„Feminismus muss lernen, sich zu dekolonisieren“

Foto: Katia Sepúlveda

Als Yuderkys Espinosa (Santo Domingo, 1967) nach Buenos Aires kam, wurde sie mit einem Rassismus konfrontiert, den sie aus ihrer Heimat, der Dominikanischen Republik, nicht kannte. Als sie das erste Mal einkaufen ging, fragte sie der Ladenverkäufer: „Wie kann die Hausherrin Sie denn mit Ihrem Haar so ausgehen lassen?“, in Anspielung auf ihren angeblichen Status als Hausangestellte. Das war kein Einzelfall. Rassismus war nicht nur im Alltag, sondern auch in der Universität ein Thema.

Während ihres Studiums in Argentinien beschäftigte sich Yuderkys Espinosa mit dem lesbischen, autonomen Feminismus, einer intellektuellen Strömung, die in Ablehnung der Institutionalisierung des Feminismus durch den Staat und NGOs entstand. Sie distanzierte sich jedoch wieder davon, aufgrund des „epistemischen (wird oft als Synonym von ‚wissenschaftlich‘ verwendet, Anm. d. Red.) Rassismus“, der es ihr nicht zutraute, kritische und ernstzunehmende Gedanken zu entwickeln. Auch ihre spätere Annäherung an die Queere Theorie überzeugte sie nicht. Sie stellte fest, dass diese sich auf Thesen aus Europa und den USA konzentrierte und vor allem auf den Erfahrungen reicher, weißer Personen und Akademiker*innen beruhte – Erfahrungen, denen sie sich entfremdet fühlte.

Biografisch führt Espinosa ihren kritischen Geist auf ihren Vater zurück, einen Mann aus der Schwarzen Arbeiterklasse, der sie schon als Kind ermutigte, das Establishment zu hinterfragen. Später festigte ihre Liebe zum Lesen, vor allem aber ihr ständiger Dialog mit Frauen vom Land, aus der Arbeiterklasse, der indigenen und der Schwarzen Bevölkerung ihre rebellische Persönlichkeit und ihren kritischen Standpunkt.

Mit vielen Fragen im Hinterkopf und auf Basis ihrer Erfahrungen als Migrantin und afrokaribische Frau in Buenos Aires, landete Espinosa beim dekolonialen Feminismus. Diese Strömung, die sich auf die Widerstandserfahrungen der indigenen Völker Lateinamerikas und der Karibik stützt, greift auch auf theoretische Ausarbeitungen des Schwarzen Feminismus in den USA zurück. Sie kritisiert die feministische Theorie als eurozentrisch und bürgerlich.

Ein Wendepunkt in Espinosas theoretischer Entwicklung war die Lektüre von Género y descolonialidad (2008) der argentinischen, feministischen Philosophin und Aktivistin María Lugones mit Isabel Jiménez Lucena und Madina Vladimirovna Tlostanova. In diesem Buch fand sie ausformuliert, was sie selbst an der weißen Herkunft des Feminismus kritisiert hatte.

Angetrieben von dem Bedürfnis, über Lateinamerika nachzudenken und dabei indigene, mestiza und Schwarze Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, näherte sich Espinosa den dekolonialen Ansätzen. Diese theoretische Strömung wurde in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren entwickelt. Die Kritik der europäischen Moderne, die Dekolonisierung des Wissens und das subalterne Subjekt gehören zu den theoretischen Hauptinteressen des Ansatzes, der stark von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano und seinem Konzept der „Kolonialität“ beeinflusst wurde. Dieses weist auf das Machtgefüge hin, das die Bevölkerung der Welt historisch bis heute sowohl auf materieller Ebene als auch in Bezug darauf, was als Wissen anerkannt wird und was nicht, rassistisch klassifiziert und ordnet.

