„Es ist keine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise“

Para leer en español, haga clic aquí.

Demonstrieren auch in Deutschland Juan Pablo Gutiérrez (vorne rechts) mit anderen Demonstrierenden vor der kolumbianischen Botschaft in Berlin
(Foto: Klaus Sparwasser)

Das Verfassungsgericht hat im Jahr 2009 erklärt, dass die Gemeinschaft der Yukpa unmittelbar von physischer und kultureller Auslöschung bedroht sei. Was sind die Gründe dafür?
Das hängt mit dem Verlust unseres angestammten Territoriums zusammen. Der Betrieb der Minen (siehe Infokasten unten) war nur möglich, weil paramilitärische Gruppen dieses Gebiet Bäuer*innen, Indigenen und Afrokolumbianer*innen gewaltsam entrissen haben, die dort seit langem gelebt haben. Diese Gruppen haben viele Menschen vertrieben und ermordet.
Als Halbnomad*innen konnten wir Yupka uns von jeher durch Jagd und Fischfang ernähren, aber die Bergbauunternehmen haben die Flüsse umgeleitet und verschmutzt. Jagd und Fischfang werden immer schwieriger, da wir immer weitere Entfernungen zurücklegen und Tage unterwegs sein müssen, um noch Tiere zu finden. Die Anstrengung lohnt sich immer weniger. Daher wachen bei den Yukpa heute häufig nachts die Kinder auf und weinen vor Hunger. Der Hunger und der in der Luft vorhandene Kohlenstaub verursachen jedes Jahr den Tod von etwa 40 Kindern. Da das Territorium auch unsere Kultur und Kosmovision prägt, sind diese ebenfalls bedroht. Viele Pflanzen und Tiere verschwinden aus unserem Wortschatz, weil sie aufgehört haben zu existieren. All das konnte nur geschehen, weil der Staat uns vernachlässigt und vergessen hat und aufgrund der Komplizenschaft der früheren Regierungen mit den Bergbaukonzernen, gestützt auf den Begriff „Fortschritt“ – unseres Erachtens nach das neue Gesicht des Kolonialismus.

Die Yukpa bemühen sich derzeit um die Abgrenzung ihres angestammten Territoriums, die auch das kolumbianische Verfassungsgericht seit 2017 fordert. Warum ist das so wichtig?
Sobald die dafür zuständige Nationale Landbehörde (ANT) die Urteile des Verfassungsgerichts umsetzt und unser Territorium abgrenzt, wird damit auch offiziell festgehalten, dass die Kohletagebaue auf Yukpa-Gebiet liegen. Das ist ein wichtiger, mächtiger Baustein für unsere juristische Strategie (siehe Infokasten unten). Es wird uns erlauben, nachträglich unser Recht auf eine vorherige Anhörung einzufordern, die vor Beginn des Minenbetriebs nicht stattgefunden hat. Es wird uns auch ermöglichen, unser Recht auf eine Nachkonsultation durchzusetzen, um eine Wiedergutmachung für die entstandenen Schäden zu bekommen. Die Umsetzung der Abgrenzung ist also der Schlüssel für die Lösung der Probleme der Yukpa.

Was stellen sich die Yukpa unter Wiedergutmachung vor?
Wir in Kolumbien bemühen uns seit 2016 (Abschluss des Abkommens mit der FARC-Guerilla, Anm. d. Red.) um Frieden. Dabei haben wir gelernt, dass dafür drei Dinge nötig sind: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Die Autoritätspersonen der Yukpa vor Ort werden sich zu gegebener Zeit zum Thema Wiedergutmachung äußern. Persönlich glaube ich, dass die Behebung der Umweltschäden dabei zentral wäre: die Befreiung und Säuberung der Flüsse, die Wiederansiedlung von Fischen, anderen Tieren und Pflanzen. Letzten Endes würde das auch das Hungerproblem angehen.

Wie ist es zu erklären, dass der Konzern Glencore 2021 seine Bergbaulizenen in der Region Cesar an die Regierung zurückgegeben hat, während er die große und bekanntere Cerrejón-Mine in der Region La Guajira weiter ausbeutet?
Nachdem das Verfassungsgericht uns im Jahr 2021 zum zweiten Mal Recht gab, hat Glencore seinen vollständigen Rückzug aus unserem Gebiet angekündigt. Als Begründung nannten sie den gefallenen Kohlepreis. Dass gleichzeitig die Cerrejón-Mine auf dem Gebiet der indigenen Gemeinschaft der Wayuu noch in Betrieb ist, zeigt jedoch, dass das nicht der wahre Grund ist. In Wirklichkeit haben sie Angst bekommen, da wir Yukpa sie durch unsere juristische Arbeit in die Ecke getrieben haben. Sie haben gemerkt, dass sie gehen müssen, um der Verantwortung zu entgehen.

Die linke Regierung von Gustavo Petro respektiert die indigenen Rechte und möchte aus der Kohlegewinnung aussteigen. Warum habt ihr euch dafür entschieden, gemeinsam mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft in kolumbianischen Botschaften einen offenen Brief zu übergeben?
Die Verantwortung für die Probleme, die wir in dem Brief ansprechen, liegt bei den früheren Regierungen, nicht bei der von Petro. Seine Regierung entstand auch aus sozialen und indigenen Bewegungen heraus. Wir Yukpa unterstützen die Regierung, die indigenen Gemeinschaften regieren zum Teil sogar in den Institutionen mit. Wir haben Organisationen aus verschiedenen Ländern zur Übergabe des offenen Briefes aufgerufen, um die Regierung daran zu erinnern, dass es dieses Urteil gibt. Wir sind uns nämlich sicher, dass sie das Urteil gar nicht kennt, denn es ist nur eins von sehr, sehr vielen Gerichtsurteilen, die von früheren Regierungen nicht umgesetzt wurden.
Ich spreche manchmal mit Regierungsbeamten und mit Petros Ministern und ihnen ist ganz klar, dass die Herausforderung darin besteht, die Abhängigkeit Kolumbiens von fossilen Energien zu beenden. Für uns heißt es daher: jetzt oder nie.

Deutschland importiert aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine nun mehr Kohle aus Kolumbien als zuvor. Was erwartest du von den Aktivist*innen in Europa?
Der Kohleexport aus Kolumbien ist infolge des Kohleembargos der EU gegen Russland um über 200 Prozent angestiegen, ohne dass die sterbenden Kinder der Yukpa oder der Wayuu von den Einnahmen etwas hätten. Deutschland wird Kolumbien unter Druck setzen, nicht aus der Kohle auszusteigen. Daher ist es wichtig, dass der Ausstiegswille der kolumbianischen Regierung gestärkt wird. Andererseits sollte die deutsche Zivilgesellschaft auch ihre eigene Regierung an die Notwendigkeit des Ausstiegs aus den fossilen Energien erinnern. Ich fände es sehr wichtig, dass die Aktivist*innen hier ihr Narrativ über die Krise mehr auf das fokussieren, was sie für uns ist: nicht eine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise. Lösen muss sie die Handvoll Länder, die sie auch verursacht haben. Wenn weiter nur von einer Klimakrise die Rede ist, wird die zentrale Forderung sein, ein CO2-ausstoßendes Modell der Landausbeutung durch eines zu ersetzen, bei dem kein CO2 freigesetzt wird. Und für uns wird sich dabei nichts ändern, denn die Energiewende wird weiter auf der Ausbeutung unserer Territorien beruhen, nur in Zukunft dann eben mit grünem Wasserstoff oder Solarzellen anstatt mit Kohle.
Ein anderer Punkt ist, dass der Kampf ums Klima hier noch aus verschiedenen Nischen und Gruppen heraus geführt wird. Das kommt der Regierung und den Unternehmen entgegen. Eine Masse von Menschen, die entschieden und entschlossen sind, die Dinge zu verändern, ist unaufhaltsam. Daran fehlt es hier noch. 2024 sollte das Jahr sein, um eine Bewegung von Bewegungen zu schmieden, unter Einschluss der Gewerkschaften – auch angesichts der Tatsache, dass der Faschismus in Europa auf dem Vormarsch ist.
Das sage ich aus der Perspektive der organisierten indigenen Gemeinschaften in Kolumbien heraus. Seitdem wir uns auf nationaler Ebene als ONIC organisiert haben, sind wir Indigene ein Machtfaktor. Hätten wir Yukpa allein weitergemacht, wären wir längst verschwunden.

