Schweigen ist Gold

„Kannst du nicht mal 10 Sekunden still sein?“ Felipe ist genervt. Eigentlich will er mit seiner Großmutter über seinen verstorbenen Vater reden, von dem alle mehr zu wissen scheinen als er selbst. Doch seine abuela, die er wie auch seine Mutter nur mit Vornamen anspricht, schweift immer wieder ab. Wenn sie es aber nicht schafft, über das Wesentliche zu sprechen, zieht Felipe ihr Schweigen vor.

Im Film Desperté con un sueño (deutscher Titel: Auch wenn ich nicht viel sage) des argentinischen Regisseurs Pablo Solarz geht es viel um die Relevanz des Unausgesprochenen. Felipe, ein Junge an der Schwelle zur Pubertät, lebt in La Paloma, einem kleinen Küstenort in Uruguay. Dort tut er die Dinge, die man eben tut in seinem Alter: Mit Freunden abhängen, Hip-Hop hören, an den Strand gehen. Aber er liebt auch das Theater und träumt von einer Schauspielkarriere. Trotz offensichtlicher Begabung spürt er, dass seine Mutter diesen Weg nicht gutheißen würde, auch wenn sie nicht sagt, warum. Deshalb schmiert Felipe sich seine Kleidung nach den Proben seiner Jugendtheatergruppe mit Matsch ein. Dadurch sieht es aus, als käme er direkt vom Fußballtraining – ein perfektes Alibi, das niemals hinterfragt wird. Die Verschlossenheit seiner Mutter beantwortet er so mit seinem eigenen Geheimnis. Und die Welt der Erwachsenen, an die Felipe sich annähert, verliert für ihn mit jeder unbeantworteten Frage an Geborgenheit.

Desperté con un sueño ist eine glaubhafte Darstellung eines Jungen auf der Suche nach seiner Identität, die für Kinder und Jugendliche genauso empfehlenswert ist wie für Erwachsene. Der Film wird getragen vom eindringlichen Spiel seines Hauptdarstellers Lucas Ferro. Der verkörpert Felipe mit so großer Präsenz und Ernsthaftigkeit, dass er oft reifer erscheint als viele ältere Menschen um ihn herum. Aber auch Regisseur Solarz, der selbst eine kleine, aber wichtige Rolle im Film übernimmt, schafft es, mit warmen und stimmigen Bildern Atmosphäre zu schaffen und die Zuschauer*innen in Felipes Gefühlswelten mitzunehmen. Nicht alles wird am Ende aufgeklärt und einige Figuren (speziell Felipes Mutter) hätten in der nur 75-minütigen Geschichte noch mehr Raum verdient. Aber vielleicht ist ja auch das Teil der Botschaft des Films: Nicht alles muss mit Worten gesagt werden, Schweigen und Reflexion können die wirklich wichtigen Dinge oft besser bewusst machen als zielloses Gerede.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Unser kleines Schloss

Die Kühe, mal wieder. Ständig läuft eine weg, verirrt sich, wird krank oder bekommt Junge. Das schafft Justina nicht allein, da muss ihre Tochter Alexia ran. Aber die sitzt wie so oft in ihrem Zimmer und spielt Autorennen am Simulator nach. Nur zum Spaß, wie man zunächst denkt, doch weit gefehlt: Schließlich will sie so bald wie möglich eine ernsthafte Karriere als Fahrerin in der argentinischen Formel 4 starten (ja, die gibt es wirklich). Aber als gute Tochter lässt sie sich irgendwann von ihrer Mutter erweichen und schon bald ist mit den Kühen auch alles wieder in der Reihe.

© Mayra Bottero / Gema Films, Sister Productions

Der argentinische Regisseur Martín Benchimol hat sich mit El Castillo (Das Schloss) an eine Doku-Fiktion gewagt, die trotz des denkbar einfachen Settings wirklich gut funktioniert. Die frühere Haushälterin Justina hat ein schlossähnliches Landhaus von der Vorbesitzerin, die sie bis zu ihrem Tod gepflegt hat, vererbt bekommen. Nun ist sie zusammen mit der halbstarken Alexia (vom Vater fehlt jede Spur) Herrscherin über ein Gebäude im Hundertwasser-Stil, mit nicht weniger als 6 Badezimmern, üppigem Grundbesitz und einem ganzen Streichelzoo süßester Tiere. Allerdings liegt das Anwesen mitten im Nirgendwo, was zumindest Alexia nicht wirklich stillsitzen lässt: Es zieht sie nach Buenos Aires. Denn eine Rennfahrerinnen-Karriere und auch ein Sozialleben abseits von Videochats mit Freund*innen oder Fernsehen mit Mama und der herumwuselnden Tierherde wird es für sie nur dort geben können.

El Castillo ist abseits seiner hochsympathischen Hauptdarstellerinnen deshalb so ein interessanter Film, weil er einen Fall von Veränderung der feudalen Besitzverhältnisse dokumentiert. Dass eine frühere Haushälterin mit indigenen Wurzeln wie Justina ein Haus mit Grundbesitz von ihrer früheren Arbeitgeberin vererbt bekommt, dürfte in Lateinamerika auch heute noch die absolute Ausnahme darstellen. Doch die Hoffnung ist trügerisch, denn das früher bestimmt schmucke Schlösschen war bereits bei der Übergabe eine ziemliche Bruchbude. Durch klaffende Löcher im Dach regnet es in die Wohnung, die vielen schönen Bäder bringen wegen defekter Wasserleitungen nicht viel und laufende Kosten und Grundsteuern fressen das kleine Budget von Justina und Alexia auf. Als Einnahmequellen sind die Vermietung von Zeltplätzen für Angler auf dem Gelände oder der Verkauf der immer weniger werdenden Kühe und Einrichtungsgegenstände nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Und so ist Justina, obwohl besitzend, nach wie vor eine Gefangene ihrer früheren Arbeitgeberin. Denn die hat ihr eingeschärft, das Anwesen ja nicht zu verkaufen, sondern schön so weiterzupflegen, wie sie es zuvor auch schon ihr ganzes Leben – nur gegen Bezahlung – getan hat. Als wäre das nicht genug, lädt sich die Sippe der Verstorbenen in schöner Regelmäßigkeit auch noch selbst zu Familienfesten auf das Schlösschen ein (natürlich ohne zu bezahlen), genießt die Annehmlichkeiten in den noch vorzeigbaren Räumen und lässt sich wie eh und je von Justina bedienen. Ein weiterer Grund, warum Alexia, die eine kaum verhohlene Wut auf den unverschämten Clan schiebt, ihre Pläne vorantreibt, das Weite zu suchen. Martín Bechamel ist mit El Castillo ein höchst unterhaltsames Porträt zweier unverhoffter Grundbesitzerinnen gelungen, bei dem er Gefühl für Situationskomik und kreative Inszenierung zeigt (bei schlechtem Wetter lässt er das Schlösschen wie ein verwunschenes Geisterhaus wirken). Dabei sind die Geschichte und auch die Hauptdarstellerinnen identisch mit der Realität. Die Szenen mit der Großfamilie wurden allerdings mit Schauspieler*innen (die Familie des Regisseurs) nachgedreht. Dabei tut die Feelgood-Atmosphäre dem Filmgenuss sichtlich gut, verdeckt aber den Blick auf eine bittere Realität, die Benchimol zum Schluss etwas unter den Tisch fallen lässt: Ohne schnell eine verlässliche Einkommensquelle zu finden, steht das baufällige Schloss und mit ihm seine Besitzerinnen vor einer höchst ungewissen Zukunft.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Es muss nicht immer Klezmer sein

Eine Dokumentation über jüdische Musik in Osteuropa von zwei jungen argentinischen Filmemacher*innen – das klingt zunächst einmal ungewöhnlich. Und tatsächlich ist es alles andere als konventionell, was Leandro Koch und Paola Schachmann mit ihrem Debüt Adentro mío estoy bailando (englischer Titel: The Klezmer Project) vorlegen. Allerdings auf andere Weise, als man es nach dem Lesen der Kurzbeschreibung vermuten würde.

Schon zu Beginn des Films gibt es eine Überraschung: Eine tiefe Männerstimme, die sich selbst als „den Satan“ bezeichnet, liest auf Jiddisch aus dem Off eine über 100 Jahre alte Geschichte vor. Darin geht es um Yankel, den Gehilfen eines Totengräbers, der sich in die Tochter des örtlichen Rabbiners verliebt. Mit dem Geschehen auf der Leinwand hat das zunächst einmal überhaupt nichts zu tun: Dieses beginnt mit einer jüdischen Hochzeit in Argentinien. Auf der lernen sich der Hochzeitsfilmer und die Klarinettistin der dort spielenden Klezmer-Band kennen und verlieben sich ineinander. Nach und nach löst sich aber die anfängliche Verwirrung und es zeigt sich: Das verliebte Pärchen ist das Regisseur*innen-Duo des Films, das sich in der Folge separat auf Fahrten nach Osteuropa begibt. Paloma macht für ihre Musikstudien zu Klezmer-Musik eine Forschungsreise nach Rumänien. Und auch Leandro entwickelt an Klezmer Interesse, er begleitet zunächst ein Musiker-Duo auf eigene Kosten auf ihrer Europatournee nach Österreich. Sodann zieht er dort mit einem befreundeten Fernsehproduzenten einen Dokumentarfilmauftrag für den Sender ORF an Land. Er soll Klezmer-Bands in Österreich, der Slowakei und der Ukraine filmen. Sein heimlicher Beweggrund für die Reise ist jedoch ein ganz anderer: Er hat keine Lust, monatelang von Paloma getrennt zu sein und macht sich Hoffnungen, im benachbarten Rumänien wieder mit ihr zusammenzutreffen. Währenddessen weist die Geschichte des jiddischen Erzählers, die zwischendurch weiter aus dem Off zu hören ist, immer mehr unverkennbare Parallelen zu Leandros Abenteuer auf. Denn auch Yankel reist seinem Schwarm hinterher und schafft es mit Überredungskunst, andere Menschen davon zu überzeugen, ihn dabei zu begleiten oder gar zu finanzieren.