Die dekoloniale Wende verband verschiedene Strömungen des lateinamerikanischen Denkens, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Themen wie den Beziehungen Lateinamerikas zu Europa und Nordamerika und der gegenwärtigen Dynamik von Herrschaft und Unterordnung auseinandersetzten. Auch kritische feministische Perspektiven durch Autorinnen wie María Lugones, die argentinische Anthropologin Rita Segato und Yuderkys Espinosa gewannen innerhalb der Strömung mit der Zeit an Bedeutung. Espinosas Arbeit hat sich unter anderem in ihrem letzten Buch De qué es necesario un feminismo decolonial (dt.: Warum ein Dekolonialer Feminismus notwendig ist) auf diese Perspektive konzentriert.

In Ihrem Buch De qué es necesario un feminismo decolonial stellen Sie eine kritische Genealogie (Genealogie als sozialwissenschaftliche Methode, mit der die Herkunft und Entwicklung z. B. von Konzepten nachgezeichnet wird, Anm. d. Red.) dessen auf, was Sie als „die Kolonialität der feministischen Vernunft in Lateinamerika und der Karibik“ bezeichnen. Können Sie diese Kritik etwas erläutern?

Sie bezieht sich auf die Tatsache, dass die Grundannahmen des Feminismus europäisch sind. Sie sind dem Projekt der westlichen Moderne verpflichtet, wo die Befreiung der Frau eine Befreiung in der Art und Weise bedeutet, wie die europäischen Länder sie verstehen. Es gibt zwar viele feministische Strömungen, doch viele davon teilen Grundlagen, die mit der modernen Rationalität zusammenhängen. Diese Grundlagen problematisieren wir.

Sie schlagen vor, dass es für eine Revision und Entflechtung des produzierten Wissens nicht mehr darum geht, über die Überschneidungen zwischen raza und Geschlecht wie im Ansatz der Intersektionalität zu sprechen, sondern sie als Ganzes zu betrachten, als „rassistische modern-koloniale Matrix des Geschlechts“. Was ist die Kritik an der Intersektionalität und was schlägt Ihr Konzept dagegen vor?

Das Hauptproblem besteht darin, dass intersektionale Ansätze bestimmte Identitätskategorien isolieren. Der Trend der letzten Jahre geht dahin, dass die Geschlechterforschung die Intersektionalität nutzt, um die Situation Schwarzer und indigener Frauen zu untersuchen. Es wird untersucht, wie sich raza und Klasse auf diese Frauen auswirken, dann werden weitere Variablen hinzugefügt: Behinderung, Geschlechtsidentität und so weiter. Wir nennen das „summative Betrachtung“ – man kann scheinbar alles addieren. Jede dieser Kategorien wird jedoch aus dem sozialen Ganzen herausgelöst und dabei immer aus der Erfahrung derjenigen herausgearbeitet, die innerhalb dieser Kategorie größere Privilegien genießen. María Lugones zeigt, dass es unmöglich ist, Herrschaft in voneinander unterteilten Variablen zu betrachten. Wir haben daher das Konzept der „kolonial-modernen, rassistischen Matrix des Geschlechts“ erarbeitet. Es zeigt auf, dass es nicht möglich ist, zu sagen „jetzt gerade spielt das Geschlecht die größte Rolle, jetzt gerade raza, jetzt die Klasse“.

Elizabeth González, Anführerin der Q’om-Frauen des Chaco in Argentinien, bekräftigt, dass die Q’om-Frauen das Gefühl haben, dass sie mit ihren Brüdern in ihrem Land eine Verteidigungseinheit bilden, „als ein Ganzes, das aus keinem Grund getrennt werden darf, da sie sonst nicht in der Lage sind, der Armut, der Marginalisierung und der Politik des Verschwindens zu begegnen“. Diese Vision, die vor allem im Rahmen des gemeinschaftlichen und/oder indigenen Feminismus entwickelt wurde, steht im Gegensatz zu der einiger Feminismen, einschließlich des separatistischen Feminismus, die sich von der Beteiligung der Männer an der Bewegung distanzieren. Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Positionen?

