Die Schöne und die Bestien

Strahlende Propagandashow Bukele bei der Miss Universe-Wahl im November (Fotos: Kellys Portillo für Alharaca)

Die ersten Kandidatinnen trafen am 1. November 2023 in El Salvador ein: Miss Kamerun, Miss Thailand, Miss Norwegen und Miss Panama. Von diesem Tag an beherrschte ihre Anwesenheit die Titelseiten aller salvadorianischen Zeitungen sowie die sozialen Medien. Miss Universe 2023 übernahm die Aufmerksamkeit des ganzen Landes.

Auf diese vier jungen Frauen folgten 84 weitere aus der ganzen Welt. Ihr Besuchsprogramm wurde von der nationalen Presse konstant verfolgt: Die Schönheitsköniginnen besuchten Maya-Ruinen, tanzten Cumbia im historischen Zentrum und feierten das Lieblingsprojekt der Krypto-Enthusiast*innen, das Stranddorf El Zonte, auch „Bitcoin Beach” genannt. Zu den Ausflügen hinzu kamen Abendessen in den teuersten Restaurants des Landes sowie Übernachtungen in verschiedenen Luxushotels. Es wurden Fotos einiger Misses mit „Nayib Bukele 2024“-Kappen in den sozialen Netzwerken sowie über Propagandamedien der Regierung gestreut: illegale Propaganda für den verfassungswidrigen Wiederwahlversuch des Präsidenten. Obwohl die salvadorianische Regierung die genauen Kosten für die Durchführung des Schönheitswettbewerbs nicht bekanntgegeben hat, gab die ehemalige Miss El Salvador, Milena Mayorga, die mittlerweile Botschafterin El Salvadors in den Vereinigten Staaten ist, in einem Interview an, dass sich die Kosten allein für die Durchführung der Veranstaltung auf über 100 Millionen Dollar belaufen.

Während die Miss-Universe-Kandidatinnen an den salvadorianischen Stränden Fotoshootings machten, erreichte eine schockierende Meldung aus den USA die Bevölkerung: Am 7. November wurde Élmer Canales, „Crook“, einer der führenden Köpfe der Mara Salvatrucha-13, an die Vereinigten Staaten ausgeliefert. In den Wochen des Schönheitswettbewerbs stand Canales in New York vor Gericht. Seine Aussage bestätigte, dass es einen Pakt zwischen den Gangs und der Bukele-Regierung gab. Der Zeitpunkt für eine ansonsten schwerwiegende Enthüllung über Korruption in der salvadorianischen Regierung war für Nayib Bukele perfekt: Das Hauptthema in der nationalen Öffentlichkeit blieb weiterhin Miss Universe. Das Finale am 18. November war der Höhepunkt der Euphorie. Die Karten für die Show kosteten 500 bis 2.000 Euro – in einem Land, in dem der Mindestlohn nicht einmal 400 Dollar beträgt. Während sich die Kandidatinnen auf die Show vorbereiteten, waren einige Kilometer entfernt wütende Schreie zu hören. Eine Demonstration war auf dem Weg zum Hotel Intercontinental, in dem die Misses untergebracht waren, um die Scheinwelt von Präsident Bukele zu durchbrechen. Der Protestzug, initiiert durch die Bewegung der Opfer des Regimes (MOVIR), versuchte, die internationale Presse zu erreichen, um auf die Menschenrechtsverletzungen im Land aufmerksam zu machen. Die Demonstrant*innen und sogar die Presse wurden von der Polizei blockiert.

2023 wie 1975: Fotoshootings auf der einen Seite, Repression auf der anderen

Diese Konfrontation wirkt wie ein Déjà-vu. Denn es ist nicht das erste Mal, dass Miss Universe in El Salvador stattfindet und auch nicht das erste Mal, dass dies im autoritären Kontext geschieht. Im Jahr 1975, inmitten der Militärdiktatur, gelang es der Regierung von El Salvador, den Wettbewerb in das Land zu holen. Die Veranstaltung war Teil einer Strategie zur Vermarktung El Salvadors als Reiseziel unter dem Slogan „Das Land des Lächelns“. Doch hinter dem Lächeln verbarg sich ein zutiefst ungleiches Land, das seit Jahrzehnten unter der Herrschaft einer Militärdiktatur mit wechselndem Führungspersonal stand. Die absolute Unterdrückung der Opposition und der sozialen Bewegungen verwandelte das Land in einen Druckkochtopf, der wenige Jahre später zum Bürgerkrieg führen sollte. Zwei Wochen nach dem Finale von Miss Universe 1975 ordnete der damalige Präsident, Oberst Arturo Armando Molina, eine gewaltsame Niederschlagung einer Demonstration von Studierenden an, die auf der Straße die Verwendung öffentlicher Mittel für den Schönheitswettbewerb kritisierten. Es wird geschätzt, dass Hunderte von Menschen starben oder von staatlichen Sicherheitskräften entführt, gefoltert und ermordet wurden. Die genaue Zahl ist jedoch unbekannt, da die Aufklärung des Falls ausblieb.

“Magisches” El Salvador Proteste gegen den Schönheitswettbewerb wurden von bewaffneten Sicherheitskräften blockiert

Wie damals versucht die aktuelle Regierung El Salvadors, die überwältigende Armut und Repression zu vertuschen. Seit März 2022, also seit fast zwei Jahren, herrscht Ausnahmezustand im Land. Der Ausnahmezustand, der eigentlich nur für 30 Tage gelten sollte, wurde bereits 20-mal verlängert. Im Rahmen der Offensive gegen Straßengangs haben die Polizei und das Militär über 70.000 Personen verhaftet: Zwei Prozent der salvadorianischen, erwachsenen Bevölkerung sitzen im Gefängnis. Seit März 2022 sind mindestens 180 Menschen in den überfüllten Gefängnissen gestorben, viele davon, ohne jemals vor Gericht gestellt zu werden. Die Rede von Nayib Bukele beim großen Finale des Schönheitswettbewerbs präsentierte allerdings ein ganz anderes Land: „Für alle, die in Freiheit leben wollen, können wir Botschafter werden und der Welt mitteilen, dass El Salvador der Ort ist, an dem man seine Träume leben kann”, feierte der salvadorianische Präsident.

Überraschende Krönung

Die Verkündung des Ergebnisses der Miss-Wahl am 18. November brachte für viele eine Überraschung: Die Krone ging an Miss Nicaragua, Sheynnis Palacios. Die erste zentralamerikanische Gewinnerin in der Geschichte des Wettbewerbs wurde in ihrer eigenen Region gekrönt. Der Sieg von Miss Nicaragua bedeutete die Rückkehr vieler Nicaraguaner*innen auf die Straßen, nach Jahren der Angst vor der verheerenden Repression durch den Regierungsapparat. Zum ersten Mal seit Jahren waren öffentliche Plätze und Straßen in Managua voll von euphorischen Menschen, die blau-weiße Fahnen schwenkten, welche im Jahr 2018 zum Symbol der Opposition gegen die Regierung Ortega geworden waren.