„Feminismus muss lernen, sich zu dekolonisieren“

Foto: Katia Sepúlveda

Als Yuderkys Espinosa (Santo Domingo, 1967) nach Buenos Aires kam, wurde sie mit einem Rassismus konfrontiert, den sie aus ihrer Heimat, der Dominikanischen Republik, nicht kannte. Als sie das erste Mal einkaufen ging, fragte sie der Ladenverkäufer: „Wie kann die Hausherrin Sie denn mit Ihrem Haar so ausgehen lassen?“, in Anspielung auf ihren angeblichen Status als Hausangestellte. Das war kein Einzelfall. Rassismus war nicht nur im Alltag, sondern auch in der Universität ein Thema.

Während ihres Studiums in Argentinien beschäftigte sich Yuderkys Espinosa mit dem lesbischen, autonomen Feminismus, einer intellektuellen Strömung, die in Ablehnung der Institutionalisierung des Feminismus durch den Staat und NGOs entstand. Sie distanzierte sich jedoch wieder davon, aufgrund des „epistemischen (wird oft als Synonym von ‚wissenschaftlich‘ verwendet, Anm. d. Red.) Rassismus“, der es ihr nicht zutraute, kritische und ernstzunehmende Gedanken zu entwickeln. Auch ihre spätere Annäherung an die Queere Theorie überzeugte sie nicht. Sie stellte fest, dass diese sich auf Thesen aus Europa und den USA konzentrierte und vor allem auf den Erfahrungen reicher, weißer Personen und Akademiker*innen beruhte – Erfahrungen, denen sie sich entfremdet fühlte.

Biografisch führt Espinosa ihren kritischen Geist auf ihren Vater zurück, einen Mann aus der Schwarzen Arbeiterklasse, der sie schon als Kind ermutigte, das Establishment zu hinterfragen. Später festigte ihre Liebe zum Lesen, vor allem aber ihr ständiger Dialog mit Frauen vom Land, aus der Arbeiterklasse, der indigenen und der Schwarzen Bevölkerung ihre rebellische Persönlichkeit und ihren kritischen Standpunkt.

Mit vielen Fragen im Hinterkopf und auf Basis ihrer Erfahrungen als Migrantin und afrokaribische Frau in Buenos Aires, landete Espinosa beim dekolonialen Feminismus. Diese Strömung, die sich auf die Widerstandserfahrungen der indigenen Völker Lateinamerikas und der Karibik stützt, greift auch auf theoretische Ausarbeitungen des Schwarzen Feminismus in den USA zurück. Sie kritisiert die feministische Theorie als eurozentrisch und bürgerlich.

Ein Wendepunkt in Espinosas theoretischer Entwicklung war die Lektüre von Género y descolonialidad (2008) der argentinischen, feministischen Philosophin und Aktivistin María Lugones mit Isabel Jiménez Lucena und Madina Vladimirovna Tlostanova. In diesem Buch fand sie ausformuliert, was sie selbst an der weißen Herkunft des Feminismus kritisiert hatte.

Angetrieben von dem Bedürfnis, über Lateinamerika nachzudenken und dabei indigene, mestiza und Schwarze Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, näherte sich Espinosa den dekolonialen Ansätzen. Diese theoretische Strömung wurde in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren entwickelt. Die Kritik der europäischen Moderne, die Dekolonisierung des Wissens und das subalterne Subjekt gehören zu den theoretischen Hauptinteressen des Ansatzes, der stark von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano und seinem Konzept der „Kolonialität“ beeinflusst wurde. Dieses weist auf das Machtgefüge hin, das die Bevölkerung der Welt historisch bis heute sowohl auf materieller Ebene als auch in Bezug darauf, was als Wissen anerkannt wird und was nicht, rassistisch klassifiziert und ordnet.

Die dekoloniale Wende verband verschiedene Strömungen des lateinamerikanischen Denkens, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Themen wie den Beziehungen Lateinamerikas zu Europa und Nordamerika und der gegenwärtigen Dynamik von Herrschaft und Unterordnung auseinandersetzten. Auch kritische feministische Perspektiven durch Autorinnen wie María Lugones, die argentinische Anthropologin Rita Segato und Yuderkys Espinosa gewannen innerhalb der Strömung mit der Zeit an Bedeutung. Espinosas Arbeit hat sich unter anderem in ihrem letzten Buch De qué es necesario un feminismo decolonial (dt.: Warum ein Dekolonialer Feminismus notwendig ist) auf diese Perspektive konzentriert.

In Ihrem Buch De qué es necesario un feminismo decolonial stellen Sie eine kritische Genealogie (Genealogie als sozialwissenschaftliche Methode, mit der die Herkunft und Entwicklung z. B. von Konzepten nachgezeichnet wird, Anm. d. Red.) dessen auf, was Sie als „die Kolonialität der feministischen Vernunft in Lateinamerika und der Karibik“ bezeichnen. Können Sie diese Kritik etwas erläutern?

Sie bezieht sich auf die Tatsache, dass die Grundannahmen des Feminismus europäisch sind. Sie sind dem Projekt der westlichen Moderne verpflichtet, wo die Befreiung der Frau eine Befreiung in der Art und Weise bedeutet, wie die europäischen Länder sie verstehen. Es gibt zwar viele feministische Strömungen, doch viele davon teilen Grundlagen, die mit der modernen Rationalität zusammenhängen. Diese Grundlagen problematisieren wir.

Sie schlagen vor, dass es für eine Revision und Entflechtung des produzierten Wissens nicht mehr darum geht, über die Überschneidungen zwischen raza und Geschlecht wie im Ansatz der Intersektionalität zu sprechen, sondern sie als Ganzes zu betrachten, als „rassistische modern-koloniale Matrix des Geschlechts“. Was ist die Kritik an der Intersektionalität und was schlägt Ihr Konzept dagegen vor?

Das Hauptproblem besteht darin, dass intersektionale Ansätze bestimmte Identitätskategorien isolieren. Der Trend der letzten Jahre geht dahin, dass die Geschlechterforschung die Intersektionalität nutzt, um die Situation Schwarzer und indigener Frauen zu untersuchen. Es wird untersucht, wie sich raza und Klasse auf diese Frauen auswirken, dann werden weitere Variablen hinzugefügt: Behinderung, Geschlechtsidentität und so weiter. Wir nennen das „summative Betrachtung“ – man kann scheinbar alles addieren. Jede dieser Kategorien wird jedoch aus dem sozialen Ganzen herausgelöst und dabei immer aus der Erfahrung derjenigen herausgearbeitet, die innerhalb dieser Kategorie größere Privilegien genießen. María Lugones zeigt, dass es unmöglich ist, Herrschaft in voneinander unterteilten Variablen zu betrachten. Wir haben daher das Konzept der „kolonial-modernen, rassistischen Matrix des Geschlechts“ erarbeitet. Es zeigt auf, dass es nicht möglich ist, zu sagen „jetzt gerade spielt das Geschlecht die größte Rolle, jetzt gerade raza, jetzt die Klasse“.

Elizabeth González, Anführerin der Q’om-Frauen des Chaco in Argentinien, bekräftigt, dass die Q’om-Frauen das Gefühl haben, dass sie mit ihren Brüdern in ihrem Land eine Verteidigungseinheit bilden, „als ein Ganzes, das aus keinem Grund getrennt werden darf, da sie sonst nicht in der Lage sind, der Armut, der Marginalisierung und der Politik des Verschwindens zu begegnen“. Diese Vision, die vor allem im Rahmen des gemeinschaftlichen und/oder indigenen Feminismus entwickelt wurde, steht im Gegensatz zu der einiger Feminismen, einschließlich des separatistischen Feminismus, die sich von der Beteiligung der Männer an der Bewegung distanzieren. Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Positionen?