Das ist sehr schwierig. Ich denke, der separatistische Feminismus muss lernen, sich zu dekolonisieren. Dieser feministische Separatismus gibt dem Projekt der Moderne Kontinuität, indem er das gemeinschaftliche Band zerbricht. Die Vorstellung von Frauen auf der einen und Männern auf der anderen Seite ist eine Erwiderung auf dieses auf Individualisierung ausgerichtete Zivilisationsmodell. Für diesen Feminismus wie für die Moderne hat die Rückständigkeit der Menschheit mit der Aufrechterhaltung dieser gemeinschaftlichen Bindung zu tun. Deshalb drehen sich alle großen feministischen Phrasen und Slogans um das Ich: „Mein Körper gehört mir“, „Ich entscheide“. Wenn Frauen sich von der gemeinschaftlichen Bindung lösen, entsteht eine Form der Beziehung, die auf der Konstruktion fiktiver, politischer Gesellschaften beruht, und das ist die feministische Gemeinschaft.

Was geschieht, wenn es Frauen gibt, die körperliche, psychische oder wirtschaftliche Gewalt
erlitten haben und keine Gemeinschaftsbeziehungen mit gewalttätigen Männern eingehen wollen?

Die Antwort darauf kann nicht sein, dass wir jetzt eine Frauengesellschaft schaffen, als ob es diese Formen der Gewalt dann nicht gäbe. Es ist eine Verblendung seitens weißer Feministinnen, zu glauben, dass es sichere Räume für Frauen gibt, wenn wir ausschließlich unter Frauen sind. Das ist nicht die Erfahrung, die die meisten von uns, vor allem rassifizierte Frauen, gemacht haben. Wir haben auch gesehen, dass sich die größte Empörung oft gegen rassifizierte Männer richtet, die nicht die Macht in der Gesellschaft haben und die ihre Regeln nicht definiert haben. Woher kommt dabei der Gedanke, dass Frauen nicht in der Lage sind, Gewalt zu erzeugen? Das ist eine Idealisierung. Hier stellt sich die Frage nach der Erweiterung unseres Blicks. Wir sprechen über Gewalt, die produziert wird, weil sie Teil einer Struktur ist, in diesem Fall einer modernen, rassistischen, kolonialen Struktur. Auch das Geschlecht ist Teil dieser Struktur.

Wie können wir in Lateinamerika einen neuen Denkansatz für den Feminismus entwickeln, in einem Kontext, in dem der Rassismus ganze Gesellschaften durchdringt?

Ich denke, es ist nicht mehr nur ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern auch ein ontologisches, das heißt, wie wir die Welt machen, nicht nur wie wir sie interpretieren. In diesem Sinne denke ich, dass die Entkolonialisierung bedeuten sollte, anzuerkennen, dass es andere mögliche Welten gibt, dass wir ein anderes Gesellschaftsmodell aus den kommunalen Geweben dieses Kontinents lernen können. Wir können nicht glauben, dass wir den Rassismus innerhalb der Ordnung der Moderne selbst beenden können. Denn diese ist ein zivilisatorisches Modell, das sich auf die bekannten Institutionen stützt: den Nationalstaat, mit seinen Aufrüstungskapazitäten, seinem Gewaltmonopol und seinem Justizsystem.

Pablo González Cassanova entwickelte in den 1970er Jahren das Konzept des „inneren Kolonialismus“, das später von Silvia Rivera Cusicanqui weiterentwickelt wurde, wobei er betonte, dass eine seiner schlimmsten Erscheinungsformen die Ablehnung von allem, was mit indigenen Völkern zu tun hat, durch Teile der Linken ist. Wie funktioniert dieser „innere Kolonialismus“, der nicht nur in konservativen und rechten Eliten, sondern auch in progressiven und linken Sektoren verwurzelt ist?