Das wiederum stellte ein Dilemma für den nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega und die Vizepräsidentin Rosario Murillo dar: Auf der einen Seite war es vielleicht das erste Mal seit Jahren, dass Nicaragua einen wichtigen Platz in der internationalen Presse einnahm, ohne dass es sich um eine seiner vielen Repressionsmaßnahmen handelte. Allerdings ist Sheynnis Palacios keine genehme Miss-Universe-Gewinnerin für die Ortega-Murillo-Propaganda: In den Medien hat sie sich bei der nicaraguanischen Regierung nicht bedankt. Sie widmete den Preis ihrer Familie und der nicaraguanischen Bevölkerung und erwähnte das Regierungspaar dabei nicht einmal. Bei einer Pressekonferenz machte sie die Andeutung, dass ihr Land sich verändern werde, ohne dabei jedoch konkret auf die politische Situation Nicaraguas einzugehen. Minuten nach ihrer Krönung wurden außerdem in den sozialen Netzwerken Fotos der Schönheitskönigin auf Demonstrationen gegen die nicaraguanische Diktatur bei den Aufständen von 2018 massiv geteilt.

„Nicaragua feiert mit seiner Königin!”, erklärte die Regierung zunächst am Tag nach der Miss-Universe-Wahl in einem Statement, das allerdings weder von Ortega noch von Murillo unterschrieben wurde. Drei Tage später war die Stimmung in der Regierung deutlich weniger festlich. Rosario Murillo schrieb im von der Regierung kontrollierten Nachrichtenportal El 19 Digital, dass die „eitlen, verrückten Menschen”, womit die politische Opposition und die kritische Zivilbevölkerung gemeint waren, aufhören sollten „Schönheit, Freude und Talent” von Palacios zu missbrauchen. Zwei Wochen nach dem Gewinn wurde Karen Celebertti, Leiterin des Miss-Nicaragua-Wettbewerbs, am Flughafen in Managua der Eintritt in das Land verweigert. Das Haus der Familie von Martín Argüello Leiva, dem Ehemann von Celebertti, wurde durchsucht. Seit dem 27. November wird Argüello Leiva dort unter Polizeibewachung in Isolationshaft gehalten.

Wie viele Regierungen in der Vergangenheit haben zwei autoritäre zentralamerikanische Präsidenten versucht, die Miss-Universe-Wahl zu ihrem Vorteil zu nutzen. Für Bukele, der Umfragen zufolge den Rückhalt der Mehrheit der Bevölkerung genießt und dessen Beliebtheit weder durch Korruption noch durch Repression beeinträchtigt wurde, war die Veranstaltung ein Schub medialer Aufmerksamkeit und eine willkommene Ablenkung. Für Ortega bedeutete der Sieg einer nicaraguanischen Frau, die nicht regierungsnah zu sein scheint, ein symbolischer Schlag und ein weiterer Riss im staatlichen Sandinismus, während die Unzufriedenheit immer weiterwächst. Was beide autoritäre Regierungen gemeinsam haben: Eine mutige und widerständige Zivilgesellschaft, die sich trotz der Repression nicht komplett davon abhalten lässt, auf die Straßen zu gehen und für das eigene Land zu kämpfen.

Ein Jahr im Ausnahmezustand

“Lebend haben sie ihn mitgenommen, lebend will ich ihn zurück” Demonstration von Angehörigen von iM Ausnahmezustand Inhaftierten (Foto: Kellys Portillo für Alharaca)

Heute ist der 24. März, es ist erst achtzehn Uhr, aber Camila weiß schon, dass sie fast die ganze Nacht vor „El Penalito“ warten wird. Sie hat schon viel gewartet. Geduldig hat sie die dreistündige Autofahrt von Jiquilisco, einer Küstengemeinde im äußersten Osten des Landes, in die salvadorianische Hauptstadt San Salvador überstanden. Ebenso jede Busfahrt zuvor, als sie die paquetes für ihre Familienangehörigen ins La Esperanza-Gefängnis, bekannt als „Mariona“, gebracht hat. Aber besonders geduldig war Camila in den vergangenen zehn Monaten ohne ihren Ehemann, ihren Bruder und ihre Söhne, die alle im Mai 2022 im Rahmen des Ausnahmezustands festgenommen wurden. Seit fast einem Jahr hat sie keinen Kontakt zu ihnen.

„El Penalito” ist der Spitzname jener Polizeikaserne in San Salvador, in der sich der Sitz der Abteilung für außerordentliche Dienste befindet. Dort werden von Montag bis Freitag jede Nacht um die zehn Gefangene freigelassen, die aus verschiedenen Gefängnissen des Landes verlegt werden. Daher treffen sich vor dem Tor, aus dem die Gefangenen entlassen werden, jeden Abend Dutzende Familien in der Hoffnung, ihre Familienangehörigen wiedersehen zu können.

Die Berichte über willkürliche Festnahmen häufen sich

Die vier Männer aus Camilas Familie gehören zu den über 66.000 Personen, die seit dem 27. März 2022 verhaftet wurden, nachdem der salvadorianische Kongress mit einer Mehrheit der Regierungsparteien den Ausnahmezustand erklärt hat. Die Maßnahme war eine Reaktion auf ein dreitägiges Massaker, bei dem 87 Menschen von der Mara Salvatrucha (MS-13), einer der größten Gangs in El Salvador, ermordet wurden. Eine Recherche des investigativen Journalist*innenteams von El Faro hat bewiesen, dass die Massaker eine Reaktion auf den Bruch eines geheimen Pakts zwischen MS-13 und der Regierung von Präsident Nayib Bukele waren.

Präsident Bukele forderte den Kongress in der Folge erfolgreich dazu auf, grundlegende Rechte – die Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Verteidigung und das Fernmeldegeheimnis – für mindestens 30 Tage auszusetzen. Allein am ersten Tag wurden 1.400 mutmaßliche Gangmitglieder verhaftet. Eine Woche später verabschiedeten die Parlamentarier*innen mehrere Reformen des Strafgesetzbuchs, die den Freiheitsentzug für Bandenmitglieder auf bis zu 45 Jahre erhöht haben und unter anderem Haftstrafen von bis zu zehn Jahren für 12-Jährige und bis zu 20 Jahren für 16-Jährige vorsehen.

Gefangene leiden wegen der mangelhaften Ernährung unter niedrigem Blutdruck und Herzrasen

Es gibt zahlreiche Berichte von willkürlichen Inhaftierungen. Seit einem Jahr sitzen immer mehr Männer und Frauen in den schon vorher überfüllten Gefängnissen El Salvadors. Dort erleben sie Bedingungen, die nur als Folter beschrieben werden können. Nayib Bukele hatte bereits zu Beginn des Ausnahmezustands über Twitter erklärt, er würde den Gefangenen nur sehr wenig Essen zur Verfügung stellen lassen. Dies bestätigt eine Person, die in einem der Gefängnisse arbeitet, gegenüber LN: „Die Gefangenen des Ausnahmezustands werden schlecht ernährt, nur Nudeln oder Reis, Fleisch vielleicht einmal in der Woche. Vorher haben sie nur zwei Mahlzeiten am Tag bekommen, aber das mussten sie ändern“, erklärt sie. „Da die Gefangenen nur wenig Wasser trinken durften, mussten sie häufig in die Gefängnisklinik, etwa mit extrem niedrigem Blutdruck und Herzrasen. Erst als mehrere Gefangene mit sehr niedrigem Blutdruck in Folge von Dehydrierung starben, hat man ihnen Zugang zu einem Wasserhahn verschafft“, berichtet sie.

