Angst vor Milei, Wut über Massa

Alberner geht’s (n)immer Mit Mickey Mouse und US-Dollars für Millei (Foto: Gerhard Dilger)

Der Geruch von frischgebackenen Empanadas und Facturas (argentinische Süßwaren) hängt in der Luft. Während sie auf ihren Kaffee warten, diskutieren zwei Bauarbeiter in einer Bäckerei über die Wahlen vom 22. Oktober. Als die Verkäuferin Leandra gefragt wird, was sie von dem Wahlergebnis hält, antwortet sie mit einem knappen „Eh egal, alles scheiße“. Ein Satz wie eine Überschrift für die Stimmung im Land.

Der Wahlsonntag hielt einige Überraschungen parat. Nachdem der ultrarechte Javier Milei von der Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) in den Vorwahlen im August an der Spitze lag, konnte nun der damals Drittplatzierte Sergio Massa von der peronistischen Regierungsallianz Unión por la Patria (Einheit für das Vaterland) deutlich zulegen. Mit 36,61 Prozent der Stimmen konnte er den selbsternannten Anarchokapitalisten in die Schranken verweisen, der lediglich sein Wahlergebnis von knapp 30 Prozent aus den Vorwahlen halten konnte. Für die Stichwahl am 19. November wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen erwartet.

Die große Verliererin der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen war die Kandidatin des Mitte-rechts-Bündnisses Patricia Bullrich, die lediglich 23,84 Prozent einheimste. Der aktuelle Gouverneur von Córdoba Juan Schiaretti kam auf knapp sieben Prozent der Stimmen, während die sozialistische Kandidatin Miryam Bregman nur 2,7 Prozent der Stimmen holte.

Die große Frage ist nun, wohin die Stimmen der Kandidat*innen wandern werden, welche nicht in die Stichwahl eingezogen sind. Die sich bereits im Rentenalter befindende Bäckereiverkäuferin Leandra wählte zuletzt sozialistisch. Sie ist sich bei ihrer Entscheidung für die Stichwahl noch sehr unsicher. Sie tendiert allerdings zu Milei, weil sie auf keinen Fall den Peronismus unterstützen möchte. Und das, obwohl Milei als Ultrarechter mit der linksprogressiven Bregman nicht im Ansatz politisch übereinstimmt. Das hat sich in den Fernsehdebatten gezeigt, als sich die beiden hitzig angingen. Dort teilte Bregman dem sich gerne als Löwen inszenierenden Milei mit, dass er nicht mehr als ein „kuschliges Kätzchen der Wirtschaftsmächte“ sei. Ein Großteil der Stimmen sowohl von Bregman als auch von Schiaretti werden Umfragen zu Folge zu Massa wandern, der sich als Zentrumspolitiker inszeniert. Schiaretti distanziert sich zwar von Massa, gehört aber ebenfalls einer peronistischen Strömung an, weshalb seine Wähler*innen eher zu Massa denn zu Milei tendieren dürften.

Vermutlich ausschlaggebend und besonders spannend wird, für welchen Kandidaten sich die Wähler*innen entscheiden, die Patricia Bullrich ihre Stimme gaben. Eine von diesen Wähler*innen ist die 21-jährige Candela. Sie studiert Internationale Beziehungen an der gleichen Privatuniversität, an der auch Milei und Massa ihren Abschluss gemacht haben. Sie wird zwar ihrer Wahlpflicht nachkommen, allerdings ein voto nulo (einen ungültigen Stimmzettel) abgeben, also ungültig abstimmen, um keinen der beiden zu unterstützen. Darauf sei sie nicht stolz, aber sie könne weder Milei noch Massa mit ihren Werten vereinbaren. Wie Candela wird es vielen Wähler*innen schwerfallen, sich für Milei oder Massa zu entscheiden.

Nicht nur Bullrichs Wähler*innen sind gespalten, sondern auch das Bündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) selbst. So sprachen sich der ehemalige Präsident Maurico Macri (2015-2019) und Patricia Bullrich klar für Milei und gegen Massa aus. Dieser repräsentiere laut ihnen den Kirchnerismus, womit auf die Präsidentschaften von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Kirchner de Fernández (2007-2015) abgezielt wird, aber auch auf die amtierende Regierung von Präsident Alberto Fernández. Sowohl Macri als auch Bullrich vertreten die Position, ihr Bündnis sei für den Wandel gegründet worden und wenn nun Milei diesen Wandel repräsentiere, sei das immer noch besser als weitere vier Jahre Kirchnerismus. Wobei der Zentrist Sergio Massa innerhalb der peronistischen Unión por la Patria weit weg vom linken kirchneristischen Flügel einzuordnen ist.

„Milei ist wie ein Sprung aus dem Fenster“

Ein Prominenter von Juntos por el Cambio (JxC) folgt Bullrich und Macri nicht: Der bald aus dem Amt scheidende Bürgermeister von Buenos Aires Horacio Larreta, der in den parteiinternen Vorwahlen Bullrich unterlegen war, wird wie Candela weder Massa noch Milei seine Stimme geben. Das werden sicher nicht die beiden einzigen aus dem Mitte-rechts-Lager sein, die Milei für unwählbar halten.

Bullrich winkt für ihre Empfehlung an ihre Wähler*innen bei einem Sieg von Milei nun sogar das Amt der Sicherheitsministerin in dessen Kabinett. Dies wirkte vor kurzem noch wie ein Ding der Unmöglichkeit, denn in der Fernsehdebatte beschimpfte Milei Bullrich noch als „Montonera“ (die Montoneros waren in den 70er Jahren eine linksperonistische Stadtguerrilla), welche „Bomben in Kindergärten“ gelegt hätte. Eigenen Angaben zu Folge gehörte Bullrich allerdings nur der peronistischen Jugendorganisation, nicht aber der Guerillaorganisation an.

Für die Wähler*innen von Bullrich stellt sich die Frage, ob die anti-kirchneristische Haltung oder die Angst vor Milei bei der Wahlentscheidung überwiegt oder als Ausweg zur Abgabe eines leeren Stimmzettels (voto blanco) oder eines ungültigen Stimmzettels (voto nulo) gegriffen wird.

Der gesamte Wahlkampf ist durch das Wechselspiel von Angst und Wut geprägt. Alejandro, der sich selbst als Teil der Oberschicht sieht, hat mehr Angst vor Milei als Wut der aktuellen Regierung gegenüber. „Bei Massa weiß man in etwa, was man bekommt, Milei ist wie ein Sprung aus dem Fenster. Das mag manchmal glimpflich ausgehen, realistisch gesehen wird es das aber nicht.“ Der 64-Jährige ist im Moment an sein Bett gebunden, weil derzeit keine Prothesen importiert werden, wie er sie für sein fehlendes Bein bräuchte. Dennoch macht er für sein persönliches Leid und noch viel weniger für das laut ihm deutlich größere Leid anderer Argentinier*innen nicht die Regierung verantwortlich. Ihm zufolge „ist es für Argentinien immer bergab gegangen, wenn die Rechte an der Macht war“. In seinem Freundeskreis sei er mit dieser Meinung allein, aber momentan habe er sowieso genug Zeit, um dies mit ihnen auszudiskutieren.

Die Regierung schürt die Angst vor den sozialen Konsequenzen der möglichen Wirtschaftspolitik von Milei auch mit konkreten Maßnahmen. So sieht jeder Argentinierin, der*die ein öffentliches Verkehrsmittel nutzt, im Moment den Preis einer Fahrt ohne und mit den aktuellen Subventionen (bei einer einfachen Fahrt 700 statt 59 Pesos, derzeit in etwa 70 und 5,9 Eurocent).