Die dekoloniale Wende ist eine Notwendigkeit der Bewegungen der späten 1980er Jahre. In dieser Zeit traten Subjekte, die bis dahin darauf beschränkt waren, aus einem marxistischen Vokabular und einer marxistischen Interpretation heraus gelesen zu werden, aus diesem Rahmen heraus. In den 1990er Jahren begannen diese Gruppen, sich authentischer auf der Grundlage ihrer eigenen Geschichte zu positionieren. Es ist eine Revision der lateinamerikanischen Philosophie notwendig, die sich bisher schwertat, ihr Paradigma zu ändern. Die Linke folgt diesem Muster: Sie sprach immer von einem Fortschritt, der eng damit verbunden war, sich wie Europa oder im Sinne der marxistischen Ideen zu entwickeln. Wenn es nun Misstrauen seitens der Linken gegenüber der dekolonialen Wende gibt, dann interpretiere ich das auch als eine Debatte darüber, wer die Macht hat, den gesellschaftlichen Diskurs zu dominieren.

KONSEQUENTE VIELSTIMMIGKEIT

„Wer darf sprechen? Was passiert, wenn wir sprechen? Und über was dürfen wir sprechen?“, fragt die brasilianische Philosophin und Bestsellerautorin Djamila Ribeiro. In Wo wir sprechen. Schwarze Diskursräume entlarvt sie spielerisch die systematische Verzerrung des Diskurses, die die Stimmen weißer cis-Männer aus privilegierten Schichten seit Jahrhunderten zum Maßstab objektiven Wissens gemacht hat. Das gelingt besonders eindrücklich, da sie explizit und konsequent aus ihrem Diskursraum als Schwarze Frau schreibt.

Das Buch beginnt mit der Geschichte von Sojourner Truth. Die ehemals versklavte US-Amerikanerin hat sich gegen alle Widerstände eine Sprecherinnenposition in den abolitionistischen und feministischen Debatten des 19. Jahrhunderts erkämpft. So zeigt Ribeiro, dass Schwarze Frauen, auch wenn das selten überliefert ist, immer eine wichtige Rolle in emanzipatorischen Kämpfen gespielt haben und dass sie dabei ein Dilemma aushalten müssen: Antirassismus fokussiert oft die von Rassismus betroffenen Männer, während im Feminismus die weiße Frau im Zentrum steht. Die Schwarze Frau rückt gleichzeitig in den Schatten von Rassismus und Patriarchat.

Diese doppelte Marginalisierung – durch weitere Intersektionen wie Ethnie oder sexuelle Identität erweiterbar – prägt auch den heutigen Diskurs. Noch immer können weiße cis-Menschen aus privilegierten Schichten von einer scheinbar neutralen Position aus sprechen und dadurch Wissen erzeugen, das für alle gültig scheint. Marginalisierte Menschen dagegen sprechen aus einer markierten Position und stehen für das vermeintlich Spezifische und Subjektive. Ribeiro plädiert dafür, kenntlich zu machen, dass es keine neutrale Position gibt.

Das Recht auf eine eigene Stimme ist keine theoretische Frage. Sie ist direkt mit materiellen Verhältnissen verbunden: Wenn Maßnahmen gegen häusliche Gewalt auf weiße Frauen zugeschnitten sind, bleiben sie für Schwarze Frauen unwirksam. Wenn Schwarze Frauen nicht statistisch erfasst werden, fallen sie als erste aus dem Rentensystem.

Das Konzept der Schwarzen Diskursräume setzt dem etwas Konstruktives entgegen. Es steht dafür, dass es nicht um individuelle Befindlichkeiten geht, sondern um soziale Umstände, die zu geteilten Erfahrungen führen. Unmissverständlich macht Ribeiro klar, dass verschiedene Marginalisierungen nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern als zusammenhängende Struktur bekämpft werden müssen. So kann eine positive Gesellschaftsvision entstehen.

Wo wir sprechen ist ein vielstimmiges Buch: Ribeiro webt Zitate vorwiegend Schwarzer und lateinamerikanischen Wissenschaftlerinnen ineinander und fängt die teilweise abstrakten Gedanken durch ihren Kommentar wieder ein. Sie nutzt ihre Positionalität als analytisches Werkzeug und trägt so auch bei in post- und dekolonialer Kritik geschulten Leser*innen zu einer Wahrnehmungsverschiebung bei. Aber auch als Einstieg in die Themen Feminismus, Rassismus und Intersektionalität ist das Buch empfehlenswert.