Adentro mio estoy bailando entpuppt sich als filmisches Überraschungsei. Wer eine Doku über Klezmer erwartet hat, sieht sich schon bald getäuscht: Klezmer-Bands, das wird dem ahnungslosen Leandro und auch dem geleimten ORF-Team ziemlich schnell klar, sind in Osteuropa heute so gut wie ausgestorben. Dafür wird der Film immer mehr zu einer Mischung aus Selbstfindungstrip, Geschichtsstunde und Anschauungsunterricht über die Mühen des Dokumentarfilmens. Und das ist ein Glück, vor allem aufgrund des sympathisch-naiven Leandro Koch. Der lässt die Zuschauer*innen genauso an seinen romantischen Ups und Downs teilhaben wie an den Diskussionen mit seinem immer ungeduldiger werdenden Produzenten. Missmutig reibt der ihm Drehpläne unter die Nase, von denen nicht ein einziger eingehalten wurde. Immerhin ist Leandros Lernkurve beachtlich: Sein vergebliches Suchen nach Klezmer-Bands macht er mit interessanten Geschichtsexkursen über die heute fast ausgestorbene jiddische Kultur und deren schwieriges Verhältnis zum Zionismus wieder wett. Und ganz auf Musik verzichten muss der Film selbstverständlich auch nicht: In allen Städten, die das Filmteam besucht, geben Musiker*innen hörenswerte Einlagen zum Besten. Es ist nur eben leider kein Klezmer dabei…

Leandro Kochs Dokumentation wird so zu einem unterhaltsamen Lehrstück fürs Scheitern als Chance. Man merkt dem Film zwar an, dass einige Szenen nachgedreht wurden, was dann (wie die Vertragsunterschrift beim ORF) auch mal etwas gestellt und verwirrend wirken kann (Was ist echt? Was nur gespielt?). Trotzdem bleibt Adentro mío estoy bailando aber ein Filmerlebnis aus frischer und unbekümmerter Perspektive und darf sich dank der innovativen Verknüpfung mit der jiddischen Off-Erzählung nun auch über die Auszeichnung als bester Erstlingsfilm der Berlinale freuen.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Zwischen dem Mythos von Bestrafung und Heilung

Nino lebt mit seiner Familie in Santiago del Estero, Argentinien. Im Alter von vierzehn Jahren ist er dabei, seine Sexualität zu erforschen. Weil er nicht der Norm entspricht, wird er Opfer homophober Angriffe. Um ihn vor Ausschluss und Häme zu schützen, beschließen seine Eltern, die Stadt vorübergehend zu verlassen und die ganze Familie zieht in den Forstbetrieb, in dem sein Vater arbeitet.

Foto: © Tu Vas Voir

In seinem neuen Zuhause inmitten eines dunklen, feuchten Waldes hat Nino Schuldgefühle wegen seiner sexuellen Begierden und weil er das Leben seiner Familie aus den Fugen gebracht hat. Seine 16-jährige Schwester Natalia, die sich von ihren Freund*innen entfremdet hat, verzeiht ihm nicht. Estela, seine Mutter, will Nino wieder auf den rechten Weg bringen und organisiert seine Konfirmation in der örtlichen Kirche. Die Predigten des Pfarrers verstärken Ninos Schuldgefühle, da ihm weisgemacht wird, dass das, was er fühlt und tut, in den Augen Gottes nicht richtig ist.

In dieser ländlichen Umgebung, in der sich Mythos und Religion vermischen, entdeckt Nino die Legende von Almamula, einem in den Bergen lebenden Wesen, das diejenigen entführt, die verwerfliche sexuelle Handlungen begangen haben.  Diese Entdeckung hilft ihm dabei den Kreislauf von Sünde, Bestrafung und Heilung des „cuerpo-territorio“ (der in das Territorium verflochtene Körper) zu verstehen. Der Druck der bevorstehenden Konfirmationszeremonie belastet Nino, gleichzeitig wächst seine Faszination für die Almamula, die seine vermeintlichen Sünden an- und auf sich nehmen würde. In einem Prozess des Widerstands und der Suche nach Selbstbestimmung findet Nino in der Almamula die Möglichkeit der Rettung. Um ihr näher zu kommen, betet er zu ihr und geht ihr in den Wald entgegen. Die Schädigung des Waldes spielt in der Handlung zwar eine untergeordnete Rolle, bringt zugleich jedoch symbolisch eine zweite Ebene der Sünde ein: Die des Extraktivismus als Versündigung gegen die Erde. Diese zieht keine äußere, göttliche Strafe nach sich, sondern eine innere, den Verlust der Seele.

Regisseur Juan Sebastián Torales entwickelt einen absolut glaubwürdigen Familienkontext, in dem der Vater abwesend ist und seine Rolle in der extraktivistisch-kapitalistischen Gesellschaft erfüllt, die religiöse Mutter die mentale Belastung und Verantwortung für das moralische Gerüst der Familie trägt, während die Tochter ihren verborgenen, aber rebellischen Weg zur Emanzipation ihres Körpers erkundet.  In diesem Sinne fängt der Regisseur in seinem Debütfilm ein Spektrum sexueller Spannungen ein, das sowohl nachvollziehbar als auch anschaulich ist. Die filmische Besetzung mit den Schauspielern Cali Coronel, María Soldi (Eltern), Nicolás Díaz und Martina Grimaldi (Kinder) als Familienmitglieder lässt uns eine echte Dynamik spüren, die gleichzeitig konservativ und befreiend ist.

Obwohl das Übernatürliche in der Handlung eine starke Präsenz hat, setzt der Film nicht auf Spezialeffekte, sondern konzentriert sich auf realistische Aufnahmen, die mit kleinen Überraschungsmomenten gespickt sind. Die vom Regisseur geschaffene Atmosphäre lädt uns ein, Teil des Mythos zu werden, in dem die Existenz der Almamula oder der Mulaánima uns zu Überschreitungen provoziert und anregt und uns – jenseits der christlichen Dualismen – gleichzeitig bestraft und erlöst.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Erschütternd wie ein Spielfilm

Am 9. Dezember des Jahres 1985 widerfuhr den Kläger*innen gegen die abscheulichen Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur Gerechtigkeit. Nach einem über 6-monatigen Verfahren, dem sogenannten Prozess gegen die Juntas (Juício a las Juntas), verurteilte zum ersten Mal eine Demokratie selbst, die vorherigen Verbrechen der Diktatur im eigenen Land.

© Memoria Abierta

Bereits im vergangenen Jahr lief mit Argentina 1985 ein fiktionalisierter Film über den Prozess (mit Superstar Ricardo Darín in der Hauptrolle) auf dem Filmfestival in Venedig. Um die filmisch-dokumentarische Aufarbeitung der Verurteilung der Militärjunta hat sich nun Regisseur Ulises de la Orden verdient gemacht. Er vollendete die Mammutaufgabe, aus 530 Stunden Videomaterial der Gerichtsverhandlungen einen dreistündigen Dokumentarfilm zu destillieren. Der Vergleich mit dem emotionalen Argentina 1985 ist interessant. Denn El Juicio kommt ohne Interviews, ohne Off-Kommentar und fast ohne musikalische Untermalung aus. Das klingt im Zusammenhang mit der Länge erst einmal trocken. Dennoch steht er dem Spielfilm an Dramatik kaum nach, denn Regisseur de la Orden ist auch ohne diese Mittel eine packende und erschreckende Bestandsaufnahme über die Zeit der argentinischen Militärdiktatur gelungen. Zum einen liegt das an der gekonnten Montage des Filmes. De la Orden lässt die Zeug*innen und Anwälte als Gegenspieler*innen auftreten und legt ihre Strategien und Charaktere offen. Durch die sehr emotionalen Zeug*innenaussagen und das kalte und zynische Verhalten der angeklagten Militärs, das sich in Habitus und Argumentation ausdrückt, bleibt diesbezüglich nichts im Unklaren. Selten waren Gut und Böse so deutlich erkennbar, wie in diesem Prozess. Während die Opfer der Diktatur im Zeug*innenstand teils unter Tränen von unfassbaren Unmenschlichkeiten und Gräueltaten berichten, sehen die Angeklagten ihnen abschätzig zu, Zeitung lesend und Kette rauchend (Zigaretten waren 1985 im Gerichtssaal noch allgegenwärtig). Mehr und mehr fügt sich dabei ein Mosaik des Grauens aus den sieben Jahren der argentinischen Militärregierungen zwischen 1976 und 1983 zusammen.

Kindsentführungen, Gefangennahmen, Raub, Folter, Zwangsarbeit, Verschwindenlassen, kaltblütiger, massenhafter Mord: Zu jedem dieser Verbrechen sagt im Film mindestens ein*e Zeug*in in einer Deutlichkeit vor Gericht aus, die keinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Aussagen lassen. Die Reaktion der Militärs: Gleichgültigkeit, Rechtfertigungen, sogar Unschuldsbeteuerungen. Man habe „christliche Werte gegen Marxisten“ verteidigen müssen, sehe sich einer „Inquisition“ und „Nürnberger Prozessen“ ausgesetzt, könne sich nicht erinnern, auf „menschliche Ziele“ geschossen zu haben oder nicht. Die Zeug*innen beklagen weinend, dass die Massengräber ihrer Kinder nicht einmal wieder zugeschaufelt worden seien – die Angeklagten beschweren sich, dass sie im Gerichtssaal auf zu schlechten Plätzen sitzen würden. Besser als sie selbst hätte niemand ihre kalte Grausamkeit und Weltfremdheit illustrieren können. Symbolisch dafür steht auch das Duell der Anwälte der beiden Parteien – der engagierte Julio Cesar Strassera (Anklage) gegen den schmierigen Juan Maria Orgeira (Verteidigung) – auf das Regisseur de la Orden den Film mehrfach fokussiert.