Das ist sehr schwierig. Ich denke, der separatistische Feminismus muss lernen, sich zu dekolonisieren. Dieser feministische Separatismus gibt dem Projekt der Moderne Kontinuität, indem er das gemeinschaftliche Band zerbricht. Die Vorstellung von Frauen auf der einen und Männern auf der anderen Seite ist eine Erwiderung auf dieses auf Individualisierung ausgerichtete Zivilisationsmodell. Für diesen Feminismus wie für die Moderne hat die Rückständigkeit der Menschheit mit der Aufrechterhaltung dieser gemeinschaftlichen Bindung zu tun. Deshalb drehen sich alle großen feministischen Phrasen und Slogans um das Ich: „Mein Körper gehört mir“, „Ich entscheide“. Wenn Frauen sich von der gemeinschaftlichen Bindung lösen, entsteht eine Form der Beziehung, die auf der Konstruktion fiktiver, politischer Gesellschaften beruht, und das ist die feministische Gemeinschaft.

Was geschieht, wenn es Frauen gibt, die körperliche, psychische oder wirtschaftliche Gewalt
erlitten haben und keine Gemeinschaftsbeziehungen mit gewalttätigen Männern eingehen wollen?

Die Antwort darauf kann nicht sein, dass wir jetzt eine Frauengesellschaft schaffen, als ob es diese Formen der Gewalt dann nicht gäbe. Es ist eine Verblendung seitens weißer Feministinnen, zu glauben, dass es sichere Räume für Frauen gibt, wenn wir ausschließlich unter Frauen sind. Das ist nicht die Erfahrung, die die meisten von uns, vor allem rassifizierte Frauen, gemacht haben. Wir haben auch gesehen, dass sich die größte Empörung oft gegen rassifizierte Männer richtet, die nicht die Macht in der Gesellschaft haben und die ihre Regeln nicht definiert haben. Woher kommt dabei der Gedanke, dass Frauen nicht in der Lage sind, Gewalt zu erzeugen? Das ist eine Idealisierung. Hier stellt sich die Frage nach der Erweiterung unseres Blicks. Wir sprechen über Gewalt, die produziert wird, weil sie Teil einer Struktur ist, in diesem Fall einer modernen, rassistischen, kolonialen Struktur. Auch das Geschlecht ist Teil dieser Struktur.

Wie können wir in Lateinamerika einen neuen Denkansatz für den Feminismus entwickeln, in einem Kontext, in dem der Rassismus ganze Gesellschaften durchdringt?

Ich denke, es ist nicht mehr nur ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern auch ein ontologisches, das heißt, wie wir die Welt machen, nicht nur wie wir sie interpretieren. In diesem Sinne denke ich, dass die Entkolonialisierung bedeuten sollte, anzuerkennen, dass es andere mögliche Welten gibt, dass wir ein anderes Gesellschaftsmodell aus den kommunalen Geweben dieses Kontinents lernen können. Wir können nicht glauben, dass wir den Rassismus innerhalb der Ordnung der Moderne selbst beenden können. Denn diese ist ein zivilisatorisches Modell, das sich auf die bekannten Institutionen stützt: den Nationalstaat, mit seinen Aufrüstungskapazitäten, seinem Gewaltmonopol und seinem Justizsystem.

Pablo González Cassanova entwickelte in den 1970er Jahren das Konzept des „inneren Kolonialismus“, das später von Silvia Rivera Cusicanqui weiterentwickelt wurde, wobei er betonte, dass eine seiner schlimmsten Erscheinungsformen die Ablehnung von allem, was mit indigenen Völkern zu tun hat, durch Teile der Linken ist. Wie funktioniert dieser „innere Kolonialismus“, der nicht nur in konservativen und rechten Eliten, sondern auch in progressiven und linken Sektoren verwurzelt ist?

Die dekoloniale Wende ist eine Notwendigkeit der Bewegungen der späten 1980er Jahre. In dieser Zeit traten Subjekte, die bis dahin darauf beschränkt waren, aus einem marxistischen Vokabular und einer marxistischen Interpretation heraus gelesen zu werden, aus diesem Rahmen heraus. In den 1990er Jahren begannen diese Gruppen, sich authentischer auf der Grundlage ihrer eigenen Geschichte zu positionieren. Es ist eine Revision der lateinamerikanischen Philosophie notwendig, die sich bisher schwertat, ihr Paradigma zu ändern. Die Linke folgt diesem Muster: Sie sprach immer von einem Fortschritt, der eng damit verbunden war, sich wie Europa oder im Sinne der marxistischen Ideen zu entwickeln. Wenn es nun Misstrauen seitens der Linken gegenüber der dekolonialen Wende gibt, dann interpretiere ich das auch als eine Debatte darüber, wer die Macht hat, den gesellschaftlichen Diskurs zu dominieren.

DEM NEOKOLONIALISMUS DEN KAMPF ANSAGEN

Treffsicher? Protestaktion gegen den G7-Gipfel 2022 in Elmau (Foto: Sofía Quesada)

Unter antikapitalistischen, antikolonialen und Klimagerechtigkeitsgruppen sorgen hochkarätige Treffen wie der jüngste G7-Gipfel in Elmau immer für Aufruhr, sind sie doch meist Ausdruck offensichtlicher Heuchelei. Denn G7, der informelle Zusammenschluss der sieben bei der Gründung 1975 bedeutendsten westlichen Industriestaaten, ist eine Inszenierung, bei der es kaum um kritische Themen geht. Stattdessen dient das Treffen dazu, die Schere zwischen Globalem Süden und Norden zu erhalten oder sogar zu vergrößern.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass mit den Vorbereitungen für G7 in Elmau auch Mobilisierungen für Gegenproteste einsetzten. Zusammen mit linken Gruppen aus Deutschland protestierten dann lateinamerikanische und afrikanische Aktivist*innen aus Gruppen wie der Karawane für das Leben, Debt for Climate, Fridays for Future oder der Riseup-Bewegung in der Umgebung des Gipfels. Das Bündnis „Stop G7 Elmau“ hatte damit auch jenen eine Stimme verschafft, die sonst selten diese Möglichkeit bekommen. „Ich bin den Neokolonialismus der G7 über unsere Leute satt. Wir wollen Gerechtigkeit für unsere Menschen, wir wollen, dass sie für den Kolonialismus des europäischen Kontinents über unsere Länder Verantwortung übernehmen”, sagte etwa die namibische Aktivistin Ina Maria Shikongo in München. Und man muss sich nur die verheerenden Auswirkungen der geplanten Ölbohrungen im Okavango-Delta in Namibia ansehen, um zu verstehen, wie teuer der Ölkolonialismus Länder und Gemeinden im globalen Süden zu stehen kommt. Die Geschichte erzählt es uns, denn es ist nichts Neues: In Afrika werden die natürlichen Ressourcen ausgebeutet, die Gemeinschaften leben in Armut und in ständigem Überlebensmodus.

Eng verbunden mit wirtschaftlichen Fragen zeigt sich auch der Kampf gegen die Klimakrise und für Klimagerechtigkeit. Es ist offensichtlich, dass die Klimakrise Folge jahrhundertelanger Ausbeutung ist, die nicht aufzuhören scheint. So erzählt Esteban Servat, Debt for Climate-Aktivist aus Argentinien: „Es geht nicht nur um Emissionen oder eine 1,5-Grad-Politik. Wir müssen zusammen gegen die Ausbeutung und den Kolonialismus des Globalen Nordens kämpfen.“ Wann wird der Globale Süden erfolgreich unabhängig? Zur wirtschaftlichen Ausbeutung gehören auch die hohen Schulden beim Internationalen Währungsfonds, von denen viele lateinamerikanische Länder derzeit betroffen sind. So entscheiden die G7 über die Schulden der Länder des Globalen Südens, während sie selbst Klimaschulden aufhäufen. Was wiegt da schwerer? So oder so bleibt es der Globale Süden, der am Ende den Schaden davonträgt. Sei es durch unüberwindbare Schuldenberge oder dadurch, dass Lebensräume indigener Gemeinschaften dem Erdboden gleichgemacht und ihre kulturellen Identitäten zerstört werden. Auch wenn Länder des Globalen Nordens behaupten, im Globalen Süden fehle es an Infrastruktur, geschieht das meist nicht, um die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort zu verbessern. Stattdessen dient dieser paternalistische Vorschub als Hauptbegründung für die Durchführung von Infrastrukturprojekten, die die Gemeinschaften am Ende wieder ausbeuten. Zwei der zahllosen Beispiele hierfür sind der Interozeanische Korridor im mexikanischen Isthmus von Tehuantepec oder der Tren Maya (siehe LN 567), an dem auch die Deutsche Bahn AG als sogenannter Schattenbetreiber (Shadow Operator) lukrativ beteiligt ist. Angesichts der Schulden und Verzweiflung vieler Staaten des Globalen Südens werden die natürlichen Ressourcen dieser Länder zu Zahlungsmitteln. So bot der argentinische Präsident Alberto Fernández, der als Gast aus Lateinamerika zum G7-Gipfel eingeladen war, die Vaca Muerta, eine der größten Ölschiefer-Lagerstätten weltweit, als Alternative zum russischen Gas in der aktuellen Energiekrise an.