Am 23. März hatte die Bewegung der Opfer des Regimes (MOVIR) in den sozialen Netzwerken den Tod von Orlando Claros, ebenfalls aus Jiquilisco, öffentlich gemacht. Laut Informationen von MOVIR ist er wenige Stunden nach seiner Entlassung nach elfmonatiger Haft an schwerer Anämie gestorben. Zwar konnten seine Kinder ihn ein letztes Mal sehen. Seine Frau, die ebenfalls in Haft ist, weiß jedoch vermutlich nichts von seinem Tod. Es gibt viele solche Fälle: Laut Menschenrechtsorganisationen sind in einem Jahr Ausnahmezustand mindestens 111 Personen in Haft gestorben.

„Wer sorgt für Gerechtigkeit für diejenigen, die im Gefängnis sterben?“

Antonio, ein weiterer Bruder von Camila, der neben ihr am Bürgersteig vor „El Penalito“ auf einem Plastikstuhl wartet, beschreibt, was der Ausnahmezustand für seine Familie bedeutet: „Der Präsident hat den Befehl gegeben (den Ausnahmezustand zu erklären, Anm. d. Red.), das verstehe ich. Aber er merkt nicht, wie er Unschuldige und arme Familien verletzt.“ Später fügt er wütend hinzu: „Er behauptet, er sorge für Gerechtigkeit, aber wer sorgt für Gerechtigkeit für diejenigen, die im Gefängnis sterben; für die Mütter, die an Verzweiflung sterben, weil sie auf ihre Kinder warten müssen?“

Trotz konstanten Drucks der Familienangehörigen von unschuldig verhafteten Personen und der starken Kritik aus der Zivilgesellschaft und der internationalen Gemeinschaft wird der Ausnahmezustand jeden Monat verlängert. Die Prozesse der verhafteten Personen werden immer wieder verschoben und rechtswidrig in die Länge gezogen. Familien wie die von Camila, die jede Nacht vor dem „Penalito“ warten, wurden von ihren Anwält*innen darüber informiert, dass ihre Angehörigen bereits „Entlassungsbriefe“, also Gerichtsbeschlüsse für ihre sofortige Freilassung, bekommen haben. Allerdings kann es bis zur tatsächlichen Freilassung lange dauern. „Manche werden erst ein bis zwei Monate nach dem Erhalt des Briefes willkürlich freigelassen“, erklärt Ramón, ein Rechtsanwalt aus dem ehrenamtlichen Kollektiv Socorro Jurídico Humanitario (SJH), der fast jede Nacht mit den Familien dort wartet. Der Ehemann und der Bruder von Camila haben Anfang März ihre Briefe zur sofortigen Entlassung bekommen. Zwei Wochen später wurde nur Camilas Bruder freigelassen.

Jede Nacht Hoffnung auf die Freilassung Gefangene kommen mit dem Bus an und können ihre Familien in den Arm nehmen (Foto: Kellys Portillo für Alharaca)

Jeden Tag entsteht im „Penalito“ eine Liste mit den Namen der Personen, die in der Nacht freigelassen werden. Diese Liste ist nicht offiziell: Personen in der Kaserne lassen sie durchsickern, die Bewegung MOVIR veröffentlicht sie in den sozialen Netzwerken. Die Familienangehörigen von verhafteten Personen müssen also jeden Tag auf die Liste warten, um dann Zeit und Mittel zu organisieren, um aus allen Ecken des Landes zum „Penalito“ zu fahren und bis Mitternacht zu warten.

Die staatlichen Sicherheitskräfte scheinen sich unantastbar zu fühlen

Der Name des Ehemanns von Camila stand noch nicht auf der Liste. Trotzdem wartet sie jede Nacht dort. In der Woche zuvor wurde ihr Bruder freigelassen, obwohl er nicht auf der Liste war. Das hat sie überrascht und darf nicht nochmal passieren: Denn wenn eine Person freigelassen wird, aber keine Familienangehörigen oder Bekannte dort sind, um sie aufzunehmen und sich als Verantwortliche mit Ausweis und Unterschrift anzumelden, dann werden sie zurück in die Haft geholt. Dies verstößt eindeutig gegen den Gerichtsentscheid, ist aber gängige Praxis geworden.

Die Willkür der staatlichen Sicherheitskräfte, die sich unantastbar zu fühlen scheinen, ist spürbar. In derselben Nacht verweigert ein Polizist in der Nähe des „Penalito“ drei Jugendlichen in Schuluniformen den Durchgang und nimmt ihnen ein Plakat weg, das sie für den Unterricht gemacht hatten. Später steigen zwei Polizisten in einen Bus, der vor der Polizeikaserne vorbeifährt, ziehen einen Mann auf die Straße, schlagen ihn und schleifen ihn über den Boden, während er noch liegt – alles vor den Augen dutzender Menschen. Bislang zählen eine Allianz von sieben Organisationen der Zivilgesellschaft 4.723 Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand.

Der kleine Bus mit den Gefangenen kommt um 20.30 Uhr an. Acht Männer in Handschellen steigen aus, drei weniger als Namen auf der Liste. Alle Familienangehörigen versuchen von der anderen Straßenseite aus zu sehen, ob die Person, auf die sie warten, dabei ist. Das ist nicht einfach, denn alle acht Häftlinge sehen gleich aus: dünn, glattrasiert, mit weißer Uniform und einem Mund-Nasen-Schutz. Der Mann von Camila ist leider auch heute nicht dabei.

Die Familien und Ehrenamtliche vor Ort haben mit der Zeit eine Art informelles Netzwerk organisiert. Mithilfe der Geschäfte vor dem „Penalito“ machen sie schnell Kopien von Dokumenten, die sie für die Freilassung brauchen und koordinieren Transport und Unterkunft für diejenigen, die keine verantwortliche Person vor Ort haben. „Keiner wird zurückgelassen“, sagt Marina, eine Verkäuferin, die vor der Kaserne arbeitet und die Familien unterstützt. „Wenn sie wirklich niemanden haben, der sie abholt, besorgen wir irgendwie eine Unterkunft hier in der Nähe“, erzählt sie. Die Familien und Ehrenamtlichen selbst spenden immer ein paar Münzen für diese Menschen.

Die sogenannte Ausnahme ist zur Regel geworden

Um 21.10 Uhr kommt der erste Mann raus. Er findet sofort eine Frau in Türkis und umarmt sie so doll, dass beide lachend fast umkippen. Dann der nächste, der eine ältere Dame für eine Minute umarmt und nicht mehr loslässt. Der Dritte sieht eine Frau seiner Familie auf der anderen Straßenseite, die fast überfahren wird, als sie zu ihm rennt. Der vierte Mann kreuzt selbst die Straße, um eine junge Frau und ein Kleinkind zu drücken und zu küssen. Seine Mutter ist auch da und will auch eine Umarmung. Sie ruft weinend: „Komm her, papito lindo, komm bitte her!“

Die Umarmungen lösen Applaus in der kleinen Menschenmenge aus. Viele, fast alle Beobachter*innen weinen. Es ist ein überwältigender Moment: Diese Familien sehen sich zum ersten Mal seit zehn, elf Monaten. Doch was hier außergewöhnlich erscheint, wiederholt sich seit einem Jahr an jedem Wochentag – seitdem die sogenannte Ausnahme zur Regel und Routine geworden ist.

