Das Recht auf Leben

Was ist der Schwerpunkt der Arbeit eures Kollektivs?
Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt vor allem auf der Emanzipation der Schwarzen und am Rande der Gesellschaft lebenden Frauen unserer Gemeinde. Angesichts des strukturellen Rassismus in Brasilien entwickeln wir Überlebensstrategien und wollen immer mehr Frauen mit einschließen, damit auch sie sich emanzipieren können.

Wie ist das Kollektiv strukturiert?
Wir sind eine Gruppe von neun Frauen. Im Laufe dieser 20 Jahre, haben wir einige Handlungsleitlinien entwickelt, die sich an den aktuellen Anforderungen in unserer Region ausrichten. Jede Frau hat eine spezifische Rolle in der Organisation. Wir arbeiten immer vernetzt und nähern uns seit 2018 auch den Universitäten an. Wir haben ein Netzwerk geschaffen, das Rapas-Netzwerk, das mit Institutionen der Zivilgesellschaft zusammenarbeitet.

Wie sieht eure Arbeit in der Praxis aus?
Unsere Unterstützung richtet sich an Frauen ab 16 Jahren. Die meisten Frauen, die zu uns kommen, sind älter als 35. Es sind in der Regel verheiratete Frauen mit Kindern, die in ihrem Leben viel durchgemacht haben. Der Kontakt zu uns kann persönlich oder über sozialen Medien erfolgen. Über die sozialen Medien können wir z.B. Informationen übermitteln, Kontakte herstellen und Antworten auf Fragen in Echtzeit geben. Ein Teil der Arbeit findet auch in Räumlichkeiten im Zentrum der sieben Favelas statt. Sie sind sechs Tage in der Woche geöffnet. Wir sind aber auch außerhalb unserer Räumlichkeiten aktiv. Das hängt von unserer Planung ab, die jeweils für ein Trimester erfolgt. Wir wollen an den Orten sein, an denen wir Beziehungen aufbauen und pflegen können.

Welche Fortschritte hat die Arbeit des Kollektivs in diesen 20 Jahren gemacht?
Aus unserer Sicht ist unsere Netzwerkarbeit ein großer Erfolg, also der Austausch mit der Universität und mit anderen Institutionen. Unser ursprüngliches Ziel war es, die Autonomie der Frauen in unserer Region durch die Schaffung von Arbeit und Einkommen zu fördern. Es liegt auf der Hand, dass der finanzielle Aspekt für die Frauen von entscheidender Bedeutung ist, um sich von der Gewalt zu befreien, die in den Favelas besonders vorherrschend ist. Bald wurde uns jedoch klar, dass dies nicht ausreichte. Wir erkannten, dass die Frauen nicht nur Geld brauchten, um der Gewalt in den Favelas zu entkommen. Es ging um das Recht auf Leben. Also fingen wir an, Menschenrechtsarbeit zu machen. Auch das war ein großer Fortschritt.

Konnte das Kollektiv mit seiner Arbeit bezüglich der Gewalt gegen Frauen und des strukturellen Rassismus, der sich vor allem gegen Schwarze Frauen richtet, schon Erfolge verzeichnen?
Ja, wir haben Fälle von Frauen, die es geschafft haben, aus dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen. Sie haben erkannt, dass das, was sie erlebten, keine übernatürliche oder göttliche Bestimmung war, sondern Rassismus und/oder Gewalt. Wir würden ihnen jedoch niemals vorschreiben, dass sie Opfer von Rassismus sind, das wäre nicht hilfreich. Unsere Rolle ist eine sehr sensible, eine Rolle des Dialogs. Wir entwickeln Strategien, um dies zu ermöglichen. Wir können uns nicht einfach hinsetzen, wie wir beide es gerade tun, und fragen: Also? Leidest du unter Gewalt? Nein, denn nicht immer wollen die Frauen darüber sprechen. Sie denken nicht, dass es Gewalt ist, was sie erleben. Denn oft wissen sie gar nicht, was Gewalt ist. Sie wissen nicht, was Rassismus ist. In diesen Fällen hören wir zunächst ein Lied oder sehen uns einen Film zu diesem Thema an. Physische Gewalt gegen Frauen und Femizide sind das Ergebnis eines Rassismus, der immer verschwiegen und verschleiert wird.

Wie geht ihr mit religiösen Fragen um, insbesondere im Zusammenhang mit den verschiedenen evangelikalen Kirchen, die in den brasilianischen Favelas sehr präsent sind und im Land immer stärker werden?
Religiöse Fragen sind für uns kein Thema. Unser Thema, das Recht auf Leben, ist dem übergeordnet. Wir unterstützen Frauen unabhängig von ihrer Religion. Wenn ich als Frau zum Beispiel ein gynäkologisches Problem habe, brauche ich ärztliche Hilfe. Gott hat damit nichts zu tun. Wir laden die Frauen zum Reflektieren ein: „Warum sollten wir Gott aufbürden, was unsere eigene Verantwortung als Bürgerinnen ist?“ Wir gehen so vor, dass die Frauen sich als Bürgerinnen erkennen und damit Rechte besitzen, in diesem Fall das Recht auf Gesundheit, das auch Teil der Verfassung ist.