Und so bleibt die große Frage immer dieselbe: Wann wird der Globale Norden aufhören, die Länder des Globalen Südens zu beherrschen, zu verfolgen und zu verwüsten? Wird der Tag kommen, an dem diese Länder erfolgreich unabhängig sind? Irgendwann sicher, wenn der Aufstand gegen die Ungerechtigkeit weiter geht. So denken die Aktivist*innen, die gegen G7 protestieren ebenso wie die Autorin dieses Textes. Solange der gesellschaftliche Kampf sichtbar ist, solange die Solidarität keine Grenzen kennt, geht die Hoffnung nicht verloren. Doch im schlimmsten Fall ist es zu spät. Die Natur lässt uns keinen Aufschub mehr und die Folgen der Klimakrise werden irreparabel.

Doch vielleicht gibt es einen Faktor, der den Unterschied ausmachen kann: Die mutigen Menschen aus dem Globalen Norden, die sich ihrer Privilegien bewusst sind. Sie haben sich unermüdlich dem Kampf für Gleichberechtigung und dem Erhalt der Natur verschrieben. Sie wissen, dass ihre Stimmen ein anderes Gewicht haben und dass sie weiter gehen können, ohne größte Risiken einzugehen. Sie wissen, dass die Bewegungen im Globalen Süden sie brauchen, um mehr Reichweite zu bekommen. Sie wissen, dass ihr Status für den Wandel von Bedeutung ist.

Der Kolonialismus, über den wir in der Schule lernen und der uns an die alten Bücher erinnert, in denen Männer auf Schiffen reisen, scheint uns so weit weg. Doch er ist heute so präsent wie nie. Tag für Tag nimmt er neue und abartigere Ausdrucksformen an – manche sind offensichtlich, manche eher subtil. Wer das versteht, weiß, dass der intersektionale Kampf die einzige Lösung ist, um uns zu retten – uns alle. Denn wer weiterhin nur auf sein eigenes Portemonnaie achtet und sich im Vorteil des Glücks der Geburt im Globalen Norden wiegt; wer nicht versteht, dass dieser Kampf intersektional sein muss, der kann sich auch nicht selbst retten.

“JE RADIKALER DIE DEMOKRATIE, DESTO RADIKALER IHRE ABLEHNUNG”

Cecilia Méndez Gastelumendi ist leitende Professorin am Fachbereich für Geschichte an der University of California-Santa Barbara. Während der Jahre der politischen Gewalt (1980-2000) lehrte und forschte sie ein Jahr lang an der Nationalen Universität von San Cristóbal de Huamanga in Ayacucho, einem Zentrum des bewaffneten Konflikts. Seither publizierte sie umfangreich zur sozialen und politischen Geschichte der Republik Peru. Ihr Buch La república plebeya. Huanta y la formación del Estado peruano, 1820-1850 (2005) gewann den Howard F. Cline Preis für das „beste Buch über indigene Geschichte in Lateinamerika“. Zudem schreibt sie regelmäßig über tagespolitische Themen in der Kolumne „Chola Soy“ in der peruanischen Tageszeitschrift La República.
(Foto: privat)


Peru ist eines der letzten Länder in Lateinamerika, das seine 200-jährige Unabhängigkeit von der Kolonialmacht feiert. Warum?
Man könnte meinen, es gäbe ein objektives Datum für Unabhängigkeitsfeiern. Aber die Wahl des Termins ist eigentlich ziemlich subjektiv. Sie zeigt, was eine Gesellschaft wertschätzen will und welche Erinnerungen langfristig mehr Gewicht haben. Peru war nicht das letzte Land, das unabhängig wurde. Aber hier wird ein späteres Datum gefeiert als in anderen Ländern, nämlich die Unabhängigkeitserklärung von San Martín in Lima am 28. Juli 1821. Man hat sich entschieden, frühere und radikalere Revolten nicht mit in die Erzählung aufzunehmen. In Peru werde an keine Schlacht erinnert, sondern an ein friedlicheres Ereignis, ist die Erklärung.

Wie hat sich diese „offizielle Geschichte der Kreolen“, wie Sie es einmal genannt haben, durchgesetzt? Eine Erzählung, die indigene Aufstände auslässt…
Die Peruaner haben ihre Geschichte oftmals durch die Darstellungen derer kennengelernt, die Unabhängigkeitsbewegungen unterdrückt haben. Eine konkrete Geschichte zur Erklärung: Bereits vor den Kämpfen um die Unabhängigkeit gab es für die Eliten sehr traumatische Ereignisse. Schon die Erinnerung an den Aufstand von Túpac Amaru im Jahr 1780 hat einen langen Schatten geworfen.

Der Aufstand von Cuzco im Jahr 1814 war dann der erste, der den Bruch mit Spanien definitiv proklamierte und die Kolonialbehörden für etwa sechs Monate entmachtete. Der Militär, der damals für die Kontrolle von Cuzco zuständig war, war ein spanischer Beamter namens Joseph Pardo Ribadeneira. Er wurde von den Rebellen gefangen genommen und in den Kerker geworfen. Später schrieb er in einem Bericht an den Vizekönig, die Rebellen (einschließlich der indios und Mestizen) seien Delinquenten – ungebildet und ohne soziales Ansehen. Diese Erzählung von den Aufständischen als Straftätern und eben nicht als Protagonisten eines Befreiungsepos wurde zu einer der meistzitierten Quellen dieser Geschichte.

Der Sohn von Ribadeneira, Felipe Pardo y Aliaga, war damals acht Jahre alt. Er erlebte den Aufstand als Demütigung seines Vaters. Später fiel es ihm schwer, diesen als Akt der Befreiung zu betrachten. Pardo y Aliaga wurde später ein ultrakonservativer Politiker – und sein Sohn wiederum der erste zivile Präsident von Peru: Manuel Pardo y Lavalle. Auch dessen Sohn wurde Präsident.

Gab es Versuche, ein anderes Datum in den Mittelpunkt zu stellen?
Wir haben nicht immer dem Jahr 1821 gedacht. Zunächst galt das Jahr 1814 als Beginn der Unabhängigkeit und im ländlichen Raum als „erstes Jahr der Freiheit“.

Doch schon ab den 1840ern setzte sich 1821 als hegemoniales Narrativ durch. Davor hatte es mehr Vielfalt gegeben. Unter der Regierung Velascos (1968-1975) wurde erstmals des Aufstands von Túpac Amaru im Jahr 1780 als Beginn der Unabhängigkeit erinnert. Doch obwohl Túpac Amaru zum Helden erhoben wurde, eliminierte Velasco die kreolische Erzählung nicht vollständig. Er entfernte San Martín nie, sondern integrierte indigene Elemente in die kreolische Erzählung. Das Interessante ist, dass diese indigenen Elemente ab den 1990er und 2000er Jahren aus der staatlichen Ikonographie ausgelassen wurden, etwa auf Münzen oder Statuen. Scheinbar wurde es gefährlich, sich an diese Revolutionen zu erinnern. Nach dem Leuchtenden Pfad (peruanische Guerillaorganisation, Anm. d. Red.) wurde es zum Tabu, weil es diesen mit den Revolutionen in Verbindung gebracht hätte.