Eine halbe Stunde später sind alle Menschen nach Hause gegangen. Die Straße vor dem „Penalito“ ist einsam. Am darauffolgenden Montag wird alles wieder von vorne beginnen. Neue und einige der gleichen Familien, wie die von Camila, werden eine weitere Nacht dort warten. Etwa ein Dutzend Männer und vielleicht auch Frauen werden durch diese Tür kommen und hoffentlich ihre Familie in die Arme nehmen. Aber ihr Albtraum ist noch nicht vorbei, denn die Gefahr, wieder willkürlich verhaftet zu werden, wird weiterhin bestehen: Solange, bis der Ausnahmezustand nicht mehr verlängert wird.

EIN PARADIES FÜR ZENSURFANS

Preisgekrönter Dokumentarfilm Nuestra Libertad handelt von Frauen, die aufgrund von Fehlgeburten kriminalisert werden (Foto: @Pråmfilm @Flysofar)

Die Einladungen waren verschickt, der Kinosaal gebucht. Dennoch blieb die Leinwand des Kinosaals in San Salvador an diesem Dienstagabend dunkel. Dabei war für den 16. August eigentlich eine ganz besondere Vorpremiere angesetzt gewesen. Auf dem Programm stand Nuestra Libertad (Unsere Freiheit; englischer Titel: Fly so far), ein mit internationalen Preisen dekorierter Film aus salvadorianischer Produktion. Sein Thema: Die ultra-restriktive Gesetzgebung in El Salvador, die jeglichen Schwangerschaftsabbruch unter härteste Strafen stellt. Dass der Film nicht gezeigt werden konnte, hat viel damit zu tun, dass er den Nerv eines Landes trifft, dessen Rechtsprechung Frauen kolossale Ungerechtigkeiten zufügt. Aber auch damit, dass eben diese Rechtsprechung in El Salvador aktuell völlig unkalkulierbar ist.

Mit Nuestra Libertad – Fly so far hat die salvadorianisch-schweizerische Regisseurin Celina Escher einen Dokumentarfilm über die Menschen gedreht, die am härtesten von der juristischen Situation im Land betroffen sind. Über einen längeren Zeitraum hatte sie dafür die Gruppe der 17 (Las 17) begleitet und gefilmt. Als Gruppe der 17 wurden junge Frauen, ausnahmslos aus prekären Verhältnissen, bekannt, die wegen Fehlgeburten zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt wurden und aus verschiedenen Gründen nicht ausreichend Möglichkeit bekamen, ihre Unschuld zu beweisen. Eschers Film erregte hohe internationale Aufmerksamkeit. In vielen Staaten lief Nuestra Libertad – Fly so far im Kino, in einigen auch im Fernsehen. So zum Beispiel in Polen, einem Land, das ebenfalls nicht für seine liberale Haltung in der Abtreibungsfrage bekannt ist. Laut der Regisseurin kein Thema für die Veröffentlichung ihres Werks: „Nie gab es Probleme, nie wurden wir bedroht“.

Erst als der Film in den Kinos ihres Heimatlandes El Salvador anlaufen sollte, änderte sich das. Es regte sich Widerstand ultrakonservativer Aktivist*innengruppen, die sich selbst als Pro Vida (Für das Leben) bezeichnen und die diskriminierende Rechtsprechung des Landes unterstützen. Diese kriminalisiert, unabhängig von Umstand und Verlauf der Schwangerschaft, jeglichen Versuch der Abtreibung. Selbst Fehlgeburten unterliegen einem Generalverdacht, von dem sich alleinstehende, aus prekären Verhältnissen stammende Frauen, wie die Gruppe der 17 nur schwer befreien können, da sie sich keinen teuren Rechtsbeistand leisten können. Ihre Fälle lesen sich vergleichbar, wie aus einem Horrorfilm, der beständig die gleiche Szene wiederholt: Schwangerschaft, Fehl- oder Frühgeburt unter meist unzureichenden medizinischen Bedingungen, kurz darauf trotz nicht bewiesener Schuld Verurteilung zu Haftstrafen in absurder Höhe wegen Kindesmordes. 30 Jahre Gefängnis lautet das häufigste Urteil. Einige Frauen wurden durch die Situationen traumatisiert oder verloren während ihrer Fehlgeburt sogar das Bewusstsein. Auf mildernde Umstände durften sie trotzdem nicht hoffen. Von den Vätern der Kinder fehlt ohnehin meist jede Spur.

Celina Escher ist die Regisseruin des Films “Nuestra Libertad – Fly so far” (Foto: @escher.celina)

Nuestra Libertad – Fly so far wurde auf 50 Festivals weltweit gezeigt, der Film gewann 18 Preise. Ein Meilenstein für ein Land wie El Salvador mit einem eher bescheidenen cineastischen Output. Durch den großen Erfolg konnte eine Kinokette für die Distribution des Films in heimischen Kinos gewonnen werden. Allerdings wartete das Filmteam bis eine Woche vor der Premiere auf die Freigabe durch eine Regierungsstelle. „Das ist eine Standardprozedur, durch die jeder Film durch muss, der hier im Kino gezeigt wird. Trotzdem waren wir natürlich besorgt, dass es Probleme geben könnte“, erzählt Escher. Aber die Freigabe erfolgte am 11. August, die Premiere hätte also wie geplant am 18. des Monats in San Salvador stattfinden können. Doch die Aktivist*innen der Pro-Vida-Gruppen wollten das verhindern. Erstaunlich koordiniert und gut vorbereitet gingen sie bereits am Tag nach der Entscheidung mit einem gemeinsamen offenen Brief, der haltlose Verleumdungen und Rekriminalisierungen des Filmteams und der Frauen der Gruppe der 17 enthielt, an die Öffentlichkeit. Gleichzeitig drohten die Abtreibungsgegner*innen den Kinobetreiber*innen mit rechtlichen Schritten, falls der Film in ihren Sälen gezeigt werden sollte. Eine rechtliche Prüfung durch das Kino ergab, dass die Vorwürfe vor einem Gericht keinen Bestand haben dürften, da der Grundsatz der Pressefreiheit durch den Film nicht in Frage gestellt würde. Dennoch entschied sich die Kette dafür, den Film aus dem Programm zu nehmen – zumindest so lange, bis wieder Rechtssicherheit in El Salvador herrscht. Seit fast einem halben Jahr ist diese nämlich in dem zentralamerikanischen Land nicht mehr gegeben.