El juicio ist ein hervorragend geschnittener Dokumentarfilm über einen Prozess, der auch 40 Jahre nach Ende der Militärdiktatur nichts von seiner Relevanz verloren hat. Die Statements der gefolterten, entführten, ihres Hab und Guts und ihrer Kinder beraubten Menschen im Zeug*innenstand sind erschütternd und wegen der Ungeheuerlichkeit der geschilderten Verbrechen teils schwer zu ertragen. Wer sich dennoch auf die drei Stunden Dokumentation einlässt, bekommt ein eindrucksvolles Zeitdokument zu sehen, das in allen Facetten zeigt, was es bedeutet, in einer Diktatur zu leben. Dabei nimmt El juicio emotional so mit, dass man sich am Ende den Zuschauer*innen im Gerichtssaal anschließen möchte. Diese erhoben sich – obwohl eigentlich untersagt – geschlossen von ihren Sitzen, und klatschten laut Beifall, nachdem Chefankläger Strassera sein Schlussplädoyer beendet hatte. Seine letzten Worte lauteten: „¡Nunca mas!“ – „Nie wieder!“

Triggerwarnung: Drastische verbale Schilderungen von Gewalt und sexuellen Übergriffen

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Berührende Komödie

An der Zigarette ziehend, noch ein letzter Zug, eilt Arturo, selbst gespielt vom argentinischen Regisseur Martín Shanly, in die Kirche. Ist es seine eigene Hochzeit? Nein, die seiner besten Freundin. Ein Voiceover von Arturo beschreibt diesen Tag, den 30. März 2020, als den wahrscheinlich schrecklichsten Tag seines Lebens. Dieser Tag leitet die Zuschauer*innen durch den Film und lässt durch Rückblicke in die 2010er-Jahre nach und nach die sozialen Beziehungen, familiären Verhältnisse und Verluste des Protagonisten erkennen.

© Un Puma

Im Mittelpunkt dieser Komödie, die in der Sektion Forum läuft, stehen die Fehltritte, die den 30-jährigen Arturo durch sein Leben begleiten. Es tut fast weh, ihm dabei zu zusehen, in welche Situationen er sich begibt. In verschiedenen Episoden – wie die für seinen trans Mitbewohner bedeutende Busreise nach Patagonien oder dem überwältigenden Theaterstück seiner Schwägerin – spielen Teile seines Lebens selbst eine tragende Rolle.  Darin wird klar, dass Arturo ein guter und loyaler Freund, Bruder und Sohn ist, der versucht mit dem Alltag klar zu kommen, der sich aber doch immer wieder fehl am Platz fühlt. Fragen die sein Leben betreffen, nerven ihn und lösen Stress aus. Rückblicke auf Situationen mit seiner Mutter und seiner rebellierenden Schwester zeigen, dass jede auf ihre Art mit einem gemeinsam erlittenen Verlust im Jahr 2012 kämpfen und trotz der kleinen Anfeindungen eine tiefe familiäre Wärme und Zuneigung besteht. Der Höhepunkt des Films ist der Abend der Hochzeit, wo bei Arturo durch die unerwartete Begegnung mit seinem Ex-Freund sämtliche Gefühle von Verletzlichkeit und Einsamkeit hochkommen.

Ein eher abgedroschenes Thema, könnte man vielleicht denken: Ein Mann in der Quarterlife Crisis, der nichts auf die Reihe bekommt. Aber Martín Shanly kritisiert auf berührende Weise den gesellschaftlichen Diskurs, der sagt, dass du nur etwas wert bist, wenn du dich schneller und effizienter weiterentwickelst und schafft dadurch sehr viel mehr Tiefgang, als vielleicht zu Anfang erwartet.

Interessant ist die Kameraführung: Durch das Herauszoomen verlässt man Situationen oder Perspektiven verändern sich auf einmal. Emotionsgeladene Szenen folgen schnell auf langsame Erzählungen über den beiläufigen Ablauf des Alltags, was eine*n die Irrungen von Arturo nachvollziehen und aufwühlend empfinden lässt. Man nimmt selbst die Rolle von Arturo ein und identifiziert sich mit seiner Verwirrung, man empfindet aber gleichzeitig auch Mitgefühl und Fremdschämen.

Arturo a los 30 hat einen verwirrenden Plot, der langsam an Klarheit gewinnt. So auch Arturo, der sich zum Ende des Films im Sommer 2020 mitten in der Pandemie befindet und bemerkt, dass er nicht der einzige ist, der mit dem Leben struggelt. Dem Regisseur ist es gelungen, einen berührenden Film zu entwerfen, welcher einiges Schmunzeln, aber auch bittere Tränen auslöst.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Dann lieber Kafka lesen

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Dieser erste Satz von Franz Kafkas Verwandlung gehört in seiner Präzision nicht ohne Grund zu den berühmtesten Sätzen der Literaturgeschichte. Im Gesicht der Qualle, dem zweiten Langfilm der argentinischen Regisseurin Melisa Liebenthal, hört sich das so an: „Mein Gesicht hat sich verwandelt, das ist mein Problem!“ Einigermaßen trotzig antwortet dies die Hauptfigur Marina einer Ärztin, die sie aus diesem Grund aufgesucht hat. Vor einem Monat habe es eine Schwellung gegeben, nachdem diese abgeklungen sei, sähe ihr Gesicht völlig anders aus.

Im Kleinen zeigt diese erste Szene schon das gesamte Grundproblem des Filmes: Auf die wirklich interessanten Aspekte dieser Verwandlung wird verzichtet. Nachdem Marina (Rocío Stellato) nun schon mehr als einen Monat mit dem „neuen Gesicht“ lebt, sind der erste Schrecken und Schock scheinbar bereits gewichen und haben einer allgemeinen Verweigerungshaltung Platz gemacht. Offenbar ist sie nach der Verwandlung zu ihren Eltern und ihrer Großmutter zurückgekehrt, wollte ihrem Partner so verändert nicht begegnen, hat sich aus Arbeit und sozialen Medien zurückgezogen. Der Rest ist ein Mäandern durch alle möglichen Szenen ohne jeden Spannungsbogen: eine belanglose Affäre, Ölmalerei, verschiedene Untersuchungen und ein Ende, das die Betrachtenden vollkommen ratlos zurücklässt. Dazwischen gibt es immer wieder (sehr) lange Einstellungen von Tieren im Zoo und deren Interaktionen mit Besucher*innen, die wohl irgendwie mit dem Zitat von Rilke in der ersten Einstellung zusammenhängen müssen: „Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene.“

Ja, auch Tiere haben ein Gesicht, wer hätte das gedacht. Und ja, beim Tier wie beim Menschen lassen sich über bestimmte Ankerpunkte die Strukturen des Gesichtes erfassen. Immer wieder werden diese im Verlauf des Films mit einfacher Computergrafik in grünen Linien und Punkten gezeigt, ohne tatsächlich zur Handlung oder zur Filmästhetik beizutragen. Überflüssig anzumerken, was Liebenthal alles aus dieser Geschichte hätte machen können, vor allem angesichts der Brisanz der zunehmenden Gesichtserkennung, aber auch was die Fragen der Identität im Blick der anderen angeht. So bleibt der Film in der Handlung, dem Spiel der Hauptfigur und auch in seinen filmischen Mitteln vor allem eines: flach.

LN-Bewertung: 1/5 Lamas

Etwas Altes, Etwas Neues, Etwas Geliehenes, Etwas Blaues

© Jacob Sauermilch

„Ja es fühlt sich komisch an, aber wichtig ist, wie es aussieht!“, mit dieser Idee vom Leben sehen sich der deutsche Fred (David Bruning) und die argentinische Luisa (Rai Todoroff), die eine harmonische und gleichberechtige Beziehung führen, auf einmal konfrontiert, als ihre Eltern zur Hochzeit anreisen. Der mittellange Film El secuestro de la novia der deutsch-argentinischen Regisseurin Sophia Mocorrea, der Teil der Sektion Perspektive Deutsches Kino ist, zeigt in vier Kapiteln mit Witz und Ironie die Gelähmtheit, welche durch die Erwartungen anderer ausgelöst wird. Die Kapitel sind nach den Hochzeitstraditionen Algo Viejo (Was Altes), Algo Nuevo (Was Neues), Algo Prestado (Was Geliehenes) und Algo Azul (Was Blaues) benannt, wodurch auf die konventionellen Denkmuster angespielt wird. Nahaufnahmen und lange Szenen der Zweisamkeit von Fred und Luisa zeigen die eigentliche Nähe und Vertrautheit der beiden. Das langsame Eindringen der Eltern in ihre Beziehung wird gleich zum Anfang am Berliner Flughafen angedeutet, wo auf Grund der Tatsache, dass ungefragt das Brautkleid und sämtlicher Hochzeitskram mitgebracht wurden, kein Platz mehr im Auto für Fred ist.

Das Aufeinandertreffen der Eltern in der deutschen Vorstadt wird durch den Fokus auf den Gartenzaun unterstrichen und dem „doch so schönen, geerbten Haus“, in das Luisa und Fred einziehen sollen. Denn darin sind die Elternteile sich einig: „Wenn erstmal die Kinder kommen, braucht ihr Platz“. Die Absurdität der Erwartungen der anderen an sie wird durch sprachliche Mittel unterstützt und durch mehrere Szenen dargestellt. Das von Luisa ausgesuchte Brautkleid wird durch das mitgebrachte ersetzt und zeigt auf charmante Art und Weise, wie ihre Familie ihre eigenen Vorstellungen von einer schönen Braut hat. Auch Fred wird nicht gehört und von den Vorstellungen der Schwiegereltern überhäuft, so dass sich Fred und Luisa auf ihrer eigenen Hochzeit gemeinsam im Klo verstecken müssen, um sich Champagner trinkend über den Wahnsinn ihrer Eltern auszutauschen.

© Jacob Sauermilch

Die beiden lassen durch die Kapitel hinweg vieles über sich ergehen, doch kippt die Stimmung im letzten Kapitel bei der Brautentführung, da Fred abgefüllt wird und Luisa unangenehme Fragen auf der Wache über sich ergehen lassen muss. Die Distanz, die sich zwischen Ihnen aufgebaut hat, endet im Morgengrauen auf einem Feld, wo sie sich durch Handschellen verbunden im Hochzeitsoutfit wiederfinden. Durch die langen Nahaufnahmen der Blicke und Gesichter, gibt der Film den Zuschauer*innen Zeit, die Gefühle nachzuempfinden und die Gelähmtheit zu fühlen, in der sich die beiden wiederfinden.

Der Film zeichnet sich durch die authentische schauspielerische Leistung der beiden Hauptdarsteller*innen aus, mit denen man sich automatisch identifiziert. Die Monologe der Eltern spiegeln uns allen bekannte Aussagen wider und gewinnen dadurch an Witz, dass sie unverfälscht mit einer Beiläufigkeit wiedergegeben werden.

Mit diesem Abschlussfilm ihres Studiums an der Filmuniversität Babelsberg präsentiert Sophia Mocorrea ein Narrativ, welches berührt und zeigt mit Originalität die Absurdität von Konventionen auf, mit denen wir uns doch alle immer wieder konfrontiert sehen.

