// Das Soziale Medienfeld nicht räumen

Soziale Medien gehören heute zu den wichtigsten Kanälen der Kommunikation. Bei jungen Menschen haben sie sich nicht nur als Mittel zur Kontaktaufnahme etabliert, sondern sind auch zentrale Quelle für politische Informationen. Etwa 73 Prozent der 16- bis 24-Jährigen in Deutschland nutzen laut Statista soziale Medien.

Doch die utopische Hoffnung der frühen Jahre des Internets, dass soziale Netzwerke demokratische und konstruktive Debattenräume sind, steht heute einer Realität gegenüber, in der vor allem die Rechten von den Mechanismen dieser Plattformen profitieren. Mechanismen wie zum Beispiel Algorithmen, die polemische, emotionsgeladene Beiträge favorisieren und die Entstehung von Filterblasen und Echo-Kammern provozieren. Soziale Medien bilden heute ein Umfeld, in dem einfache, polarisierende Botschaften bevorzugt werden. Negative Emotionen wie Angst oder Wut, mit denen rechte Diskurse gekonnt spielen, haben es daher leichter.

In Zeiten des Daten- und Überwachungskapitalismus sind zudem nicht nur die internen Dynamiken und ihre Auswirkungen Objekt der notwendigen Kritik, sondern auch die dahinterstehenden Besitzverhältnisse. Elon Musk & Co scheffeln massenweise Geld mit den Daten der Nutzer*innen und erweitern ihre Möglichkeiten der Einflussnahme. Aber es wäre ein gravierender Fehler, dies festzustellen und dann das Feld jenen zu überlassen, die daraus Vorteile ziehen. Die Skepsis der Linken gegenüber den Dynamiken der sozialen Medien ist zwar fundiert, jedoch nicht konstruktiv, wenn sie an dieser Stelle hängen bleibt. Genauso wie in Bezug auf andere Produkte im Kapitalismus können Boykott oder Ansätze des kritischen Konsums eine Möglichkeit sein, reichen aber als Strategie nicht aus. Vor allem helfen sie nicht dabei, die Linke wieder zu der Massenbewegung zu machen, die sie sein muss, um etwas zu verändern. Ob wir es wollen oder nicht: In der Gesellschaft, wie sie heute ist, sind soziale Medien zentral für politische Arbeit.

Und es gibt durchaus Beispiele dafür, wie diese erfolgreich von linken Gruppen und Organisationen genutzt wurden. Die Transnationalität der heutigen feministischen Bewegung geht zu großen Teilen auf das Nutzen sozialer Medien als Kommunikationskanäle zur Verbreitung von Informationen, Vernetzung und Mobilisieurng zurück. Als 2019 Feminist*innen auf der ganzen Welt die Performance „Un violador en tu camino“ (dt.: Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) des chilenischen Kollektivs Las Tesis nachahmten, nachdem diese über Facebook, Youtube und Instagram weltweit Berühmtheit erlangt hatte, wurde dies symbolisch deutlich. Auch die Kampagne #MileiNoSosBienvenido der Asamblea en Solidaridad con Argentina in Berlin und anderen Städten Deutschlands und Europas im vergangenen Monat kann als Positivbeispiel dienen: Mit der Kombination von verschiedenen Straßenaktionen und Publikationen ist es der Asamblea in kurzer Zeit gelungen, Tausende zu mobilisieren und Presseaufmerksamkeit zu generieren – alles mit Social Media als Hauptkommunikationskanal.

Es ist also möglich, linke Präsenz durch soziale Medien zu verstärken, Referenzfiguren und Perspektiven gerade an jüngere Leute heranzutragen. Dabei ist es zentral, das Publikum zu verstehen. Es geht meistens nicht nur um Aufklärung, sondern um Dialog und darum, gemeinsame Aktionsperspektiven zu finden. Die sozialen Medien können eine unterstützende Funktion für Aktivismus haben. Und für diese Funktion muss gekämpft werden. Seit es das Internet gibt, gibt es auch kritische Menschen, die sich die virtuellen Räume aneignen und sich, genau wie auch aus anderen Räumen, nicht vertreiben lassen. Die entsprechende kreative Hackerstrategie können wir uns zueigen machen.

// Ermordet, weil sie Lesben waren

„Sie wurden verbrannt, weil sie Lesben waren. Sie wurden verbrannt, weil sie arme Lesben waren. Sie wurden verbrannt, weil sie arme Lesben waren, die eine Gemeinschaft bildeten.“ So hieß es auf einer Demonstration der landesweiten lesbischen Vernetzung in Argentinien Mitte Mai. Am 5. Mai war im Stadtteil Barracas im Süden von Buenos Aires ein brutaler Brandanschlag gegen vier lesbische Frauen begangen worden. Drei Frauen starben. Menschenrechtsorganisationen und die LGBTIQ+-Bevölkerung in Argentinien haben keinen Zweifel daran, dass es sich um einen Lesbizid handelt. Die Regierung von Javier Milei stritt jedoch jeden Zusammenhang ab: „Mir gefällt es nicht, den Vorfall als Anschlag gegen ein bestimmtes Kollektiv zu definieren”, sagte Regierungssprecher Manuel Adorni während einer Pressekonferenz in der Woche nach dem Attentat.

Offen queerfeindlich positionierte sich auf X (ehemals Twitter) dagegen Nicolás Márquez, der rechtsextreme Autor einer Biografie Mileis: „Dann werd halt keine Lesbe, dann töten sie dich auch nicht. Ein guter Moment, Heterosexualität einzufordern.“ Er hatte schon vorher bei einem Radiointerview behauptet, der Staat würde Homosexualität fördern, um selbstzerstörerisches Verhalten zu belohnen. Genau solche Hassreden und Taten wie den Lesbizid in Barracas kann man nicht voneinander trennen.

Es zählt fraglos zur Aufgabe staatlicher Institutionen, queere Menschen zu schützen. Leider ist das auch in Deutschland keine Selbstverständlichkeit – die Rechte queerer Personen müssen immer wieder verteidigt werden. Ab November wird endlich das neue Selbstbestimmungsgesetz das diskriminierende Transsexuellengesetz von 1980 ersetzen. Viele Gruppen kritisieren jedoch, dass es sich dabei nur um einen Minimalkompromiss handelt und bei der Diskussion transfeindlichen Stimmen zu viel Raum gegeben wurde.

In Argentinien existierte ein ähnliches Gesetz bereits seit 2012. Jetzt werden die Fortschritte im Bereich Geschlechtergleichstellung und Antidiskriminierung von LGBTIQ+-Personen jedoch bedroht: Die gendergerechte Sprache wurde in der öffentlichen Verwaltung verboten, die Arbeit des Ministeriums für Frauen, Gender und sexuelle Vielfalt wurde eingestellt und weitere für die LGBTIQ+-Bevölkerung entwickelte Initiativen wurden abgeschafft. Der queerfeindliche Präsident Milei soll am 24. Juni in Hamburg den Preis der rechtslibertären Hayek-Gesellschaft erhalten. Bundeskanzler Olaf Scholz wird sich mit ihm treffen und ihn damit weiterhin als legitimen Arbeitspartner anerkennen, obwohl er nach dem Handbuch eines autoritären Führers handelt: Zuerst betreibt er die Rücknahme von Rechten einzelner Gruppen, um danach Rechte und Freiheiten möglichst noch weiter einzuschränken – und ihm selbst im Gegenzug weitestgehende Macht zu verschaffen.

Soweit ist es in Deutschland noch nicht, aber die Fassade der Progressivität bröckelt auch hier: Die EU-Agentur für Grundrechte stellte im Mai fest, dass queerfeindliche Gewalt in Deutschland in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Gleichzeitig gewinnt eine rechte Partei wie die AfD, die ein konservatives, eingeschränktes Familienmodell fördert und eine eindeutige Bedrohung für das Leben von LGBTIQ+-Menschen im Land darstellt, einen immer größeren Einfluss auf den politischen Diskurs und legt bei Wahlen zu. So könnten Errungenschaften wie eine größere Selbstbestimmung von queeren Menschen, die Ehe für Alle oder die Abschaffung des Paragraphen 219 wieder in Gefahr geraten. Mit der Anerkennung von Rechten ist der Weg definitiv noch nicht zu Ende. Um ein gutes Leben für uns alle in der Vielfalt, in der wir existieren, zu ermöglichen, bedarf es dauerhafter Anstrengungen von so vielen wie möglich.

“Unsere Leben implodieren”

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In 20 Jahren stark gewachsen Das Kollektiv YoNoFui begann mit einem Poesieworkshop und bietet heute Unterstützung in zahlreichen Bereichen an (Foto: YoNoFui)

Wir treffen uns einen Tag nach dem brutalen Anschlag auf vier Lesben – Pamela, Roxana, Andrea und Sofía – im Stadtteil Barracas von Buenos Aires. Wie lässt sich dieser Anschlag in der gegenwärtigen politischen Situation erklären?

Dieser spezifische Fall zeigt, wie die Hassreden der Regierung von Milei später konkrete praktische Auswirkungen haben. Wir halten es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Reden nicht erst von dieser Regierung stammen. Sie brodelten schon länger unter der allgemeinen Oberfläche, aber jetzt gibt es eine Legitimation von höchster institutioneller Ebene, diese expliziten Grausamkeiten auch auszuüben. Und das ist definitiv gefährlich. Die derzeitige Regierung ist erklärtermaßen antifeministisch und gegen dissidente Körper. Letzte Woche hat einer von Mileis Biografen gesagt, dass Homosexualität von linken Parteien finanziert sei.
Aber wir leisten auch Widerstand: Gestern gab es eine Versammlung von etwa 400 Lesben aus verschiedenen Teilen des Landes, um zu besprechen, was zu tun ist. Die Situation ist sehr kompliziert, aber sie hat gerade erst begonnen. Unsere Leben implodieren. Jeden Tag gibt es Nachrichten aus dem nahen Umfeld, die uns umhauen. Die Krise der mentalen Gesundheit, in der wir uns aktuell wiederfinden, wirft viele Fragen auf, etwa wie wir gegen diesen Krieg ankämpfen können, der nicht nur kulturell und ökonomisch, sondern auch emotional geführt wird.

Aber mit diesen Hassreden hat Milei doch Wahlkampf gemacht. Wie erklärt ihr euch, dass ihn so viele Menschen gewählt haben?

Es gibt nicht eine einzige Antwort, sondern viele Gründe. Wir beobachten eine Veränderung in den Subjektivierungsprozessen, die sich nach der Pandemie verstärkt haben. Dabei gehen historische, geteilte Erfahrungen verloren, die dazu geführt haben, dass wir heute stehen, wo wir stehen. Zum Beispiel, dass wir ein Land sind, das Prozesse der Bildung und des Kampfes um eine historische Erinnerung hat oder hatte. Wir dachten, dies sei eine feste Säule der Gesellschaft, aber uns wurde klar, dass sie sehr fragil ist.
Als Teil einer Selbstkritik glauben wir, dass dies mit einer Omnipotenz der Menschenrechtsbewegungen und der linken Bewegungen zu tun hat, die einige Diskussionen bereits für erledigt hielten, anstatt sie zu radikalisieren. Ökonomisch hat der Kirchnerismus einen großen Teil der Bevölkerung über Konsum integriert – mit dem ganzen neoliberalen Ballast. Letztlich war es aber kein „wir konsumieren alle“ als Modus einer Umverteilung von Reichtum, denn es gab gleichzeitig viele Menschen in sehr prekären Situationen, denen es schlecht ging. Die Kluft hat sich weiter vergrößert. Jetzt ist es offensichtlich schlimmer. Die Mittelschicht hat noch nie derartige Verluste erlebt.

Bevor wir zu dieser Selbstkritik kommen: Könnt ihr uns mehr über YoNoFui erzählen?