Absurde Strafen Viele Frauen wurden zu 30-jährigen Haftstrafen verurteilt (Foto: @Pråmfilm @Flysofar)

„Komplex“ nennt Celina Escher die Gemengelage. Von direkter staatlicher Zensur könne man nicht sprechen, schließlich sei die Veröffentlichung des Films genehmigt gewesen. Doch ihrer Rechte sicher sein kann sich im Moment fast keine Organisation, die politische oder soziale Missstände in El Salvador beim Namen nennt. Grund dafür ist der parlamentarische Ausnahmezustand, den Staatspräsident Nayib Bukele Ende März mit der Begründung des Kampfes gegen Bandenkriminalität verhängt hat und der seither mit schöner Regelmäßigkeit jeden Monat verlängert wird. Dadurch sind Grundrechte außer Kraft gesetzt, zu denen zwar nicht die Pressefreiheit, aber dafür wichtige Rechte von Angeklagten in Strafprozessen gehören. Unter diesen Umständen könnte deshalb aktuell niemand eine Garantie dafür übernehmen, dass ein möglicher Prozess auf der Grundlage der laut Verfassung gültigen Rechtsnormen durchgeführt würde. Die einzig sichere Form, in El Salvador vor Gericht nicht verurteilt zu werden, ist momentan, es gar nicht erst zu einer Anklage kommen zu lassen. Ein Paradies für aggressive und finanziell gut ausgestattete Zensurfans wie das Pro-Vida-Bündnis, das so mit Drohungen und Einschüchterungen leichtes Spiel hat, die Veröffentlichung missliebiger Berichterstattung zu verhindern. Zumindest vorerst. „Natürlich haben wir weiterhin vor, den Film auch in El Salvador zu zeigen“, erklärt Celina Escher. Wann dies sein wird, steht aber angesichts der aktuellen Lage in den Sternen.

Viele Fragen zum Fall Nuestra Libertad – Fly so far bleiben ungeklärt. Zum Beispiel, wer die Freigabe des Films durch die staatlichen Stellen so blitzschnell an das Pro-Vida-Bündnis durchstach, dass dieses sich umgehend organisieren konnte. Oder warum der Staat von selbst so wenig unternimmt, um das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Pressefreiheit durchzusetzen. Die wichtigste aber bleibt, wann Frauen in El Salvador endlich vor willkürlichen Gefängnisstrafen nach Schwangerschaftsabbruch bewahrt werden und wer sie und ihre Unterstützer*innen vor den fanatischen Abtreibungsgegner*innen beschützt. „Wir wissen, wozu diese Gruppen fähig sind“, sagt Celina Escher, die vor allem in Sorge um die Protagonistinnen ihres Films – manche mittlerweile frei, manche noch im Gefängnis – ist. Aber auch für sich hat die Regisseurin bereits Maßnahmen getroffen: Aus Selbstschutz hat sie ihren Aufenthaltsort dauerhaft ins Ausland verlegt und wird vorerst nicht nach El Salvador zurückkehren.

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VON BUKELE INS EXIL GETRIEBEN

Erst entlassen, dann verfolgt Ludovina Escobar hat El Salvador verlassen (Foto: Salvador Meléndez / Revista Factum)


Dieser Text wurde von der Zeitschrift Revista Factum auf Spanisch erstveröffentlicht. Hier könnt Ihr den Originaltext lesen.

„Ich fühlte mich bedroht. Mir wurde mitgeteilt, dass ich mich darauf vorbereiten solle, im Gefängnis zu landen”, berichtet Liduvina Escobar. Zwei Tage nach dieser Warnung verließ die ehemalige Mitarbeiterin des Instituts für Zugang zu öffentlichen Informationen (IAIP) Anfang Mai 2021 El Salvador. Die Regierung von Präsident Nayib Bukele hatte Escobar vorgeworfen, vertrauliche Informationen an die Presse weitergegeben zu haben, nachdem sie im Interview mit der Zeitschrift Revista Factum Unregelmäßigkeiten im Zugang zu öffentlichen Informationen publik gemacht hatte. Im April 2021 wurde sie deshalb vorübergehend ihres Postens enthoben. Am 7. Februar 2022 bestätigte Präsident Nayib Bukele ihre endgültige Entlassung.

Escobar verließ El Salvador, weil sie das Gefühl hatte, dass das System ihr weder Sicherheit als Bürgerin noch rechtliche Garantien bot. Drei Tage, bevor sie ins Exil ging, hatte das von der Regierung Bukele kontrollierte Parlament die Richter*innen der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs und die Generalstaatsanwaltschaft entlassen. Zwei Beschwerden gegen Escobar bei der Staatsanwaltschaft beschleunigten ihren Entschluss, außer Landes zu fliehen. Escobar ist nicht die Einzige, die im Land über politische Verfolgung klagt: Nach Zählungen zivilgesellschaftlicher Organisationen haben im letzten Jahr mindestens 50 Salvadorianer*innen deswegen das Land verlassen, darunter Anwält*innen, Aktivist*innen, Politiker*innen, Staatsanwält*innen, Journalist*innen, Unternehmer*innen, Richter*innen des Obersten Gerichtshofes und Gemeindearbeiter*innen. Sie alle hatten zuvor Drohungen erhalten, wurden von Sicherheitskräften verfolgt oder fürchteten um ihre verfassungsmäßigen Rechte.

Bandenmitglieder drohen im Auftrag der Regierung

„Häufig sprechen Bandenmitglieder die Drohungen aus“, so Rina Montti, Leiterin der Beobachtungsstelle für Menschenrechte von Cristosal, einer Organisation, die Fälle von gewaltvoller Vertreibung sammelt. Allein Cristosal zählt 30 politische Geflüchtete bis November 2021. „Es ist ein Problem gesellschaftlicher Gewalt. Die Banden werden instrumentalisiert und angeheuert, um diese Art von Drohungen auszusprechen. Die Gründe für die Angriffe stehen nicht immer im Zusammenhang mit Erpressung oder der Tätigkeit von Banden in dem Gebiet“, so Montti.

Die Erfahrungen, die Salvadorianer*innen dazu veranlassen, ihr Land zu verlassen, sind so vielfältig wie alarmierend: Männer, die Fotos aufnehmen; zerstochene Reifen; Drohungen von Bandenmitgliedern oder im Internet; Verfolgung durch das Finanzamt; Beschwerden bei der Generalstaatsanwaltschaft und Polizei oder Militärs vor der eigenen Wohnung. Alle Betroffenen haben eines gemeinsam: Alle haben auf irgendeine Weise Kritik an der Regierung geübt. Einige von ihnen in ihrer Arbeit in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder oppositionellen Parteien, andere durch ihr Wissen über Korruptionsfälle. Escobar hat die Vorgänge aufgeschrieben, die sie dazu gebracht haben, El Salvador zu verlassen. Dazu gehört, dass die Reifen ihres Wagens zerstochen wurden und Polizei- oder Militärpatrouillen häufig vor ihrem Haus parkten. Außerdem vermutet sie, dass ihr Handy von der Regierung abgehört wurde. Escobars Familie musste vor der Ausreise umziehen, weil sie sich gefährdet fühlte. Als ihr Mann die Möbel verlud, fragte ihn ein maskierter Mann mit dunkler Brille, der sich nicht weiter auswies, wo seine Frau sei und wohin und wieso sie umziehen würden. Ihr Mann sei gegangen, ohne zu antworten, so Escobar. Wer die Regierung kritisiert, muss mit Drohungen rechnen In den zehn Monaten, die sie sich bereits im Exil befindet, haben ihr Freund*innen geholfen. Durch den Verkauf von landestypischem Essen oder gebrauchter Kleidung konnte sie persönliche Ausgaben, Lebensmittel und Handyrechnungen bezahlen. Auch wenn sie dankbar sei, sogar ein Auto geliehen bekommen zu haben, wäre sie lieber in El Salvador, um ihren Beruf auszuüben. Momentan hängt ihr weiteres Leben von der Entscheidung der Einwanderungsbehörde ab. „Irgendwo im Nirgendwo anzukommen, von Solidarität zu leben. Ich wäre tausendmal lieber in meinem Land, in meinem Haus, und würde mit meiner Familie Bohnen essen, anstatt hier zu sein. Kein anderes Land wird jemals dein eigenes Land ersetzen, egal wie viele gute Menschen du dort triffst”, betont sie.