LN-Bewertung: 5/5 Lamas

Arriesgada fragilidad

En el arte de tapa de Nómade se ve el rostro de la cantante, compositora e improvisadora Lucía Boffo multiplicado por nueve. Nueve facetas de la misma persona, nueve formas de acercarse a ese mismo ser. Como las nueve canciones que componen el álbum.
Nómade es el disco más arriesgado de la cantante, no por la complejidad compositiva, sino por el grado de exposición personal. Cada una de las canciones es un micro-universo en el que desnuda sentimientos y emociones como nunca lo había hecho. Es una mirada hacia adentro que invita a conocerla en su intimidad, a explorar los paisajes en los que creció, y la música que la atravesó; música que hoy define su estilo, tan personal como particular. Si „Quiero que me encuentres parece un homenaje encubierto a Spinetta, y en „Volvernos canción se escucha, difuminada y a lo lejos, una posible melodía drexliana, en „Mensajes transatlánticos“, „Lenga“ o „Cerremos el telón“, la impronta del folclore argentino es determinante. También en „Desaparecer“, en donde incluso la música urbana tiene su lugar. El lenguaje jazzístico y por sobre todo la improvisación son, desde luego, elemento omnipresente. Y el coqueteo con el impresionismo francés casi que también. Especialmente en „Los ojos“, la canción que quizá más remita a trabajos anteriores, junto al pianista Andrés Marino.
En una época de escucha fragmentada, Nómade insiste en la unidad. El disco abre con una especie de manifiesto en clave de lo que vendrá: composiciones enmarcadas en el tan inmenso como escurridizo término canción; y termina con „Cerremos el telón“, a la vez síntesis de un vínculo que se desmorona y final del álbum. En el medio pasa de todo.
La voz, el piano y la guitarra son la columna vertebral de las canciones que integran el disco. Y a éstos se le suman arreglos de cuerdas y vientos, (contra)bajo, sintetizadores y efectos. Sin embargo, como era de esperarse, la voz en la música de Lucía Boffo sigue siendo el elemento estelar. Y no sólo por la calidad interpretativa y el evidente dominio técnico, sino porque la cantante deja muy en claro que ésta, una vez despojada de las palabras, es un instrumento como cualquier otro. Ella improvisa con la misma naturalidad con la que habla. O respira.
El nomadismo es movimiento, transformación, constante habitar nuevos espacios. En ese ir y venir hay abandono, pero también acumulación infinita de recuerdos, experiencias y encuentros. Nómade fue creado y producido entre Ushuaia, Buenos Aires y Berlín, y eso se escucha en los paisajes evocados, en las historias y en su gente. Y qué gente. Quique Sinesi, Violeta García, Ingrid Feniger, Daniel Schnock e Juan Ignacio Sueyro son algunes de les músiques que intervienen en esos micro-mundos. Nada mal para un debut. Porque Nómade es el primer disco solista de Lucía. Ahora, si los rumores son ciertos y tenemos suerte, es el primero de varios.

SELBSTBESTIMMT AUS DEM GEFÄNGNIS

Fotos: Grace Perviu

Es funkt, raucht und knallt. In einer alten Werkhalle in der Straße Atuel in Buenos Aires wird aus Stahl ein kleiner Wasserturm gebaut. Männer mit Tattoos und Narben im Gesicht laufen herum, schneiden und schweißen Metallstangen zusammen. Die Werkhalle ist alt, etwas heruntergekommen, der Boden schwarz vor Dreck, doch an der Wand ganz hinten im Raum erstrahlt die Wandmalerei einer zerbrochenen Eisenkette, daneben der Name: Zweigorganisation der Freigelassenen und ihrer Familien, Teil der Bewegung der Ausgeschlossenen Arbeiter*innen.

Gleich daneben steht eine der wenigen Frauen. Nora Calandra wirkt trotz ihrer kleinen Figur imposant, ihr Auftreten selbstsicher. Bei ihrer Ankunft in der Werkhalle wird sie freudig begrüßt, man kennt und mag sich.

Die Menschen verbindet eine abgesessene Gefängnisstrafe, manche nur ein paar Jahre, andere über ein Jahrzehnt. Es sind Geschichten der Armut, aber auch die Suche nach Adrenalin, die sie in Haft gebracht haben. Der Ausweg führt über Lohnarbeit, Freundschaften und gegenseitige Hilfe. Und das alles finden sie hier, in dieser einfachen Halle.

Sie war vor mehr als vier Jahren Ausgangspunkt für die genossenschaftliche Bewegung ehemaliger Gefangener, die gemeinsam aus dem Zirkel der Gewalt ausbrechen wollten. Sie schufen zuerst für sich und dann für andere eine neue Realität. Heute wollen sie die staatliche Resozialisierungspolitik mitgestalten.

José Ruiz

Alles begann vor etwa vier Jahren mit José Ruiz. Der kleine stämmige Mann saß über zehn Jahre im Gefängnis. Weshalb, das soll hier nicht stehen. Zu häufig hole ihn seine Vergangenheit in Gesprächen ein. Ruiz sitzt hinter seinem Bürotisch in einem einfachen Haus in Pilar, einem ärmeren Vorstadtort von Buenos Aires. Es war das Grundstück seiner Familie, doch mit der Zeit wurde es zum zentralen Treffpunkt für ehemalige Gefangene, die sich in verschiedenen Genossenschaften organisieren.

In der Vorstadt arbeiten rund 20 Personen. Es gibt Schweißereien, Schreinereien, Bäckereien und Recyclingstationen, die von Ex-Gefangenen als Genossenschaften geführt werden. Man arbeitet gemeinsam und verteilt am Ende der Woche den Gewinn gleichmäßig.

„Es geht um die Hilflosigkeit, die du hast, wenn du aus dem Gefängnis kommst“, sagt Ruiz. Denn wer in Argentinien aus dem Gefängnis freikommt, sei auf sich allein gestellt. Die ehemaligen Häftlinge fänden keine Arbeit, keine Wohnung, keinen Anschluss. Meist kämen sie in eine zerrüttete Familie zurück. Oft zerbrächen sie unter der Last, eine Person im Gefängnis zu begleiten, denn aufgrund korrupter Gefängnisdirektoren müssten sich meist die Familien um die Verpflegung des Häftlings kümmern, so Ruiz. Versorgende werden während der Zeit im Gefängnis zu Versorgten. Man wird zur Last und bekommt dies nach der Freilassung zu spüren. Die Rückkehr zur Kriminalität ist bei vielen der einfachste Ausweg. Staatliche Hilfeleistungen zur Wiedereingliederung gibt es kaum. Da kaum Menschen aus dem Zirkel der Gewalt ausbrechen, wächst die eingesperrte Bevölkerung stetig. Zum Jahreswechsel 2019/2020 waren laut offizieller Statistik 100.634 Personen in staatlicher Gefangenschaft, 75 Prozent mehr als noch zehn Jahre zuvor. Und so sitzen derzeit in Argentinien pro 100.000 Personen 243 in einem Gefängnis, in Deutschland liegt die Zahl bei 69.

José Ruiz erlebte all dies am eigenen Leib. Er suchte Hilfe bei der Lokalverwaltung, doch mehr als Lebensmittelpakete konnten sie ihm nicht geben. Er hatte kurzzeitig einen guten Job, bis er seinen Strafregisterauszug nachreichen sollte, „sie sahen mich an, fragten warum ich gelogen hatte, und warfen mich raus“, erzählt der heute 39-Jährige. Er begann zu stehlen und kam ein weiteres Mal ins Gefängnis.

Noch während seiner zweiten Gefangenschaft begann Ruiz mit Freunden T-Shirts zu bedrucken und an Unternehmen zu verkaufen – mit einem Handy übernahm er aus der Zelle den Vertrieb, die schon freigelassenen Kollegen die Produktion. In der Werkstatt Atuel bot man den ehemaligen Häftlingen erstmals eine Werkstatt an. Noch im Gefängnis verdiente er Geld und konnte seinen Mitgefangenen regelmäßig einen Grillabend spendieren. Als er schließlich freikam, kam er direkt in einen geregelten Arbeitsalltag und hatte bereits ein Einkommen.

Versorgende werden im Gefängnis zu Versorgten

Nach einiger Zeit bot die MTE Ruiz an, sich innerhalb der Basisorganisation um die ehemaligen Gefangenen zu kümmern. Die MTE ist ursprünglich aus Kartonsammler*innen entstanden, die sich gegen staatliche Verfolgung und für bessere Arbeitsbedingungen im Jahr 2001 zusammenschlossen. Heute ist es eine genossenschaftliche Bewegung, in der sich prekarisierte Arbeiter*innen vereinen und gemeinsam produzieren – auf dem Land, im Recycling, beim Nähen oder Schreinern.

Ruiz erzählt, dass sie sich dafür entschieden, eine Zweigorganisation zu gründen, organisatorisch getrennt von den anderen Genossenschaften. Denn, so Ruiz, „Freigelassene haben andere Bedürfnisse, du kommst psychologisch total kaputt aus dem Gefängnis und brauchst unbedingt eine spezielle Begleitung“. In ihrem Weg werden sie eng von Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und Sozialwissenschaftler*innen betreut. So zum Beispiel die Mitglieder der Bäckereigenossenschaft im Nebenraum. Hortensia Fleitas, eine Sozialarbeiterin sitzt neben den streitenden Mitgliedern.

Sie ist da, um bei der Lösung von Problemen und Konflikten zu helfen, aber auch für Alltägliches, wie das Beantragen eines Personalausweises. Ruiz schätzt diese Arbeit sehr. Auch weil viele Gefangene sehr individualistisch aus der Haft kommen „im Gefängnis kümmerst du dich um dich selbst, die Gemeinschaft hat keine Bedeutung“. Er meint die „Akademiker sollen begleiten, helfen und unterstützen, aber leiten tun wir, wir wissen am besten was wir brauchen“. Im Gegensatz zu vielen anderen sozialen Projekten, sollen hier die Betroffenen selbst entscheiden.