Gab es Momente, in denen der peruanische Staat die indigenen und ländlichen Sektoren stärker einbezog?
In meinem Buch La República plebeya argumentiere ich, dass die Heerführer während und nach der Unabhängigkeit nicht in der Lage gewesen wären, einen Staat aufzubauen, wenn sie nicht die Unterstützung der bäuerlichen Basis gehabt hätten. Im 20. Jahrhunderts gab es dann zwei wichtige Momente der Staatsreform, in denen ländliche und indigene Sektoren wichtige Rechte und Anerkennung erhielte: das sogenannte Oncenio de Leguía (1919-1930) und die „revolutionäre Regierung“ von Velasco (1968-1975). Beide waren autoritäre Regierungen.

Die Verfassung von Leguía von 1920 erkannte erstmals die Existenz indigener Gemeinschaften und kommunalen Landes an. Es wurde ein Register eingeführt, um indigene Gemeinschaften als juristische Personen, nicht als individuelle Bürger, zu verzeichnen und anzuerkennen. Unter der Regierung von Velasco wurden diese „indigenen Gemeinden“ mittels des Agrarreformdekrets von 1969 in „bäuerliche Gemeinden“ umgewandelt.

Paradox ist, dass die Republik zur Ausweitung der Staatsbürgerschaft zu differenzierenden Rechten zurückkehren musste. Denn die Verfassung von Leguía ließ sich von den Gesetzen der Kolonialzeit inspirieren. Indigene, Mestizen und Spanier bekamen differenzierende Rechte. Die Republik schaffte diese rechtlichen Unterschiede ab. Die Rechtssprache der Republik und des peruanischen Staates war eine egalitäre Sprache.

Wann änderte sich das?
Unter Augusto Leguía. Der peruanische Staat eignete sich die Vorstellung an, er sei der „Schutzherr der Indianer“. So gründete Leguía in seiner Regierung das „Patronat der indigenen Rasse“. Es war eine sehr paternalistische Gesetzgebung, die in die Sprache der Eugenik verpackt war. Verschiedenartigkeit wurde zu Minderwertigkeit. Mit einer Agrarreform unter Präsident Velasco wurden diese Rechte ausgeweitet und stärker anerkannt – ein Prozess, der jenem von Leguía ähnelte, aber größere soziale Auswirkungen hatte.

Heute besteht das große Paradox der Republik darin, dass die beiden Momente der Ausweitung der Staatsbürgerschaft für die ländliche Gesellschaft und der Anerkennung der Rechte für die indigene und bäuerliche Bevölkerung durch Diktaturen stattfanden.

Nun wurde mit Pedro Castillo ein Mann aus den historisch marginalisierten Sektoren an die Spitze des peruanischen Staats gewählt, was bedeutet das?
Heute befinden wir uns in einem neuen, einem historischen Moment. Wenn Pedro Castillo als Präsident gelingt, die angekündigten Veränderungen umzusetzen, in die große Erwartungen gesetzt werden, dann sind tiefgreifende Veränderungen möglich. Der bedeutendste Aspekt dieser möglichen Veränderungen wäre, dass sie durch das Wahlrecht erfolgten. Die Verbreitung des Personalausweises – das Dokument, mit dem man zur Wahl berechtigt ist – ist in den historisch marginalisierten Sektoren heute wahrscheinlich größer als je zuvor. Und die Tatsache, dass jemand zum Präsidenten gewählt wurde, der den Eliten, die das Land historisch regiert haben, völlig fremd ist, ist an sich schon ein bedeutsamer Bruch mit der Vergangenheit.

Gleichzeitig tritt die Ultrarechte an die Öffentlichkeit und beansprucht Symbole des spanischen Vizekönigreichs für sich. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Ich halte das für vollkommen nachvollziehbar. Denn je radikaler die Demokratie ist, desto radikaler wird auch ihre Ablehnung sein. Deutschland hat das in der Entstehung des National-*sozialismus erlebt. Und auch nach 2015 gab es einen Aufschwung faschistischer und neonazistischer Bewegungen in Deutschland. In Peru passiert etwas Ähnliches. Doch in diesem Fall ist die Demokratie schwerer zu bekämpfen, weil die Abgabe ihrer Stimme das Einzige war, was die Leute getan haben.

Und wer sind diejenigen, die heute gegen diese Ausweitung der Demokratie auf die Straße gehen?
In Peru vermischen sich da verschiedene Dinge. In der Ultra-Reaktion gegen Castillo gibt es einen Schulterschluss zwischen Ideologie und Mafia-Interessen. Wir sehen diesen Widerstand im Kongress: Ein Großteil der Gesetzgebung dient der Verteidigung bestimmter Mafia- und Interessengruppen, die mit der „Partei“ Fuerza Popular verbündet sind, aber auch Verbindungen zu anderen Parteien haben. Der Staatsanwalt hat Keiko Fujimori beschuldigt, Kopf einer kriminellen Organisation zu sein und die Partei lediglich als Fassade zu nutzen. All dies kommt mit der rassistischen Ablehnung von Castillo zusammen. Und einige, die Castillo ablehnen, haben nichts dagegen, gleichzeitig die Mafia zu unterstützen.

Wer heute die Flagge mit dem Kreuz von Burgund, das Symbol des spanischen Reiches zu seiner Blütezeit, hisst, gehört nicht unbedingt zur Mafia der Parteien, wird aber in gewisser Weise für sie instrumentalisiert. Wenn Prozesse der Demokratisierung stattfinden, muss die Rechte über die Grenzen des Legalen hinausgehen, um ihre Interessen zu verteidigen. Deshalb beharrt der Fujimorismus so auf dem Vorwurf des „Wahlbetrugs“, ohne einen einzigen Beweis vorlegen zu können. Sie behaupten, die „Demokratie“ zu verteidigen, indem sie sich Castillos angeblichem „Kommunismus“ entgegenstellen, aber ihre Taten beweisen das Gegenteil.

Das Wichtigste ist hier die Verbindung zwischen ultrarechten Ideologien und einer historisch anti-indigenen Gewalt, die auch auf den Symbolen der Pro-Keiko-Märsche dargestellt wird: „Castillo, Lima lehnt dich ab“ – mit der Zeichnung eines weißen Mannes, der einen Bauern tritt, der einen Hut trägt wie Castillo. Ich nenne es den „den gamonalen Tritt“. Die gamonale Kultur beschreibt nach Alberto Flores Galindo die offene physische und ökonomische Gewalt gegen Bauern und Indigene. Seit dem 19. Jahrhundert verbündete sich der Staat mit den Interessen der kreolischen und mestizischen Kaufleute und Landbesitzer, um den Indigenen Ressourcen wegzunehmen: Sie verloren ihr Land, die Warenmärkte wurden monopolisiert. Heute besteht die Gewalt auch darin, die Identität ganz Limas für sich in Anspruch zu nehmen. Dabei gibt es viele Limas. Und fast zwei Millionen Menschen im Stadtgebiet von Lima haben für Pedro Castillo gestimmt. Wenn die Rechten sagen „Lima lehnt dich ab“, dann meinen sie nur ein Lima – nämlich jenes von San Isidro, dem reichsten Viertel.

Welche politischen Forderungen der Unabhängigkeit Perus bleiben bis heute unerfüllt?
Die wichtigste wäre die nach Gleichheit vor dem Gesetz. Dieses Grundprinzip, dass jeder Mensch das Recht auf einen Namen und eine würdige Behandlung hat und darauf, respektiert zu werden. Dieses Recht steht seit 1823 als unveräußerliche Verfassungsgarantie in allen elf Verfassungen des Landes. Und obwohl sich viel geändert hat, wurde dieses Recht am meisten mit Füßen getreten.

Das haben wir bei diesen Wahlen erneut gesehen. Menschen aus ländlichen Gebieten wurden beschuldigt, Unterschriften zu fälschen. Sie hätten, weil sie aus dem Hochland kommen – was ein Euphemismus für „Bauern“ ist – keine Ahnung. Ihre Namen und Unterschriften wurden öffentlich zur Schau gestellt, sie wurden beschuldigt, falsche Identitäten zu verwenden. Es war, als ob es sie nicht gäbe, als ob sie unsichtbar wären. Sie wurden schlimmer Vergehen beschuldigt.
Das ist ein Angriff auf das Recht auf einen Namen, auf das Recht, respektiert zu werden. Es gibt also grundlegende Aspekte, die mit der Anerkennung der Staatsbürgerschaft und der Menschlichkeit des Anderen zu tun haben und die in der kolonialen Gesetzgebung nicht enthalten waren. Erst die Republik hat sie uns gebracht. Aber sie sind nach wie vor nicht umgesetzt worden.