YoNoFui entstand im Jahr 2002 aus einem Poesieworkshop, den María Medrano, eine unserer Genoss*innen, im Gefängnis von Ezeiza gegeben hat. Dort sind wir auf die Schwierigkeiten gestoßen, die jemand hat, der*die die Freiheit wiedererlangt. Es gab keine öffentliche Politik für die Zeit nach der Inhaftierung. Also begannen wir, uns zu treffen und Workshops an verschiedenen Orten zu veranstalten. Das Kollektiv wurde größer, es vergingen mehr als 20 Jahre. Heute sind wir ein Kollektiv mit verschiedenen Bereichen. In unserem Gemeinschaftshaus befindet sich die Kooperative mit verschiedenen Produktionseinheiten: Textil, Buchbinderei und Siebdruck. Dann gibt es noch die neuste Produktionseinheit für Ästhetik und Körperpflege mit dem Namen „Bell, jede Schönheit ist Politik“, die sich in unseren anderen Räumlichkeiten im Stadtteil Palermo befindet. Hier im Gemeinschaftshaus in Flores hast du die Anti-Knast-Bibliothek. Wir machen auch Bücher, wir haben einen Verlag. Unser Kollektiv ist ja aus einem Poesieworkshop hervorgegangen – es gibt also etwas an der Sprache, das uns stetig herausfordert zu hinterfragen.
Ein weiterer Bereich des Kollektivs ist der Segundeo. Das ist ein bisschen schwierig zu erklären. Hier auf der Straße sagt man primerear, um sich vor jemanden zu stellen, als ob man konkurrieren würde – ohne, dass dir der*die andere etwas ausmacht. Stattdessen meint segundear zusammen gehen. Es ist sozusagen das Gegenteil von primerear. Segundeo zeigt auch die Art, wie wir uns im Laufe der Zeit umbenannt haben: Am Anfang haben wir „soziale Unterstützung“ gesagt, dann „Begleitung“ und heute macht der Begriff Segundeo für uns mehr Sinn, denn Segundeo ist eine Praktik der Gegenseitigkeit, zu zweit, des gemeinsamen Werdens darin, es ist eine ganz bestimmte Haltung, die wir sehr schätzen.

Was heißt das in der konkreten Praxis?
Segundeo hat mehrere Instanzen. Im juristischen Segundeo haben wir aktuell Genoss*innen, die aus ihrer Zeit im Gefängnis viel juristische Erfahrung haben, und vier antikarzerale und abolitionistische (Strömungen, die sich für die Überwin­dung von Institutionen staatlicher Gewalt wie Gefängnissen einsetzen, Anm. d. Red.) Anwält­*innen. Gemeinsam verfolgen wir die Fälle der Genoss­*innen. Wir haben auch Ansätze der kollektiven Mediation. Wir sind ein Kollektiv und auch hier gibt es Konflikte. Mit dem Segundeo versuchen wir dafür Lösungen zu finden, die weder strafend noch sanktionierend sind. Einen anderen Segundeo nennen wir „Autonomie und Selbstverwaltung des Alltagslebens“: staatliche Beihilfen beantragen, einen Lebenslauf erstellen, Orte zum Wohnen suchen und das Alltagsgeschäft des Gemeinschaftshauses verwalten. Nach der Pandemie haben wir gesehen, dass es einen großen Bedarf an Raum für psychische Gesundheit gab. Deshalb haben wir auch noch den Segundeo für mentale Gesundheit eröffnet. Hier haben wir Raum für Gruppen- und individuelle Betreuung. Wir arbeiten ausgehend von einer Idee, die sich vielleicht gegen die hegemoniale Vorstellung richtet, die Gesundheit nur im Sinne von individuellem Wohlbefinden und Glück versteht.
Obwohl wir seit sehr vielen Jahren Erfahrungen mit Kunst- und Handwerksworkshops sammeln, haben wir erst dieses Jahr unsere Schule für Kunst, Handwerk und politisches Experimentieren eröffnet. Wir sind sehr verliebt in dieses pädagogische und politische Projekt, weil wir unseren Raum für die Community öffnen und etwas sehr Lebendiges entsteht, ein Zufluchtsort in einem so komplexen Moment. Es sind 70 Personen eingeschrieben und fast alle sind queer.

Ihr habt die Selbstkritik in diesen Zeiten schon angesprochen. Vielleicht etwas allgemeiner: Mit welchen Problemen seid ihr heute konfrontiert?

Wir sind der Meinung, dass wir immer noch nicht genügend berücksichtigen, welche Auswirkungen das Gefängnis auf jegliche Bindungen in unserem täglichen Leben hat. Nicht nur, ob du im Gefängnis warst oder nicht. Da gibt es etwas, das gesellschaftlich geleugnet wird, etwas in den prak­tischen und alltäglichen Auswirkungen unseres Umgangs miteinander, das als ständige Bedrohung mit uns lebt wie ein Gerücht, das nicht verstummt.
Eine weitere Herausforderung, der wir uns zu stellen versuchen, ist die Notwendigkeit, eine Sprache zur Abschaffung der Gefängnisse aus südamerikanischer Perspektive oder aus dem Globalen Süden zu schaffen. Denn alle Vorstellungen, die wir haben, kommen aus dem Globalen Norden mit der Entstehung der kritischen Kriminologie oder Angela Davis. Das ist alles brillant und hilfreich, aber wir wollen auch in einem regionalen Kontext denken: Was ist hier ein Gefängnis? Was ist hier Bestrafung? Welche ist hier die Ökonomie der Bestrafung? Wie denkt man Gerechtigkeit? Die Konzepte aus dem Globalen Norden kommen wie eine verschlossene Kiste bei uns an. Also haben wir angefangen, ein Mapping von alternativen Gerechtigkeiten anzulegen, zum Beispiel indigene Gerechtigkeiten oder die Art, wie wir im Alltag Konflikte lösen, die auch Teil einer anderen Art von Gerechtigkeit ist. Das Gleiche gilt auch für innerhalb des Gefängnisses: Was bedeutet es, Gerechtigkeit innerhalb des Gefängnisses herzustellen? Was bedeutet es, Gemeinschaft innerhalb des Gefängnisses aufzubauen? In einer Welt, die zur Hyperindividualisierung neigt, kann der Aufbau von Gemeinschaft ein Weg sein, Gerechtigkeit zu schaffen.
Und gleichzeitig ist es jetzt sehr schwierig. Jetzt haben wir zum Beispiel das Problem, dass sie mit einer Justizreform das Alter der Strafmündigkeit auf 12 Jahre senken wollen. Aber was machst du da? Plötzlich vertrittst du eine konservative Position und sagst: „Nein, halt! Lasst uns nicht auf die 12, lasst uns auf die 18 zurückgehen.” Aber auch das funktioniert für uns nicht. In einem Punkt ist es zwar weniger schlimm, aber als Kollektiv sind wir nicht einverstanden mit diesem strafenden System. Vielleicht wäre jetzt ein guter Moment, uns zu fragen: Was wird kriminalisiert?

Wie arbeitet ihr in dieser Situation mit anderen, vielleicht transfeministischen oder auch anarchistischen Bewegungen zusammen?

Im Allgemeinen sind wir wenige Kollektive aus unabhängigen Aktivist*innen, die keine Parteifahnen hinter sich haben. Und wir halten diesen autonomen Raum aufrecht. Uns erscheint es sehr wichtig aus der Autonomie heraus zu sprechen. Eine Autonomie, die immer in wechselseitiger Abhängigkeit steht. Dieses Jahr haben wir für den 8. März zusammen mit transfeministischen und queeren Aktivist*innen den Mostri-Block gebildet. Das hat uns sehr begeistert, denn die Idee dieses Blocks war es, über die Diskussion um Identität hinauszugehen. Mostri kann jemand sein, der*die im Knast war, Mostri kann eine Person mit Behinderung sein, Mostri können wir antipunitivistischen Kollektive sein, Mostri kann die queere Community sein. Und dann begannen wir uns mit travesti-trans, schwulen, lesbischen Kollektiven, dem gesamten LGBT-Kollektiv und anderen Mostri-Aktivist*innen zu versammeln. Im Alltag kooperieren wir mit dem Kollektiv der Sexarbeiterinnen und mit No Tan Distintes („Nicht so verschieden”), ein Kollektiv, das mit Menschen auf der Straße arbeitet. Aber mit manchen Feminismen ist es kompliziert, vor allem wenn sie sehr frauenzentriert, akademisch und punitivistisch sind. Als antipunitivistisches Kollektiv zur Abschaffung von Strafen beharren wir darauf, dass das Gefängnis keine Lösung ist. Deshalb sagt eine Genossin, Eva Reinoso, immer: „Wir sind unbequem für den Feminismus, aber die Betten in den Gefängniszellen sind viel unbequemer.”
Und mit anarchistischen Bewegungen gibt es eine Nähe zu bestimmten Ideen, sofern wir Anarchismus als Praxis gegen Autorität verstehen. Außerdem stehen die Bündnisse in einer historischen Tradition: Die Anfänge der Kriminalisierung sexuell dissidenter Menschen und Sexarbeiterinnen fallen mit der Kriminalisierung von anarchistischen und kommunistischen Bewegungen zusammen.

Vielleicht hilft das auch die Beziehungen innerhalb des Kollektivs, aber auch nach außen zu stärken. Wie blickt ihr auf die nächsten Wochen?

Uff, schwierig. Wir glauben, dass die nächsten Wochen immer komplexer werden, aber gleichzeitig ist es auch wichtig, dass wir uns weiter verbünden. Mit der Erfahrung des Macrismo, der nicht mal ein Zehntel so schlimm, aber dennoch schrecklich war, können wir vielleicht eine Haltung weder der Hoffnung noch des Optimismus haben. Denn das war auch ein großer Moment der Alternativen: Wir waren so erstickt, so unterdrückt, so unfähig gemacht zu leben, dass wir Leben schaffen mussten. Und die einzige Möglich­keit war, sich zusammenzuschließen und zu mobilisieren. Das Gleiche tun wir jetzt. Aber die Aussicht ist ziemlich entmutigend und eine große Herausforderung. Es ist sehr traurig und schmerz­haft. Gleichzeitig war zum Beispiel der Mostri-Block auf der Demo vom 8M ein Fest und hat uns eine Lebendigkeit wiedergegeben. Deshalb beharren wir, ohne Hoffnung und ohne Optimismus, auf die Traditionen des Kampfes in un­seren Territorien, die sehr mächtig sind und die in uns wohnen.

Lyrik aus Lateinamerika

Agrupaciones

Lo que existe, que es poco,
es un encuentro íntimo entre seres.
Protones que se agrupan. Electrones
que a su alrededor parpadean y orbitan.
Entre sí, las abejas. Y la orquídea
que se prende al tronco fuerte.
Y la gata amarilla con sus hijos,
y sus hijos con ella. Y las cosas
que juntas gravitamos hacia el centro
preciso de la Tierra. Hoy, que nos une
el imán tembloroso del amor,
nos ovillamos como integrando
un cuerpo que, en otra dimensión,
será un monstruo bicéfalo, pero en esta
somos dos pobres diablos haciéndole
frente a la Nada, nuestro dios.

Gruppierungen

Was existiert, nämlich sehr wenig,
ist ein intimes Zusammentreffen von Wesen.
Protonen, die sich gruppieren. Elektronen,
die sie umflirren und umkreisen.
Bienen unter sich. Und die Orchidee,
die auf einem starken Stamm aufsitzt.
Und die rotpelzige Katze mit ihren Jungen,
und ihre Jungen mit ihr. Und die Dinge,
die wir gemeinsam dem genauen Mittelpunkt
der Erde zustreben. Heute, da uns der
zitternde Magnet der Liebe zusammenbringt,
verknäueln wir uns zu einem einzigen
Körper, der in einer anderen Dimension
ein doppelköpfiges Ungetüm wäre, doch in dieser
sind wir zwei arme trotzige Teufel vor
dem NICHTS, unserem Gott.