Expert*innen zu Folge lag Massas Wahlerfolg in der ersten Runde vor allem an zwei Punkten. Zum einen präsentierte er sich deutlich staatsmännischer als seine Konkurrenz. Soziologe und Anthropologe Pablo Semán sagte gegenüber CNN: „Was ein Mangel ist, ist auch eine Tugend: Er ist der Chef des Landes und verhält sich auch so.“ Durch Mileis Auftritte mit Motorsäge in der Hand, welche seine Metapher für den radikalen Staatsabbau ist, wurde dieses Image noch verstärkt. Zum anderen trug der „Plan Platita“ Früchte. Dieser bestand aus zahlreichen expansiven Sozialmaßnahmen, um die Konsequenzen der Wirtschaftskrise für die Bevölkerung abzufedern. Der Wirtschaftswissenschaftler Pablo Mira erklärt gegenüber CNN, dass die Wirtschaft zwar nicht boomt, aber auch nicht in eine Abwärtsspirale geraten sei, was unter anderem auf den „Plan Platita“ zurückzuführen sei.

Von der Opposition wurden die sozialpolitischen Maßnahmen als Klientelismus kritisiert. So sieht es auch der 21-jährige Alejo. Er stammt aus einer Arbeiterfamilie aus der Provinz Entre Ríos. Es sei bei einer Inflation von knapp 140 Prozent eindeutig, dass das aktuelle politische System nicht funktioniere. Dem ersten Akademiker in seiner Familie seien soziale Themen zwar wichtig, allerdings müsse zuerst Reichtum geschaffen werden, bevor umverteilt werden könne. Wegen dieser Überzeugungen hat er sich dazu entschlossen, aktiv Wahlkampf für Milei zu betreiben. Dabei habe er die Erfahrung gemacht, dass nur wenige seine libertären Ansichten teilen, aber die Unzufriedenheit bei vielen so groß sei, dass sie sich dennoch für Milei als Alternative entscheiden. Dass Milei den Klimawandel leugnet und das in Argentinien hart erkämpfte Recht auf Abtreibung wieder in Frage stellt, gefällt ihm zwar nicht, aber dies seien zweitrangige Themen. Auch war er wie zunächst viele andere des harten Kerns von Milei kein Freund der angekündigten Allianz mit Macri und Bullrich. Denn wie Massa seien diese auch Teil der politischen Kaste, welche eigentlich bekämpft werden sollte. Zuletzt zeigte sich Milei allerdings moderat wie noch nie und glich einige seiner Forderungen an die von JxC an. So spricht er sich nun für das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem aus. Zuvor forderte er die Privatisierung und zweifelte sogar das Grundrecht auf Bildung an.

Candela wundert sich vor allem, warum die Lage im Land noch so entspannt ist und es bisher kaum zu Unruhen kam. Das größte Medienecho auf Grund einer Versammlung gab es zuletzt als am Obelisken in Buenos Aires der Rekord der meisten als Spiderman verkleideten Menschen geknackt wurde. Die ausbleibende Mobilisierung der Massen führt Alejandro darauf zurück, dass die Argentinier*innen einfach müde seien. Dabei bezieht er sich auf die weitverbreitete Politikverdrossenheit im Lande.

Ein weiteres wichtiges Thema im Wahlkampf ist die aktuelle Krise in der Benzinversorgung. Lange Wartezeiten, falls es überhaupt Benzin gibt und Bilder von Argentinier*innen die ihr Auto in der Schlange schieben, weil Ihnen der Sprit ausgegangen ist, spielen Milei in die Karten. Dieser versucht schon länger das Narrativ zu etablieren, dass sich Argentinien auf dem Weg zu einem zweiten Venezuela befindet. Die Situation hat sich in großen Teilen des Landes allerdings bereits wieder normalisiert.

Laut dem Meinungsforschungsinstitut AtlasIntel sehen knapp 50 Prozent der Argentinier*innen Sergio Massa direkt in der Verantwortung für diese Krise. AtlasIntel, welches bei den Vorwahlen und den Wahlen am 22. Oktober dem Ergebnis am nächsten kam, sieht zu Redaktionsschluss Milei mit 52 zu 48 Prozent vorne. Andere Umfragen sehen Massa vorne. Viel spricht dafür, dass es eng wird. Spricht man mit Argentinier*innen über das mögliche Resultat, bekommt man häufig ein Sprichwort zu hören: „Verlässt man Argentinien für drei Wochen und kommt wieder, ist alles anders, verlässt man es aber für 30 Jahre und kommt wieder, ist alles gleich.“

INS AUS GESCHOSSEN

Präsidentin bis 2026? Die damalige Vizepräsidentin Dina Boluarte auf dem Weltwirtschaftsforum 2022 (Foto: World Economic Forum via Flickr , CC BY-NC-SA 2.0)

„Präsidentin Boluarte, wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Bildung einer Regierung der nationalen Einheit.“ Die Glückwünsche für das neue Staatsoberhaupt Perus kommen ausgerechnet von Keiko Fujimori, die drei Mal in Folge in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen scheiterte.
Auf Twitter verkündete die Tochter des Exdiktators Alberto Fujimori ihre Unterstützung für die erste Präsidentin durch ihre Parlamentsfraktion Fuerza Popular. Die rechte Fuerza Popular stellt zusammen mit der Mitte-rechts-Partei Acción Popular, die 2020 federführend im Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten Martín Vizcarra war, die größte Oppositionspartei im peruanischen Kongress.

Zwei Amtsenthebungsverfahren hatte Castillo in seiner 17-monatigen Regierungszeit überstanden. Einem dritten Verfahren versuchte Castillo am 7. Dezember durch die Verkündung einer Notstandsregierung zuvorzukommen. Mehrere Minister traten daraufhin aus Protest zurück, kurz darauf setzte ihn der Kongress ab und Castillo wurde wegen Verfassungsbruchs von der Polizei in Gewahrsam genommen.

Was Castillo zu dieser extremen Maßnahme brachte, fragen sich im Nachgang viele. Schon seit längerem versuchte Castillo den ihm feindlich gesinnten Kongress das Handwerk zu legen. Mitte November legte Ministerpräsident Aníbal Torres dem Kongress eine Vertrauensabstimmung zur Aufhebung eines Gesetzes aus dem Januar 2022 vor. Laut dem Gesetz dürfe kein Referendum zur direkten Annahme einer Verfassungsreform durchgeführt werden, sondern müsse vorher durch den Kongress. Die Regierung lehnte das Gesetz mit der Begründung ab, dass es direkte Bürger*innenbeteiligung verhindere. Doch der Kongress lehnte die Vertrauensfrage ab, Ministerpräsident Torres trat daraufhin zurück. Dies hätte den Weg frei gemacht, dass Castillo ein neues Kabinett bestimmt und die Vertrauensfrage erneut vorgelegt hätte. Sofern diese abgelehnt worden wäre, hätte dies den Präsidenten befugt, den Kongress aufzulösen.
Am Tag des Putschversuchs sagte erstmals ein Exfunktionär, Leiter des Beraterkabinetts des Ministeriums für Wohnungsbau, Salatiel Marrufo, aus, Pedro Castillo persönlich 100.000 Soles (rund 25.000 Euro) an Korruptionsgeldern übergeben zu haben. Im Berater*innenkreis Castillos schien deshalb die Befürchtung zu bestehen, dass das dritte Amtsenthebungsverfahren gegen Castillo erfolgreich sein könnte. Besonders Mitglieder von Castillos ehemaliger Partei Perú Libre, die der Präsident im Juni 2022 verlassen hatte, galten als Wackelkandidat*innen.