WIE GEHT ES WEITER NACH DER PANDEMIE?

Luftbild von Tribugá Eine Strategie jenseits des Extraktivismus wird dringend gesucht (Foto: Andrés Bateman)

Wenn ein Satz die Haltung der kolumbianischen Machtzentren gegenüber dem Departement Chocó charakterisiert, dann der, den der Abgeordnete des Departamentos Antioquia, Rodrigo Mesa, während einer Sitzung 2012 sagte: „Das Geld, das man in den Chocó steckt, ist wie Parfüm, das man auf einen Scheißhaufen sprüht.“ Laut dieser Aussage ist der Chocó also ein Stück Scheiße, dessen Gestank durch nichts in der Welt überdeckt werden kann. Und damit fasst dieser Satz, der so offen rassistisch, diskriminierend und voll Verachtung gegenüber den Menschen der Region ist, die gesamte Geschichte der Unterwerfung und Unterdrückung zusammen, unter der der Chocó seit der Kolonialisierung leidet.

Das Gebiet wurde ursprünglich von Indigenen bewohnt, doch nach der Ankunft von in Westafrika versklavten Menschen entstand eine Bevölkerungsmehrheit von Afrokolumbianer*innen und Schwarzen. Die Region des heutigen Chocó wurde zu einem Ort des Rückzugs und Widerstands. In den so entstandenen Gemeinden, die cimarronas oder palenqueras genannt werden, lebten entflohene Sklav*innen, die durch den Austausch mit Indigenen ein spezielles und innovatives Wissen über das Territorium entwickelten. Trotz der Handelsbeziehungen zu den kommerziellen Zentren des Landes, blieben diese Siedlungen während des 19. und 20. Jahrhunderts in Teilen unabhängig von der Zentralregierung. Dank dieser Unabhängigkeit setzten einige Gemeinden viele der Praktiken fort, die sie seit der Kolonialzeit entwickelt hatten.

Nach einem langen Prozess sozialer Mobilisierung konnten im Rahmen der Verfassung von 1991 die Schwarzen Gemeinden des Chocó das Gesetz „Ley 70 de 1993“ durchsetzen, welches ihre soziale, kulturelle und wirtschaftliche Identität sichern sollte. Das Gesetz, das auch unter dem Namen „Gesetz der Schwarzen Gemeinden“ (Ley de las Comunidades Negras) bekannt ist, zielt darauf ab, „das Recht kollektiven Eigentums der Schwarzen Gemeinden anzuerkennen“. Es sind die Gemeinden, die sich, mit ihren traditionellen Produktionspraktiken, „auf dem verlassenem Land in den an die Flüsse des Pazifikbeckens angrenzenden, ländlichen Gebieten niedergelassen haben“.

Die Region des heutigen Chocó wurde zu einem Ort des Rückzugs und Widerstands

Trotz der Errungenschaften des besagten „Ley 70“ sieht die Realität anders aus. Der Anbau illegaler Pflanzen (in diesem Zusammenhang meist Kokapflanzen, Anm. d. Red.), Kokainhandel, infrastrukturelle Megaprojekte, Agrarindustrie und der großangelegte Bergbau gefährden die Koexistenz auf und mit dem Land, die von den Schwarzen Gemeinden seit Jahrhunderten dort gepflegt wird. Darüber hinaus bedrohen diese Aktivitäten auch die Ernährungssouveränität, die nicht-kapitalistische Nutzung des Territoriums und die Diversifizierung der Produktionsformen.

Seit der Kolonialisierung wurde so durch unterschiedlichste Interventionen Druck auf die lokale Bevölkerung ausgeübt, wurden autonome Führungen zum Schweigen gebracht, die Bevölkerung vertrieben und getötet, Flüsse ausgetrocknet und Berge entwaldet. Diese Eingriffe sowie die im eingangs erwähnten Satz angedeuteten Investitionen haben im Zusammenspiel mit Fortschritts- und Entwicklungsforderungen aus einer der artenreichsten Regionen der Welt eine der ärmsten und gewalttätigsten des Landes gemacht.

Auf dieses Szenario trifft nun noch die Corona-Pandemie und verschärft die Probleme der Ausgrenzung und Marginalisierung, mit denen die Bevölkerung des Chocó seit Jahrhunderten zu kämpfen hat. Mit fast 3.800 Infektionen und mehr als 135 Toten wird die Pandemie zu einer Lupe, durch die die Dimension der sozialen Probleme und des Schadens, der durch die in der Region angewandten Maßnahmen zur „wirtschaftlichen Entwicklung“ angerichtet wurde, sichtbar werden. Überfüllte Krankenhäuser, mangelndes medizinisches Gerät und Ausrüstung, Anstieg von Armut und Hunger, der Bankrott lokaler Unternehmen, ein Ansteigen der Morde an sozialen Führungspersonen sowie der Druck auf indigene und Schwarze Gemeinden, mehr Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppen, mehr Vertreibungen und mehr irreparable Umweltschäden sind die Folge. Die Pandemie hat all das in noch intensiverem Ausmaß hervorgerufen.

Gefahren der Ausbeutung natürlicher Ressourcen müssen erkannt werden

Die Verschärfung der Probleme im Chocó aufgrund der globalen Pandemie stellt in Frage, was so oft über Viren gesagt wird, nämlich dass sie uns alle gleichermaßen betreffen und niemanden diskriminieren. Vielleicht diskriminiert das Virus tatsächlich nicht den Wirt, aber es bringt je nach Region und Bevölkerung unterschiedliche Konsequenzen mit sich. Im Falle des Chocó gibt es über die humanitäre Tragödie hinaus zwei Auswirkungen, die soziale Bewegungen und Gemeinderäte alarmieren sollten. Die erste, die bereits im Gange ist, ist die Verschlechterung der sowieso schon schwierigen Lebensbedingungen der Bevölkerung in der Region, die Zunahme der Gewalt und die steigende soziale Segregation nach Hautfarbe, Geschlecht, Gender und Einkommen. Die zweite und eher langfristige Konsequenz ist die Ausweitung der Wirtschaftsmaßnahmen im Sinne des desarrollismo in der Region unter dem Vorwand, die Ökonomie nach den Auswirkungen der Pandemie wieder anzukurbeln. (Damit ist eine Wirtschaftstheorie gemeint, die besagt, dass sich weniger entwickelte Volkswirtschaften am besten durch die Förderung der Industrialisierung, eines starken und vielfältigen Binnenmarkts und die Erhebung hoher Zölle auf importierte Waren entwickeln könnten, Anm.d. Red.).

Die Tageszeitung El Espectador titelte in ihrer Online-Ausgabe vom 18. August 2020 „Bergbau: eine mögliche Rettungsleine für die Wirtschaft nach der Pandemie?“ Wie die Schlagzeile schon vermuten lässt, bedienen sich die im Artikel herangezogenen Entwicklungsexpert*innen der gesamten Palette technokratischer Argumente um einen Extraktivismus zu preisen, der nur den Reichtum einiger weniger fördert, dabei aber ganze Gebiete zerstört, in denen vor allem Schwarze und indigene Gemeinden leben. Ohne eine mögliche Kontrolle durch die Bürger*innenschaft und unter dem Vorwand der Wirtschaftsförderung werden Anreize und Steuererleichterungen für die Agrar- und Fischereiindustrie gewährt, Diskussionen über Megaprojekte der Infrastruktur neu angestoßen und der Massentourismus gefördert. Begünstigt durch die Ausgangssperren und mit der Begründung eines durch die Coronavirus-Pandemie ausgelösten Wirtschaftsnotstandes, werden so die sozioökonomischen Strukturen, die das Schicksal des Chocó bis heute bestimmt haben, fortgesetzt und weiter vertieft.