Rita Gonzalez Hesaynes ist argentinische Dichterin, Übersetzerin und Programmiererin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen ¡oh mitocondria! (añosluz, 2015), en la gran existencia (añosluz, 2017), neuromantra (Abend, 2018) und Elfo corporativo (Promesa, 2021) sowie die Plaquetas la belle époque (difusión a/terna, 2017) und una intensa hierba (No es como una rubia en el avión, 2017). Sie lebt in Berlin.

Laura Haber ist Literaturübersetzerin aus dem Spanischen, Französischen und Portugiesischen sowie Redaktionsmitglied von alba.lateinamerika lesen. Sie war u. a. Teilnehmerin des Hieronymus- und des Goldschmidt-Programms und an Festivals der lateinamerikanischen Literaturszene Berlins wie Latinale und Siesta beteiligt.

Poesie für Fortgeschrittene

© Películas mirando el techo

Einfach macht es Matías Piñeiro seinen Zuschauer*innen meistens nicht. Die Werke des argentinischen Independent-Filmemachers sind mit ihren verschachtelten Narrativen und oft außerhalb des lateinamerikanischen Kontextes stehenden Leitmotiven nicht einfach zu entschlüsseln. Bislang standen oft Shakespeare oder auch mal asiatische Philosophie im Zentrum von Piñeiros Schaffen. In Tú me abrasas ist Lateinamerika nun bis auf Regisseur und Schauspieler*innen komplett außen vor. In seinem Berlinale-Beitrag verfilmt der Regisseur einen literarischen Dialog der antiken, griechischen Lyrikerin Sappho mit dem 2.500 Jahre später geborenen italienischen Schriftsteller Cesare Pavese.

Klingt kompliziert? Ist es auch und Piñeiros Herangehensweise macht den Einstieg in den Film nicht unbedingt leichter. Aneinandergereiht werden sich wiederholende Bildkompositionen gezeigt: Blumen, Äpfel, Gebäude, eine Spüle, eine Türklingel und immer wieder das Meer. Einige Bilder werden als visuelle Entsprechungen für einzelne Begriffe etabliert, zum Beispiel für die drei Wörter des Filmtitels. Wer sich darauf einlässt, dem erschließt sich – wie so oft bei Piñeiro – die narrative Struktur dann nach einer Weile. Stück für Stück fließen biographische Informationen zu Pavese und Sappho ein, Parallelen werden klar: Unerfüllte Liebe und die Frage nach Akzeptanz oder Lenkung des eigenen Schicksals waren bei beiden Schriftsteller*innen präsent. Gedichte Sapphos und Paveses Text „Meeresschaum“ werden zitiert und auf Buchseiten eingeblendet – Letzteres sehr ausführlich und deutlich. Für das Verständnis ist das von großem Vorteil, man kann Matías Piñeiro also nicht vorwerfen, dass er gar nicht an seine Zuschauer*innen denkt. Elliptisch werden zentrale Themen, Begriffe, Namen (vor allem aus der griechischen Mythologie) und Bilder akustisch und visuell wiederholt. Es stellt sich ein Rhythmus ein und langsam auch ein Verständnis für den philosophischen Dialog über die Jahrtausende, den Pavese mit Sappho führt. Dazu sind Piñeiros Bilder in körnigen 16-Millimeter-Aufnahmen geschickt und poetisch komponiert. Gerade die häufigen Aufnahmen von Meer, Felsen und Wellen fügen sich sehr harmonisch in die akustische Erzählung ein. Auch einige Schauspielerinnen dürfen ab und zu durch Städte, Gärten oder Museen laufen und Tiere wie Vögel, Krebse oder Schildkröten sorgen für Vitalität in der visuellen Sprache. Die ausgewählten Texte thematisieren dagegen meist verzweifeltes Begehren und die Unmöglichkeit glücklicher Liebe und durchziehen Tú me abrasas so mitmelancholischer Stimmung, passend zum traurigen Ende Paveses, der sich selbst das Leben nahm – genau wie der Legende nach auch Sappho, was allerdings historisch nicht gesichert ist.

Tú me abrasasfordert viel von seinem Publikum: Das exotische Thema, die sperrige, nicht-lineare Erzählweise und eine collagenartige, repetitive Bildsprache machen den Film zu einem sehr speziellen Kinoerlebnis, das nicht alle Kinogänger*innen in gleichem Maße ansprechen wird. Wer sich aber nach den ersten Minuten nicht abschrecken lässt und der intellektuellen und ästhetischen Reise des Films weiter folgt, wird mit einer interessanten audiovisuellen Erfahrung, einem Erkenntnisgewinn zum Dialog zweier Dichter*innen und einem überraschend guten Gefühl beim Verlassen des Kinos belohnt.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

Freiheit hinter Gittern

© Gema Films

Zwischen Gesang und Tanz fesselt Reas (Verurteilte), ein Gefängnis-Musical, das die Erfahrungen von Frauen und Transpersonen behandelt, die in verschiedenen argentinischen Gefängnissen inhaftiert waren. Der Dokumentarfilm vermittelt ihre Lebensgeschichten über einen theatralen Ansatz. Die Protagonist*innen rekonstruieren Anekdoten und Fantasien durch Inszenierungen. Die Bühne: Das ehemalige Gefängnis von Caseros, ein verlassener Ort, der nach dem panoptischen Modell (kreisrunde Anordnung mit Wachturm in der Mitte) gebaut wurde und Insass*innen und Zuschauer*innen in einen klaustrophobischen Raum versetzt, der harte Erfahrungen zwischen seinen Mauern birgt.

Die argentinische Regisseurin Lola Arias ist auch interdisziplinäre Künstlerin. Schon mit ihrem Erstlingswerk Teatro de Guerra (Kriegstheater, 2018) hat sie ihr virtuoses Talent gezeigt. Dort verwischte sie die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation und nahm das Leben ehemaliger argentinischer und britischer Soldaten, die am Falklandkrieg teilgenommen hatten, unter die Lupe. Und auch in Reas verkommt die Frage “Fiktion oder Dokumentarfilm” zur Nebensache, sobald die Zuschauer*innen in die Geschichten der Protagonist*innen von “Reas” eintauchen. In einem Interview im letzten Jahr auf dem Filmfestival von San Sebastián erzählte Arias, dass die meisten von ihnen bei Theaterworkshops ausgewählt worden waren, die sie selbst im Frauengefängnis Ezeiza geleitet hatte. Dies zeigt, dass der Dokumentarfilm aus einem langen Arbeits- und Annäherungsprozess mit seinen Protagonist*innen entstanden ist.

Das foucaultsche Element der Schaffung utopischer Orte, die Machtverhältnisse umkehren, ist in Arias’ Werk wiederkehrend. In Reas verwendet sie künstlerische Ausdrucksformen, die mit Körperlichkeit verbunden sind, wie Theater und Tanz, um über eine Institution zu sprechen, die paradoxerweise auf der Entwicklung von Mechanismen zur Kontrolle des Körpers basiert. In einer der denkwürdigsten Szenen tanzen die Protagonist*innen Vogue vor den Wärtern des Gefängnisses, die als Jury fungieren. Vogue ist ein Tanzstil, der in den letzten Jahren populär geworden ist und seine Ursprünge in randständigen Gruppen der LGBTQ+-, afroamerikanischen und lateinamerikanischen Gemeinschaft hat.

Ein weiteres bemerkenswertes Merkmal der filmischen Erzählung in Reas ist die Schaffung einer Mikrowelt: Außerhalb der Gefängnismauern existiert für die Insass*innen für die Zeit ihrer Inhaftierung nichts. Auch wenn sich die Protagonist*innen eine Zukunft dort vorstellen, können sie doch für lange Zeit nicht in Kontakt mit der Außenwelt treten. Die Probleme der sozialen Wiedereingliederung von Personen, die inhaftiert waren und nach ihrer Rückkehr in die Freiheit in ihrem Leben mit Stigmatisierung zu kämpfen haben, lassen sich für sie nur schwer erahnen.

Reas feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale in der Sektion Forum. Es ist zweifellos ein Film, der Beachtung verdient hat. Nicht nur, weil er sich von den ästhetischen und erzählerischen Konventionen des Dokumentarfilms entfernt, sondern auch wegen seines Humanismus und seiner Sensibilität, mit der er die Inhaftierten porträtiert.

LN-Bewertung: 4 / 5 Lamas

// Organisieren gegen den Notstand!

Seit weniger als zwei Monaten ist Javier Milei Präsident Argentiniens, doch seine Regierungspraxis setzt die argentinische Demokratie bereits jetzt enorm unter Druck. Die autoritären Maßnahmen, die er in seinem Regierungsprogramm angekündigt hat, setzt er über den nationalen Notstand um. Sein marktradikales Umstrukturierungsprogramm hat bereits begonnen (mehr dazu bald online und im neuen Heft). Die vergrößerte Freiheit des Kapitals beschränkt zunehmend die Freiheit derer, die nicht über großes Kapital verfügen. Die argentinische Linke sieht sich vom Wahlergebnis schwer geschlagen, sie konnte keine glaubwürdigen Alternativen bieten. Einige linke Organisationen wie der trotzkistische FIT-U (Frente de Izquierda – Unidad) und große Gewerkschaften hatten bei der Stichwahl dazu aufgerufen, ungültig zu wählen. Nun sind sie mit einer Regierung konfrontiert, die die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe sozialer Bewegungen innerhalb kürzester Zeit zunichte machen könnte.

Mileis Vorgehen ist vergleichbar mit der Strategie Nayib Bukeles in El Salvador, der im März 2022 einen bis heute anhaltenden Ausnahmezustand erklärte. Beide Staatschefs nutzen ihre durch hohe Zustimmung bei den Wahlen legitimierte Macht, um die Institutionen auszuhöhlen und schrittweise die Rechtsstaatlichkeit aufzulösen. Am 4. Februar wird Bukele voraussichtlich wiedergewählt – obwohl die Verfassung eine zweite Amtszeit in Folge nicht vorsieht. Auch in El Salvador rufen nun einige kritische Stimmen aus der linken Opposition dazu auf, ungültig zu wählen, um so auf die Illegalität der Wiederwahl hinzuweisen. Dies könnte aber auch den Eindruck verstärken, dass die oppositionellen Kräfte keine Unterstützung genießen und Bukele in die Karten spielen.

Die Strategie Linker vor den Wahlen in Argentinien und El Salvador scheint nicht aufgegangen zu sein. In Deutschland hingegen, wo dieses Jahr Landtagswahlen stattfinden, gibt es noch nicht einmal eine erkennbare gemeinsame Strategie. Nach der Aufdeckung des Treffens in Potsdam, bei dem Faschist*innen Massenabschiebungen planten, sind Hunderttausende gegen Rechts auf die Straße gegangen – ein wichtiges Zeichen. Ob Abgrenzungsmaßnahmen wie Gegendemonstrationen jedoch einen signifikanten Einfluss darauf haben, wo andere ihr Kreuzchen setzen, ist zweifelhaft. Mehr als verzweifelte Forderungen, der faschistischen Katastrophe in den Landtagen über ein Parteiverbot zuvorzukommen, fällt vielen Linken in Deutschland aktuell nicht ein. Von den Regierungsparteien heben sie sich damit zudem kaum ab.

Dabei ist gerade die gescheiterte Sozialpolitik neoliberaler Parteien der Katalysator für autoritäre, ultraliberale oder faschistische Kräfte. Ihr Diskurs liegt dabei zudem oft weniger weit voneinander entfernt, als sie zugeben möchten. Wenn zum Beispiel Olaf Scholz jetzt öffentlichkeitswirksam verlauten lässt „Wir schützen alle – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder wie unbequem jemand für Fanatiker mit Assimilationsfantasien ist“, hat er offenbar seine Forderung von Oktober, „in großem Stil abzuschieben“, schon wieder vergessen.