Die Erzählungen sind geprägt von Männern. Doch auch die Anzahl an FLINTA* in argentinischen Gefängnissen wächst stetig. Die argentinische Behörde für die Wahrung der Menschenrechte von Inhaftierten sprach im Jahr 2021 von 4.526 „Frauen, Trans und Travesti“, die in argentinischen Gefängnissen einsaßen. Doppelt so viel wie noch 20 Jahre zuvor. Mehr als ein Drittel sitzen wegen Drogendelikten ein, ein weiteres Viertel wegen Diebstahls. Viele Frauen erleben sexualisierte Gewalt, innerhalb oder außerhalb des Gefängnisses. Weiterhin sind sich Expert*innen darin einig, dass gefangene Frauen unter einem noch größeren gesellschaftlichen Ausschluss leiden als Männer.

Nora Calandra

Nora Calandra war eine von ihnen. Die Mittvierzigerin sitzt im Innenhof der Werkstatt von Atuel und betont, sie erzähle ihre Geschichte. Sie betont, es sei ihre Geschichte da sie nicht über Intimitäten und Probleme anderer sprechen möchte. Es fällt vielen schwer, über ihre Erlebnisse zu reden. Noch weniger wolle man, dass sie weitererzählt werden.

Calandra versuchte als alleinerziehende Mutter durch Kleinkriminalität ihre Kinder durch den Alltag zu bringen. Im Jahr 2010 wurde sie erwischt und kam ins Gefängnis. Plötzlich war sie eingesperrt und allein. Calandra erzählt: „Am Eingang eines Gefängnisses für Männer stehen die Frauen Schlange für den Besuch, beim Eingang eines Frauengefängnisses stehen auch nur Frauen, aber viel weniger. Die Männer sind in beiden Fällen abwesend.“ Calandra wollte nicht, dass ihre Kinder und ihre Mutter sie im Gefängnis besuchen. Sie sollten ihre Mutter von außerhalb in Erinnerung behalten, ohne Gitter und herabwürdigende Leibesvisitationen. Nur ihr damaliger Partner kam sie hin und wieder besuchen.

Während der Haft wird Calandra schwanger und bringt im Jahr 2012 ihr drittes Kind zur Welt – angekettet an das Bett. Laut argentinischem Gesetz dürfen gefangene Mütter ihre Kinder während der ersten vier Lebensjahre bei sich haben. „Ich entschied mich, mein Kind zwei Jahre bei mir zu behalten, danach sollte es in Freiheit leben.“ Die erneute Mutterschaft veränderte ihren Blick auf die eigene Zukunft. Sie wollte von nun an für ein besseres Leben für sich und ihre Mitmenschen kämpfen, sagt Calandra. Im Jahr 2016 kam sie aus dem Gefängnis. Alles hatte sich in den sechs Jahren Haft verändert: „Meine Töchter waren keine Kinder mehr“, sagt Calandra und schweigt kurz. Sie meint, es sei eine Freiheit ohne Werkzeuge zum Leben gewesen. Sie und viele andere wussten nicht, wie man Geld verdienen oder wo man leben solle. Von diesem Moment an begann sie, sich für die Rechte von gefangenen Frauen zu engagieren. Im Jahr 2018 lernte sie Ruiz kennen, sie begannen, gemeinsam zu arbeiten.

Calandra sieht im Vergleich zu Ruiz einen wichtigen Unterschied für das Leben nach der Haft: „Die Männer sagen immer: Die richtige Arbeit würde ein Leben in Würde ermöglichen. Aber so einfach ist es nicht.“ Für Frauen sei Lohnarbeit nicht alles. Es gehe häufig um intrafamiliäre Gewalt oder Probleme bei der Sorgearbeit. Wie könne man alles unter einen Hut bringen?

Es wäre die Aufgabe eines Sozialstaates hier einzuspringen, doch das macht er nicht. Calandra sagt, dies sei ein Grundproblem: „Dort, wo der Staat fehlt, springen Drogenbanden ein, und der Kreis der Kriminalität schließt sich.“ Denn der Staat sei bei den Armen nur strafend unterwegs: „Die Frau aus dem Armenviertel erscheint im Auge der Staatsgewalt, sobald sie straffällig wird, vorher nicht“, meint Calandra.

Ruiz und Calandra erzählen beide, wie wichtig es war, dass sie während ihrer Gefängniszeit Zugang zu Bildung hatten. Es waren Studierende und einzelne engagierte Professor*innen, die mit ihnen zu arbeiten begannen. Dort lernten sie, dass ihre Strafe der Entzug von Freiheit war, die Gewalt, das Fehlen von Lebensmitteln und andere Schikanen im Gefängnis verstießen hingegen gegen ihre Grundrechte. Heute gibt es im ganzen Land Initiativen, die ihre Erfahrung kopieren. Ruiz und Calandra sind zu Koordinator*innen dieser riesigen Organisation geworden. Sie wächst täglich weiter, neue Werkstätten werden eröffnet und bereits bestehende erweitert.

Längst arbeiten die beiden auch mit staatlichen Behörden zusammen. Einzelne Gemeinden stellen Grundstücke und Lagerhallen zur Verfügung oder kaufen die Produktion auf und stellen damit die Finanzierung sicher. Ruiz erzählt, dass sie mittlerweile auch mit Gefängnissen zusammenarbeiten und dort erste Genossenschaften gründen: „Es gibt eine große Nachfrage, die Gefangenen wollen etwas lernen und arbeiten.“ Das erwirtschaftete Geld geht in diesen Fällen direkt an die Familien der Gefangenen.

Mit dieser Initiative werde eine Lücke geschlossen, meint Ruiz: „Wir holen die Gefangenen direkt aus dem Gefängnis ab, bringen ihnen dort einen Job bei und im Moment der Freilassung werden sie von einer Genossenschaft außerhalb des Gefängnisses übernommen.“ Dadurch gebe es weniger Gefahr, dass sie nach Wiedererlangung ihrer Freiheit in alte Muster zurückfielen.

Das Ziel der Organisation ist ein Gesetz, das die Resozialisierung, so wie es die Genossenschaftler*innen umsetzen, formalisiert und auf Landesebene bei der Umsetzung unterstützt. Auch wenn die Organisation aus der Not geboren ist, sind sich die Ex-Häftlinge einig, dass sie es besser machen als der Staat es machen könnte. Dieser sollte lieber nur unterstützend wirken.

Die Organisation, so Calandra, sei ein Paradebeispiel für ganz Lateinamerika. Vor kurzem war sie in Kolumbien und stellte ihre Arbeit dort vor. „Die Genossinnen waren fasziniert, denn so etwas gibt es dort nicht.“

WELTEN VERKNÜPFEN


Córdoba 2019. Plötzlich ist Nacha Vollenweider zurück in der Heimat. Hinter ihr liegen sechs Jahre in Hamburg und eine gescheiterte Ehe. In Córdoba ist der Himmel — anders als in Hamburg — zwar immer blau, doch fällt ihr die Rückkehr schwer. Denn die Gründe für diese sind traurig: 2016 ging Vollenweiders Frau Chini in das brasilianische Bélem do Pára, um Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten. Dort nahm das Ende ihrer Beziehung seinen Anfang — und an dieser Ehe hing Vollenweiders Aufenthaltstitel in Deutschland. Als sie auf der Straße ein Vogelhaus findet, aus dem ein riesiger schwarzer Vogel erscheint, kriegt Nacha zunächst panische Angst. Nach der Scheidung wird dieser aber zugleich ein Symbol für den Aufbruch, zurück nach Rio Cuarto in der Provinz Córdoba.

Während sie auf ihrem alten Fahrrad durch die bekannten Straßen streift, wird sie unweigerlich von ihrer Familiengeschichte in den Bann gezogen. Die Getreidemühle, die ihr deutschstämmiger Urgroßvater übernahm, liegt längst in Ruinen. Sie stöbert in seinen Büchern aus der Zeit des ersten Weltkrieges, eine von Rassismus und Antisemitismus strotzende Kolonialliteratur, in der sie Parallelen zu den erstarkenden rechtsextremen Bewegungen des Deutschlands der Gegenwart erkennt. Ihre 97-jährige Großmutter erzählt bei einigen Mate vom Peronismus, der wiederum deren eigene Ehe scheitern ließ. „Peronismus versteht kein Mensch. So wie die Liebe“, denkt sich die Autorin.

Der in schlichtem, aber eindringlichem Schwarz-Weiß gezeichnete Comic Zurück in die Heimat springt mühelos zwischen den Zeitebenen und Welten hin und her. Dabei ist er viel mehr als nur autobiographisch: Immer wieder werden wie zufällig über Personen und Orte Verbindungen hergestellt, seien es die Überlebenskünstler*innen, die in Argentinien dem ständigen Kreislauf der Wirtschaftskrisen trotzen, oder Heiligenfiguren der brasilianischen Religion Umbanda. Die Schlangen vor den Lebensmittelläden in Córdoba erinnern Vollenweider nicht nur an die Hyperinflation 1989 und die Krise 2001 in Argentinien, sondern auch an das Deutschland der Zwischenkriegszeit. Zurück in die Heimat endet mit einer Reise durch Argentinien. Erneut hängt alles zusammen: Wie eine riesige Wunde klafft eine Lithiummine in einem Tal auf. Was in Europa für vermeintlich saubere Antriebe sorgen soll, zerstört im Globalen Süden die Natur.

Zurück in die Heimat erzählt, trotz des traurigen Anlasses der Rückkehr und einer stets mitschwingenden Nostalgie, auf eine schöne und gut verständliche Weise von Einwanderung, Entwurzelung und wirtschaftlicher Unsicherheit, die die argentinische Gesellschaft prägen, aber auch von Familie, Liebe und Freundschaft. Dabei gelingt der Zeichnerin mit beeindruckender Leichtigkeit die Verknüpfung der „privaten“ mit politischen Themen, zwischen Hoffnungen, Erwartungen und Machtverhältnissen im Globalen Norden und Süden, der Transfer zwischen den verschiedenen Welten, von denen ihr keine mehr eine Heimat bieten kann.

DAS MENSCHENRECHT AUF DIE EIGENE IDENTITÄT

Feiert 10-jähriges Das Gesetz Ley de Identidad de Género garantiert trans Personen seit 2012 das Rech auf die eigene Geschlechtsidentität (Foto: Valeria Tonero/Wikimedia Argentina, CC BY-SA 4.0)

In den 2010er Jahren wurde in Argentinien eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet, die die natürlichen Rechte von Personen anerkennen und gewährleisten sollen. Dazu gehört das Recht auf Ehe für alle, auf künstliche Befruchtung und eben das Recht über die Anerkennung der Geschlechtsidentität als Menschenrecht im Jahr 2012. Argentinien wurde damit zum Pionierland für die Rechte von trans Personen und Travesti (Der Eigenbegriff Travesti beschreibt eine lateinamerikanische politische Identität von transfem transgender Personen. Zur ausführlicheren Besprechung dieses Begriffs siehe LN 525, Anm. d. Red.).