DEKOLONIALER FEMINISMUS

Anthropologie und Aktivismus Rita Laura Segatos Analyse deckt die vielschichtigen Dimensionen geschlechtsspezifischer Gewalt auf (Foto: Universidade de Brasilia CC BY 2.0)

Die leidvolle Realität geschlechterspezifischer Gewalt an Frauen und Queers und die dagegen gerichteten Kämpfe lateinamerikanischer Feminismen sorgen auch im hiesigen Kontext für immer größere Aufmerksamkeit. Ende 2019 ging etwa das Video der Performance des chilenischen Kollektivs LasTesis „Un violador en tu camino“ (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) viral und wurde weltweit nachgeahmt (Interview in den LN 547). LasTesis klagen an: „Der repressive Macho-Staat vergewaltigt uns mit jeder Tat!“ Dabei beziehen sie sich explizit auf die Theorien der argentinischen Anthropologin Rita Laura Segato (LN 553/554, Interview in den LN 525). Die Übersetzung ihres ursprünglich 2018 erschienenen Buches Wider die Grausamkeit zeigt nun erstmals einer deutschsprachigen Leser*innenschaft eine akademische Perspektive auf das Thema auf. Segato verwebt die Kerngebiete ihres Schaffens – den Feminismus und die Dekolonialität – miteinander. Darüber hinaus stellt sie ihr Werk der Dominanz des eurozentristischen Systems der Wissensproduktion entgegen.

Die Analyse folgt ihrem Werdegang als Anthropologin, sowie ihrem aktivistischen Kampf für Rechtsgrundlagen in verschiedenen lateinamerikanischen Kontexten, so etwa ihre Schlüsselrolle bei der Durchsetzung der Quote für Schwarze und Indigene Studierende an den brasilianischen Universitäten Anfang der 2000er Jahre. Das Buch greift auch die zentralen Gedanken ihrer wichtigsten Publikationen auf.
Eine der ersten Stationen ist dabei ihre Auseinandersetzung mit der zunehmenden geschlechterspezifischen Gewalt im öffentlichen Raum in Brasília Anfang der 1990er Jahre. Ethnographische Gespräche mit verurteilten Vergewaltigern im Gefängnis bringen sie zur Annahme, dass Vergewaltigungen für die Täter keine „instrumentelle” Funktion erfüllen, also nicht der Befriedigung ihres sexuellen Triebes dienen: Mit dem Akt der Vergewaltigung kommuniziert der Angreifer auf einer Ebene komplizenhaft mit anderen Männern, um das „Mandat der Männlichkeit” zu erfüllen, das vom Mann das Eintreiben eines „Tributs” von der „weiblichen Position” fordert.

Bei einem Forschungsaufenthalt im mexikanischen Ciudad Juárez im Jahr 2004 sucht Segato nach Antworten auf das massenhafte Verschwindenlassen, Vergewaltigen und Ermorden von meist jungen Fabrikarbeiterinnen in der Zeit nach der Verabschiedung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens. Segato stellt die politische These auf, dass para-staatliche Akteure der organisierten Kriminalität ihre „Fähigkeit zur Grausamkeit“ in den entstellten und willkürlich entsorgten Körpern der ermordeten Frauen mit der stillen Billigung des Staates „einschreiben” und somit ihre Macht über ein „Körper-Territorium“ demonstrieren. Diese Feminizide, die Segato in ihrem Ausmaß auch als „Femigenozid“ einstuft, sind kein bloßes Mittel, sondern der Höhepunkt einer kriegerischen Strategie.

Zentral ist auch Segatos Verständnis der Kategorie Geschlecht als in seiner strukturellen Entstehung parallel zu „Raza“ (race). Im Kern werden biologische Unterschiede festgeschrieben, um Ungleichheit zu zementieren. Sie folgt dabei der Theorie der „Kolonialität der Macht“ des peruanischen Soziologen Aníbal Quijano, der die historische Entstehung des Systems Rassismus zu Beginn der Conquista verortet. Anders als Raza sei Geschlecht laut Segato aber so alt wie die Menschheit selbst. Sie geht davon aus, dass selbst vor der Kolonisierung und bis heute, in autochthonen Gesellschaften ein „Patriarchat niedriger Intensität“ besteht. Hier beobachtet sie einen schleichenden Prozess der Verdrängung eines „pluralistischen Dualismus“ der Geschlechter, in dem die Existenz von trans und nicht-binären Identitäten selbstverständlich ist, durch einen eurozentristischen „modernen Binarismus“, der die Frau immer als „das Andere des Mannes“ konstruiert.