Die Ankündigung einer Notstandsregierung hat Castillos ohnehin geringe Unterstützer*innenbasis weiter erodiert. Die damalige Vizepräsidentin und heutige Präsidentin Dina Boluarte verurteilte den Schritt über Twitter als Putschversuch. Nach der Absetzung Castillos wurde sie als neue Präsidentin vereidigt. „Ich bin mir der enormen Verantwortung bewusst, die auf mich zukommt, und rufe zur Einheit aller Peruaner auf“, sagte die 60-jährige Juristin in ihrer Antrittsrede im Kongress.

Eine Mehrheit im Kongress hat sie so wenig hinter sich wie Castillo. Auch hat sie keinen Rückhalt in ihrer gemeinsamen ehemaligen Partei, der marxistisch-leninistischen Partei Perú Libre. Aus dieser wurde sie Anfang 2022 ausgeschlossen, weil sie die Ansichten des Generalsekretärs, Vladimir Cerrón, nicht teilte. „Ich war schon immer eine Linke und werde es auch bleiben, aber eine demokratische und keine totalitäre Linke“, erklärte sie. Damals sagte sie, dass sie sich von Perú Libre distanzieren werde, aber nicht von Präsident Castillo, der seinerseits mit Cerrón längst über Kreuz lag. Boluarte blieb Ministerin für Entwicklung und soziale Eingliederung, bis sie am 25. November zurücktrat, weil sie mit der Ernennung von Betsy Chávez, der kurzzeitigen Premierministerin des nun abgesetzten Präsidenten, nicht einverstanden war. Als amtierende Vizepräsidentin gelang ihr nun unverhofft der Sprung an die Staatsspitze.

Boluarte muss sich schnell nach Allianzen umsehen

Bis vor zwei Wochen war Boluarte mit einer Verfassungsklage in der Legislative konfrontiert aufgrund angeblicher Unregelmäßigkeiten bei ihrem Rücktritt als Beamtin zur Übernahme der Vizepräsidentschaft. Das Verfahren wurde rasch eingestellt, ein möglicher Vertrauensbeweis durch die Abgeordneten, die sie bereits als Nachfolgerin Castillos im Präsidentenamt sahen.

Nun muss sich Boluarte schnell nach politischen Allianzen umsehen und ein neues Kabinett bilden. Dabei könnte ihr zum Vorteil werden, dass sie nie zum inneren Kreis der Regierung Castillo gehörte.
Boluarte kann laut Artikel 115 der Verfassung bis zum Ende der Amtszeit von Castillo 2026 übernehmen. Doch bereits am Tag nach ihrer Übernahme kam es zu Protesten einiger tausend Menschen landesweit und zu Straßenblockaden. „Dina Boluarte überrascht uns. Nicht nur der Süden, auch andere Regionen erheben sich. Die Entscheidung der Bevölkerung muss respektiert werden. Es ist alles die Schuld des Kongresses, sie haben ihn (Pedro Castillo) nicht regieren lassen“, sagte Carmelina, eine protestierende Bäuerin aus La Joya, gegenüber der Tageszeitung El Comercio.

Wie bereits in der Wahl 2021 wird peruanische Politik zunehmend in den Regionen entschieden. Noch sind die Forderungen der Proteste diffus, einige fordern die Freilassung Castillos, einige die Absetzung Boluartes. Gemeinsamer Nenner ist die vorzeitige Ausrufung von Neuwahlen. Die Präsidentin Perus hat bereits eingeräumt, dass die Wahlen vorverlegt werden können „wenn die Gesellschaft und die Situation es fordert“.

Castillo hat den Ball aus dem politischen Spielfeld geschossen und weder Exekutive noch Legislative scheinen ihn zurückholen zu können. Wahrscheinlich ist, dass über kurz oder lang dem Ruf nach Neuwahlen stattgegeben wird. Dabei besteht die Gefahr, dass sich den Ball ein kompletter Außenseiter schnappt.

MIT GOTT UND MILITÄR

Der Präsident El Salvadors, Nayib Bukele, ist seit Juni 2019 im Amt (Foto: Presidencia El Salvador)

Nayib Bukele von der Mitte-Rechts-Partei GANA hat es wieder einmal in die internationalen Schlagzeilen geschafft. Nach seinem deutlichen Wahlsieg in der Präsidentschaftswahl im Februar vergangenen Jahres und seinem Selfie vor der UN-Generalversammlung im September steht er dieses Mal allerdings deutlich in der Kritik. Für den 9. Februar – einen Sonntag – hatte der salvadorianische Präsident das Parlament zu einer umstrittenen Sondersitzung befohlen. Als die meisten Abgeordneten sich weigerten, zu erscheinen, lief er gemeinsam mit Soldat*innen und Polizist*innen in Kampfuniform in den Plenarsaal ein. Dort betete er zu Gott, der ihm vermeintlich zuflüsterte, sich in „Geduld zu üben“.

Die brachialen Bilder des militärisch besetzten Parlaments haben eine Vorgeschichte: Der häufig als Twitterpräsident bezeichnete Bukele, der seine Meinung und Befehle vor allem über den Kurznachrichtendienst verbreitet, kann seit Monaten vor allem einen Erfolg vorweisen: die Senkung der Mordrate. Die Tendenz hatte zwar 2016 unter der linken FMLN-Regierung begonnen, sich aber unter Bukeles Regierung erheblich verstärkt. Dass dies vor allem auf einem Abkommen mit den Jugendbanden, den sogenannten Maras, beruhen könnte, ist zwar nicht bewiesen, aber recht offensichtlich. Die Regierung spricht von einem Sicherheitsplan mit sieben Etappen, von dem sie bisher jedoch nur zu drei Etappen diffuse Informationen veröffentlicht hat. Das Parlament billigte den Haushalt für 2020 mit erheblich gesteigerten Mitteln für die Ressorts innere Sicherheit und Verteidigung und winkte auch einen Kredit über 91 Millionen US-Dollar für die zweite Etappe des Sicherheitsplans mit einfacher Mehrheit durch. Damit darf die Regierung laut salvadorianischem Recht Verhandlungen mit dem Kreditgeber aufnehmen. Für eine endgültige Bewilligung ist anschließend eine Zweidrittelmehrheit nötig.

Parallel dazu beantragte die Regierung nun einen weiteren Kredit über 109 Millionen US-Dollar, mit dem neben Polizeiausrüstung und Videoüberwachung auch Helikopter und ein Patrouillenboot angeschafft werden sollen. Als die nötigen Stimmen beinahe zusammen waren, kamen Bilder von Osiris Luna Meza, dem Leiter der salvadorianischen Strafvollzugsanstalten, an die Öffentlichkeit. Sie zeigen ihn in einem Privatflugzeug auf einer vermeintlichen Arbeitsreise nach Mexiko. In den sozialen Netzwerken ging daraufhin die Frage „Wer hat die Mexikoreise bezahlt?“ viral. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich bei dem Finanzier um die Firma SeguriTech mit Sitz in Mexiko handelt. Sie geriet während der Amtszeit des mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto (2012-2018) wegen mangelhafter Überwachungstechnologie stark in die Kritik. Für die gleiche Technologie sind nun in einem der Kreditanträge rund 25 Millionen US-Dollar vorgesehen.