Das Ley de Identidad de Género beinhaltet die Abschaffung pathologisierender Verfahren zur Feststellung der Geschlechtsidentität. Nicht mehr die Anerkennung psychischer Störungen, Hormonbehandlungen oder Eingriffe zur Geschlechtsumwandlung bestimmten das Recht darauf, den eigenen Namen und den Eintrag zur Geschlechtsidentität zu verändern: Von nun an wurde der Schwerpunkt auf die eigene Wahrnehmung und individuellen Erfahrungen über das eigene Geschlecht gelegt. Allein auf dieser Grundlage hat jeder Erwachsene das Recht, Vornamen, Geschlechtseintrag sowie das Erscheinungsbild an die empfundene Geschlechtsidentität anzupassen. Trans Personen müssen seitdem keine langwierigen und kostspieligen Gerichtsverfahren mehr auf sich nehmen, um ihre Geschlechtsidentität anerkennen zu lassen. Stattdessen wurde auf ein einfaches und kostenloses Verwaltungsverfahren umgestellt, welches sich ohne juristischen Beistand durchlaufen lässt. Die Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung einer Namensänderung wurde abgeschafft und diese als vertrauliche Information eingestuft. Dabei darf, im Gegensatz zu anderen Ländern, auch kein Randvermerk auf der Geburtsurkunde gemacht werden, wenn es zu einer Namensänderung kommt – stattdessen muss eine neue Urkunde ausgestellt werden. Um das Menschenrecht auf Geschlechtsidentität auch für Kinder und Jugendliche zu garantieren, ist ein besonderes Verfahren vorgesehen. So ist die Anpassung des Vornamens, der Angabe zum Geschlecht sowie des Passbildes nicht verpflichtend. Auch Namen, die nicht im Ausweisdokument vermerkt sind, müssen dabei respektiert werden – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Auf den Antrag der Betroffenen soll nur noch der selbst gewählte Vorname für Vorladungen, Akten und alle anderen Verfahren oder Zustellungen verwendet werden.

Das Gesetz garantiert die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“

Unter der Überschrift „Freie Entfaltung der Persönlichkeit” wurde zudem festgelegt, dass keine gerichtliche oder behördliche Genehmigung für chirurgische Eingriffe und/oder umfassende Hormonbehandlungen zur Anpassung des Körpers an die selbst empfundene Geschlechtsidentität erforderlich ist.

Schließlich legt das Ley de Identidad de Género fest, dass keine Regel, Verordnung oder Verfahren die Ausübung und Inanspruchnahme des Rechts auf Geschlechtsidentität einschränken, ausschließen oder unterdrücken darf. Die Vorschriften müssen stets zugunsten der Zugänglichkeit zu diesem Recht ausgelegt und angewandt werden. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie der Ausschuss für Kinderrechte und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte haben in den Folgejahren bestätigt, was in dem bahnbrechenden argentinischen Gesetz festgehalten worden ist: das Recht auf Geschlechtsidentität ist ein Menschenrecht. Es steht jedem Menschen altersunabhängig zu und weist alle Merkmale der Menschenrechte auf: Es ist universell, unverzichtbar, dauerhaft, voneinander abhängig, progressiv und nicht widerrufbar, es schützt die conditio humana, die schwächsten Bevölkerungsgruppen, sorgt für Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit. Aus diesen Merkmalen ergibt sich, dass jeder Versuch, das Recht außer Kraft zu setzen, mit dessen Verfassungsrang kollidieren würde. So haben rechtsfeindliche Äußerungen wie der Vorschlag des Abgeordneten aus Salta, Andrés Suriani, „die Gender-Ideologie abzuschaffen”, in unserem Rechtssystem keinen Platz.

Heute, zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes hat sich also das heteronorme System, in dem andere über die Geschlechtsidentität von Menschen urteilen, gewandelt. Stattdessen gilt nun ein autonomes System: Für die Anerkennung durch den Staat ist nunmehr der Ausdruck der eigenen Erfahrung ausschlaggebend. Das garantiert trans Personen Zugang zu einer rechtlichen Anerkennung ihrer Identität. Und auch bei der gesellschaftlichen Anerkennung tut sich immer mehr. Zudem können trans Personen eine Behandlung zur Anpassung an die sekundären Geschlechtsmerkmale ihres selbst empfundenen Geschlechts in Anspruch nehmen – ohne umständliche Verfahren und gerichtliche Genehmigungen. Bei der Beantragung dieser Behandlungen kommt es jedoch in vielen Fällen zu Verzögerungen, Ablehnungen, und Missachtungen von Seiten der Sozial- und Krankenversicherungen, die die Betroffenen dazu zwingen, ihre Ansprüche vor Gericht geltend zu machen oder aufzugeben. Das gestaltet sich jedoch für viele trans Personen schwierig: Laut den 2018 aktualisierten sogenannten Brasilia-Regeln sind sie eine schutzbedürftige Gruppe, die Schwierigkeiten beim Zugang zur Justiz hat. Dennoch haben Gerichtsurteile das Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung für trans Personen gestärkt. Auch wenn es für die Gesundheitsdienstleister teurer sei, müsse der Zugang gewährleistet werden und dürfe weder verweigert noch verschleppt werden. Gleichzeitig steht eine multidisziplinäre Spezialisierung auf die Gesundheit von Travesti und trans Personen noch aus.

In Hinblick auf die Beschäftigungssituation von trans Personen wurden auf kommunaler, Provinz- und nationaler Ebene Verordnungen und Gesetze über Quotenregelungen geschaffen. Diese wurden jeweils schrittweise umgesetzt, da darin nicht die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern die Besetzung bestehender Stellen vorgesehen war.

Leider hat keine der Regierungen der Stadt Buenos Aires, die seit 2012 bis heute im Amt waren, die gesetzlich festgelegte Beschäftigungsquote für trans Personen umgesetzt. In ihren Erklärungen hieß es immer, „einige” trans Personen hätten Arbeitsplätze erhalten. Es gab jedoch keine transparente Regelung, um sicherzustellen, dass es sich nicht um politische Klientelarbeit handelt oder dass die gesetzliche Quote erfüllt wurde. (Mit dem Cupo Laboral Travesti Trans wurde 2020 zusätzlich festgelegt, dass ein Prozent der Arbeitsplätze in der öffentlichen Verwaltung mit trans Personen und Travesti besetzt wird. Anm. d. Red.)

Im Bereich der geschlechtsspezifischen Gewalt wurden verschiedene Hilfsprogramme für trans Personen eingerichtet. Doch ebenso wenig wie Feminiziden in Argentinien ein Ende bereitet wurde, ist der Kampf gegen Transfemizide abgeschlossen. Das Frauenbüro des Obersten Gerichtshofs hat die Kategorie Transfeminizid zwar in die Statistik über geschlechtsspezifische Gewalt aufgenommen. Doch immer wieder bleiben Fälle unaufgeklärt oder trans Personen verschwunden. So wie der trans Jugendliche Tehuel, der seit März 2021 vermisst wird. Obwohl der Staat Anklage erhoben und die Angeklagten vor Gericht gestellt hat, fragen Angehörige und soziale Bewegungen immer noch: „Wo ist Tehuel?”

Außerdem stehen weiterhin Entschädigungen für trans Personen aus, die Verfolgung, Diskriminierung und Schikane durch staatliche Behörden erlitten haben. In vielen Fällen wurden Menschen für die eigene Geschlechtsidentität kriminalisiert. So sahen Polizeiverordnungen Sanktionen für das „Tragen von Kleidung eines anderen Geschlechts“ vor. Polizeibeamte nutzten diese, um trans Personen zu erpressen, auszubeuten oder zu missbrauchen.

Auch im Bereich der politischen Partizipation bleibt viel zu tun. Nur eine trans Frau sitzt bisher in einem offiziell gewählten Amt: Tía Gaucha wurde im Jahr 2022 für die Partei Frente de Todos zur Stadträtin in Escobar in der Provinz Buenos Aires gewählt. Damit wir für uns selbst sprechen können, steht bei allen politischen Kräften also eine stärkere Beteiligung von trans Personen, in Form von Kandidaturen mit realen Wahlchancen aus.

Für das nächste Jahrzehnt bleibt viel zu tun. Seit 2012 wurden für trans Personen zwar bedeutende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte errungen, anerkannt und wirksam. Die größte Herausforderung scheint jedoch im Bereich der alten und neuen gesellschaftlichen Stereotype zu liegen. Der Vormarsch der extremen Rechten in der Welt, in der Region und im Land, der sich in Rassismus und Transfeindlichkeit ausdrückt, erfordert eine klare, präzise, wirksame und energische Kommunikationspolitik – sowohl seitens des Staates als auch von sozialen Bewegungen und Organisationen. Nur so können wir hasserfüllte Slogans wie „Sie wechseln doch nur das Geschlecht, um früher in Rente zu gehen” oder „Solange ein Kind nicht isst, können wir der Hormonbehandlung von trans Personen keine Priorität einräumen” entkräften. Denn diese kursieren neben zahlreichen anderen beleidigenden Ausdrücken in den Medien und Netzwerken.

Wie gefährlich es ist, wenn sich ausgrenzende und ausschließende Kategorien und Schlagworte über Jahrzehnte gesellschaftlich verbreiten, auch in bestimmten konfessionellen und pseudointellektuellen Kreisen, erkennen wir in der Geschichte des Nationalsozialismus. Die Herausforderung für heute und für das kommende Jahrzehnt besteht darin, die zerbrechlichen, aber effekthaschenden Theorien der „Gender-Ideologie” und die Förderung ihrer rechtsfeindlichen Ziele zu stören. Sie sind Element einer ausschließenden Politik. Nur so können die menschliche Dimension und das Wesen der Geschlechtsidentität als Menschenrecht gesellschaftlich verstanden werden. Und nur so kann verstanden werden, dass dies nicht nur einer Gruppe, sondern der gesamten Gesellschaft zugutekommt.