Ende 2020 hatte die Regierung Bukele das Institut für den Zugang zu öffentlichen Informationen, in dem Escobar arbeitete, übernommen und Vertreter*innen der eigenen politischen Linie als Bevollmächtigte eingesetzt. Das Institut war der Regierung ein Dorn im Auge geworden, weil es gefordert hatte, die Verwendung öffentlicher Mittel transparenter zu gestalten. Vor ihrer Absetzung hatte Escobar unter anderem ein Sanktionsverfahren gegen Osiris Luna eingeleitet. Der Generaldirektor der Strafvollzugsanstalten hatte Informationen über eine Reise im Privatjet zurückgehalten. Außerdem leitete sie eine Anordnung an das Verteidigungsministerium zur Suche nach Akten über eine Militäroperation an der Universität von El Salvador und drängte auf die Herausgabe von Informationen über Positionen und Gehälter von Regierungsangestellten. Die Zukunft ihrer Familie und ein Leben und Arbeiten in Ruhe sieht Escobar derzeit nur außerhalb von El Salvador. „Nach Monaten der Trennung bin ich jetzt wieder mit meiner Familie vereint und muss es in einem anderen Land aushalten. Das ist nicht fair“, sagt die ehemalige Ermittlerin, während sie ein Video ihrer Tochter zeigt, die im Hinterhof eines fremden Hauses spielt.

Zu den politisch Verfolgten gehören Oppositionelle genauso wie Journalist*innen

Das fehlende Vertrauen in die staatlichen Institutionen hält viele politisch Verfolgte davon ab, in El Salvador Anzeige zu erstatten. Präsident Nayib Bukele kontrolliert das Parlament, das sowohl regierungstreue Richter*innen am Obersten Gerichtshof sowie einen neuen Staatsanwalt ernannt hat. Die Verfassungskammer, die Missbrauchsfällen der Exekutive Einhalt gebieten könnte, und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf Linie der Regierungspartei. Wie aus zahlreichen von zivilgesellschaftlichen Organisationen dokumentierten Fällen hervorgeht, hat sich die politische Verfolgung im Land verschärft, seit die drei Staatsgewalten unter Kontrolle der Regierung sind. In den ersten zwei Jahren der Regierung Nayib Bukeles haben 106.104 Menschen aus verschiedenen Gründen in anderen Ländern Asyl beantragt. Weltweit wurden die meisten Anträge in den USA und Mexiko gestellt, in der Region hauptsächlich in Guatemala und Costa Rica. Laut der Zoll- und Grenzschutzbehörde der Vereinigten Staaten wurden zwischen Oktober 2020 und September 2021 95.930 Salvadorianer*innen bei der Überquerung der Grenze festgenommen. Das ist die höchste Zahl in diesem Jahrhundert – im Schnitt wurden jeden Tag 260 Salvadorianer*innen festgenommen, fast 8.000 pro Monat. Verónica Reyna, Leiterin der Menschenrechtsprogramme des katholischen Sozialdienstes der Passionisten, befasst sich seit Jahren mit der Analyse von Gewalt und Migration in El Salvador. Sie ist der Ansicht, dass wirtschaftliche Faktoren und Gewalt zwar nach wie vor die Hauptursache für die hohe Migration sind, dass der Flucht aufgrund politischer Verfolgung aber mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte – auch wenn die verhältnismäßig nicht so massiv ist. „Je mehr Menschen von den Behörden aufgrund kritischer Äußerungen zu Gegnern erklärt werden, desto mehr wird sich diese Entwicklung fortsetzen“, so Reyna. „In El Salvador zeigen sich heute eindeutig antidemokratische diktatorische Tendenzen in der Regierung. Dazu kommen wirtschaftliche Verluste in den Fällen von Menschen, die ihre Arbeit verloren haben oder ihren Lebensunterhalt in der informellen Wirtschaft verdient haben“, analysiert auch Óscar Chacón, Direktor von Alianza America, einer Organisation, die in den lateinamerikanischen Einwanderungsgemeinschaften in den Vereinigten Staaten tätig ist. Immer häufiger sähen sich Menschen gezwungen, El Salvador zu verlassen, um einer möglichen Kriminalisierung oder Angriffen auf ihre persönliche Unversehrtheit oder ihr Leben zu entgehen. Dazu gehören auch regierungskritische Journalistinnen. Das Zentrum zur Beobachtung von Aggressionen gegen Journalist*innen von der salvadorianischen Journalistenvereinigung APES dokumentierte bisher mindestens drei Fälle von Journalist*innen, die nach Drohungen, Verfolgung und Überwachung das Land verlassen mussten. „Korruption ist nicht neu, keine regierende Macht mag es, wenn man sie auf ihre Fehler hinweist. Politiker wollen eine Presse, die sie lobt und nur ihre Gegner angreift. Wenn sie aber von der Presse enttarnt werden, versuchen sie, Journalisten zu diskreditieren“, sagt Susana Peñate von APES. Mit der Erklärung des Ausnahmezustands im Land und der Verabschiedung neuer Gesetze, die die Arbeit unabhängiger Medien erschweren (siehe Seite 32), dürfte sich diese Entwicklung noch verschärfen.

„Hätte ich das Land nicht verlassen, wäre ich jetzt eine Verschwundene“

Doch auch Oppositionspolitiker*innen geraten ins Visier der autoritären Regierung unter Präsident Bukele. „Ich bin mir sicher, wenn ich das Land nicht verlassen hätte, wäre ich jetzt eine Verschwundene. Ich wäre tot”, sagt die 36-jähirge Alejandra Menjívar im Gespräch mit Revista Factum in Mexiko, wo ihr nach einem Mordanschlag dauerhaft Aufenthalt gewährt wurde. Menjívar ist Menschenrechtsverteidigerin und die erste trans Frau, die für einen Sitz im Zentralamerikanischen Parlament (PARLACEN) zur Wahl antrat. 2006 trat sie der linken Partei FMLN bei, für die sie im Februar 2021 an den Bürgermeister*innen-, Abgeordneten- und PARLACEN-Wahlen kandidierte. Außerdem äußerte sie sich in den sozialen Netzwerken kritisch gegenüber Regierungsentscheidungen.