Bukele betete theatralisch zu Gott

Die FMLN-Regierung hatte in ihrer Amtszeit von 2009 bis 2019 oft über Monate und sogar Jahre hinweg mit der rechten Parlamentsmehrheit gerungen, um zum Beispiel Kredite für ein neues Zentralkrankenhaus in der Hauptstadt San Salvador oder die Modernisierung der wichtigsten Wasseraufbereitungsanlage für die Hauptstadtregion bewilligt zu bekommen. Der junge Präsident Bukele zeigt sich hingegen schon nach wenigen Wochen ungeduldig und wenig kompromissbereit.

Dies wurde besonders deutlich, als er auf einen für Katastrophenfälle gedachten Verfassungsparagraphen zurückgriff, der es dem Kabinett erlaubt, das Parlament zu einer Sondersitzung einzuberufen. Diese setzte er für Sonntag, den 9. Februar an und rief gleichzeitig zu einer Massendemonstration vor dem Parlament auf. Die Abgeordneten lehnten die Sondersitzung mehrheitlich ab.

In den Tagen vor dem 9. Februar spitzte sich die Situation zu. Staatsbedienstete wurden von Bukele unverhohlen dazu aufgefordert, an der Demo teilzunehmen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Am Sonntagmorgen war das Behördenviertel rund um das Parlament mit Militär­einheiten besetzt. Von den 84 Abgeordneten waren nur gut zwanzig vor Ort. Die FMLN-Fraktion wurde von eigenen Anhänger*innen beschützt, nachdem die Verantwortlichen der Polizei den Abgeordneten die Leibwächter*innen entzogen hatten.

Die öffentlichen Reaktionen fielen bis Sonntagmorgen eher zurückhaltend aus: Die Jesuitenuniversität UCA bezog früh kritisch Stellung, ebenso wie einige soziale Organisationen und Institute, während Luis Almagro, der US-hörige Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) der Regierung sein Vertrauen aussprach und der US-Botschafter zur Ruhe aufrief. Als sich die Situation weiter verschärfte, meldete sich die EU mit einem kritischen Kommuniqué zu Wort. Auch die Vereinten Nationen und vor allem der US-Botschafter Ronald Johnson äußerten sich immer deutlicher, während die Katholische Kirche und die Nationaluniversität UES sich in Schweigen hüllten.

Vor dem Parlament demonstrierten statt der erhofften Massen gerade einmal 5.000 Personen, viele von ihnen hatten das Angebot einer kostenlosen Reise in die Hauptstadt inklusive Verpflegung angenommen.

Auch eine erneute Sonntagsdemo für den „Volksaufstand“ in der darauffolgenden Woche versammelte nur 300 Personen, während sich in den (sozialen) Medien Entsetzen über das Vorgehen Bukeles abzeichnete. Letztlich erklärte das Verfassungsgericht die Entscheidungen des Präsidenten für gesetzeswidrig, weshalb der Kredit für die innere Sicherheit vorläufig auf Eis gelegt wurde.

300 Personen auf der Demo für den „Volksaufstand“

Bukele hat die rechte Arena-Partei und die linke FMLN in eine Ecke gedrängt, in der sie gemeinsam die Nachkriegsordnung inklusive der in der öffentlichen Wahrnehmung völlig diskreditierten Judikative, Legislative und Staatsanwaltschaft verteidigen. Dabei können sie auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und wohl auch breiter Teile des Bildungsbürgertums zählen. Die Frage ist jedoch, ob Bukele mit seinem konfrontativen Diskurs gegen das „alte“ und „korrupte“ System bis zu den Parlamentswahlen im Februar 2021 seine vergleichsweise breite Unterstützung halten kann. Gelingt dies, könnten im Parlament neue Mehrheitsverhältnisse entstehen, die ihm eine Vertiefung seines diffusen populistischen Projekts erlauben würden.

Die Lähmung der rechten Arena und der linken FMLN, die beide in interne Streitigkeiten verwickelt und öffentlich weitgehend diskreditiert sind, kommt Bukele dabei recht. Gegenwind droht ihm dennoch, da die Fortschritte im Bereich innerer Sicherheit fragil sind und die Wirtschaftspolitik des neuen Präsidenten bisher keine Verbesserungen erkennen lässt. Die systematische Demontage auch anerkannter Fortschritte der FMLN-Regierung, der harsche und populistische Umgangston und die Anfälligkeit für Korruption sind weitere Risikofaktoren. Nicht zuletzt aber droht Gefahr aus den eigenen Reihen. Denn in Bukeles politischem Umfeld tummeln sich Leute mit Machtansprüchen. Dies birgt für die internen Vorwahlen für die Listen der Kommunal- und Parlamentswahlen in den nächsten Monaten einiges an Zündstoff für Konflikte innerhalb der Partei.

ERST EINMAL DAVONGEKOMMEN

#Elenao – “Er nicht” Hunderttausende demonstrierten gegen Bolsonaro (Foto: Mídia NINJA CC BY-NC-SA 2.0)

„Ich bin für Folter, das weißt du” und „der einzige Fehler der Diktatur war, dass sie gefoltert und nicht getötet hat” – es sind öffentliche Aussagen wie diese, die es so unfassbar machen, dass fast fünfzig Prozent der brasilianischen Wähler*innen in Jair Bolsonaro den nächsten Präsidenten Brasiliens sehen. Als das brasilianische Parlament am 17. April 2016 über die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff abstimmte, widmete Bolsonaro sein Votum dem Andenken von Oberst Carlos Alberto Brilhante Ustra. Ustra leitete die militärische Einrichtung, in der während der Militärdiktatur zwischen 1970 und 1974 politische Gefangene gefoltert wurden, unter ihnen auch Dilma Rousseff.

Bolsonaro macht immer wieder deutlich, dass er ein Anhänger der Diktatur und ihrer Folterer ist

Dass Bolsonaro als Hauptmann der Reserve ein Anhänger der Diktatur und ihrer Folterer ist, hat er immer wieder deutlich gemacht. „Er ist ein nationaler Held”, sagte er neun Wochen vor der Wahl in einem Interview über Ustra. Und weiter: „Warum greifen die uns an? Weil wir von den Streitkräften das letzte Hindernis für den Sozialismus sind.” Nach dem Attentat auf ihn am 6. September bekräftigte er: „Als Präsident werde ich mehr Militär auf die Straßen schicken. Wer dagegen ist, soll mir sagen, wie wir die Probleme lösen, ohne zu schießen.” Sein offizieller Vizepräsident ist folgerichtig ein General: Der 65-jährige Antônio Hamilton Martins Mourão gehört zur Reserve des Heeres.

Doch es sind nicht nur diese Äußerungen von Bolsonaro und auch seinem Vize, die demokratischen Kräften und sozialen Bewegungen Anlass zu äußerster Besorgnis geben. Beide vertreten eine sexistische, rassistische und homophobe Agenda in einem selbst in Brasilien seltenen Ausmaß. Bolsonaro teilte einer Kollegin im Kongress vor laufenden Kameras mehrfach mit: „Sie verdienen es nicht vergewaltigt zu werden!” Später erklärte er: „Sie ist zu hässlich.”. Er hält es für gerecht, wenn Frauen weniger verdienen, weil „sie schwanger werden”. Seit 2016 ist er evangelikaler Christ und grundsätzlich gegen Abtreibung.

Kandidat und Vize machten öffentlich ihre Ablehnung der Menschenrechte von afrobrasilianischen und indigenen Brasilianer*innen überdeutlich – gepaart mit der Ankündigung, dass unter einem Präsidenten Bolsonaro in indigenen Territorien „kein weiterer Zentimeter zusätzlich demarkiert” werde.