In Anlehnung an Quijano bevorzugt Segato den dekolonialen in Abgrenzung zum postkolonialen Begriff, um das Fortwirken von kolonialen Beziehungen zwischen Lateinamerika und dem globalen Norden zu betonen. Hier merkt sie auch an, dass viele „afroindigene“ Pueblos sich dieser Dynamik bewusst entziehen und sich ihre Zukunft durch ein eigenes „historisches Projekt“ erhalten. Aufgrund ihrer „Scharnierposition zwischen zwei Welten“ sind Männer dieser Gesellschaften jedoch korrumpierbarer hinsichtlich des eurozentristischen „Projekts der Dinge“, einschließlich weißer Männlichkeit. Daher tragen hier Frauen die Verantwortung und Chance eines lebensbejahenden „historischen Projekts der Bindungen“, wozu auch der Kampf gegen die Entpolitisierung des häuslich-familiären Kontextes mit der damit einhergehenden Angreifbarkeit ihrer Körper gehört.

Segato hat in Wider die Grausamkeit eine Kompilation von Vorlesungen mit anschließenden Gesprächsrunden zusammengestellt – unkonventionell und nahbar. Sandra Schmidt liefert eine gelungene Übersetzung und Aufbereitung für die deutschsprachige Leser*innenschaft, mitsamt hilfreichen editorischen Einordnungen emischer Begriffe. Segatos Stil – eine Mischung aus „mäandernder“ Analyse und sprachlicher Direktheit – bleibt in der Übersetzung ebenfalls erhalten. Es entsteht das Gefühl, mit ihr im Hörsaal zu sitzen.

Leider beantwortet Segato die intersektionale Frage danach, warum und wie rassifizierte, prekarisierte und dadurch mehrfach marginalisierte Frauen und Queers besonders von geschlechterspezifischer Gewalt betroffen sind, nur unzureichend. So findet etwa der alarmierende Anstieg von Transfeminiziden in Lateinamerika nicht ausreichend Beachtung.

Die Erwartungshaltung bezüglich eines neuen feministischen Gesellschaftsentwurfes von Segato sollten die Leser*innen zurückschrauben. Denn Lösungsansätze reißt sie nur als Gegenüberstellung zur „Pädagogik der Grausamkeit“ an. Eigentlich lässt ihre Profession als Anthropologin, deren Methode das Forschen mit den Menschen darstellt, aber gerade die Beleuchtung handfester Strategien erhoffen, die die Erfahrungen von widerständigen Gemeinschaften und Aktivist*innen ausmachen. Doch Segato erwähnt nur flüchtig die Gesprächspartner*innen ihrer Feldforschungen und konzentriert sich mehr auf analytische Schärfe und klare Thesen. Sie sieht ihre Verantwortung als Wissenschaftlerin vielmehr darin, so viele Fäden wie möglich zu einer „wirkmächtigen Rhetorik“ zusammenzuweben, nutzbar für das historische Projekt der Bindungen.

So ist Rita Laura Segatos Werk zu einem theoretischen Fundament für Aktivist*innen der Vierten Feministischen Welle in Lateinamerika geworden. Ihr „Vokabular“ vermag es auch hierzulande, ungehorsame Gedanken und Aktionen sowie die weitere transnationale Verbindung feministischer Kämpfe anzustiften.