Das zeigt einmal mehr: Linke können sich Strategielosigkeit inbesondere in Zeiten von sozialen Krisen und Rechtsruck nicht leisten. Sie sind die einzige Kraft, die reale Alternativen anbieten könnte. In Deutschland ist von der Linken im Vergleich zu Argentinien jedoch noch zu wenig zu sehen. Was nachhaltige Organisierung der breiten Gesellschaft und die konsequente und öffentlichkeitswirksame Thematisierung der sozialen Frage in der Linken angeht, lässt sich von Argentinien viel lernen. Um Ideen zu entwickeln, wie das in Deutschland gelingen kann, kommt es jetzt auf uns alle an!

Angst vor Milei, Wut über Massa

Alberner geht’s (n)immer Mit Mickey Mouse und US-Dollars für Millei (Foto: Gerhard Dilger)

Der Geruch von frischgebackenen Empanadas und Facturas (argentinische Süßwaren) hängt in der Luft. Während sie auf ihren Kaffee warten, diskutieren zwei Bauarbeiter in einer Bäckerei über die Wahlen vom 22. Oktober. Als die Verkäuferin Leandra gefragt wird, was sie von dem Wahlergebnis hält, antwortet sie mit einem knappen „Eh egal, alles scheiße“. Ein Satz wie eine Überschrift für die Stimmung im Land.

Der Wahlsonntag hielt einige Überraschungen parat. Nachdem der ultrarechte Javier Milei von der Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) in den Vorwahlen im August an der Spitze lag, konnte nun der damals Drittplatzierte Sergio Massa von der peronistischen Regierungsallianz Unión por la Patria (Einheit für das Vaterland) deutlich zulegen. Mit 36,61 Prozent der Stimmen konnte er den selbsternannten Anarchokapitalisten in die Schranken verweisen, der lediglich sein Wahlergebnis von knapp 30 Prozent aus den Vorwahlen halten konnte. Für die Stichwahl am 19. November wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet.

Die große Verliererin der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen war die Kandidatin des Mitte-rechts-Bündnisses Patricia Bullrich, die lediglich 23,84 Prozent einheimste. Der aktuelle Gouverneur von Córdoba Juan Schiaretti kam auf knapp sieben Prozent der Stimmen, während die sozialistische Kandidatin Miryam Bregman nur 2,7 Prozent der Stimmen holte.

Die große Frage ist nun, wohin die Stimmen der Kandidat*innen wandern werden, welche nicht in die Stichwahl eingezogen sind. Die sich bereits im Rentenalter befindende Bäckereiverkäuferin Leandra wählte zuletzt sozialistisch. Sie ist sich bei ihrer Entscheidung für die Stichwahl noch sehr unsicher. Sie tendiert allerdings zu Milei, weil sie auf keinen Fall den Peronismus unterstützen möchte. Und das, obwohl Milei als Ultrarechter mit der linksprogressiven Bregman nicht im Ansatz politisch übereinstimmt. Das hat sich in den Fernsehdebatten gezeigt, als sich die beiden hitzig angingen. Dort teilte Bregman dem sich gerne als Löwen inszenierenden Milei mit, dass er nicht mehr als ein „kuschliges Kätzchen der Wirtschaftsmächte“ sei. Ein Großteil der Stimmen sowohl von Bregman als auch von Schiaretti werden Umfragen zu Folge zu Massa wandern, der sich als Zentrumspolitiker inszeniert. Schiaretti distanziert sich zwar von Massa, gehört aber ebenfalls einer peronistischen Strömung an, weshalb seine Wähler*innen eher zu Massa denn zu Milei tendieren dürften.

Vermutlich ausschlaggebend und besonders spannend wird, für welchen Kandidaten sich die Wähler*innen entscheiden, die Patricia Bullrich ihre Stimme gaben. Eine von diesen Wähler*innen ist die 21-jährige Candela. Sie studiert Internationale Beziehungen an der gleichen Privatuniversität, an der auch Milei und Massa ihren Abschluss gemacht haben. Sie wird zwar ihrer Wahlpflicht nachkommen, allerdings ein voto nulo (einen ungültigen Stimmzettel) abgeben, also ungültig abstimmen, um keinen der beiden zu unterstützen. Darauf sei sie nicht stolz, aber sie könne weder Milei noch Massa mit ihren Werten vereinbaren. Wie Candela wird es vielen Wähler*innen schwerfallen, sich für Milei oder Massa zu entscheiden.

Nicht nur Bullrichs Wähler*innen sind gespalten, sondern auch das Bündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) selbst. So sprachen sich der ehemalige Präsident Maurico Macri (2015-2019) und Patricia Bullrich klar für Milei und gegen Massa aus. Dieser repräsentiere laut ihnen den Kirchnerismus, womit auf die Präsidentschaften von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Kirchner de Fernández (2007-2015) abgezielt wird, aber auch auf die amtierende Regierung von Präsident Alberto Fernández. Sowohl Macri als auch Bullrich vertreten die Position, ihr Bündnis sei für den Wandel gegründet worden und wenn nun Milei diesen Wandel repräsentiere, sei das immer noch besser als weitere vier Jahre Kirchnerismus. Wobei der Zentrist Sergio Massa innerhalb der peronistischen Unión por la Patria weit weg vom linken kirchneristischen Flügel einzuordnen ist.

„Milei ist wie ein Sprung aus dem Fenster“

Ein Prominenter von Juntos por el Cambio (JxC) folgt Bullrich und Macri nicht: Der bald aus dem Amt scheidende Bürgermeister von Buenos Aires Horacio Larreta, der in den parteiinternen Vorwahlen Bullrich unterlegen war, wird wie Candela weder Massa noch Milei seine Stimme geben. Das werden sicher nicht die beiden einzigen aus dem Mitte-rechts-Lager sein, die Milei für unwählbar halten.

Bullrich winkt für ihre Empfehlung an ihre Wähler*innen bei einem Sieg von Milei nun sogar das Amt der Sicherheitsministerin in dessen Kabinett. Dies wirkte vor kurzem noch wie ein Ding der Unmöglichkeit, denn in der Fernsehdebatte beschimpfte Milei Bullrich noch als „Montonera“ (die Montoneros waren in den 70er Jahren eine linksperonistische Stadtguerrilla), welche „Bomben in Kindergärten“ gelegt hätte. Eigenen Angaben zu Folge gehörte Bullrich allerdings nur der peronistischen Jugendorganisation, nicht aber der Guerillaorganisation an.

Für die Wähler*innen von Bullrich stellt sich die Frage, ob die anti-kirchneristische Haltung oder die Angst vor Milei bei der Wahlentscheidung überwiegt oder als Ausweg zur Abgabe eines leeren Stimmzettels (voto blanco) oder eines ungültigen Stimmzettels (voto nulo) gegriffen wird.

Der gesamte Wahlkampf ist durch das Wechselspiel von Angst und Wut geprägt. Alejandro, der sich selbst als Teil der Oberschicht sieht, hat mehr Angst vor Milei als Wut der aktuellen Regierung gegenüber. „Bei Massa weiß man in etwa, was man bekommt, Milei ist wie ein Sprung aus dem Fenster. Das mag manchmal glimpflich ausgehen, realistisch gesehen wird es das aber nicht.“ Der 64-Jährige ist im Moment an sein Bett gebunden, weil derzeit keine Prothesen importiert werden, wie er sie für sein fehlendes Bein bräuchte. Dennoch macht er für sein persönliches Leid und noch viel weniger für das laut ihm deutlich größere Leid anderer Argentinier*innen nicht die Regierung verantwortlich. Ihm zufolge „ist es für Argentinien immer bergab gegangen, wenn die Rechte an der Macht war“. In seinem Freundeskreis sei er mit dieser Meinung allein, aber momentan habe er sowieso genug Zeit, um dies mit ihnen auszudiskutieren.

Die Regierung schürt die Angst vor den sozialen Konsequenzen der möglichen Wirtschaftspolitik von Milei auch mit konkreten Maßnahmen. So sieht jeder Argentinierin, der*die ein öffentliches Verkehrsmittel nutzt, im Moment den Preis einer Fahrt ohne und mit den aktuellen Subventionen (bei einer einfachen Fahrt 700 statt 59 Pesos, derzeit in etwa 70 und 5,9 Eurocent).

Expert*innen zu Folge lag Massas Wahlerfolg in der ersten Runde vor allem an zwei Punkten. Zum einen präsentierte er sich deutlich staatsmännischer als seine Konkurrenz. Soziologe und Anthropologe Pablo Semán sagte gegenüber CNN: „Was ein Mangel ist, ist auch eine Tugend: Er ist der Chef des Landes und verhält sich auch so.“ Durch Mileis Auftritte mit Motorsäge in der Hand, welche seine Metapher für den radikalen Staatsabbau ist, wurde dieses Image noch verstärkt. Zum anderen trug der „Plan Platita“ Früchte. Dieser bestand aus zahlreichen expansiven Sozialmaßnahmen, um die Konsequenzen der Wirtschaftskrise für die Bevölkerung abzufedern. Der Wirtschaftswissenschaftler Pablo Mira erklärt gegenüber CNN, dass die Wirtschaft zwar nicht boomt, aber auch nicht in eine Abwärtsspirale geraten sei, was unter anderem auf den „Plan Platita“ zurückzuführen sei.

Von der Opposition wurden die sozialpolitischen Maßnahmen als Klientelismus kritisiert. So sieht es auch der 21-jährige Alejo. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie aus der Provinz Entre Ríos. Es sei bei einer Inflation von knapp 140 Prozent eindeutig, dass das aktuelle politische System nicht funktioniere. Dem ersten Akademiker in seiner Familie seien soziale Themen zwar wichtig, allerdings müsse zuerst Reichtum geschaffen werden, bevor umverteilt werden könne. Wegen dieser Überzeugungen hat er sich dazu entschlossen, aktiv Wahlkampf für Milei zu betreiben. Dabei habe er die Erfahrung gemacht, dass nur wenige seine libertären Ansichten teilen, aber die Unzufriedenheit bei vielen so groß sei, dass sie sich dennoch für Milei als Alternative entscheiden. Dass Milei den Klimawandel leugnet und das in Argentinien hart erkämpfte Recht auf Abtreibung wieder in Frage stellt, gefällt ihm zwar nicht, aber dies seien zweitrangige Themen. Auch war er wie zunächst viele andere des harten Kerns von Milei kein Freund der angekündigten Allianz mit Macri und Bullrich. Denn wie Massa seien diese auch Teil der politischen Kaste, welche eigentlich bekämpft werden sollte. Zuletzt zeigte sich Milei allerdings moderat wie noch nie und glich einige seiner Forderungen an die von JxC an. So spricht er sich nun für das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem aus. Zuvor forderte er die Privatisierung und zweifelte sogar das Grundrecht auf Bildung an.

Candela wundert sich vor allem, warum die Lage im Land noch so entspannt ist und es bisher kaum zu Unruhen kam. Das größte Medienecho auf Grund einer Versammlung gab es zuletzt als am Obelisken in Buenos Aires der Rekord der meisten als Spiderman verkleideten Menschen geknackt wurde. Die ausbleibende Mobilisierung der Massen führt Alejandro darauf zurück, dass die Argentinier*innen einfach müde seien. Dabei bezieht er sich auf die weitverbreitete Politikverdrossenheit im Lande.

Ein weiteres wichtiges Thema im Wahlkampf ist die aktuelle Krise in der Benzinversorgung. Lange Wartezeiten, falls es überhaupt Benzin gibt und Bilder von Argentinier*innen die ihr Auto in der Schlange schieben, weil Ihnen der Sprit ausgegangen ist, spielen Milei in die Karten. Dieser versucht schon länger das Narrativ zu etablieren, dass sich Argentinien auf dem Weg zu einem zweiten Venezuela befindet. Die Situation hat sich in großen Teilen des Landes allerdings bereits wieder normalisiert.