Es war die Frauenbewegung, die in diesem Wahlkampf die entschiedendste Opposition gegen den Kandidaten der extremen Rechten organisierte

Es war die Frauenbewegung, die in diesem Wahlkampf die entschiedendste Opposition gegen den Kandidaten der extremen Rechten organisierte. Als „Frauen geeint gegen Bolsonaro“ erreichte eine geschlossene Facebookgruppe innerhalb weniger Tage die Millionengrenze. Kurz vor dem ersten Wahlgang waren es fast vier Millionen.

Am 29. September mobilisierte die Frauenbewegung Hunderttausende in 114 Städten zu öffentlichen Demonstrationen gegen Bolsonaro. Sie erreichte eine breite Allianz von feministischen, indigenen, afrobrasilianischen, gewerkschaftlichen, queeren und anderen Bewegungen, die dem Protest von der Anzahl der Teilnehmer*innen und der Vielfalt der Agenda eine historische Dimension gab.

Das „Phänomen Bolsonaro” wird oft mit dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump verglichen. Wie diesem gelingt es ihm, sich als „neu und unverbraucht”, als „anti-systemisch” und „gegen Korruption” zu inszenieren, was umso erstaunlicher ist, weil er auf eine lange parlamentarische Karriere zurückblicken kann. Allein 27 Jahre ist er Abgeordneter im Kongress, allerdings für neun verschiedene Parteien. Die längste Zeit, von 2005 bis 2016, war er Abgeordneter der rechtskonservativen PP, deren Mitglieder von allen Parteien am stärksten in den Lava-Jato-Korruptionsskandal (s. LN 513) verwickelt sind. In einem Interview hat Bolsonaro zugegeben, selbst über die PP Zahlungen des Nahrungsmittelkonzerns Friboi erhalten zu haben.

In einem zentralen Punkt unterscheidet er sich allerdings vom Trump: Er kokettiert im Gegensatz zum selbst ernannten „Dealmaker” mit seinen fehlenden ökonomischen Kenntnissen und Erfahrungen. Wenn Journalisten nach seinem Wirtschaftsprogramm fragen, verweist er nur auf seinen zukünftigen „Superminister“: Paulo Guedes. Der hat 1979 an der Universität Chicago in Ökonomie promoviert, unter Brasiliens Wirtschaftswissenschaftlern ist der „Chicago Boy“ eher ein Außenseiter. Als Investmentbanker wurde er zum Millionär und gründete eine Privatuniversität. In zahlreichen Artikeln kritisiert er immer wieder die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte. Im Kabinett von Bolsonaro hätte er ausreichend Möglichkeiten, es anders zu machen, denn dieser will ihm das Finanz-, Wirtschafts-, Planungsministerium ebenso unterstellen wie das Ministerium für Privatisierungen.

Bolsonaro plant, alle verbliebenen Staatsbetriebe sowie das Renten- und Bildungssystem zu privatisieren

Letzteres würde Guedes besonders gern besetzen. Als radikaler Neoliberaler will er die Politik weitestgehend aus allen gesellschaftliche Bereichen heraushalten. Er plant, alle verbliebenen Staatsbetriebe zu privatisieren, um die Staatsschulden zu begleichen. Außerdem will er das bestehende Renten- und Bildungssystem privatisieren und eine Einheitssteuer einführen, die für eine Hausangestellte mit einem Mindestlohn von rund 280 Euro ebenso gilt, wie für einen Multimillionär. Da Guedes über keinerlei Regierungserfahrung verfügt und noch nie in der Position war, unbeliebte Reformen gegen mächtige Interessensgruppen durchzusetzen, erscheint es eher unwahrscheinlich, dass er mit seinem Programm Erfolg hätte.

Bisher steht die brasilianische Wirtschaft dem Kandidaten Bolsonaro positiv gegenüber, vor allem der agro-industrielle Sektor, der im Parlament die stärkste informelle „Fraktion” mit den meisten Abgeordneten bildet. LN-Autor Thomas Fatheuer bereiste während des Wahlkampfs mit dem Bus die 1.700 Kilometer lange Bundesstraße zwischen Cuiabá und Santarém, eine Amazonasregion, die besonders von der Agro-Industrie (Soja und Rinder) geprägt ist: „Auf den gesamten 1.700 Kilometern habe ich, ohne jede Übertreibung, nur Wahlwerbung von einem einzigen Kandidaten gesehen: Bolsonaro. Teile des Landesinneren unter der Ägide des Agrobusiness haben sich total diesem Kandidaten zugewandt, der auch von diesen Kräften unterstützt wird”, berichtete er im Interview mit Radio Dreyeckland. Als sich Anfang Oktober die Meinungsumfragen zugunsten von Bolsonaro stabilisierten, wurde die Landeswährung Real gegenüber dem US-Dollar deutlich aufgewertet und an der Börse stiegen die Aktienkurse explosionsartig.

Wut und Angst seien die bestimmenden Emotionen dieses Wahlkampfs gewesen, ist die einhellige Einschätzung. Dies trifft ebenso auf die Anhänger*innen Bolsonaros zu wie auf seine Gegner*innen. Die Dämonisierung der Arbeiterpartei PT als Wegbereiterin des „Sozialismus”, die aus Brasilien ein „zweites Kuba” machen wolle, ist bereits seit mehreren Jahren verbreitet.

Der höchste Anteil an Bolsonaro-Fans findet sich unter weißen Männern aus der Mittelschicht, die sich ihrer Privilegien beraubt sehen.

Verschwörungsideologische Befürchtungen vor einer „Genderdiktatur“ an den Schulen, trugen zu den Angstszenarien bei. Der höchste Anteil an Bolsonaro-Fans findet sich unter weißen Männern aus der Mittelschicht, die sich durch die Forderung nach gleichen Rechten für alle und ihrer politischen Umsetzung, z.B. durch Quoten an Universitäten, ihrer Privilegien beraubt sehen. Die juristische Verfolgung der zahlreichen Korruptionsskandale, die zur Verhaftung von führenden Politiker*innen fast aller Parteien führte, hat das Ausmaß an Korruption zumindest teilweise öffentlich gemacht. Für viele Wähler*innen hat dies die gesamte politische Klasse des Landes diskreditiert. Bolsonaro konnte sich mit seinen provokanten Aussagen und Regelverstößen von der „politischen Elite” medial erfolgreich abgrenzen – eine Parallele zum US-amerikanischen Präsidenten Trump.

Fernando Haddad, der zunächst nur als Vizepräsident unter Präsidentschaftskandidat Lula von der PT nominiert worden war, wurde von Lula selbst als Kandidat ausgewählt. Als ehemaliger Bürgermeister von São Paulo, mit Abschluss als Jurist und Ökonom sowie einem Doktor in Philosophie, vertritt Haddad einen ganz anderen Typ von PT-Politiker als der ehemalige Metallgewerkschafter Lula. In der größten Stadt Brasiliens war er als Bürgermeister durchaus erfolgreich, auch haushaltstechnisch. Auf der anderen Seite konnte er seine moderne Stadtpolitik selbst unter PT-Wähler*innen nur schwer vermitteln, gerade der Ausbau von Busspuren und Fahrradwegen rief große lokale Widerstände hervor.