Doch nicht alles ist schlecht. Die Pandemie hat auch dazu geführt, die Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken, nämlich die Notwendigkeit staatlicher Interventionen, die primär den Menschen und nicht das Kapital im Blick haben und die darüber hinaus Strategien zum Aufbau der Region jenseits des desarrollismo entwerfen. Letztlich geht es darum das umzusetzen, wofür die Gemeinschaften seit ihrer gewaltsamen Verschleppung in das Gebiet gekämpft haben: Ein friedliches und heterogenes Nebeneinander vielfältiger Lebensweisen, das die Diversität und das ökologische Gleichgewicht erhält und den gleichberechtigten Dialog zwischen dem medizinischen Wissen und den unterschiedlichen Erziehungs- und Wirtschaftsformen aller Akteur*innen im Gebiet fördert. Wie die afrokolumbianische Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Francia Márquez im Juni im Internetportal Diaspora schrieb, sei die einzige Lösung ein Zusammenleben am Pazifik, „ausgehend von den ökologischen, kulturellen, spirituellen und sozialen Potentialen zur Förderung einer nachhaltigen Wirtschaft im Dienste und zur Pflege des menschlichen Lebens, des Territoriums und seiner biologischen Vielfalt“.

In der Interaktion all derer, die auf dem Gebiet zusammen leben, einschließlich staatlicher Institutionen und Nichtregierungsorganisationen, darf die Rolle der Gemeinden aber nicht auf die einer bloßen Empfängerin überkommener Entwicklungsrezepte reduziert werden. Genauso wenig braucht es Dialoge, in denen lokale Praktiken als Ausdruck von Folklore abgetan werden, die nur dem Konsum dienen, wie es der neoliberale Multikulturalismus diktiert. Was wir brauchen ist eine radikal interkulturelle Interaktion, bei der sich das unterschiedliche Wissen der Indigenen, Schwarzen und Bauern und Bäuerinnen und das, welches sich in den Großstädten entwickelt, gegenseitig befragen und nähren kann. Interaktionen die das Eigene und das Andere hinterfragen. Die all jenes in Frage stellen, was das Wohlergehen des Territoriums und die Autonomie der Bevölkerung bedroht.

Diese Vorstellung der radikalen Interaktion, wenn auch erst noch ein fernes Wunschbild, steht in der Tradition der zapatistischen Idee eine Welt aufzubauen, in die alle Welten hinein passen. Mit diesem Ziel vor Augen wurden sowohl im Chocó als auch in verschiedenen Teilen Kolumbiens schon Fortschritte erzielt, die die Bedeutung und das Potenzial dieses politischen Ansinnens widerspiegeln. Neben Hunderten von Initiativen, die im Alltagsleben der Gemeinschaften verankert sind, gibt es eine Reihe von Bemühungen, die schon durch ihre Konzeption die Fixierung der staatlichen Institutionen auf den wirtschaftlichen Fortschritt in Frage stellen. Diese Bemühungen zielen darauf ab, Dialoge zwischen den verschiedenen Akteur*innen der Region zu forcieren und schaffen es so, auch unter Einbeziehung der staatlichen Institutionen, einige der historischen Forderungen der Gemeinden umzusetzen.

Eine Welt aufbauen, in die alle Welten hinein passen

Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Erklärung des Flusses Atrato zum eigenständigen Rechtssubjekt zielt nicht nur auf dessen Schutz ab, sondern erkennt auch die besondere Beziehung der dort ansässigen Gemeinden zum Wasserlauf an. Die Ausrufung eines speziell geschützten Gebietes im Golf von Tribugá (Distrito Regional de Manejo Integrado en el Golfo de Tribugá, DRMI) entstand ebenfalls aus der Gemeinde heraus und zielt darauf ab, die Fischereiindustrie zu kontrollieren und bestimmte Praktiken umweltverträglicher zu machen. Eine Sonderzone für nachhaltige Fischerei (Zona Exclusiva de la Pesca Artesanal, ZEPA) zwischen den Gemeinden Bahía Solano und Juradó versucht, Fischereiaktivitäten zu entwickeln, die zur Erhaltung der Arten und des marinen Ökosystems beitragen.

All diese Strategien sind Errungenschaften der Gemeinden. Sie führen zu einer Umgestaltung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Institutionen und Praktiken und schaffen so die Voraussetzungen für eine Koexistenz der verschiedenen Lebensweisen in der Region. Diese Veränderungen stehen aber auch der Ausweitung kapitalistischer Entwicklungsmuster im Weg. Die in einer solchen Logik geschulten Institutionen zu verändern ist ein anstrengender Kampf und die Bevölkerung führt ihn gegen legale und illegale Kräfte, die die Region seit Jahrhunderten plündern. Auf lange Sicht arbeiten die indigenen und afrokolumbianischen Gemeinden des Chocó durch ihre sozioökonomischen und institutionellen Vorstöße nicht nur an der Förderung ihrer eigenen Autonomie und ihres Wohlergehens, sondern tragen auch dazu bei, rassistische und diskriminierende Strukturen zu eliminieren.

Die Gefahren zu erkennen, die eine Ausweitung des Extraktivismus als Retter der Wirtschaft nach der COVID-19-Pandemie birgt, heißt auch die Fortschritte der Bevölkerung zu unterstützen, die sie im Kampf um ihr Gebiet bereits erzielt haben. Nur indem man den Institutionen Einhalt gebietet und ihre Ausrichtung durch sozialen Druck verändert, kann der Weg frei gemacht werden für einen neuen gesunden Menschenverstand, der das Leben, das Territorium und die Gemeinschaften wertschätzt. Die Abhängigkeit von Kapital und der Fortschrittsglaube um jeden Preis müssen neu durchdacht werden: Nur so kann die koloniale Beziehung, die die Machtzentren des Landes gegenüber dem Chocó haben, überwunden werden. Nur so kann eine Region entstehen, in die viele Welten passen. Nur so wird der Satz des Abgeordneten aus Antioquia undenkbar sein.

VOM KONTINENT ABYA YALA

Auf eine erfrischende Weise reflektiert Silvia Rivera Cusicanqui aktuelle Praktiken und Diskurse der Dekolonisierung. Ihre Erkenntnisse bieten gleichzeitig Lösungsvorschläge an und machen das Buch zu einem notwendigen Debattenbeitrag.
Es gibt keinen Diskurs über Dekolonisierung ohne die zugehörigen Praktiken „unserer Gesten, unserer Taten und der Sprache“. Diese Botschaft steht im Zentrum der Texte, die das Buch zum Teil erstmalig auf deutsch zugänglich macht. Obwohl postkoloniale Studien auf den Lehrplänen vieler Universitäten im globalen Norden stehen, wird eine Trennung zwischen dem akademischen Diskurs und dem „Dialog der aufständischen Kräfte der Gesellschaft etabliert“, beschreibt die bolivianische Soziologin und Aktivistin Silvia Rivera Cusicanqui. Sie holt damit die politische Dringlichkeit des Handelns aus der (akademischen) Versenkung und stellt sie in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, die sie „eine Wissenschaft des Lebens“ nennt.