Laut dem Meinungsforschungsinstitut AtlasIntel sehen knapp 50 Prozent der Argentinier*innen Sergio Massa direkt in der Verantwortung für diese Krise. AtlasIntel, welches bei den Vorwahlen und den Wahlen am 22. Oktober dem Ergebnis am nächsten kam, sieht zu Redaktionsschluss Milei mit 52 zu 48 Prozent vorne. Andere Umfragen sehen Massa vorne. Viel spricht dafür, dass es eng wird. Spricht man mit Argentinier*innen über das mögliche Resultat, bekommt man häufig ein Sprichwort zu hören: „Verlässt man Argentinien für drei Wochen und kommt wieder, ist alles anders, verlässt man es aber für 30 Jahre und kommt wieder, ist alles gleich.“

Brot und Spiele

WM und Arbeitskämpfe verbinden Spielerinnen klagen über fehlende Unterstützung der Verbände (Foto: Medios Públicos EP via Flickr (CC BY-SA 2.0))

Es war spannend bis zur letzten Minute: Nach einer knappen 1:0-Führung in der Nachspielzeit gelang der haitianischen Stürmerin Melchie Dumonay ein weiterer Treffer, mit dem sie die chilenische Torhüterin überwand und einen historischen Sieg besiegelte, mit dem sich Haiti zum ersten Mal für die Weltmeisterschaft qualifizierte. Les Grenadières, wie die haitianische Frauen-Nationalelf auch genannt wird, hatten in der Gruppe A des Qualifikationsturniers den dritten Platz belegt und trafen damit im Februar zunächst auf Senegal und dann auf Chile. Nachdem Haiti beide Teams besiegt hatte, war die Teilnahme an der WM für Juli und August gesichert.

Panama musste ebenfalls in einem zusätzlichen Spiel um seine Teilnahme bei der WM kämpfen. Die Nationalelf besiegte Papua-Neuguinea mit Leichtigkeit, bevor sie sich mit einem 1:0-Sieg über Paraguay das letzte Ticket für die Weltmeisterschaft in Neuseeland und Australien sicherte. Auch für Panama ist es die erste Teilnahme an einer WM. Gegenüber der panamaischen Tageszeitung La Prensa äußerte sich die Torschützin Lineth Cedeño glücklich: „Es ist ein sehr wichtiges Tor für das ganze Land, das Tor, das uns zur Weltmeisterschaft bringt.“

Jahrelange Konflikte zwischen dem brasilianischen Fußballverband CBF und den Spielerinnen

Mit Brasilien, Argentinien, Kolumbien, Jamaika und Costa Rica haben sich fünf weitere Teams aus Lateinamerika und der Karibik direkt für den Wettbewerb qualifiziert. Brasiliens seleção ist mit neun WM-Teilnahmen und Superstars wie Marta, der besten brasilianischen Torschützin aller Zeiten, nicht nur das Team mit den besten Chancen auf den Sieg aus der Region, sondern unter den Favoriten auf den Titel. Die Teilnahme der Brasilianerinnen erfolgt nach jahrelangen Konflikten zwischen dem brasilianischen Fußballverband CBF und den Spielerinnen. Im Jahr 2017 verließen fünf langjährige Spielerinnen die Nationalelf, unter anderem Cristiane, Francielle und Rosana. Sie begründeten den Weggang mit der Entlassung der ersten weiblichen Trainerin Emily Lima und mit ihrer Erschöpfung „durch jahrelange Respektlosigkeit und mangelnde Unterstützung“, wie es damals in einem offenen Brief hieß. Im Jahr 2021 wurde dann der Präsident des CBF, Rogério Caboclo, aufgrund von Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung von seinem Amt suspendiert. Im Jahr 2019 kam Pia Sundhage als neue Trainerin für das Team. Seither trainiert sie die brasilianische Nationalelf der Frauen. Damit wurde der 2017 von den Spielerinnen geäußerte Wunsch nach langfristiger Unterstützung durch den Verband und Beständigkeit im Trainerstab zumindest teilweise erfüllt.

Auch in Kolumbien und Argentinien kam es zwischen Nationalelf und Fußballverband zu Konflikten. Nach der Weltmeisterschaft 2019 in Frankreich trafen sich alle 23 argentinischen Spielerinnen, um ihre Unzufriedenheit mit der Ausrichtung des Teams unter dem damaligen Trainer Carlos Borrello zu diskutieren. Als Tage später mehrere Schlüsselspielerinnen, darunter Kapitänin Estefanía Banini, für die kommenden Spiele aus dem Kader geworfen wurden, protestierten die Spielerinnen in den sozialen Medien. Banini schrieb, der Grund ihres Ausschlusses liege auf der Hand und hänge mit der zuvor geäußerten Kritik zusammen.

Ähnlich wie Banini wurde 2016 die kolumbianische Mittelfeldspielerin Daniela Montoya, eine der Schlüsselspielerinnen für Kolumbien bei der Weltmeisterschaft 2015, nicht mehr für den Olympia-Kader aufgestellt. Sie hatte öffentlich kritisiert, dass der Verband den Spielerinnen Preisgelder von vergangenen internationalen Turnieren noch nicht ausgezahlt hatte. Drei Jahre später prangerte die kolumbianische Spielführerin Natalia Gaitán zusammen mit anderen Spielerinnen den kolumbianischen Verband wegen mangelnder Unterstützung für das Frauenteam an. Beide Spielerinnen, Banini und Montoya, sind inzwischen in ihre Nationalteams zurückgekehrt.

Kolumbien und Argentinien liegen auf dem 25. bzw. 28. Platz der Weltrangliste und haben sich aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen bei der Copa América 2022 automatisch für die Weltmeisterschaft qualifiziert. Beide Teams haben bereits an mehreren Weltmeisterschaften teilgenommen und wollen ihre Leistungen verbessern. Las Cafeteras aus Kolumbien waren enttäuscht, dass sie die Teilnahme an der WM 2019 in Frankreich verpassten, nachdem sie 2015 als erstes südamerikanisches Team neben Brasilien ein Spiel bei einer WM gewonnen und die Gruppenphase überstanden hatten. Sie bereiten sich nun darauf vor, den Weltmeistertitel zu erspielen. „Wir wollen dabei sein und um den Weltmeistertitel kämpfen“, so die aktuelle Kapitänin Daniela Montoya gegenüber FIFA.com. Die Mannschaft sei aus erfahrenen und jungen Spielerinnen zusammengestellt worden. „Ich weiß, dass dies unser Moment ist, das Jahr, in dem die kolumbianische Nationalmannschaft an der Spitze stehen wird“, erklärte Montoya weiter.

La Albiceleste nehmen zum vierten Mal an einer Weltmeisterinnenschaft teil. Obwohl sie sich seit Anfang der 2000er Jahre verbessert hat, konnte sie bisher keinen greifbaren Erfolg verbuchen. In Frankreich 2019 holte sie mit zwei Unentschieden ihre ersten Punkte bei einer Weltmeisterschaft. Kapitänin Stefanía Banini sagte im Gespräch mit DSports Radio, dass das Team sich darauf konzentriere „dort gut anzukommen und einige der Spiele zu gewinnen.“

Jamaika und Costa Rica nehmen erst zum zweiten Mal an einer Weltmeisterschaft teil. Costa Rica kehrt dieses Jahr auf die WM-Bühne zurück, nachdem es bei der WM 2019 in Frankreich nicht klappte und ein neuer Tarifvertrag zwischen Spielerinnen und Verband abgeschlossen wurde. Das jamaikanische Team erlebt seinerseits den Höhepunkt seiner Wiedergeburt im Frauenfußball, auch wenn seine Situation prekär bleibt. In den 2000er Jahren stand das Team kurz vor der Auflösung und musste sich aus internationalen Wettbewerben zurückziehen, bis die Sängerin und Tochter von Bob Marley, Cedella Marley, als Investorin einstieg und zudem eine Crowdfunding-Kampagne für das Team startete. Auch nach der zweiten WM-Qualifikation gehen die Probleme jedoch weiter. Am 15. Juni 2023, nur einen Monat vor Beginn des Turniers, veröffentlichten die Spielerinnen einen Brief in den sozialen Medien, in dem sie Veränderungen im jamaikanischen Fußballverband forderten. Sie erklärten, dass sie wiederholt spielten „ohne die vertraglich vereinbarte Bezahlung zu erhalten“, Freundschafts-spiele wegen „extremer Desorganisation“ verpasst hätten und es weiter unklar sei, ob Tage vor der Weltmeisterschaft überhaupt noch ein Trainingslager stattfinden würde.

“Ich kann das derzeitige System nicht mehr unterstützen”

Unruhen zwischen Spielerinnen und Verbänden kommen jedoch auch außerhalb von Lateinamerika und der Karibik vor. Die Kapitänin der französischen Nationalelf Wendie Renard sowie zwei weitere Spielerinnen kritisierten den Verband und kündigten einen Boykott der WM an. Auf Twitter schrieb Renard: „Ich kann das derzeitige System nicht mehr unterstützen, das weit von den Anforderungen der ersten Liga entfernt ist.”. Zwei Wochen später wurde die Trainerin entlassen. Auch das kanadische Team protestierte gegen mangelnde Unterstützung und Lohnungleichheit, in Spanien wollten 15 Spielerinnen nicht für den Nationalkader berufen werden, „bis Situationen, die unseren emotionalen und persönlichen Zustand, unsere Leistung und folglich die Auswahlentscheidungen beeinträchtigen und zu unerwünschten Verletzungen führen könnten, rückgängig gemacht werden“, wie sie in einer Erklärung mitteilten. Drei der 15 unterzeichnenden Spielerinnen nehmen allerdings trotzdem an der bevorstehenden WM teil. Der fehlende Wille der Verbände in den Frauenfußball zu investieren und ihn damit zu professionalisieren, führen dazu, dass viele Spielerinnen sich kurz vor der WM mitten im Arbeitskampf befinden.

Diese Weltmeisterschaft ist auch in anderer Hinsicht einzigartig. Das Teilnehmerfeld wurde von 24 auf 32 Teams vergrößert, darunter acht Teams, die zum ersten Mal bei einer WM mitspielen. Außerdem garantiert die FIFA erstmals jeder Spielerin, die an der Gruppenphase teilnimmt, ein Preisgeld von umgerechnet mindestens 27.000 Euro. Für Teams, die über die Gruppenphase hinaus kommen, erhöht sich das Preisgeld. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil der Förderung des Frauenfußballs und fällt besonders ins Gewicht, da 29 Prozent der Spielerinnen laut einem Bericht der Organisation FIFPRO „keine Zahlungen von ihren Nationalteams erhalten“.

Andere Verbände können sich ein Beispiel an der Vereinbarung zwischen dem costa-ricanischen Verband und seinen Spielerinnen nehmen. Diese unterzeichneten im April 2022 einen Tarifvertrag. Nach dem Vorbild der Vereinbarung für männliche Fußballer von 2014 wurden Prämien, Zulagen und Grundbedürfnisse für die Spielerinnen festgelegt. So wurde beispielsweise vereinbart, dass sie den gleichen Prozentsatz der von der FIFA gezahlten Einnahmen als Bonus erhalten wie die männlichen Profis.

Auch mit Blick auf die Berichterstattung gibt es positive Neuigkeiten. Mitte Juni unterzeichneten die deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF mit der FIFA eine Vereinbarung über die Übertragungsrechte. Der Vertragsabschluss ließ auf sich warten, da die FIFA beschlossen hatte, die Übertragungsrechte für die Frauen- und Männer-WM getrennt zu verkaufen und sich dann mit dem ursprünglichen Angebot der europäischen öffentlich-rechtlichen Sender nicht zufrieden gab. Wegen der Zeitverschiebung werden alle Spiele nach deutscher Zeit am Vormittag in ARD und ZDF übertragen.