Erst in allerletzter Minute hatte die PT die formale Kandidatur von Lula – der in den Umfragen auch aus dem Gefängnis heraus immer mit mehr als 40 Prozent führte – durch Haddad ersetzt. Dieser hatte dadurch weniger Zeit für seine persönliche Kampagne, konnte jedoch die Anzahl seiner Wählerstimmen in weniger als vier Wochen von 9 auf 29,3 Prozent steigern.
Selbst wenn das schlimmste anzunehmende Szenario für die demokratischen Kräfte und sozialen Bewegungen in Brasilien – ein Wahlsieg von Jair Bolsonaro im ersten Wahlgang – nicht eingetreten ist, sind die Ergebnisse mehr als besorgniserregend. Mit 46 Prozent der Stimmen hat Bolsonaro einen Vorsprung von nahezu 17 Prozentpunkten gegenüber Haddad. Meinungsforschungsinstitute sagten zudem voraus, dass es für Haddad deutlich schwieriger werden würde, im zweiten Wahlgang gegen Bolsonaro zu gewinnen. Andere Kandidaten, wie Ciro Gomes von der sozialdemokratischen PDT (12,5 Prozent) oder Geraldo Alckmin von der rechtsliberalen PSDB (4,8 Prozent), sind für das bürgerlich-konservative Spektrum wählbarer als der PT-Kandidat. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass Haddad alle Wähler*innen von Ciro Gomes und weitere Stimmen gewinnen sollte, ist der Vorsprung von Bolsonaro groß. Es scheint, als sei ein rechtsextremer Präsident in Brasilien nicht mehr aufzuhalten.

MEXIKO IM ÜBERGANG

Die Hoffnungen in den neuen Präsidenten sind groß Aber auch berechtig? (Foto: Robert Swoboda)

Mexiko steht vor einer politischen Zeitenwende: Mit Andres Manuel López Obrador ist – im dritten Anlauf – ein Politiker ins Präsidentenamt gewählt worden, dem man manches nachsagen kann, aber keine Korrumpierbarkeit. Zwölf Jahre lang hat er in einer Art Endloswahlkampf durch die Lande die „Mafia an der Macht“ angeprangert – gemeint waren die zunehmend kartellartig organisierte Staatspartei PRI und ihre politischen Kompliz*innen. Sie alle sind nun von Wahlberechtigten mit einer Wucht aus Ämtern, Parlamenten und Landesregierungen gespült worden, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Ein gewaltiges Aufatmen geht durch das Land. Alles Geschwätz vom drohenden Populismus – ohnehin ein (nicht nur für Mexiko) hohler Kampfbegriff ohne analytischen Mehrwert – verpuffte. Von Wahlbetrug ist zum ersten Mal seit 30 Jahren keine Rede mehr.

Aber auch die einstige Kampfansage scheint mit einem Mal in Luft aufgelöst. Schon in der Wahlnacht gab der Gewählte reconciliación, Versöhnung, als neue Devise aus. Nicht mehr der realexistierenden Mafia, sondern dem Abstraktum der Korruption wird fortan der Kampf angesagt, aus einem politischen wird ein moralischer Imperativ. Schon eine solche – von López Obrador ausdrücklich sogenannte – „Moralisierung“ der Politik ist problematisch, ebenso wie seine religiöse Semantik von „Wiedergeburt“, „Seelenheil“ und „Nächstenliebe“.

Richtiggehend fatal aber wird der Leitspruch der „Versöhnung“ angesichts der Gewaltkatastrophe, die das Land seit einer Dekade überzieht. Schätzungen zufolge sind an die 240.000 Menschen seit 2007 gewaltsam zu Tode gekommen, also erschossen, massakriert oder zu Tode gefoltert worden. Die bisher letzte offizielle Statistik räumt 37.000 Verschwundene ein, mehr als in allen südamerikanischen Militärdiktaturen zusammen. Bis zur Amtsübergabe im Dezember will der künftige Präsident nun eine Strategie der „Befriedung“ vorlegen. Manches geht bereits in die richtige Richtung: Die Sicherheitspolitik soll demilitarisiert werden, verschleppte Menschenrechtsskandale sollen endlich untersucht werden. Für einen echten Neuanfang, so behauptet López Obrador leider auch, „müssen wir lernen zu vergeben“.

So polemisch es klingen mag: „Nationale Versöhnung“ war in den 1950er Jahren die Losung von General Franco, nachdem er zehn Jahre zuvor die Spanische Republik in Schutt und Asche gelegt hatte. Und als er dann 1975 friedlich entschlafen war, war dies auch das Motto der „Übergangsregierung“, die das Land in die Demokratie führte, gepaart mit einer kommoden Amnestie für die am Massenmord Beteiligten. In Argentinien hingegen, so etwas wie ein vergangenheitspolitisches Role Model für die Nachbarländer, gab es nach Ende der Diktatur Mitte der 1980er Jahre erst einmal einen spektakulären Prozess gegen sämtliche Junta-Generäle. Zwar wurden später auch hier Schlussstrich-Gesetze verhängt, um die Militärs ruhig zu halten. Die bleierne Zeit der Straflosigkeit aber hatte ein Ende, als die Kirchner-Regierung in den 2000er Jahren den Weg frei machte, um Täter*innen und vor allem Mittäter*innen doch noch den Prozess zu machen – nicht über Sondergesetze und vor ausländischen Tribunalen, sondern in regulären Strafrechtsverfahren vor nationalen Gerichten. Das Wörtchen reconciliación kommt im Vokabular von Opfergruppen oder Menschenrechtsorganisationen bis heute nicht vor.

Natürlich ist der organisierte Staatsterror wie in Spanien oder Argentinien nicht dasselbe wie das diffuse Terrorregime, das sich in Mexiko mit der Militarisierung der staatlichen „Drogenbekämpfung“ vor über zehn Jahren etabliert hat. Kein monolithischer, krimineller Staat stand dahinter, sondern ein Geflecht aus immer weiter diversifizierten kriminellen Ökonomien und korrupten Staatsbediensteten, von einfachen Polizist*innen bis zur/zum Gouverneur*in. „Makrokriminalität“ nennen die Expert*innen diese Seilschaften, bei vielen Mexikaner*innen läuft es unter narco-estado, Drogenstaat. Korruption, die López Obrador so glühend bekämpfen will, ist tatsächlich das Scharnier, über das sich Teile des Staates mit den Kartellen verflechten. Diese Verflechtung ist kein Relikt der Vergangenheit, wie der Historiker Claudio Lomnitz feststellt, sondern geht paradoxerweise einher mit der Geschichte der politischen Pluralisierung. Denn erst mit dem Niedergang der traditionellen Einkommensquellen in den wirtschaftsliberalen 1990er Jahren verbreitete sich die „Drogenökonomie“ über das gesamte Land und suchte neue politische Interessensvertretungen. Neue und auch alte Parteien buhlten nun vermehrt um die neuen Magnat*innen, die narco-política war geboren.

Dass dieses Geflecht sich derart ungehindert ausbreiten konnte, hat aber auch mit der tief verankerten Kultur der Straflosigkeit zu tun. Schon fü das Massaker an Studierenden im Oktober 1968 wurde kein einziger Verantwortlicher jemals rechtskräftig verurteilt. Heute sind Massaker, Folter und Verschwindenlassen nicht mehr politisch, sondern ökonomisch motiviert, als Waffe im brutalen Konkurrenzkrieg um Märkte, Routen und Territorien. In einem internationalen Straflosigkeits-Index vom März 2018 rangiert Mexiko weltweit an vierter Stelle.

Um diesen Bann zu brechen, täte strafrechtliche Aufarbeitung not. Nicht nur wegen der Gerichtsurteile, sondern weil Rechtsprechung ja auch Rekonstruktion befördert. Und es gilt dringend zu rekonstruieren, wie der narco-estado funktioniert, wie sich die Epidemie systematischer Gewalt im Land ausbreiten konnte, wie sich das katastrophale Staatsversagen erklären lässt.