Wie finanziert sich das Kollektiv?
Wir haben heute zwei Finanzierungsquellen: Ausschreibungen für öffentliche Projekte oder von privaten Unternehmen und die Herstellung von Produkten, die wir verkaufen. Wir stellen Taschen, Etuis und Geschenkartikel her. Wir sind auf die Mitarbeit von Frauen angewiesen, die vom Kollektiv bereits unterstützt wurden und in unserem Register eingetragen sind. Vor dieser Reise haben wir 1.000 Taschen verkauft!

Welche Verbindung hat das Kollektiv zu Deutschland?
Wir haben eine Verbindung zu Deutschland, weil uns der Weltfriedendienst WFD in den ersten Jahren unseres Projekts unterstützt hat. Lutz Taufer war zu dieser Zeit unser Kooperationspartner. Lutz war lange Zeit bei uns in São Gonçalo. Als das Projekt endete, ging er zurück nach Deutschland, aber wir blieben in Kontakt.


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KONSEQUENTE VIELSTIMMIGKEIT

„Wer darf sprechen? Was passiert, wenn wir sprechen? Und über was dürfen wir sprechen?“, fragt die brasilianische Philosophin und Bestsellerautorin Djamila Ribeiro. In Wo wir sprechen. Schwarze Diskursräume entlarvt sie spielerisch die systematische Verzerrung des Diskurses, die die Stimmen weißer cis-Männer aus privilegierten Schichten seit Jahrhunderten zum Maßstab objektiven Wissens gemacht hat. Das gelingt besonders eindrücklich, da sie explizit und konsequent aus ihrem Diskursraum als Schwarze Frau schreibt.

Das Buch beginnt mit der Geschichte von Sojourner Truth. Die ehemals versklavte US-Amerikanerin hat sich gegen alle Widerstände eine Sprecherinnenposition in den abolitionistischen und feministischen Debatten des 19. Jahrhunderts erkämpft. So zeigt Ribeiro, dass Schwarze Frauen, auch wenn das selten überliefert ist, immer eine wichtige Rolle in emanzipatorischen Kämpfen gespielt haben und dass sie dabei ein Dilemma aushalten müssen: Antirassismus fokussiert oft die von Rassismus betroffenen Männer, während im Feminismus die weiße Frau im Zentrum steht. Die Schwarze Frau rückt gleichzeitig in den Schatten von Rassismus und Patriarchat.

Diese doppelte Marginalisierung – durch weitere Intersektionen wie Ethnie oder sexuelle Identität erweiterbar – prägt auch den heutigen Diskurs. Noch immer können weiße cis-Menschen aus privilegierten Schichten von einer scheinbar neutralen Position aus sprechen und dadurch Wissen erzeugen, das für alle gültig scheint. Marginalisierte Menschen dagegen sprechen aus einer markierten Position und stehen für das vermeintlich Spezifische und Subjektive. Ribeiro plädiert dafür, kenntlich zu machen, dass es keine neutrale Position gibt.

Das Recht auf eine eigene Stimme ist keine theoretische Frage. Sie ist direkt mit materiellen Verhältnissen verbunden: Wenn Maßnahmen gegen häusliche Gewalt auf weiße Frauen zugeschnitten sind, bleiben sie für Schwarze Frauen unwirksam. Wenn Schwarze Frauen nicht statistisch erfasst werden, fallen sie als erste aus dem Rentensystem.

Das Konzept der Schwarzen Diskursräume setzt dem etwas Konstruktives entgegen. Es steht dafür, dass es nicht um individuelle Befindlichkeiten geht, sondern um soziale Umstände, die zu geteilten Erfahrungen führen. Unmissverständlich macht Ribeiro klar, dass verschiedene Marginalisierungen nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern als zusammenhängende Struktur bekämpft werden müssen. So kann eine positive Gesellschaftsvision entstehen.

Wo wir sprechen ist ein vielstimmiges Buch: Ribeiro webt Zitate vorwiegend Schwarzer und lateinamerikanischen Wissenschaftlerinnen ineinander und fängt die teilweise abstrakten Gedanken durch ihren Kommentar wieder ein. Sie nutzt ihre Positionalität als analytisches Werkzeug und trägt so auch bei in post- und dekolonialer Kritik geschulten Leser*innen zu einer Wahrnehmungsverschiebung bei. Aber auch als Einstieg in die Themen Feminismus, Rassismus und Intersektionalität ist das Buch empfehlenswert.


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