Und jeden Monat ein kleines Wunder

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Hier fing alles an “Die Wiese” in Hessen, auf der die Idee für die Chile-Nachrichten entstand (Foto: Jan-Holger Hennies)

Es war ein sonniger Maientag des Jahres 1973, als sich fünfzehn bis zwanzig junge Leute, die alle erst vor kurzem aus dem aufgeregten politischen Klima Chiles nach Deutschland zurückgekehrt waren, auf einer grünen Wiese unter einem Kirschbaum im Hessischen versammelten, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie man durch aufklärende Informationen (Vorträge, Artikel?) und praktische Unterstützung (Fahrräder zum Beispiel?) den unter der schwierigen Situation leidenden Volksmassen und der Regierung der Unidad Popular helfen könnte. Die Stimmung war gut und sogar optimistisch, bedenkt man die meistens schlechten Nachrichten, die über den Atlantischen Ozean kamen: politische Attentate, von extrem rechten Gruppen organisiert, rasch ansteigende Inflation, Versorgungsengpässe an allen Ecken und Enden. Trotzdem konnte sich die muntere Runde nicht vorstellen, daß das »Experiment« einer gründlichen Umwälzung mittels einer gewählten Regierung scheitern könnte. Und so wurde denn ein Komitee »Solidarität mit Chile« gegründet, das es sich zur Hauptaufgabe machte, praktische Hilfe für die im chilenischen Winter noch mehr darbenden Massen zu organisieren. Mehr für die interne Kommunikation des Kreises als für die Aufklärung der westdeutschen Gesellschaft wurde beschlossen, alle 14 Tage ein paar Seiten mit den wichtigsten Informationen aus Chile und Tips in praktischen Fragen zusammenzustellen. Die kurzen Texte sollten »erst einmal« in (West-)Berlin zusammengestellt werden.

Die Anfänge

Am 28. Juni 1973, einem Donnerstag wie immer seither, war es dann so weit. Gegen sieben Uhr abends kamen sechs – oder sieben? – Leute zusammen und planten den Inhalt der Seiten der ersten Nummer: erst einen kurzen Bericht »Über die Ereignisse in Chile«, dann Hinweise auf Informationsmaterial, Veranstaltungen etc., schließlich auch die Namen und Adressen der Beteiligten. Nach der Bohnensuppe, die für Monate zu einer ständigen Einrichtung am Produktionsabend wurde, ging es an die Arbeit, und nach drei Stunden waren alle Texte geschrieben und sorgfältig auf sieben Ormig-Matritzen getippt. Die Nachrichten von einem mißlungenen Putschversuch am Vortag in Chile konnten gerade noch berücksichtigt werden. Am nächsten Morgen wurden von jeder Matritze 50 Abzüge gemacht, sortiert, in Briefumschläge gepackt und zur Post gebracht. Außer den Mitgliedern des Komitees wurden noch ein paar Freunde bedacht, von denen man für die Produktionskosten Spenden erbat, die dann auch schnell und reichlich eintrafen.

Die Existenz dieser Informationsquelle sprach sich schnell herum, und schon bei der fünften Nummer – zwei Monate später – mußten von den Matritzen 200 Exemplare abgezogen werden, um die Nachfrage zu befriedigen. Das war aber auch das Äußerste, was die Matritzen damals hergaben.
Die Zahl der Mitarbeitenden wurde auch ziemlich schnell größer. Bald kamen zehn, fünfzehn, zwanzig Interessierte, um zu helfen. Eine zusätzliche Sitzung an dem bisher »freien« Donnerstag wurde zur Vorbereitung der nächsten Nummer nötig. Natürlich waren alle davon überzeugt, daß der Verfassungsschutz in unseren Reihen mit dabei war; trotzdem wurden die Namen der Beteiligten tapfer abgedruckt. Von der Nummer 3 sollten die chilenischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Weltjugendfestival in (Ost-) Berlin einige Exemplare überreicht bekommen; aber die Volkspolizei am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße war wachsam und beschlagnahmte die kleine Informationsbroschüre nach länger dauernder Kontrolle des Inhalts. Bei der Rückreise wurden die Exemplare zurückgegeben, denn geschenkt haben wollte die Volkspolizei sie auch nicht.
Ein Versuch, mit den Leuten aus Chile vom Festival eine Informationsveranstaltung in Westberlin zu machen, scheiterte daran, daß das nur gemeinsam mit der FDJW (der Freien Deutschen Jugend Westberlin) möglich gewesen wäre, und die stellte die Bedingung, daß auf einer solchen Veranstaltung nicht diskutiert werden dürfe: Lieber gar keine Veranstaltung als eine unkontrollierte.

Wer heute die Texte der ersten fünf Nummern der CHILE-NACHRICHTEN liest, wird finden, daß sie in aller Klarheit die Unausweichlichkeit eines Putsches der Rechten in Chile aufzeigen. Das war nicht Absicht – im Gegenteil. Beim Diskutieren und Schreiben waren alle mehr oder weniger optimistisch, daß sich das Blatt noch wenden ließe. Es schien zu ungeheuerlich, daß die Welt es wagen sollte, den Putsch gegen eine gewählte Regierung zu dulden.

Umso größer war der Schock, als der Putsch dann am 11. September 1973 doch unternommen wurde. Für die CHILE-NACHRICHTEN bedeutete das sofort eine sehr stark wachsende Nachfrage und die Verarbeitung von immer mehr Nachrichten, Informationen, Solidaritätskundgebungen. Jetzt mußte richtig gedruckt werden. Im November lag die Auflage schon bei 6000 Exemplaren, deren Produktion finanziell wegen reicher Spenden kein Problem war. Die Nummer 10 erschien mit einem erheblich erweiterten Umfang; ein englischer Freund rief danach während einer Redaktionssitzung aus London an: »Ihr seid varrickt! Sixty pages!«

Ende 1973 wurde sehr schnell deutlich, daß die 14-tägige Erscheinungsweise nicht zu halten war. Die kleine Zeitschrift, die nun immer dicker wurde und bald zu Dokumentationszwecken um – zunächst kostenlose – Sonderhefte erweitert wurde, konnte nur noch monatlich hergestellt werden. Studium, Unterricht, Forschung, Schauspiel, kurz: das normale Leben konnte ja nicht völlig der Arbeit an dem Blatt untergeordnet werden.

Das Archiv

Weil sich die Wohnungen der Redaktionsmitglieder mit wichtigen Daten und Dokumenten füllten, die niemand wegwerfen wollte, mußte ein Archiv eingerichtet werden. Ohne die tatkräftige Mithilfe und die Infrastruktur der Evangelischen Studentengemeinde an der Technischen Universität wäre das wohl niemals möglich gewesen. Als gemeinnütziger Verein um das Archiv herum wurde dann bald das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile – Lateinamerika (FDCL) gegründet, dessen Aktivitäten sich später stark ausgeweitet haben.

Je genauer die Informationen über die Menschenrechtsverletzungen durch die Militärjunta, über den verbrecherischen Charakter des Pinochet-Regimes an sich, über die rücksichtslose Wirtschaftspolitik der Chicago Boys und über relativ gute Beziehungen zu wichtigen Figuren aus Wirtschaft und Politik der Bundesrepublik wurden, desto wichtiger empfanden die Redaktionsmitglieder ihre Arbeit im Dienst von Information und Solidarität.

Wachsende Solidarität

Neben den CHILE-NACHRICHTEN (oder über ihnen? oder um sie herum?) war in Westberlin schon gleich nach dem Putsch das Chile-Komitee entstanden, von dem aus Demonstrationen, Proteste und Hilfsaktionen für die nach Berlin gekommenen Flüchtlinge organisiert wurden. Unvergessen bleibt – trotz der zermürbenden Vorverhandlungen mit den Westberliner Kommunisten von der SEW – die große Demonstration der 30.000 am 4. November 1973; unvergessen bleibt auch, wie während der Fußball-WM 1974 beim Spiel Chile gegen Deutschland in der Pause auf dem Platz eine große chilenische Flagge erschien mit der Aufschrift: »CHILE SI – JUNTA NO«.

Natürlich war das Chile-Komitee auch Ort heftiger politischer Debatten, in denen die CHILE-NACHRICHTEN nicht nur gelobt wurden. Die anfangs noch stärker beteiligten Jungsozialisten betrachteten zwar die Zeitschrift mit einer Art altväterlichem Wohlwollen, aber die über weite Strecken tonangebenden Spontis hielten die Redaktion für eher zu wenig radikal und verlangten häufig eine stärkere Berücksichtigung der entschieden revolutionären Strömungen in Chile wie etwa der »Linksrevolutionären Bewegung« (MIR), auch wenn diese Strömungen mit Spontis absolut nichts im Sinn hatten. Am liebsten wäre manchen im Komitee gewesen, wenn die Zeitschrift regelrecht zum Organ des Komitees geworden wäre; da das aber viel Arbeit für die Kontrolleure bedeutet hätte, blieb die Unabhängigkeit der Redaktion immer erhalten. Im Kern war sie ebenso locker organisiert und spontan wie das Komitee. Die Mitarbeit war absolut freiwillig und dazu noch anonym, weil niemand dem chilenischen Geheimdienst die Namen der Mitarbeitenden verraten wollte.

Ideologische Auseinandersetzungen

Ein Komiteeteilnehmer trat immer wieder unbeirrbar für eine Straffung der Arbeit durch klare Organisationsprinzipien ein. Dieser offizielle Abgesandte der Liga gegen den Imperialismus, einer Frontorganisation der maoistischen KPD, fand aber mit seinen Vorschlägen für die Wahl eines Vorstandes und die Einrichtung eines Sekretariats keinerlei Gegenliebe. Die konkurrierenden Maoisten vom KBW ließen sich etwas anderes einfallen. Sie entsandten einen Genossen, nennen wir ihn Fritz, in die Redaktion der CHILE-NACHRICHTEN, wo er sich durch Fleiß und Umsicht Freunde zu machen wußte. Eines Tages erklärte Fritz, er könnte erst einmal drei Wochen lang nicht erscheinen, weil er ein Dokument zu studieren habe. Nach drei Wochen brachte er einen Genossen mit, und beide begannen mit dem Versuch, der Redaktion klarzumachen, daß die CHILE-NACHRICHTEN objektiv der Konterrevolution dienten, weil sie nicht konsequent gemäß der Linie der Volksrepublik China die Dritte Welt – einschließlich Pinochet – gegen den Imperialismus unterstützten. Die beiden KBW-Leute beantragten, alle aus der Redaktion zu entfernen, die der korrekten Linie nicht folgen wollten, unterlagen aber mit zwei gegen achtzehn Stimmen, verschwanden und wurden lange Zeit nicht mehr gesehen, bis Fritz – inzwischen längst geläutert – bei einem sehr vernünftigen Nachbarprojekt im Mehringhof auftauchte.

Konstruktives Chaos

Die eigentliche Arbeit der Redaktion verlief einigermaßen unkoordiniert. Für jede Ausgabe wurde schon damals eine neue Leitung bestimmt. Im übrigen aber blieb alles meistens bis zur letzten Minute offen; deshalb dauerten die Produktionsnächte schon damals bis in die Morgenstunden.

Am chaotischsten war nach einiger Zeit die Finanzlage. Nach dem Putsch in Chile waren sehr viele Abonnementsbestellungen von Personen, Gruppen und Buchhandlungen eingegangen. Aber niemand hatte Zeit, sich um das Eintreiben der Außenstände zu kümmern. Die Zeitschrift stand relativ bald vor dem Ruin, bis jemand auf den Gedanken kam, die Abonnenten einfach zur Bezahlung ihrer Schulden aufzufordern. Darauf ergab sich ein solcher Überschuß, daß beschlossen wurde, den chilenischen Flüchtlingen in Westberlin die Herausgabe einer ähnlichen Zeitschrift in spanischer Sprache für ihresgleichen in Europa anzubieten. Unter den Namen »CHILE COMBATIENTE« und »SI, COMPAÑERO« sind dann auch tatsächlich ein paar Nummern erschienen, bis Parteienstreitigkeiten unter den Flüchtlingsgruppen die Arbeit immer mehr erschwerten. Das Geld hätte auch nicht viel weiter gereicht.