Als Menjívar am 20. Mai 2021 im Norden der Metropolregion San Salvador unterwegs war, bremste ein Wagen vor ihr. Drei Männer stiegen aus – Bandenmitglieder, wie Menjívar vermutet. „Wir werden dir eine Lektion erteilen, damit du den Mund hältst“, erinnert sie sich an deren Worte, während einer eine Pistole auf sie richtete und den Abzug drückte. Die Waffe blockierte. Auch als er ein zweites Mal abdrückte, löste sich kein Schuss. Ein vorbeifahrender Streifenwagen schreckte die Angreifer ab und weckte Menjívar wie aus einer Trance. „In diesem Moment wusste ich, dass ich verfolgt werde, dass die Regierung es auf kritische Stimmen abgesehen hat und ich nicht noch einmal so ein Glück haben würde. Also entschied ich mich, das Land zu verlassen und tat dies innerhalb von 24 Stunden“, erzählt sie.

Menschenrechtsorganisationen aus Guatemala und Mexiko halfen ihr, schnell die Region zu verlassen. Die ehemalige Parlamentskandidatin ist sich sicher, dass der Angriff von der Regierung unterstützt wurde, auch wenn sie meint, dass diese nie direkt drohen würde. „Sie werden nicht auf dich zu kommen und sagen ‚Du wirst schon lernen still zu sein und den Mund zu halten‘. Aber die Kritik, die ich nur kurz davor geäußert hatte, richtete sich gegen die Regierung. Deshalb denke ich, dass dieser Angriff von ihnen kam“, betont sie.

Als trans Frau ist Menjívar in El Salvador ohnehin einem zusätzlichen Risiko ausgesetzt. Zwischen 2011 und 2021 wurden laut der Organisation Concavis Trans 42 trans Frauen ermordet. Während ihrer Wahlkampagne zur Regionalabgeordneten musste Menjívar mit ihrer Familie aufgrund von Drohanrufen ihren Wohnort verlassen. Die Hassbotschaften, die von Bandenmitgliedern kamen und sich gegen ihren Aktivismus in der FMLN richteten, konzentrierten sich auf ihre Geschlechtsidentität. „Ich musste mich daraufhin von meiner Familie fernhalten, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Es war ein Risiko für mich, in ihrer Nähe zu sein. Ich konnte auch nicht im ganzen Land Wahlkampf machen, denn die Banden sind überall“, fügt sie hinzu.

Menjívar beantragte aus humanitären Gründen Schutz bei der Mexikanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (COMAR). Insgesamt suchten zwischen Januar und September 2021 5.170 Salvadorianer*innen Zuflucht in Mexiko, 2.286 Anträge wurden gewährt. Allerdings hat Menjívar es auch in Mexiko nicht leicht. Am 22. Juni 2021 meldete die Organisation Refugio Casa Frida sie kurzfristig als vermisst. Nachdem sie gefunden wurde, berichtete die mexikanische Kongressabgeordnete Lucía Riojas, sie „wurde verletzt und wird entsprechend behandelt“. Auch die Anwältin und Menschenrechtsverteidigerin Bertha María Deleón hat El Salvador mit ihrer Tochter vor sechs Monaten verlassen. „Ich entschied mich, nicht ins Land zurückzukehren, da ich befürchtete, meiner Freiheit beraubt zu werden. Es gibt mehrere absurde Strafanzeigen aus dem Umfeld von Nayib Bukele gegen mich”, erklärte sie im März in einem Statement.

Mord- und Vergewaltigungsdrohungen nach Kritik an Abgeordnetem

Deleón war die erste Menschenrechtsverteidigerin aus El Salvador, die während Bukeles Amtszeit Schutzmaßnahmen von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (CIDH) zugesprochen bekam. Am 19. September 2021 forderte die Kommission El Salvador auf, „die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht von Deleón auf Leben und persönliche Unversehrtheit zu schützen“. Die Anwältin solle ihre Arbeit machen können, ohne bedroht, eingeschüchtert oder Opfer von Gewalt zu werden. Trotzdem lebt María Deleón heute mit einem Schutzstatus und einer permanenten Aufenthaltserlaubnis in einem anderen lateinamerikanischen Land.

Bei den Wahlen 2021 war Deleón für die linksliberale Partei Nuestro Tiempo angetreten. Als Anwältin vertrat sie unter anderen Liduvina Escobar bei deren Einspruch vor der Verfassungskammer gegen ihre Suspendierung vom IAIP. Laut CIDH erhöhte sich Deleóns Risikostatuts bereits im Jahr 2020, als sie die Kandidatur des Politikers Walter Araujo auf das Abgeordnetenamt stoppte, indem sie ihn digitaler Angriffe auf sie beschuldigte, die zu Mord- und Vergewaltigungsdrohungen führten. Weil Araujo der Regierungspartei Nuevas Ideas angehört, galt Deleón seither als Kritikerin von Bukeles Regierung. Einen Tag nach der Auflösung der Verfassungskammer und der Staatsanwaltschaft am 2. Mai 2021 kündigte Araujo an, die Anwältin zu verklagen, weil sie als geheim eingestufte Details eines Gerichtsprozesses veröffentlicht hätte. Weitermachen will Deleón trotzdem: „Auswandern ist kein Verbrechen, ich will ein Leben ohne Gewalt, ein Leben in Würde führen, um meine Kinder aufzuziehen und weiterzuarbeiten“, sagt Deleón heute.

CASINO-KAPITALISMUS IN DEN TROPEN

Bitte ein Bit(coin)! An Automaten wie diesem in El Zonte wird Bargeld gegen Bitcoin getauscht (Foto: Karlalhdz via Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0))

Im Juni 2021 überraschte Nayib Bukele, der erst 40-jährige Präsident El Salvadors, die internationale Bitcoin-Gemeinde und die eigene Bevölkerung mit einer Video-Nachricht von der „Bitcoin 2021 Conference“ in Miami. Als weltweit erster Staat versprach das kleine zentralamerikanische Land, die bisher wichtigste und bekannteste Digitalwährung als legales Zahlungsmittel einzuführen. In Windeseile segnete das von seiner Partei Nuevas Ideas kontrollierte Parlament das sogenannte Bitcoin-Gesetz ab. Am 7. September wurde der Bitcoin als zweites legales Zahlungsmittel nach dem US-Dollar eingeführt, der 2001 den Colón abgelöst hatte.

Damit schafft El Salvador eine bis dato einzigartige Situation: Während der US-Dollar von der US-amerikanischen Zentralbank kontrolliert wird, kommt der Bitcoin gleich ganz ohne Staat aus. Dank seiner Blockchain-Technologie werden Transaktionen dezentral organisiert und die Ausgabe neuer Zahlungseinheiten über den enormen Energieverbrauch knapp gehalten, der bei der „Prägung“ neuer digitaler Münzen anfällt. Bitcoin-Fans feiern diese Technologie als revolutionäre Befreiung von staatlicher Manipulation und Einflussnahme – und Bukele sich selber als Visionär einer finanziellen Avantgarde.