Die Chancen dazu stehen nicht schlecht: Im neu berufenen Kabinett sind viele als integer und kompetent geltende Köpfe versammelt. Darunter wiederum viele Frauen, wie die künftige Innenministerin Olga Sánchez Cordero, eine ehemalige Verfassungsrichterin, die für das Recht auf Abtreibung und Legalisierung von Marihuana eintritt. Es ist eine neue Garde, überwiegend unverstrickt in das gewachsene mafiöse Geflecht, die sich mit Engagement und Sachkenntnis ans Werk macht. Neu ist auch die Strategie des „Zuhörens“, zu allen möglichen Themen werden derzeit öffentliche Anhörungen und Bürger*innenbefragungen organisiert. So sind im August landesweit „Versöhnungsforen“ angelaufen, zu denen neben Expert*innen auch Gewaltbetroffene, vor allem Angehörige von Massakrierten, Gefolterten und Verschwundenen, geladen sind.

Hier aber tun sich noch gewaltige Gräben auf. Als López Obrador zum Auftakt der Foren erneut für sein Mantra der Versöhnung warb, riefen ihm erzürnte Angehörige die ganz anders lautenden Mantras der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung entgegen: Ni perdón ni olvido, „Kein Vergeben, kein Vergessen“ oder Juicio y castigo,„Gerichtsprozess und Bestrafung“. Wie fremd López Obrador diese Welt zu sein scheint, zeigt seine bizarre Reaktion: „Ich glaube nicht an Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – die befremdliche Gleichsetzung des Verlangens nach Recht und Gerechtigkeit, mit biblischen Rachegelüsten.

Übergangsjustiz lautet nun auch in Mexiko die neue Zauberformel. Gemeint ist ein Bündel von Maßnahmen, die im Übergang von einem Regime zu einem anderen, also von der Diktatur zur Demokratie, vom Bürgerkrieg zum Postkonflikt, bei der Überwältigung der massenhaften Menschenrechtsverletzungen helfen sollen. Dazu gehören juristische Sonderregeln – Amnestie oder auch Strafminderung im Austausch gegen Informationen – und Wahrheitskommissionen, „Wiedergutmachung“ und „Erinnerungskultur“.

Mexiko aber entspricht keinem Übergangsszenario, wie es im Buche steht. Es hat im 20. Jahrhundert keine Militärdiktatur erlebt und keinen deklarierten Bürgerkrieg. Von Postkonflikt kann keine Rede sein, 2017 gilt mit 25.000 Gewaltopfern als das bislang blutigste Jahr in der Terrordekade. So wirkt schon das gutgemeinte Gerede von „historischer Erinnerung“ seltsam fehl am Platz. Bei einer Gewaltkatastrophe in der Gegenwart geht es ja weniger um Vergessen als um Verdrängung, also um die Gewöhnung an den Exzess. So wollen Gewaltbetroffene, etwa Angehörige von Verschwundenen, in der Regel auch nichts von „Entschädigung“ wissen. Der Riss in ihrem Leben ist viel zu frisch, jede Aussicht auf „Wiedergutmachtung“ klingt da obszön. Am wichtigsten ist ihnen, ihre Liebsten wieder zu bekommen, wenn schon nicht lebendig, dann wenigstens die toten Körper. So hätten viele nichts einzuwenden gegen den Deal, dass Täter*innen ihr Wissen über geheime Grabstellen gegen Strafnachlässe preisgeben. Allerdings müssten dazu Mörder*innen und ihre Helfer*innen, wie in Kolumbien ehemalige Paramilitärs oder auch Guerillerxs, erst einmal glaubhaft überführt sein. In Mexiko sind die Gefängnisse voll von Menschen, die ohne Urteil oder nur aufgrund erfolterter Geständnisse hinter Gitter sitzen.

Auch gegen Wahrheitsfindung in Gestalt von Kommissionen ist selbstredend nichts einzuwenden. Nur sollte sie nicht von vorne herein zur juristischen Folgenlosigkeit verdammt sein. Denn das hat es schon einmal gegeben, als – ausgerechnet – der rechtsliberale Präsident Vicente Fox (2000-2006), der als erster eine PRI-Regierung ablöste, eine Sonderstaatsanwaltschaft zur Aufklärung der staatlichen Verbrechen der 1960er und 1970er Jahre einrichten ließ. Im Abschlussbericht ist die brutale Repression, samt Geheimgefängnissen, Foltertechniken und Verschwindenlassen, minutiös dokumentiert und im Netz frei zugänglich. Verurteilt wurde dennoch keiner der Verantwortlichen.

Natürlich geht es zunächst einmal um Eindämmung der wuchernden Gewalt. Dazu braucht es neben der dringend anstehenden Demilitarisierung wohl auch Verhandlungen mit Gewaltakteur*innen. Das ist mühsam, Rückschläge sind jederzeit möglich, wie man derzeit in Kolumbien sieht. In Mexiko hat man es nicht mit ehemaligen Guerrillerxs, sondern mit aktiven Kartellchefs zu tun, also mit Massenmörder*innen. Ein fieser Gedanke. Verhandeln aber, und das ist ein entscheidender Unterschied, ist nicht vergeben. Ein paar Monate hat die neue Truppe noch, bis sie am 1. Dezember ihre Ämter antritt. Es ist zu hoffen, dass das „Zuhören“ Früchte trägt und mit entsprechender Lernbereitschaft einhergeht. Denn auch wenn das Land der institutionalisierten Revolutionär*innen bekannt ist für seine mitunter paradoxe Politik: Sollte ausgerechnet die erste linke Regierung Mexikos den Narco-Staat in Frieden (ruhen) lassen, wäre das eine allzu böse Paradoxie.

SANFTER ÜBERGANG

Raúl Castro ist nach zehn Jahren Präsidentschaft abgetreten. Was hat er bewegt?
Als Raúl an die Macht kam, ersetzte er Fidel Castro, den unumstrittenen historischen Führer der Revolution, jemanden, der das Land ein halbes Jahrhundert lang geführt hat. Durch die schwere Erkrankung Fidels kam er 2008 zufällig an die Macht. Trotzdem musste die Machtübergabe so normal wie möglich geschehen, ohne die Regierungsfähigkeit einzuschränken. Einen ruhigen Übergang hinbekommen zu haben, ist Raúls Leistung. Nun leitet er einen neuerlichen Übergang hin zu einer neuen Führung, auf eine Art und Weise, dass sie von der Bevölkerung als normal angesehen wird, ohne Brüche. Das ist die erste Leistung.

Und sonst?
Die zweite Leistung: Während der Interimspräsidentschaft, noch im Jahr 2007, befragte Raúl die Bevölkerung: Kritik und Vorschläge dienten ihm als Basis für das, was er von da an beförderte: vor allem ökonomische Reformen sowie ein Paket von Deregulierungen, wie die Migrationsreform zur Reisefreiheit. Vor allem von 2008 bis 2010 war der Diskurs Raúls ein reformistischer: Es müsse Reformen geben. Er übte Kritik an den Problemen und nannte die Dinge beim Namen. 2010 wurden die ersten Ideen formuliert, es fand eine breite öffentliche Debatte über die Vorschläge statt. Im April 2011 dann tagte der VI. Parteikongress, der über die Vorschläge abstimmen ließ und Leitlinien aufstellte, die anschließend von der Nationalversammlung verabschiedet wurden und sich damit in ein Programm des Staates verwandelten. Die Leitlinien bilden seitdem den Rahmen für die Wirtschaftspolitik.