Mitte der siebziger Jahre wurde deutlich, daß Chile zwar einen besonders krassen Fall der Kombination von autoritärer Militärherrschaft und ultraliberaler Wirtschaftspolitik bedeutete, daß aber die anderen südamerikanischen Länder diesem Beispiel immer stärker folgten. In Uruguay hatten die Militärs die Herrschaft fast gleichzeitig übernommen. Brasilien und Peru waren schon Militärdiktaturen gewesen.
Spätestens mit dem Putsch in Argentinien 1976 wurde deutlich, daß es sich um eine allgemeine Tendenz handelte, für die sich nun die Redaktion der CHILE-NACHRICHTEN interessieren mußte. Das Ergebnis waren immer mehr Artikel über Chiles Nachbarländer, bis dann irgendwann die Entscheidung anstand, den Inhalt und den Titel grundsätzlich zu erweitern. Wie jede der grundsätzlichen Veränderungen in der Geschichte der Zeitschrift war auch diese heiß umkämpft; aber mit Nummer 51 und dem Beginn des fünften Jahrgangs im Sommer 1977 war es dann soweit. Von jetzt ab hieß das Blatt LATEINAMERIKA NACHRICHTEN; der Name CHILE-NACHRICHTEN hielt sich noch elf Jahre als Untertitel und erscheint nur noch ganz schamhaft im Impressum. Die CHILE-NACHRICHTEN sind Teil der Geschichte geworden. Heute arbeiten in der Redaktion junge Leute, die noch nicht geboren waren, als der Name CHILE-NACHRICHTEN schon begraben wurde. Das gilt es zu feiern.

Alte Texte neu gelesen – dieser Text erschien zum 25. Jubiläum der in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.

50 Jahre Lateinamerika Nachrichten

„Amerika den Amerikanern“ formulierte der US-amerikanische Präsident James Monroe vor 200 Jahren und meinte doch nur „Lateinamerika den USA“. Der Aufstieg der USA zur neuen Hegemonialmacht in Lateinamerika vollzog sich in wenigen Jahrzehnten, schon Anfang des 20. Jahrhunderts war der Kontinent fest in den Händen der USA.
Auch die Gründung der Lateinamerika Nachrichten vor nunmehr 50 Jahren verdankt sich, zumindest indirekt, dieser Doktrin. Die Rolle der USA bei der wirtschaftlichen Destabilisierung der Unidad Popular-Regierung in Chile und beim Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende mag heute längst nicht mehr allen bekannt sein. Für die Aktiven des Komitees „Solidarität mit Chile“, die am 28. Juni 1973 die erste Ausgabe der Chile-Nachrichten (seit Nummer 51: Lateinamerika Nachrichten) produzierten, war der Kampf gegen den US-Imperialismus jedoch ein wichtiges Motiv für ihr politisches und journalistisches Engagement.
Der Diktator ging, die Lateinamerika Nachrichten blieben. Nur mäßig konnte uns zu unserem Silberjubiläum im Jahre 1998 der Abgang von Augusto Pinochet erfreuen: Den Oberbefehl über die chilenischen Streitkräfte tauschte er damals mit einem Senatorenposten auf Lebenszeit. Und auch sonst boten uns eher die Kontinuität der eigenen Arbeit, denn die Verhältnisse in Lateinamerika Anlaß zu Optimismus.
Das waren überhaupt komische Zeiten damals, als sich das Jahrtausend dem Ende zuneigte. Die Zauberworte Neoliberalismus und Globalisierung bestimmten die Regierungspolitik in fast allen Ländern des Kontinents. Fast: Wie ein gallisches Dorf trotzte nur Kuba den Römern, die damals in Washington residierten. Und als ob auch er als Kind in einen Zaubertrank gefallen wäre, zeigte sich Fidel Castro Jahrzehnt um Jahrzehnt unschlagbar: In der westlichen Hemisphäre hält er noch heute den Rekord für die längsten Ansprachen – unterbrechen ließ er sich meist nur, wenn auf der Zuckerinsel mal wieder der Strom abgestellt wurde. Vor Yankees hatte er nur auf dem Baseball-Platz Respekt, die Blockade konnte Kuba nicht in die Knie zwingen (für jüngere LeserInnen: die USA versuchten bis nach der Jahrtausendwende, Kuba durch Wirtschaftsblockade und politische Isolierung in die Knie zu zwingen – was sich ja bekanntlich erst änderte, als vor fünfzehn Jahren die kurz zuvor eingebürgerte Ex-Präsidentin Brasiliens, Benedita da Silva, ins Weiße Haus gewählt wurde).
Lange Zeit war Politik ja eine Angelegenheit korrupter Männer, die mit Militärs kungelten und Phantasie nur zeigten, wenn sie für ihre Wiederwahl mal wieder eine Verfassungsänderung durchsetzten – in Peru durfte damals nur noch zum Präsidenten gewählt werden, wer japanische Vorfahren, und in Argentinien, wer syrische Vorfahren hatte. Brasilien konnte nur regieren, wer Großgrundbesitzer war und ein Soziologie-Diplom sein eigen nannte.
Die Wende in Lateinamerika brachten bekanntlich die ZapatistInnen und die Landlosenbewegung MST. Der erste Präsident mit Skimütze in Mexiko und die Vergabe eines Landtitels an die letzte landlose Bäuerin in Brasilien – das waren bewegende Momente, die auch uns wieder optimistisch in die Zukunft blicken ließen.
Denn während unsere Freunde und Freundinnen in Lateinamerika die Verhältnisse zum Tanzen brachten, wurde es in Deutschland immer eisiger. Die Grünen stritten mal wieder, ob es der Bevölkerung zuzumuten sei, den Benzinpreis um drei Prozent zu erhöhen, während Joschka Fischer als Verteidigungsminister den Parteiausschluß von Jürgen Trittin verlangte, weil der sich noch immer weigerte, an den wöchentlichen öffentlichen Rekrutengelöbnissen vor dem Reichstag teilzunehmen.
Grund zur Freude hatten wir erst wieder, als Jamaica 2006 Fußballweltmeister wurde und Berti Vogts durchsetzte, daß Gras endlich auch in Deutschland legalisiert wird. Die Cannabis-Pflanze statt dem Bundesadler auf der Schwarz-Rot-Goldenen Flagge und „Keine Macht für niemand“ von den Scherben als Nationalhymne – das hat sich vor 25 Jahren niemand in der Redaktion zu träumen gewagt. Auch nach 50 Jahren Lateinamerika Nachrichten – wir machen weiter: „Get up, stand up for your rights“.

Alte Texte neu gelesen – dieses Editorial erschiet in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.

Es muss nicht immer Klezmer sein

Foto: Nabis Filmgroup, Nevada Cines

Eine Dokumentation über jüdische Musik in Osteuropa von zwei jungen argentinischen Filmemacher*innen – das klingt zunächst einmal ungewöhnlich. Und tatsächlich ist es alles andere als konventionell, was Leandro Koch und Paola Schachmann mit ihrem Debüt Adentro mío estoy bailando (englischer Titel: The Klezmer Project) vorlegen. Allerdings auf andere Weise, als man es nach dem Lesen der Kurzbeschreibung vermuten würde.

Schon zu Beginn des Films gibt es eine Überraschung: Eine tiefe Männerstimme, die sich selbst als „den Satan“ bezeichnet, liest auf Jiddisch aus dem Off eine über 100 Jahre alte Geschichte vor. Darin geht es um Yankel, den Gehilfen eines Totengräbers, der sich in die Tochter des örtlichen Rabbiners verliebt. Mit dem Geschehen auf der Leinwand hat das zunächst einmal überhaupt nichts zu tun: Dieses beginnt mit einer jüdischen Hochzeit in Argentinien. Auf der lernen sich der Hochzeitsfilmer und die Klarinettistin der dort spielenden Klezmer-Band kennen und verlieben sich ineinander. Nach und nach löst sich aber die anfängliche Verwirrung und es zeigt sich: Das verliebte Pärchen ist das Regisseur*innen-Duo des Films, das sich in der Folge separat auf Fahrten nach Osteuropa begibt. Paloma macht für ihre Musikstudien zu Klezmer-Musik eine Forschungsreise nach Rumänien. Und auch Leandro entwickelt an Klezmer Interesse, er begleitet zunächst ein Musiker-Duo auf eigene Kosten auf ihrer Europatournee nach Österreich. Sodann zieht er dort mit einem befreundeten Fernsehproduzenten einen Dokumentarfilmauftrag für den Sender ORF an Land. Er soll Klezmer-Bands in Österreich, der Slowakei und der Ukraine filmen. Sein heimlicher Beweggrund für die Reise ist jedoch ein ganz anderer: Er hat keine Lust, monatelang von Paloma getrennt zu sein und macht sich Hoffnungen, im benachbarten Rumänien wieder mit ihr zusammenzutreffen. Währenddessen weist die Geschichte des jiddischen Erzählers, die zwischendurch weiter aus dem Off zu hören ist, immer mehr unverkennbare Parallelen zu Leandros Abenteuer auf. Denn auch Yankel reist seinem Schwarm hinterher und schafft es mit Überredungskunst, andere Menschen davon zu überzeugen, ihn dabei zu begleiten oder gar zu finanzieren.

Adentro mio estoy bailando entpuppt sich als filmisches Überraschungsei. Wer eine Doku über Klezmer erwartet hat, sieht sich schon bald getäuscht: Klezmer-Bands, das wird dem ahnungslosen Leandro und auch dem geleimten ORF-Team ziemlich schnell klar, sind in Osteuropa heute so gut wie ausgestorben. Dafür wird der Film immer mehr zu einer Mischung aus Selbstfindungstrip, Geschichtsstunde und Anschauungsunterricht über die Mühen des Dokumentarfilmens. Und das ist ein Glück, vor allem aufgrund des sympathisch-naiven Leandro Koch. Der lässt die Zuschauer*innen genauso an seinen romantischen Ups und Downs teilhaben wie an den Diskussionen mit seinem immer ungeduldiger werdenden Produzenten. Missmutig reibt der ihm Drehpläne unter die Nase, von denen nicht ein einziger eingehalten wurde. Immerhin ist Leandros Lernkurve beachtlich: Sein vergebliches Suchen nach Klezmer-Bands macht er mit interessanten Geschichtsexkursen über die heute fast ausgestorbene jiddische Kultur und deren schwieriges Verhältnis zum Zionismus wieder wett. Und ganz auf Musik verzichten muss der Film selbstverständlich auch nicht: In allen Städten, die das Filmteam besucht, geben Musiker*innen hörenswerte Einlagen zum Besten. Es ist nur eben leider kein Klezmer dabei…

Leandro Kochs Dokumentation wird so zu einem unterhaltsamen Lehrstück fürs Scheitern als Chance. Man merkt dem Film zwar an, dass einige Szenen nachgedreht wurden, was dann (wie die Vertragsunterschrift beim ORF) auch mal etwas gestellt und verwirrend wirken kann (Was ist echt? Was nur gespielt?). Trotzdem bleibt Adentro mío estoy bailando aber ein Filmerlebnis aus frischer und unbekümmerter Perspektive und darf sich dank der innovativen Verknüpfung mit der jiddischen Off-Erzählung nun auch über die Auszeichnung als bester Erstlingsfilm der Berlinale freuen.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Erschütternd wie ein Spielfilm

Am 9. Dezember des Jahres 1985 widerfuhr den Kläger*innen gegen die abscheulichen Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur Gerechtigkeit. Nach einem über 6-monatigen Verfahren, dem sogenannten Prozess gegen die Juntas (Juício a las Juntas), verurteilte zum ersten Mal eine Demokratie selbst, die vorherigen Verbrechen der Diktatur im eigenen Land.

