom vielen Schwemmholz verstopft ist.
Doch selbst der dichte Urwald kann bewaffnete Akteure nicht abschrecken. Heute geht es ihnen vor allem um die Kontrolle der Transportwege für illegale Märkte, für Drogen, Waffen, illegalen Rohstoffhandel mit Ressourcen wie Kupfer, Gold und Coltan. Aber auch illegal geschlagene Edelhölzer werden über das weit verzweigte Flusssystem transportiert – 4.000 Hektar der Regen­wälder im Chocó werden jährlich abgeholzt. Nicht zuletzt boomt das Geschäft mit Ölpalmen auf den gerodeten Flächen. Mit den Monokulturen verlieren die Menschen die Kontrolle über ihre kollektiven Gebiete und ihre Autonomierechte. Die Biodiversität und der biologische Genpool sind von Interesse für die Pharmaindustrie und der Atrato ist von großer Bedeutung als Süßwasserreservoir. Am dramatischsten sind jedoch die Geschäfte mit Migration und Menschenhandel. Der Atrato ist das Nadelöhr für die globale Migration über Mittel- nach Nordamerika. Die Migrant*innen kommen nicht nur aus der Karibik, sondern auch aus Westafrika und Südasien.
Und der kolumbianische Staat? Der vernachlässigt die Bedürfnisse der Menschen vor Ort und verdient kräftig mit an den illegalen Geschäften. Er tritt nicht für die Rechte der Anwohner*innen ein, sondern für die Militarisierung mit Blick auf zu fördernde Ressourcen. So kam es auch unter Mitwirken des Staates zur ersten massiven Vertreibung in den Jahren 1996 und 1998. Damals wurden erste Megaprojekte initiiert und zum Schutz der Interessen der internationalen Firmen die paramilitärischen Gruppen bewusst aufgebaut.

Foto: Andreas Hetzer

Die Folgen sind verheerend. Im Chocó leben 500.000 Menschen – laut Statistikamt sind fast 80 Prozent der lokalen Bevölkerung arm. Zum Vergleich, im nationalen Landesdurchschnitt sind es 28 Prozent. Rund 27 Prozent der Menschen im Chocó leiden unter extremer Armut – in ganz Kolumbien betrifft das sieben Prozent, zumindest nach offiziellen Angaben. In Marcial sind allein in den letzten beiden Monaten acht Kleinkinder an Unterernährung gestorben. Da die bewaffneten Akteure die Zugänge über die Flüsse kontrollieren, kommen Nahrungsmittel und Medikamente nicht an – oder sie werden mit Schutzgeld belegt und werden damit unerschwinglich für die Bevölkerung. Die Folge sei chronische Mangelernährung, weil die Menschen nie ins bäuerliche Leben zurückfinden, so die Ombudsstelle für Menschenrechte in Kolumbien.
Der Krieg dauert bis heute an und hat in den letzten Jahren sogar an Intensität zugenommen. Seit dem Friedensabkommen von 2016 ist nirgendwo in Kolumbien die Vertreibung so massiv, rund 70 Prozent aller aktuellen Fälle finden am Pazifik statt. Die Vertriebenen suchen oft monate- oder jahrelang vergeblich Hilfe in den urbanen Zentren. Die Menschen fliehen, um ihre Kinder vor Zwangsrekrutierungen zu schützen. Zwischen Januar 2018 und Juni 2019 wurden 57 Massenvertreibungen gemeldet – 21.000 Personen sind auf der Flucht. „Wir bleiben in Marcial. Was haben wir sonst für eine Wahl. In anderen Dörfern müssen sie bei jedem lauten Knall fliehen. Dann leben sie im Elend in Riosucio oder anderen urbanen Zentren“, beschreibt García.