Mit welchen realen Auswirkungen?
Dieser Prozess zog zunächst Nutzen aus der Verbesserung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA, die Raúl Castro durch seine (Annäherungs-)Politik erreichte. Die US-Blockade besteht zwar weiter fort, aber unter Obama wurden einige Aspekte aufgeweicht.
Zuletzt aber haben sich die globalen Rahmenbedingungen wieder verschlechtert: Trump löste Obama ab und die USA kehrten zu einer Rhetorik zurück, die an die 1960er erinnert. Das vorteilhafte Panorama verschwindet und könnte sich noch weiter verschlechtern. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Venezuelas und der Siegeszug der Rechten in Ländern wie Brasilien oder Argentinien.

Wie wirkt sich das auf Kubas Reformkurs aus?
Das führt dazu, dass die internen Programme unter Druck geraten und die Reformen verlangsamen. Raúls Nachfolger erben also eine schwierige Situation. Raúl aber hat eine “sanfte” Transition erreicht; und ein Ambiente von Reformprogrammen hinterlassen, die die nachfolgende Regierung nicht erst anstoßen muss, sondern auf die sie aufbauen kann. Die politische Führung ist daran interessiert, den Übergang ohne Spannungen durchzuführen. Ich für meinen Teil glaube, dass alles mit beträchtlicher Ruhe über die Bühne gehen wird. Wenn Raúl Parteichef bleiben wird, besitzt er Kraft seines Amtes zudem das Instrument, um mögliche Differenzen zu schlichten.

Welche Differenzen meinen Sie?
Wenn in einer Führungsposition ein 86-Jähriger durch einen Endfünfziger ersetzt wird, hast Du bildlich gesprochen zwei Generationen dazwischen aus dem Spiel genommen. Jemand, der vielleicht Minister ist und 70 Jahre alt, denkt, dass er jetzt aufsteigen müsste und plötzlich wird ihm gesagt: Deine Karriere ist vorbei. Man kann sich ein gewisses Nichteinverstandensein bis hin zu Widerstand ausmalen.

Den Titel Ihres Buches La evolución del poder en la Revolución Cubana (Die Evolution der Macht in der Kubanischen Revolution) aufgreifend: Wie hat sich die Macht in Kuba seit dem Amtsantritt von Raúl Castro im Jahr 2008 entwickelt?
Die Idee, dass die Macht evolutioniert, definiert sich nicht nur über die Persönlichkeiten, die bestimmte Führungspositionen besetzen. Es ist die Idee, dass die Macht als Fähigkeit das Verhalten der Gesellschaft zu bestimmen, sich durch Institutionen ausdrückt, die auftauchen und sich verändern, durch soziale Akteure, die die Machtpositionen besetzen. Gleichzeitig gibt es eine ökonomische Macht. Sie hat die Fähigkeit, Macht auszuüben über und ausgehend von der Wirtschaft. Es gibt ferner die Macht, die von und über die Zivilgesellschaft ausgeübt wird, und letztlich auch eine sogenannte ideologisch-kulturelle Macht. Macht hat also verschiedene Dimen­sionen: institutionell, politisch, wirtschaftlich, zivil, ideologisch-kulturell.
Im Fall Raúl Castros, abgesehen von seinen Machtpositionen als Staatschef, Chef der Kommunistischen Partei, Chef des Ministerrates, und über die historischen Meriten als Kämpfer der Revolution hinaus, besitzt er ebenso wie Fidel – und das erscheint mir sehr wichtig – die Fähigkeit, die Differenzen im Schoß der politischen Klasse zu schlichten._

Ihre Hypothese ist: Die Konsolidierung und Reproduktion der Revolution über die Zeit war möglich wegen des außergewöhnlichen Charakters der politischen Macht und der Hegemonie der sozialen Macht. Nun wird vor allem die soziale Macht herausgefordert durch Forderungen nach wirtschaftlichem Aufschwung und auf dem kulturellen Feld durch die globale Unterhaltungsindustrie, die auch in Kuba an Boden gewinnt, oder?
Ja. Aber die Ressourcen der Macht der Revolution sind weiterhin in Takt. Es existiert immer noch kein interner Herausforderer für diese Macht. Die Hauptherausforderung, der sich diese Macht gegenübersieht, ist es zu erreichen, den mehrheitlichen Konsens in der Bevölkerung beizubehalten. Im Verlauf des vergangenen halben Jahrhunderts hat dieser Konsens, der einmal bei 97 Prozent lag, augenscheinlich abge­nommen, einige Studien gaben ihm zuletzt aber noch 70 Prozent. Es ist weiterhin ein enormer mehrheitlicher Konsens. Ich glaube, dieser mehrheitliche Konsens wird fortbestehen, hat aber zwei fundamentale Bedrohungen: die ökonomische Krise seit 25 Jahren. Auch wenn wir sie überlebt haben, wurde der Lebensstandard nicht wieder hergestellt. Die Wirtschaft muss wachsen, um die Situation der Bevölkerung zu verbessern: Basiskonsum, Gesundheit, Bildung sind gesichert, aber es gibt andere Forderungen und Erwartungen der Bevölkerung, die nicht erfüllt werden können, ohne dass sich die Wirtschaft erholt. Deshalb ist das Thema Wirtschaft politisch entscheidend.

Auch weil der Wohlstand nicht mehr von Generation zu Generation wächst, oder?
Ja. Man kann sagen, die Revolution befindet sich in der siebten Generation. Die ersten drei lebten jeweils besser als ihre Eltern, die vierte gleich wie ihre Eltern und die fünfte und sechste schlechter als ihre Eltern, und die siebte läuft Gefahr, nicht viel besser als ihre Eltern zu leben. Diese Generationen sehen ihre Erwartungen frustriert. Die Tatsache, dass ein Dritte-Welt-Land jedes Kind in die Schule schickt, erscheint ihnen als etwas Natürliches; der Aufwand dafür aber ist enorm. Kuba gibt fast 70 Prozent seines Staatshaushalts für Sozialleistungen aus. Die jüngsten drei Generationen sind mit den sozialen Errungenschaften wie Bildung und Gesundheit als Selbstverständlichkeit aufgewachsen. Sie wollen mehr Konsum, Internet, Reisen – legitime Forderungen. Das Problem liegt bei der Revolution, diese Forderungen zu erfüllen.

Die Anspruchshaltung der Bevölkerung wird zum Problem für die Revolution?
Die Bevölkerung hat ihre Fähigkeit, Opfer zu bringen, wiederholt bewiesen. Die neuen Generationen stehen also vor diesem ökonomischen Problem, das gleichzeitig ein politisches Problem ist. Sie fühlen sich nicht ausreichend repräsentiert. Die politische Führung ist überaltert; die Mittzwanziger bis Mittdreißiger schauen nach oben und wer da an der Macht ist, sind ihre Großeltern. Sie fragen sich also: Was habe ich mit diesem Haus zu tun? Und was ist die Antwort? Entweder steige ich im Haus auf oder ich verlasse das Haus. Wir erleben beide Reaktionen. Es erscheint jedes Mal schwieriger, alle Generationen in das Projekt der Revolution zu integrieren. Man kann sagen, dieser mehrheitliche Konsens im Land nimmt mit jeder Generation ab.

Liegt darin nicht der Keim für die Formierung einer Oppositionsbewegung?
Theoretisch vielleicht, das Kuriose aber ist: Diese Abnahme des Konsens verwandelt sich nicht in politische Opposition, sondern in politische Anomie oder anders gesagt: Was geht mich das Ganze an? Es gibt also weiterhin den mehrheitlichen Konsens, aber der passive Teil dieses Konsens wird proportional immer größer. Zur Lösung der Probleme brauchst du aber nicht nur einen Mehrheitskonsens, sondern einen aktiven Mehrheitskonsens, neue Formen der Beteiligung. Die zu schaffen, ist neben dem Thema Wirtschaft entscheidend.

 

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