© Memoria Abierta

Bereits im vergangenen Jahr lief mit Argentina 1985 ein fiktionalisierter Film über den Prozess (mit Superstar Ricardo Darín in der Hauptrolle) auf dem Filmfestival in Venedig. Um die filmisch-dokumentarische Aufarbeitung der Verurteilung der Militärjunta hat sich nun Regisseur Ulises de la Orden verdient gemacht. Er vollendete die Mammutaufgabe, aus 530 Stunden Videomaterial der Gerichtsverhandlungen einen dreistündigen Dokumentarfilm zu destillieren. Der Vergleich mit dem emotionalen Argentina 1985 ist interessant. Denn El Juicio kommt ohne Interviews, ohne Off-Kommentar und fast ohne musikalische Untermalung aus. Das klingt im Zusammenhang mit der Länge erst einmal trocken. Dennoch steht er dem Spielfilm an Dramatik kaum nach, denn Regisseur de la Orden ist auch ohne diese Mittel eine packende und erschreckende Bestandsaufnahme über die Zeit der argentinischen Militärdiktatur gelungen. Zum einen liegt das an der gekonnten Montage des Filmes. De la Orden lässt die Zeug*innen und Anwälte als Gegenspieler*innen auftreten und legt ihre Strategien und Charaktere offen. Durch die sehr emotionalen Zeug*innenaussagen und das kalte und zynische Verhalten der angeklagten Militärs, das sich in Habitus und Argumentation ausdrückt, bleibt diesbezüglich nichts im Unklaren. Selten waren Gut und Böse so deutlich erkennbar, wie in diesem Prozess. Während die Opfer der Diktatur im Zeug*innenstand teils unter Tränen von unfassbaren Unmenschlichkeiten und Gräueltaten berichten, sehen die Angeklagten ihnen abschätzig zu, Zeitung lesend und Kette rauchend (Zigaretten waren 1985 im Gerichtssaal noch allgegenwärtig). Mehr und mehr fügt sich dabei ein Mosaik des Grauens aus den sieben Jahren der argentinischen Militärregierungen zwischen 1976 und 1983 zusammen.

Kindsentführungen, Gefangennahmen, Raub, Folter, Zwangsarbeit, Verschwindenlassen, kaltblütiger, massenhafter Mord: Zu jedem dieser Verbrechen sagt im Film mindestens ein*e Zeug*in in einer Deutlichkeit vor Gericht aus, die keinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Aussagen lassen. Die Reaktion der Militärs: Gleichgültigkeit, Rechtfertigungen, sogar Unschuldsbeteuerungen. Man habe „christliche Werte gegen Marxisten“ verteidigen müssen, sehe sich einer „Inquisition“ und „Nürnberger Prozessen“ ausgesetzt, könne sich nicht erinnern, auf „menschliche Ziele“ geschossen zu haben oder nicht. Die Zeug*innen beklagen weinend, dass die Massengräber ihrer Kinder nicht einmal wieder zugeschaufelt worden seien – die Angeklagten beschweren sich, dass sie im Gerichtssaal auf zu schlechten Plätzen sitzen würden. Besser als sie selbst hätte niemand ihre kalte Grausamkeit und Weltfremdheit illustrieren können. Symbolisch dafür steht auch das Duell der Anwälte der beiden Parteien – der engagierte Julio Cesar Strassera (Anklage) gegen den schmierigen Juan Maria Orgeira (Verteidigung) – auf das Regisseur de la Orden den Film mehrfach fokussiert.

El juicio ist ein hervorragend geschnittener Dokumentarfilm über einen Prozess, der auch 40 Jahre nach Ende der Militärdiktatur nichts von seiner Relevanz verloren hat. Die Statements der gefolterten, entführten, ihres Hab und Guts und ihrer Kinder beraubten Menschen im Zeug*innenstand sind erschütternd und wegen der Ungeheuerlichkeit der geschilderten Verbrechen teils schwer zu ertragen. Wer sich dennoch auf die drei Stunden Dokumentation einlässt, bekommt ein eindrucksvolles Zeitdokument zu sehen, das in allen Facetten zeigt, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Dabei nimmt El juicio emotional so mit, dass man sich am Ende den Zuschauer*innen im Gerichtssaal anschließen möchte. Diese erhoben sich – obwohl eigentlich untersagt – geschlossen von ihren Sitzen, und klatschten laut Beifall, nachdem Chefankläger Strassera sein Schlussplädoyer beendet hatte. Seine letzten Worte lauteten: „¡Nunca mas!“ – „Nie wieder!“

Triggerwarnung: Drastische verbale Schilderungen von Gewalt und sexuellen Übergriffen

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Schweigen ist Gold

Foto: Marcelo Iaccarino

„Kannst du nicht mal 10 Sekunden still sein?“ Felipe ist genervt. Eigentlich will er mit seiner Großmutter über seinen verstorbenen Vater reden, von dem alle mehr zu wissen scheinen als er selbst. Doch seine abuela, die er wie auch seine Mutter nur mit Vornamen anspricht, schweift immer wieder ab. Wenn sie es aber nicht schafft, über das Wesentliche zu sprechen, zieht Felipe ihr Schweigen vor.

Im Film Desperté con un sueño (deutscher Titel: Auch wenn ich nicht viel sage) des argentinischen Regisseurs Pablo Solarz geht es viel um die Relevanz des Unausgesprochenen. Felipe, ein Junge an der Schwelle zur Pubertät, lebt in La Paloma, einem kleinen Küstenort in Uruguay. Dort tut er die Dinge, die man eben tut in seinem Alter: Mit Freunden abhängen, Hip-Hop hören, an den Strand gehen. Aber er liebt auch das Theater und träumt von einer Schauspielkarriere. Trotz offensichtlicher Begabung spürt er, dass seine Mutter diesen Weg nicht gutheißen würde, auch wenn sie nicht sagt, warum. Deshalb schmiert Felipe sich seine Kleidung nach den Proben seiner Jugendtheatergruppe mit Matsch ein. Dadurch sieht es aus, als käme er direkt vom Fußballtraining – ein perfektes Alibi, das niemals hinterfragt wird. Die Verschlossenheit seiner Mutter beantwortet er so mit seinem eigenen Geheimnis. Und die Welt der Erwachsenen, an die Felipe sich annähert, verliert für ihn mit jeder unbeantworteten Frage an Geborgenheit.

Desperté con un sueño ist eine glaubhafte Darstellung eines Jungen auf der Suche nach seiner Identität, die für Kinder und Jugendliche genauso empfehlenswert ist wie für Erwachsene. Der Film wird getragen vom eindringlichen Spiel seines Hauptdarstellers Lucas Ferro. Der verkörpert Felipe mit so großer Präsenz und Ernsthaftigkeit, dass er oft reifer erscheint als viele ältere Menschen um ihn herum. Aber auch Regisseur Solarz, der selbst eine kleine, aber wichtige Rolle im Film übernimmt, schafft es, mit warmen und stimmigen Bildern Atmosphäre zu schaffen und die Zuschauer*innen in Felipes Gefühlswelten mitzunehmen. Nicht alles wird am Ende aufgeklärt und einige Figuren (speziell Felipes Mutter) hätten in der nur 75-minütigen Geschichte noch mehr Raum verdient. Aber vielleicht ist ja auch das Teil der Botschaft des Films: Nicht alles muss mit Worten gesagt werden, Schweigen und Reflexion können die wirklich wichtigen Dinge oft besser bewusst machen als zielloses Gerede.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Unser kleines Schloss

Die Kühe, mal wieder. Ständig läuft eine weg, verirrt sich, wird krank oder bekommt Junge. Das schafft Justina nicht allein, da muss ihre Tochter Alexia ran. Aber die sitzt wie so oft in ihrem Zimmer und spielt Autorennen am Simulator nach. Nur zum Spaß, wie man zunächst denkt, doch weit gefehlt: Schließlich will sie so bald wie möglich eine ernsthafte Karriere als Fahrerin in der argentinischen Formel 4 starten (ja, die gibt es wirklich). Aber als gute Tochter lässt sie sich irgendwann von ihrer Mutter erweichen und schon bald ist mit den Kühen auch alles wieder in der Reihe.

© Mayra Bottero / Gema Films, Sister Productions

Der argentinische Regisseur Martín Benchimol hat sich mit El Castillo (Das Schloss) an eine Doku-Fiktion gewagt, die trotz des denkbar einfachen Settings wirklich gut funktioniert. Die frühere Haushälterin Justina hat ein schlossähnliches Landhaus von der Vorbesitzerin, die sie bis zu ihrem Tod gepflegt hat, vererbt bekommen. Nun ist sie zusammen mit der halbstarken Alexia (vom Vater fehlt jede Spur) Herrscherin über ein Gebäude im Hundertwasser-Stil, mit nicht weniger als 6 Badezimmern, üppigem Grundbesitz und einem ganzen Streichelzoo süßester Tiere. Allerdings liegt das Anwesen mitten im Nirgendwo, was zumindest Alexia nicht wirklich stillsitzen lässt: Es zieht sie nach Buenos Aires. Denn eine Rennfahrerinnen-Karriere und auch ein Sozialleben abseits von Videochats mit Freund*innen oder Fernsehen mit Mama und der herumwuselnden Tierherde wird es für sie nur dort geben können.

El Castillo ist abseits seiner hochsympathischen Hauptdarstellerinnen deshalb so ein interessanter Film, weil er einen Fall von Veränderung der feudalen Besitzverhältnisse dokumentiert. Dass eine frühere Haushälterin mit indigenen Wurzeln wie Justina ein Haus mit Grundbesitz von ihrer früheren Arbeitgeberin vererbt bekommt, dürfte in Lateinamerika auch heute noch die absolute Ausnahme darstellen. Doch die Hoffnung ist trügerisch, denn das früher bestimmt schmucke Schlösschen war bereits bei der Übergabe eine ziemliche Bruchbude. Durch klaffende Löcher im Dach regnet es in die Wohnung, die vielen schönen Bäder bringen wegen defekter Wasserleitungen nicht viel und laufende Kosten und Grundsteuern fressen das kleine Budget von Justina und Alexia auf. Als Einnahmequellen sind die Vermietung von Zeltplätzen für Angler auf dem Gelände oder der Verkauf der immer weniger werdenden Kühe und Einrichtungsgegenstände nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und so ist Justina, obwohl besitzend, nach wie vor eine Gefangene ihrer früheren Arbeitgeberin. Denn die hat ihr eingeschärft, das Anwesen ja nicht zu verkaufen, sondern schön so weiterzupflegen, wie sie es zuvor auch schon ihr ganzes Leben – nur gegen Bezahlung – getan hat. Als wäre das nicht genug, lädt sich die Sippe der Verstorbenen in schöner Regelmäßigkeit auch noch selbst zu Familienfesten auf das Schlösschen ein (natürlich ohne zu bezahlen), genießt die Annehmlichkeiten in den noch vorzeigbaren Räumen und lässt sich wie eh und je von Justina bedienen. Ein weiterer Grund, warum Alexia, die eine kaum verhohlene Wut auf den unverschämten Clan schiebt, ihre Pläne vorantreibt, das Weite zu suchen. Martín Bechamel ist mit El Castillo ein höchst unterhaltsames Porträt zweier unverhoffter Grundbesitzerinnen gelungen, bei dem er Gefühl für Situationskomik und kreative Inszenierung zeigt (bei schlechtem Wetter lässt er das Schlösschen wie ein verwunschenes Geisterhaus wirken). Dabei sind die Geschichte und auch die Hauptdarstellerinnen identisch mit der Realität. Die Szenen mit der Großfamilie wurden allerdings mit Schauspieler*innen (die Familie des Regisseurs) nachgedreht. Dabei tut die Feelgood-Atmosphäre dem Filmgenuss sichtlich gut, verdeckt aber den Blick auf eine bittere Realität, die Benchimol zum Schluss etwas unter den Tisch fallen lässt: Ohne schnell eine verlässliche Einkommensquelle zu finden, steht das baufällige Schloss und mit ihm seine Besitzerinnen vor einer höchst ungewissen Zukunft.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

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