21.000 Menschen sind auf der Flucht

Von den Vertreibungen im Jahr 2018 waren laut der UNO vor allem Indigene und Afrokolumbianer*innen betroffen. Im Bezirk von Riosucio, zu dem auch Marcial gehört, wurden laut staatlichen Quellen zwischen 1985 und 2019 mindestens 382 Menschen ermordet, und 190 Menschen entführt, die seitdem verschwunden sind. Seit 2017 wurden 17 Aktivist*innen im Chocó ermordet, davon 9 am Flusslauf des Atrato. Dabei sind die Menschen nicht mitgezählt, die den Landminen zum Opfer fallen. „Das schlimmste, was der Konflikt uns hinterlässt, sind die Minen,“ erzählt García. In der gesamten Region seien sie verlegt. „Eigentlich überall dort, wo es Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen bewaffneten Gruppen gibt, um ihre Einflussgebiete vor ihren Gegnern zu verteidigen“, ergänzt er. Die Embera und Wounaan rufen das Militär zu Hilfe, wenn sie Landminen auf ihrem Gebiet vermuten. Denn nur das Militär hat die notwendige Ausrüstung und Personen mit Spezialausbildung zu deren Räumung und Entschärfung. In allen Autonomiegebieten werden immer wieder Minen gefunden, manchmal tritt nachts ein Tier darauf und explodiert. Gleich hinter dem Sportplatz von Marcial steht ein Schild, das vor dem Betreten des Waldstücks warnt. Eigentlich wären es zur Nachbargemeinde Jagual nur ein paar Minuten zu Fuß. Der einzig sichere Zugang bleibt nur über den Fluss.

Foto: Andreas Hetzer

Und wer legt die Minen? Vor allem Paramilitärs, aber auch Guerilla und sogar das Militär selbst. Es ist schwer nachzuweisen, da die Minen immer selbstgebastelte Sprengkörper sind, die nicht eindeutig einem Akteur zugeordnet werden können. Seit 2015, also inmitten der Verhandlungen der FARC mit der Regierung, sind nun wieder paramilitärische Verbände in der Region verankert – sie lassen Menschen verschwinden und säen Terror unter der Bevölkerung. Die Paramilitärs rekrutieren auch zwangsweise Minderjährige. Ebenfalls wächst der Einfluss der ELN-Guerilla in der Region am Atrato. Seit der Präsident Iván Duque die Verhandlungen mit ihnen abgebrochen hat, ziehen sie sich in ihre traditionellen Gebiete zurück. Unter anderem in den Chocó. Sie sollen viermal mehr Mitglieder haben als noch vor zwei Jahren.
Aber es gibt Widerstand aus den indigenen Gebieten – vollkommen unbewaffnet. „Alles was wir einsetzen, ist unsere Gemeinschaft und die Solidarität untereinander“, beschreibt García. Ein Teil der Gemeinde in Marcial ist damit beauftragt ihr Gebiet zu bewachen. Sie nennen sich selbst Verteidiger*innen des Territoriums und lassen sich an ihrem symbolischen Kommandostab, dem bastón de mando, erkennen, den sie immer mit sich führen. Die Verteidiger*innen werden auf den Treffen der ganzen Dorfgemeinschaft bestimmt. Simón ist einer von ihnen. Mit seinen 31 Jahren gilt der in Marcial geborene junge Wounaan schon als einer der Älteren. Er ist damit beauftragt, die Verteidiger*innen zu koordinieren und ihre Aufgaben einzuteilen. Die Gemeinschaft habe ihn mit dieser wichtigen Aufgabe betraut, weil sie seine Disziplin und seinen Gemeinschaftssinn schätze, teilt er schüchtern und mit leiser Stimme mit. Seit knapp drei Jahren ist er dabei – von Beginn an. Die Idee kam im Austausch mit anderen Indigenen bei einem Treffen in der Hauptstadt Bogotá. „Andere indigene Gemeinschaften haben schon seit vielen Jahren eigene Verteidigungseinheiten, die sie woanders guardia indígena nennen. Wir befinden uns noch im Aufbau und benötigen die Unterstützung von anderen indigenen Völkern, die uns in Theorie und Praxis der Selbstverteidigung schulen können.“ Bisher haben sie sich alles selbst beigebracht und greifen auf den Erfahrungsschatz der Älteren in der Gemeinde zurück.