„WIR MÜSSEN UNORDNUNG SCHAFFEN“

Feminismus setzt sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Warum braucht es einen dekolonialen Feminismus?
Es gibt einen institutionellen Feminismus, wo es Glauben an den Staat und die Gesetze gibt. Dinge, bei denen sich meiner Meinung nach erwiesen hat, dass sie nicht ans Ziel führen, weder hier noch dort! Hier in Europa vielleicht noch eher, weil die Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat eine andere ist. In unseren kreolischen Republiken dagegen ist die Staats-gründung als solche schon kolonial, die Staaten gehen aus der Kolonialisierung hervor und sind ihr Erbe. Die Staaten stehen daher außerhalb dessen, was sie regieren.

Was ist im Gegenzug dekolonialer Feminismus für Sie?
Ein Feminismus, der diese gerade beschriebene Struktur anerkennt und damit beginnt, an ihr zu arbeiten. Unsere Seite in der Geschichte ist die des Pluralismus. Was wir bekämpfen, sind Monopole. Was heißt das? Bei Monopolen gibt es eine einzige Wahrheit, eine einzige Gerechtigkeit, eine Vernunft, eine Logik, eine einzige Form des Guten. Das ist der Westen. Unser Kampf aber orientiert sich sehr an der Idee des Pluralismus. Es gibt verschiedene Wahrheiten, Welten, und verschiedene Formen des Guten. Am 8. März kommen die verschiedenen Formen des Feminismus zusammen, auch der von Catherine Deneuve.

Catherine Deneuve, die in der #Metoo Debatte für die „Freiheit zu belästigen“ geworben hat?
Na klar. Wenn ich sage, der Pluralismus ist unsere Seite der Geschichte, heißt das auch, dass wir neben dem dekolonialen Feminismus mit dem institutionellen Seite an Seite kämpfen können.

Worin besteht dekoloniale Emanzipation?
Ich kann nur von meiner eigenen Welt sprechen und verstehen, dass es andere Welten gibt. Deshalb ist es auch ein großer Fehler, wenn europäische NGOs mit großen Geldmitteln kommen, um lateinamerikanische und indigene Frauen zu lehren, was sie zu wollen haben. Das ist schlecht. Ich kann das an einem Beispiel erklären, das für mich selbst schmerzhaft ist. Selbstverständlich bin ich für das Recht auf Abtreibung und ich glaube, das Abtreibungsverbot ist Gewalt durch den Staat, weil Frauen gezwungen werden, ein Stück Fleisch in sich zu tragen, das sie nicht möchten. Trotzdem: Im Norden Brasiliens gibt es indigene Gemeinden, die gegen Abtreibung sind. Denn eines der wichtigsten Themen dieser Gemeinden ist ihre demografische Wiederherstellung. Sie wurden beinahe ausgerottet. Es gibt zum Beispiel Gemeinden, die zu einem Zeitpunkt nur noch auf 6 Personen kamen. Und heute sind sie 300. In dieser Gemeinde ist Abtreibung sehr eingeschränkt. Aber was passiert: Wenn eine Frau ein Kind bekommt, das sie nicht möchte, zirkulieren die Kinder in diesen Gemeinden. Dass ein Kind in einer Familie geboren wird und von anderen großgezogen wird, ist dort absolut normal.

In Ihren Abhandlungen schreiben Sie, dass Patriarchismus dem Kolonialismus vorausgeht.
Ich begründe das unter anderem damit, dass es auf allen fünf Kontinenten, wenn auch nicht in allen menschlichen Gesellschaften, so etwas wie den Adamsmythos gab: In einem primordialen Moment gibt es demnach eine idyllische und paradiesische Gesellschaft, in der es an nichts fehlt. Und die Frau, das Weibchen, begeht dann einen Fehler, ist ungehorsam, auf diverse Art und Weisen: Sie kümmert sich nicht richtig um die Herde, sie isst den Apfel, sie hinterlässt Menstruationsblut… Dafür wird sie bestraft, und verliert dabei ihren Wert und ihre Macht, aber vor allem ihre Unabhängigkeit.