GEWERKSCHAFT DER HUREN

„Wir existieren, arbeiten, leisten Widerstand!“ Illustration aus einer Broschüre von AMMAR

Missbrauch, Ausbeutung, Diskriminierung: Es gibt wohl kaum eine Form der Misshandlung, die Sexarbeiter*innen in Argentinien nicht erlitten haben. So blieben sie eine marginalisierte Gruppe, die oft lediglich mit Menschenhandel und Zuhälterei in Verbindung gebracht und unter dem Einfluss konservativer Kräfte nie wirklich anerkannt wurde. Dies änderte sich erst, als Ende 1994 mit der Gründung der Argentinischen Vereinigung der Prostituierten (AMMAR) eine Gewerkschaft der Sexarbeiter*innen entstand. Als Antwort auf die polizeiliche Repression gegen Straßen-Sexarbeit begannen Frauen und Travestis (Travesti ist ein Eigenbegriff, der eine lateinamerikanische politische Identität von transfem, transgender Personen beschreibt) sich als Arbeiter*innen zu organisieren, um gemeinsam für eine Entkriminalisierung und Regulierung ihrer Arbeit zu kämpfen.

Im Laufe der Jahre und unter den verschiedenen Regierungen gelangt es AMMAR, in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen noch sichtbarer zu werden. So kooperiert die Gewerkschaft mit dem Red de Trabajadores Sexuales de Latinoamérica y el Caribe (Vernetzung von Sexarbeiter*innen Lateinamerikas und der Karibik) und wurde Teil des Gewerkschaftsbundes Central de los trabajadores argentinos (CTA).

Hure, Peronistin, Feministin

Dabei hat sich der von den Sexarbeiter*innen geführte Kampf um die Veränderung ihrer Realität bis heute grundlegend gewandelt. Das liegt vor allem am Engagement von Georgina Orellano, die sich selbst als „Hure, Feministin und Peronistin“ bezeichnet. Orellano ist nationale Generalsekretärin der AMMAR und weiß als Sexarbeiterin nur zu gut, mit wem sie sich anlegt: der Polizei, der Kirche, der argentinischen Rechten und einem Business, welches mit großen Summen von Geld handelt.

Oralleno und ihre Mitstreiter*innen werden nicht müde, den Unterschied zwischen Sexarbeit und Menschenhandel zu betonen. Schließlich können sich volljährige Personen durchaus freiwillig und selbstbestimmt dazu entscheiden, als Sexarbeiter*in tätig zu werden. Um dieses Thema dreht sich auch Orellanos neues Buch Puta feminista. Historias de una trabajadora sexual, in dem sie auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung vom Berufsalltag erzählt.

Im Zuge der Corona-Krise hat AMMAR erstmalig begonnen, mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Die Kooperation mit dem Ministerium für soziale Entwicklung und dem Ministerium für Frauen, Geschlechter und Diversität stellt für die Gewerkschaft eine Zäsur dar. Zunächst wurde dabei an Lösungen für die durch die Anti-Corona-Maßnahmen noch verschlimmerte Prekarisierung der Sexarbeitenden gearbeitet.

Für die Entkriminalisierung und Regulierung von Sexarbeit

Der Corona-Lockdown hat die Sexarbeiter*innen besonders hart getroffen und ihre Arbeitsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Gesundheitsmaßnahmen, unter denen sie ihre Tätigkeit hätten weiterführen können, wurden nicht definiert, gleichzeitig verschlimmerte sich die Wohnungskrise. Denn durch die Illegalisierung ihrer Arbeit sind Sexarbeiter*innen vom regulären Wohnungsmarkt ausgeschlossen. Die Hotels und Pensionen jedoch, die den meisten von ihnen Unterschlupf boten, zogen in der Krise ihre Preise stark an. Sexarbeiter*innen ohne gültige Papiere waren davon besonders betroffen. Diese Situation machte diese Gruppe noch verletzlicher und trieb viele in die Obdachlosigkeit.

Um dieser prekären Situation zu entkommen, begann die Zusammenarbeit mit der Regierung von Alberto Fernández. Ziel war unter anderem, dass die Unterkunftskosten für Hotels und Pensionen anteilig vom Staat übernommen werden sollten. Gleichzeitig wurde die Casita Roja (rotes Häuschen) im für Sexarbeit bekannten Barrio Constitución in Buenos Aires eröffnet. Dieses bietet umfassende Beratungs- und Betreuungsangebote für Sexarbeiter*innen.

Tausende Anträge auf soziale Unterstützung wurden dort bereits bearbeitet. Zudem werden die Angebote ausgeweitet: So ermöglicht eine Ciudadanía porteña genannte Karte Vergünstigungen beim Kauf von Nahrungsmitteln, es gibt medizinische Sprechstunden und Impfungen gegen das Coronavirus. Zusätzlich werden Identitätsdokumente für illegalisierte Migrant*innen aus Lateinamerika und Afrika ausgestellt, unabhängig davon, ob diese in der Sexarbeit tätig sind oder nicht. Vor allem letzteres führte zu einer sehr hohen Nachfrage von Migrant*innen, die bisher anonym auf den Straßen lebten und die nun vom nationalen Personenregister Registro Nacional de las Personas (RENAPER) erfasst werden.

Die Aktivitäten der Gewerkschaft bleiben nicht auf die Hauptstadt beschränkt: In der Provinz Córdoba hat AMMAR eine Primärschule eröffnet. Diese steht der ganzen Bevölkerung offen und kann die offiziellen Abschlüsse des Bildungsministeriums verleihen. Da es vielen Sexarbeiter*innen auf Grund ihres sozioökonomischen Hintergrunds nicht möglich war, eine umfassende Schulbildung zu erhalten, soll es ihnen diese auch von Sexarbeiter*innen geführte Schule ermöglichen, wenigstens in Teilpräsenz am Unterricht teilzunehmen.

Bisher sind Sexarbeiter*innen vom regulären Wohnungsmarkt ausgeschlossen

Doch damit ist es noch lange nicht getan, AMMAR hat noch größere, grundsätzlichere Ziele: Die Anerkennung der Organisation durch das Arbeitsministerium etwa, was den Ausbruch aus der Illegalität bedeuten und die ständigen Konflikte mit der Polizei beenden würde. Zusätzlich wäre damit der Zugang zu Krankenversicherung und Rente garantiert. Außerdem wird die Abschaffung der Artikel der sogenannten Códigos Contravencionales gefordert, welche den zwischen Staat und Gewerkschaft geschlossenen Vereinbarungen zuwiderlaufen und die Sexarbeit weiterhin kriminalisieren.

Die Einzigartigkeit der von AMMAR geleisteten Arbeit, in schwierigen Zeiten Unterstützung nicht nur für Sexarbeiter*innen zu leisten, geht konform mit den von der Organisation vertretenen peronistischen Werten und ist auch eine Strategie, die Gewerkschaft sichtbar zu machen und erfolgreiche Vereinbarungen mit dem Staat zu treffen.

Diese Revolution der Huren hat die Vorstellung der argentinischen Gesellschaft von Sexarbeit in den letzten Monaten grundlegend beeinflusst. Es ist ihr gelungen, einen großen Teil der Berufstätigkeit, der über Jahrzehnte unterdrückt wurde, zu entstigmatisieren, konservative Kräfte herauszufordern, eine solidarische Perspektive aufzuzeigen, aber vor allem, ein Paradigma zu reformulieren: Sexarbeit ist Arbeit und auch eine freie Entscheidung.

UNVERHEILTE WUNDEN

Heldenkult Veteranen in Ushuaia zum 40. Jahrestag des Krieges um die Malvinas (Foto: Jana Bauch)

Die Medaillen hängen schwer an der linken Brusttasche der Veteranen, mit jedem Jahrestag ein bisschen schwerer. Die Medaille zum 40. Jahrestag ist die größte von allen. Ihre schweren Lederjacken können die Männer beiseitelegen, ihre Erinnerungen nicht. „Wenn wir uns zum Asado (Grillen) treffen”, erzählt Eduardo Armua mit ruhiger Stimme, „dann reden wir, machen Scherze. Aber über das Thema sprechen wir nicht.” Mit dem Thema meint er: den Krieg, die Splitter zwischen Wasser und Öl, das eiskalte Meer, die toten Kameraden. Kriegstraumata, über die Veteranen jahrzehntelang geschwiegen haben. „Nicht mal meiner Frau und meinen Kindern habe ich davon erzählt“, sagt Armua. Erst, weil es verboten war, über das Thema zu sprechen. Dann, weil niemand mehr nachfragte.

Eduardo Armua, Sohn einer Familie aus dem ländlichen Tucumán im Norden Argentiniens, war mit 16 zur Marine gegangen. Er war gerade 19 Jahre alt, als seine Kameraden am 2. April 1982 auf den Malvinas landen. Die Malvinas oder auch Falklands, wie sie im Vereinten Königreich heißen, sind seit 1833, und damit 23 Jahre nach der Unabhängigkeit Argentiniens, von Großbritannien besetzt. Sie liegen gut 12.000 Kilometer vom britischen Mutterland und rund 500 Kilometer von der argentinischen Küste entfernt. Nach ergebnislosen Verhandlungen unter dem Dach der UNO seit 1965 will die argentinische Militärdiktatur ihren Souveränitätsanspruch auf die Gebiete 1982 militärisch durchsetzen.

Eduardo Armua hatte seinen Freund nicht erkannt, so verbrannt war er

Zu dem Zeitpunkt stecken sowohl Großbritannien als auch Argentinien in einer schweren Krise: In Großbritannien steht Margaret Thatcher kurz vor den Unterhauswahlen und hat mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. In Argentinien ist die Militärjunta unter General Leopoldo Galtieri wegen ihrer brutalen Repression und der wirtschaftlichen Talfahrt in innenpolitischer Bedrängnis. Als die argentinischen Soldaten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion am 2. April die Hauptstadt der Inseln, Port Stanley, einnehmen, ist die Siegeseuphorie in Argentinien groß. Als Großbritannien den Gegenschlag ankündigt, kann sich das argentinische Militär vor Freiwilligen kaum retten.

Am 2. Mai 1982, einen Monat nach Kriegsbeginn, steht der nun 20-jährige Marineunteroffizier Armua auf der Kommandobrücke des Kriegsschiffs General Belgrano und hört einen Knall. „Ich dachte, der Schlag käme vom Wellenbruch und habe nur darauf gewartet, dass Wasser über unser Schiff spritzt.” Doch es kommt kein Wasser. „Dann rief der Kommandant: Ein Torpedo ist eingeschlagen.” Eduardo Armua kann nicht schwimmen. Das machte sonst nichts, sagt er, er habe ja an Deck gedient: „Auf dem Schiff waren wir Gott, unten nichts.”