Worte im Kolonialismus benennen nicht, sondern sie verschleiern

Rivera Cusicanqui gehört damit zu den wenigen Sozialwissenschaftler*innen, deren intellektuelle Arbeiten nicht nur durch eigene Erfahrungen in widerständigen und subalternen Gruppen inspiriert wurden, sondern darüber hinaus ihr Wirken in deren Dienst stellen. Sie beteiligt sich an der Denunziation und Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen sowie an der Verteidigung indigener Rechte seit den 1980er Jahren. Damals gründete sie eine Forscher*innengruppe mit dem Namen Taller de Historia Oral zur mündlich überlieferten Geschichte Boliviens, die seitdem die hegemoniale Geschichts­schreibung mit „dissidenten Erinnerungen“ he­rausfordert und erweitert.
Das Buch versammelt vier akademische Aufsätze in unprätentiöser Sprache, die ver­deckte (neo)koloniale Hand­lungen sichtbar machen und ebenfalls Vorschläge zu deren Überwindung liefern. Rivera Cusicanqui analysiert dafür die Zeichnungen eines indigenen Chronisten des frühen 17. Jahrhunderts und reflektiert euphemistische Praktiken des Neokolonialismus der Gegenwart.
Waman Puma de Ayala schrieb zwischen 1612 und 1615 einen über tausendseitigen Brief an den spanischen König, der hunderte Zeichnungen enthielt. Ein paar davon sind im Buch abgedruckt und werden von Rivera Cusicanqui mithilfe ihrer Soziologie des Bildes analysiert, denn Worte im Kolonialismus „benennen nicht, sondern sie verschleiern“. So zeigt sie in den Bildern einerseits die extremen als auch subtilen Mechanismen der Unterdrückung und Ausbeutung auf. Waman Puma benutzt dafür die Metapher der „umgekehrten Welt“ (Mundo al Revés), in welcher die soziale Ordnung der Inka durch die spanischen Invasoren umgedreht wird: Aus einer indigenen Gesellschaft, „verstanden als gerechte Ordnung und >gute Regierung<“ wird im Kolonialismus Erniedrigung und Unordnung. Andererseits verraten die Zeichnungen viel über die prähispanische Ordnung der indigenen Gesellschaft und vermitteln zudem Eindrücke von der gegenseitigen Fremdwahrnehmung zwischen den Inkas und den Konquistadoren – „das Nicht-Menschsein des Anderen.“
In der hier abgedruckten Zeichnung fragt der Inka-Herrscher Wayna Qhapaq den Spanier Cando: „Dieses Gold isst du?“ Candia antwortet: „Dieses Gold essen wir.“. In Verbindung mit dem Angriff auf den letzten Inka-Herrscher Atahualpa schlussfolgert Rivera Cusicanqui: „Die Fremdheit, das Erstaunen und der Gedanke an eine kosmische Katastrophe scheinen der Grund für die Hilfslosigkeit der Tausenden Soldaten des Inka zu sein; sie konnten das Heer von gerade einmal 160 Mann, aber ausgerüstet mit unbekannten Waffen und Tieren, nicht besiegen.“
Einen weiteren Schwerpunkt setzt sie durch den Begriff des „internen Kolonialismus“, mit welchem sie die Internalisierung der Werte der Unterdrücker*innen beschreibt. Sie plädiert für die Entwicklung eigener Ideen und Reflexionen, die sich nicht von den (akademischen) Machtzentren der nördlichen Hemisphäre abhängig machen. Sie zeigt beispielhaft wie Ideen aus Abya Yala – wie der amerikanische Doppelkontinent aus einer eigenen Kosmologie heraus bezeichnet wird – von Wissenschaftler*innen in den nördlichen Universitäten aufgegriffen und in einen unpolitischen Diskurs über Verschiedenheit übersetzt werden. Stattdessen verweist sie auf Ideen der Aymara in Bolivien, die sich zum Beispiel in dem Begriff Ch‘ixi finden. Etwas kann gleichzeitig sein und nicht sein. Das Mestizische oder ch‘ixi vereint „die indigene Welt mit ihrem Gegenteil, ohne sich jemals damit zu vermischen.“ Sie wendet den Begriff als Gegenrede und Alternative zum Begriff Hybridität von García Canclini an (siehe LN 514) und betont: „Der indigene Vorschlag für die Modernität basiert auf einem Verständnis der Staatsbürgerschaft, das nicht Homogenität, sondern Differenz sucht.“
Rivera Cusicanquis scharfe Analysen und ihre konsequente Haltung lassen sich auch an ihrer persönlichen Erfahrung nachvollziehen. So beschreibt sie als prägend für ihre Biografie die Beziehung zu ihrer Kinderfrau Rosa ihres mittelständischen Elternhauses in der Hauptstadt La Paz der 1950er Jahre. Sie hielt die Hausangestellte ihrer Eltern bis zu deren Tod für ihre tatsächliche Mutter. Die Eltern reagierten mit Geringschätzung gegenüber Rosa, welche eine indigene Aymara war. Das sollte die emotionale Bindung zu ihrer Tochter durchbrechen und die „rassistisch-klassizistische Gesellschaftsordnung“ wiederherstellen, die aus ihrer Tochter eine Señora machen sollte. Doch das führte Rivera Cusicanqui dazu sich sowohl von den Erwartungen ihrer Eltern als auch von der Verachtung gegenüber der indigenen Bevölkerung zu distanzieren. „Mir ist das mit dem >Blut< egal. Ich hasse dieses Reden über >Blut<. Denn ich denke, dass meine Identität durch das Leben in der Gegenwart bestimmt ist.“

 

AUSGETRETENE WEGE

Eines gleich vorweg. Ich bin selbst gereist. Auch durch Südamerika, habe viel erlebt und Menschen davon berichtet. Wahrscheinlich tendieren Europäer*innen, die auf anderen Kontinenten unterwegs sind, dazu, ihresgleichen kritisch zu beäugen, sich seltsam zu finden. Das ging und geht mir so. Damit möchte ich meine Perspektive offen legen und es anders machen als Morten Hübbe und Rochssare Neromand-Soma in ihrem bei National Geographic erschienenen Reisebericht.

Da sie bei der Konfrontation mit wesentlich anderen gesellschaftlichen Verhältnissen und teilweise großer materieller Armut nicht über die eigene (deutsche) Gesellschaft und die eigenen Privilegien nachdenken, bleibt ihr Buch vor allem langweilig.

Zwei Jahre lang trampen und wandern die beiden durch Südamerika und bringen so 56.000 km Strecke hinter sich. Sie haben jedes einzelne Land besucht und alle bekannten Touristenattraktionen abgeklappert. Ihre Übernachtungen organisieren sie über Couchsurfing. Viel erfährt der/die Leser*in allerdings nicht über die Menschen, die die Rucksackreisenden bei sich aufnehmen. Dafür gibt es ausufernde Beschreibungen der zahlreichen Wanderungen durch Dschungel oder auf schneebedeckte Berge.

Hin und wieder stören sich die Backpacker*innen an anderen Tourist*innen, die ihnen mit ihrer Multifunktionskleidung peinlich vorkommen. Dass dann aber nicht einmal in den bolivianischen Minen von Potosí ein Wort über den Kolonialismus und dessen Folgen verloren wird, ist enttäuschend. An wohl kaum einem Ort zeigt sich der Strang der europäischen Ausbeutung so eindrücklich. Zumindest den meisten.

Die koloniale Brille schimmert dann durch die Zeilen des Buches, wenn Morten Hübbe und Rochssare Neromand-Soma einen Bullenkampf in den ecuadorianischen Anden beschreiben, wo von Selbstüberschätzung gezeichnete Besoffene ein albernes Spektakel veranstalten. Ähnliche Töne klingen an, als das Fahren von Kutschen in der kolonialen Stadt Cartagena als romantisch wahrgenommen oder Guyanas Hauptstadt Georgetown als einzige stinkende Kloake beschrieben wird, da die Guyaner*innen es nach dem Kolonialismus nicht fertig gebracht haben, das hervorragende Abwassersystem zu erhalten.

In Chile nehmen die Backpacker*innen eine tiefe Traurigkeit wahr, die das ganze Land durchzieht und in deren Anbetracht die chilenischen Frauen ungehalten zu ungesunden Lebensmitteln greifen und in Fettleibigkeit versinken.

Dieses Südamerika bleibt in diesem Buch das Land der Anderen. Und die sind korrupt, unpünktlich und halten sich nicht an Verkehrsregeln, können aber gut tanzen und sind in der Karibik total entspannt.

Unter dem Strich ist „Per Anhalter durch Südamerika“ nicht viel mehr als ein ausformulierter Reiseführer, da aber sicher einer der besseren. Alle, die glauben, dass man beim Trampen nicht mitgenommen und beim Couchsurfen ausgeraubt wird, kann dieses Buch vom Gegenteil überzeugen. Allerdings sind die Bilder, die die Autor*innen von Menschen und Gesellschaften zeichnen, stark und brennen sich schnell in das eigene Bild der Welt ein. Wer sich also etwas von einem Ort erzählen lässt, in dem er selber noch nicht war, der sollte sich gut überlegen, von wem.

 

Newsletter abonnieren