In sehr vielen Gesellschaften gibt es in diesem sehr frühzeitigen Moment der Artenbildung, bei dem die Spezies Mensch entsteht, solch einen Ursprungsmythos. Artenbildung wäre in Wirklichkeit also Patriarchalisierung. Ein Moment, in dem die Muskelkraft des Männchens und seine höhere Aggressivität sich zu einem Narrativ transformieren, das wir heute als Mythos betrachten. Von diesem Narrativ behaupte ich, dass es politisch und nicht naturgegeben ist, weil es sich auf eine Ursprungserzählung bezieht und Gesetze braucht, also ist es politisch.
In diesem Sinne sage ich in einem meiner ersten Bücher (Las Estructuras elementales de la violencia), dass wir uns heute immer noch in einer patriarchalen Frühzeit der Menschheit befinden. Und da es sich um eine politische Ordnung handelt, kann sie verändert werden.

Das ist aber optimististisch, oder? Denn das heißt ja, dass das Beste uns noch bevorsteht.
Ja, ein bisschen. Entweder, wir schaffen es aus dieser patriarchalen Frühzeit der Menschheit heraus oder unsere Spezies wird verschwinden. Aber mein Denken ist nicht utopisch im Sinne eines utopischen Autoritarismus. Utopien können nämlich sehr autoritär sein. Das dekoloniale Denken geht von dem aus, was existiert, und nicht von einer Idee einer Gesellschaft, die von einem bärtigen Deutschen entworfen wurde (lacht laut). Nicht von einem „so sollte es sein“, das es nicht gibt. Das, wovon wir reden, gibt es wirklich. Natürlich hat es viele Mängel, die korrigiert werden müssen.

Wie wird in indigenen Gemeinschaften zum Beispiel der Gender-Binarismus überwunden?
Binarismus hat nichts mit Zwei zu tun. Es ist ein Irrtum, von Binarismus zu sprechen. Binarismus ist die Welt des Einen. Das Andere ist eine Funktion des Einen, wie ein Hebel. Das wurde im postkolonialen Denken aufgezeigt. In Opern, Romanen gibt es immer den Schwarzen oder den aus der Karibik, der dem Europäer sagt, dass er Europäer ist: Du bist der Eine. Das ist Binarismus. Und die Frau ist das Andere vom Mann, wo der Schwarze das Andere vom Weißen ist.

Heißt das: Es gibt in indigenen Gemeinden keinen Binarismus?
Es gibt Dualismus. Ich unterscheide zwischen Dualismus und Binarismus. Dualität ist eine der Formen von Pluralität. In der Dualität gibt es eine Vertauschbarkeit der Positionen. Der Kreolismus hat aber etwas zerstört, was sehr üblich in den indigenen Gemeinden war, nämlich die Vertauschbarkeit oder das Transitieren zwischen den männlichen und weiblichen Positionen. Es gab Frau-Männer und Mann-Frauen, und es gab Variationen von Männnlichkeit und Weiblichkeit. All diese Transiten werden mit dem Binarismus abgeschafft.

Diesen Binarismus bekämpfen auch westliche LGTBI*. Worin genau besteht der Unterschied im dekolonialen Feminismus der indigenen Gemeinden?
Der Unterschied ist, dass du von einer Suche nach Gleichheit redest. Das ist sicherlich ein respektabler Wert, aber das impliziert Gleichheit zwischen Individuen. So etwas funktioniert in indigenen Gemeinden nicht, denn es gibt Gruppen von Individuen oder Klassen.

In Ihren Abhandlungen sagen Sie: Statt einer Politisierung des Häuslichen braucht es eine Verhäuslichung des Politischen.
Wir könnten Knoten sein in einem Faden der Erinnerung, die durch den Prozess des Kolonialismus sehr angegriffen wurde. Das heißt, zurückfinden zu Formen, in denen Frauen kollektive Probleme lösten. Domestizierung würde dann heißen, dass Das Andere seine Art zu sein durchsetzt.

Und so kann man den Binarismus überwinden?
Ich glaube schon. Am vergangenen 8. März fiel mir der Slogan auf: „Für eine Welt ohne Hegemonien“. Das müssen wir verfolgen. Eine plurale Welt ist eine Welt ohne Hegemonien. Zuerst müssen wir Unordnung schaffen. Wir müssen Unordnung schaffen.

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