Unterricht in Marcial "Eine Gemeinde von Vertriebenen" Unterricht in Marcial – “Eine Gemeinde von Vertriebenen” / Foto: Javier Serna

Schon den Kindern ab zwölf Jahren wird in der Schule grundlegendes Wissen zur Verteidigung des Territoriums beigebracht, aber Aufgaben dürfen sie erst ab 18 Jahren übernehmen. In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, davon 21 Frauen. Die Frauen haben dieselben Aufgaben wie die Männer. Der einzige Unterschied ist, dass sie tagsüber über das Gebiet wachen und die Männer nachts. Der Mut und die Überzeugung, ihre Gemeinschaft und ihr Territorium zu verteidigen, verleiht ihnen die notwendige Kraft, um sich notfalls gegen bewaffnete Akteure zu stellen. „Wenn es gravierende Probleme in einer der Nachbargemeinden gibt, schicken wir eine Kommission zur Unterstützung oder Verstärkung, und umgekehrt. Wir arbeiten immer gemeinschaftlich“, erläutert Simón selbstverständlich. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Bedrohung sehr groß sei, werde die gesamte Gemeinde mobilisiert.

In Marcial gibt es 54 Verteidiger*innen, 21 davon sind Frauen.

Die Verteidigung des Rechts zu bleiben geht weit über Marcial hinaus. “Wir verstehen uns als einen kleinen Teil der Bewegung für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben“, sagt García. Gerade deswegen ist die Verteidigung des Territoriums existenziell. Denn das Territorium bedeutet mehr als nur der Boden. Es gilt den Embera und Wounaan als vitaler Lebensraum, der unmittelbar mit der eigenen Kosmovision und Identität zusammenhängt. Der Erhalt der eigenen Kultur ist deswegen immer auch ein kollektiver Akt des Widerstands gegen die Kolonisierung und Unterdrückung. „In vielen Bereichen sind wir bereits gescheitert, denn die sogenannte Zivilisation, die Konquistadoren und ihre Religion haben viel von unserer Tradition und sogar unsere Sprache zerstört“, sagt García. Im Jahr 1995 hat die Gemeinschaft in Marcial deshalb beschlossen, nach ihren eigenen Ursprüngen und ihrer Kosmovision zu forschen und dieses Wissen zu verschriftlichen. „Denn es gibt kaum schriftliche Überlieferungen. Wir haben quasi von null angefangen“, so García weiter.

Verteidigerin des Territoriums – Frauen haben die gleichen Schutzaufgaben wie die Männer / Foto: Nicolás Achury González

Das Gleiche gilt für die Schule im Dorf. Anfangs gab es ein Gebäude aus traditionellen Naturmaterialien, um den Kindern traditionelles Wissen beizubringen. Allerdings hatten die Kinder nur bis zur fünften Klasse Unterricht, da es keine ausgebildeten Lehrer gab. Später dann setzte die Gemeinde durch, dass der Staat die Lehrer*innen bezahlte, jedoch kamen diese immer von außerhalb und unterrichteten nur auf Spanisch. „Bis 1995 gab es keinen Lehrer mit linguistischen Kenntnissen unserer Muttersprache, aber nun gibt es welche aus unseren eigenen Reihen. Wir haben erhebliche Fortschritte gemacht. Heute sind wir über 300 Wounaan-Lehrer in Kolumbien“, berichtet García stolz, der selbst Lehramt studiert hat und an der eigenen Schule arbeitet. Nun wird besonders in den ersten Jahren Wert darauf gelegt, einen Teil der Lehre in Wounaan und Embera abzuhalten. Zudem wird der Lehrplan selbst entwik-kelt und eigenes Lehrmaterial zu indigener Kultur und Geschichte erstellt. Doch nicht nur die Lehrer*innen und Schüler*innen sind daran beteiligt. „Die Bildung ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wir beziehen die gesamte Gemeinde mit ein, denn das Wissen und die Wissenschaft besitzen die Weisen und Ältesten“, gibt sich García sicher. Nicht nur die Bildung, sondern eigentlich alles wird in Marcial gemeinschaftlich organisiert. Jeden Tag kommt die große Versammlung zusammen, an der alle teilnehmen, auch die Kinder über 12 Jahre. García lächelt und sagt: „Deshalb bezeichnen wir die Versammlung als unsere Universität, da wir jeden Tag etwas über die indigenen Rechte und die politische Organisierung des Widerstands lernen.“

* Namen der Autoren von der Redaktion geändert

 

 

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