Der Krieg zwischen Großbritannien und Argentinien gleicht einem Duell zwischen David und Goliath. Auf der einen Seite die ehemalige Imperial- und Seemacht Großbritannien, auf der anderen Seite Argentinien mit einem Heer aus 20-jährigen Männern, viele von ihnen ohne Kampferfahrung. Mit einer riesigen Kampagne werden in Argentinien Spenden gesammelt für die jungen „Helden”, wie die Zeitungen fast täglich skandieren. In Buenos Aires stehen die Menschen Schlange, um ihren Schmuck abzugeben. Andere sammeln Geld auf der Straße oder packen Päckchen für die Front. Eine Bekannte aus Mendoza erinnert sich, wie sie in der Schule saß und aus Lederplatten Schuhsohlen schnitt. Frauen trafen sich und strickten Schals, Kinder schrieben Briefe an unbekannte Empfänger und steckten sie in Schokoladentafeln. Kurz: Das ganze Land schwimmt 1982 auf einer Welle des Patriotismus und wenn es nach den Zeitungen geht, ist der Sieg nur eine Frage der Zeit.

Am 2. Mai 1982 erlebt Argentinien seinen größten Verlust. 323 Soldaten sterben, als das Kriegsschiff General Belgrano außerhalb der Sperrzone von zwei britischen Tornados getroffen wird und sinkt. Eduardo Armua kann sich von der Kommandobrücke auf ein Boot retten. Er sieht einen Mann mit Verbrennungen am ganzen Körper. „Spring!”, ruft Armua. „Ich kann mich nicht bewegen, Negro”, antwortet der Mann. Negro ist Armuas Spitzname. Negro, sagt Armua, nennt ihn nicht jeder. Er stockt und starrt auf den Tisch. Eduardo Armua hatte seinen Freund nicht erkannt, so verbrannt war er. Es sammeln sich Tränen in seinen Augen, als er das erzählt, aber er möchte seine Erinnerungen aussprechen. Auch die an seinen Freund Fabián, der gerade schlief, als der Torpedo im Schlafraum einschlug. Der ihm wenige Tage vorher noch von einem Traum erzählt hatte: „Ein Schlag weckt mich. Ich wache auf und sehe einen Funken auf dem Boden. Irgendetwas schneidet das Metall auf. Ich will raus, aber finde die Leiter nicht. Es kommt Wasser rein und Öl. Ich finde die Leiter nicht und sterbe.”

Am 14. Juni verliert Argentinien den Krieg. Ein paar Monate später überreicht die Marine Eduardo Armua einen Anstecker, zwei mal einen Zentimeter groß. Darauf ein Stern, die argentinische Flagge und zwei Linien in rot und schwarz. Das Rot stehe für das vergossene Blut, Schwarz für die Trauer. Armua steckt ihn sich an sein Hemd. Ein Zeichen, dass er an vorderster Front für den argentinischen Patriotismus gekämpft hat. Doch als er damit vor den oberen Militärs in Ushuaia steht, sagt er, hält kurz inne und wischt sich mit dem Taschentuch über die Augen, steht nur Verachtung in den Augen der Ranghöheren: „So, als wären wir schuld daran, verloren zu haben.” Armua trägt den Anstecker nie wieder.

Der verlorene Krieg um die Malvinas beschleunigte den Übergang zur Demokratie. Die Militärregierung muss bald abtreten. Aus den freien Wahlen 1983 geht Raúl Alfonsín als Sieger hervor. Es beginnt ein Prozess der sogenannten Demalwinisierung: Die Medien schweigen über den vergangenen Krieg, das Militär befiehlt den Soldaten, nicht über ihn zu sprechen. Plötzlich sind die vormaligen Helden die „Verrückten aus dem Krieg”, sagt Armua, man ignoriert sie. Viele ehemalige Soldaten haben Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Wer die Malwinenfrage thematisiert – und sei es abseits der Diktatur als Teil eines antikolonialen Kampfes – wird der Kollaboration mit dem Staatsterrorismus bezichtigt. Die Medaillen, die Pensionen, sie kommen erst zehn Jahre später.

Wer sich in Ushuaia zum 40. Jahrestag auf die Suche nach den Männern macht, die heute wieder als Helden gefeiert werden, findet sie zum Beispiel im Zentrum der Ex-Kämpfer, wo sie um einen Tisch mit Schinken-Käse-Sandwichs zusammensitzen und Orangenlimonade und Cola trinken. Ihre Jacken, schwer wie Einkaufstüten, hängen über Stuhllehnen und an Garderobenständern. Direkt bei der ersten Unterhaltung sprechen sie von „posttraumatischen Belastungsstörungen” und „psychischen Problemen”. Ein Mann sagt: „Wir haben nie eine Psychotherapie gemacht.” Ein anderer erzählt, sie hätten hier alle Diabetes, als Folge der Belastung.

In Ushuaia wird der 2. April 2022 unter dem Motto „40 Jahre Heldentat” (40 años gesta heróica) gefeiert. Die Anzeige auf den öffentlichen Bussen springt immer wieder zu „40 Jahre Malvinas” um. Das Stadtlogo, die menschengroßen leuchtenden Buchstaben von Ushuaia, wurden um einen leuchtenden Umriss der Inseln ergänzt. In keiner anderen Region Argentiniens ist die Malwinenfrage präsenter als auf Feuerland.

„Ich würde niemals wollen, dass er in einen Krieg geht”

Die Stadt Ushuaia organisiert einen Streetartwettbewerb zum Thema Malvinas. Zehn Künstler*innen aus dem ganzen Land und eine Künstlerin aus Uruguay haben sich mit ihren Entwürfen durchgesetzt. Nun setzen sie Wandbilder um, die meisten von ihnen in einem Stadtviertel am Beagle-Kanal, das nach den Inseln benannt ist. Ítala Gordillo, 42, aus Caleta Olivia in der patagonischen Provinz Santa Cruz, sagt, sie habe sich bewusst gegen eine ikonenhafte Heldendarstellung entschieden. „Ich wollte noch mehr die menschliche Seite zeigen, die Gefühle”, sagt sie. Zunächst habe sie nicht damit gerechnet, dass ihr Vorschlag angenommen wird. Er zeigt einen Soldaten, mit einem Hund auf Augenhöhe. „Ich habe mir vorgestellt, dass die Soldaten in diesen Situationen von Einsamkeit, Trauer und der Ungewissheit, ob man den Tag überhaupt überleben wird, einen Zufluchtsort suchten und ihn vielleicht in den Tieren finden konnten.”

Andere Wandbilder zeigen neben klassischen Heldendarstellungen der Soldaten auch Frauen, die Schals stricken oder fünf junge Pflegerinnen. Die Rolle der Frauen in dem Krieg wird erst seit einigen Jahren sichtbarer. Noe Cor, 35, aus Montevideo/Uruguay betont, sie wolle Frauen nicht als Heldinnen zeigen „so als wäre es eine Leistung, dass sie gemeinsam mit den Männern im Krieg waren.” Eine Leistung wäre es, sagt sie, Kriege zu verhindern. Doch sie will mit dem Bild der Pflegerinnen zeigen, dass auch sie einen entscheidenden Beitrag geleistet haben und als Teil der Geschichte im Gedächtnis bleiben müssen.

Die Veteranen des Kriegs 1982 sind nun in ihren 60ern und je öfter einer von ihnen stirbt, desto dringender stellt sich ihnen die Frage: Was bleibt? „Was uns bleibt, sind die Kinder. Sie können den Prozess weiterführen”, sagt Veteran Eduardo Armua. An den Schulen müsse weiter zu dem Warum des Kriegs aufgeklärt werden. Ein anderer sagt: „Das Wichtigste ist es, den Kindern zu zeigen, dass die Inseln friedlich zurückgewonnen werden können.”

In den Zentren der Veteranen treffen sich inzwischen auch deren Kinder, um über ihr Erbe in der ganzen Sache zu sprechen. Viele von ihnen sind längst über 30. Oft kennen sie die Traumata ihrer Väter nicht, da sie ihnen nie erzählt wurden. Zum 40. Jahrestag haben die Kinder der Veteranen in Ushuaia eine Kapsel gebaut, in der sie Briefe gesammelt haben. Die Kapsel wird in einem Denkmal eingeschlossen und soll erst im Jahr 2082 geöffnet werden – oder an dem Tag, an dem die Malvinas offiziell argentinisch sind. Zu dem offiziellen Akt spielt eine junge Band, sie hat den Veteranen ein Lied geschrieben: Ich überreiche mich, ein Geschenk an das Vaterland, so wie an jenem Tag, dem 2. April. Die Veteranen stehen aufgereiht vor ihnen, ihre Mimik bleibt stumm.

Später erzählt ein Veteran, sein Sohn war vor zwei Jahren in dem Alter, in dem er selbst den Krieg musste. 19 Jahre. „Ich würde niemals wollen, dass er in einen Krieg geht”, sagt er, „deswegen braucht unser Land unbedingt eine friedliche Lösung.” Der Sohn betont später, als sein Vater nicht dabei ist, wie stolz er auf diesen sei. Würde er jemals in einen Krieg ziehen, wenn es dazu käme? Er überlegt und sagt dann: „Ja, für meinen Vater”.

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

impera el trino de su parte río, por un tercio de sus aguas fronterizas busca aliada de palabra a umbral, es que habrá lianza sin lugarteniente al: ¡algo habrás hecho! iguanas somos del azuzo en el claro azul sucumbí ante el contemple tamborileo de la orilla triple oración de divisendas, aguardaban avalanchas guaraná para navíos imprecisos, misiones enmascara púlpitos, trinidades a la pesca del amor entre partitos.

vorherrscht dreieinig der triller seinerseits fluss, sucht um ein drittel seiner grenzgewässer nn gebührende verbündete von wort zu schwelle, denn es wird bünde geben ohne statthalter beim: irgendwas wirst du schon angestellt haben! leguane sind wir der aufstachelung im strahlenden blau erlag ich dem aussichtigen getrommel des ufers dieser dreifachen anrufung von teilungspfaden, warteten guaraná-anstürme auf vage barken, missionen getarnte kanzeln, dreiheiten fischen nach liebe zwischen gebürtchen.