Tatsächlich ist der Bitcoin für den Alltagsgebrauch wegen seiner hohen Volatilität nicht sonderlich attraktiv und wird bisher vor allem als spekulatives Investitionsobjekt genutzt. Wie im Casino sind mit dem Erwerb des Bitcoins hohe Gewinne möglich, aber eben auch hohe Verluste. Erfahrung damit hat auch Bukele selbst gemacht: Nach eigenen Angaben auf Twitter hat Bukele mit öffentlichen Geldern bisher mindestens 1.391 Bitcoins zu einem durchschnittlichen Preis von etwa 50.000 US-Dollar pro Bitcoin erworben. Laut Berechnungen der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg lag ihr Wert Mitte Januar 14 Prozent niedriger als ihr durchschnittlicher Einkaufspreis. Damit hätte Bukele nach heutigem Stand rund zehn Millionen US-Dollar aus der Staatskasse verspielt.

Angesichts der unberechenbaren Wirtschaftspolitik von Bukele ist der Risikoaufschlag für salvadorianische Staatsanleihen zudem stark ange-
stiegen, was den Schuldendienst aus Zins- und Tilgungszahlungen nach oben treibt. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Einigung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über einen Kredit von 1,3 Milliarden US-Dollar weiterhin in der Schwebe ist. Dass der IWF ihn überhaupt gewährt, wird angesichts der Entwicklungen im Land zunehmend unwahrscheinlicher.

Gleichzeitig lehnt die deutliche Mehrheit der salvadorianischen Bevölkerung den Bitcoin ab. Entsprechend einer Umfrage der Zentralamerika-
nischen Universität UCA haben 70 Prozent gar kein oder nur wenig Vertrauen in die Digitalwährung. Das liegt auch daran, dass die Einführung des Bitcoin holprig verlief: Die staatliche Chivo-App für Bitcoin-Transaktionen ließ sich auf vielen Plattformen nicht installieren. Zudem hatten sich viele Personen mit falschen Identitäten registriert, um das Startgeschenk der Regierung von 30 US-Dollar für die Installation der App zu erhalten. Nach zwei Tagen war dessen Wert auf 28 US-Dollar gesunken, weil der Bitcoin-Kurs gefallen war. Am 15. September, dem Jahrestag der Unabhängigkeit, demonstrierten Tausende Salvado-
rianer*innen gegen die Regierung und die Einführung des Bitcoin, ein weiterer großer Protestmarsch folgte im Oktober. Zwar ist Bukele weiterhin enorm populär mit Zustimmungsraten von über 80 Prozent, von denen andere Regierungen nur träumen können, doch hat seine Beliebtheit erste Kratzer bekommen.

Der Gegenwind hat Bukele nicht von seinem Kurs abgebracht. Im Gegenteil: Mit einer aufwändigen medialen Inszenierung hat Bukele Ende November vor einer Gruppe von Bitcoiner*innen am Strand von El Salvador neue Projekte angekündigt. Er verspricht den Verkauf von Bitcoin-Bonds im Wert von insgesamt einer Milliarde US-Dollar – wohl nicht zufällig entsprechend in etwa in der Höhe des vom IWF zurückgehaltenen Kredites. Ein Teil der Kredite soll zur Finanzierung von „Bitcoin-City“ verwendet werden: einer neu zu schaffenden Stadt innerhalb des salvadorianischen Staatsgebietes mit weitreichender Autonomie für Bitcoin-Investor*innen. Die Energie für die Stadt soll aus dem anliegenden Vulkan Conchagua gespeist werden. Er soll auch den Hunger nach Energie für die Prägung digitaler Münzen stillen. Dass die Energiekosten eigentlich viel zu hoch sind, um die Prägung von Bitcoin in El Salvador rentabel zu machen, hat der Euphorie unter Bukeles Anhänger*innen keinen Abbruch getan.

Anders als in der Bitcoin-Gemeinde finden die Vorschläge Bukeles unter Volkswirt*innen kaum Unterstützung. Schließlich verträgt sich die extreme Volatilität des Bitcoin schlecht mit dem wirtschaftspolitischen Ziel makroökonomischer Stabilität als Grundlage für verlässliche Investitionen und langfristiges Wachstum. Warum geht Bukele also ein derart riskantes Experiment ein – allen Warnungen von Expert*innen zum Trotz? Als offizielle Begründung verweisen Bukele und seine Unterstützer*innen auf die Vereinfachung von Zahlungen für all jene, die keinen Zugang zum formalen Bankensystem haben. Demnach kann jeder, der über ein Smartphone verfügt, am globalen Zahlungsverkehr teilhaben. Vor allem das Senden der sogenannten remesas, der Überweisungen vor allem aus den USA durch die über zwei Millionen Migrant*innen mit salvadorianischen Wurzeln, soll einfacher und billiger werden. Die remesas machen über 20 Prozent des Bruttosozialprodukts El Salvadors aus.

Das offizielle Argument pro Bitcoin ist aus mindestens drei Gründen fadenscheinig: Erstens fallen weiterhin Transaktionskosten an, wenn US-Dollar zunächst in Bitcoin und dann wieder zurück in US-Dollar getauscht werden müssen. Zweitens bedarf es im Prinzip keiner staatlichen Erlaubnis, um internationale Geldsendungen per Bitcoin durchzuführen. Denn genau darin liegt ja die Besonderheit des Bitcoin: Die Transaktionen funktionieren ohne staatliche Legimitation. Drittens ist finanzielle Inklusion sehr viel mehr, als globale Zahlungen in digitalen Währungen abschließen zu können. Viel wichtiger für ärmere Haushalte ist der Zugang zu sicheren Sparoptionen, Krediten zu vernünftigen Konditionen und grundlegenden Versicherungsprodukten. Es grenzt an Zynismus, den Zwang, Zahlungen in einer spekulativen Vermögensform entgegennehmen zu müssen, als finanzielle Inklusion zu verkaufen. 

Der Bitcoin als Nebelkerze, die vom autoritären Staatsumbau ablenkt

Plausibler ist es zu vermuten, dass Bukele mit dem Bitcoin-Gesetz vor allem digitales Geld anlocken möchte und dabei den Standortvorteil als dollarisiertes Land ausspielt, das El Salvador attraktiv für Geldwäsche macht. Auch deshalb richtet sich seine vornehmlich englischsprachige Kommunikation an ein internationales Publikum, während die eigene Bevölkerung kaum Informationen erhält. Durch die verordnete Akzeptanz der Kryptowährung als prinzipiell gleichberechtigtes Zahlungsmittel neben dem US-Dollar können die digitalen tokens (Münzen) bequem in US-Dollar oder reale Vermögenswerte – zum Beispiel Immobilien – getauscht werden. Ungeachtet der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten sind allzu viele Nachfragen von Regulierungsbehörden nicht zu befürchten. Der salvadorianische Staat wird kein großes Interesse daran haben, den Ursprung pseudonymer Zahlungsströme ernsthaft nachzuverfolgen. Zudem bedeutet weitgehende Autonomie einer Bitcoin-City in El Salvador vermutlich auch, dass sich das Land seiner Verantwortung für die Einhaltung von Geldwäscheregeln entziehen könnte. Stattdessen wirbt Bukele offensiv um das Bitcoin-Paradies in den Tropen, das er mit Aufenthaltstiteln für all jene versüßt, die mindestens drei Bitcoin (aktuell rund 130.000 US-Dollar) im Land investieren. Dem libertären Traum von „Bitcoin-City“ hat Bukele weitgehende Steuerfreiheit zugesichert, lediglich zehn Prozent Mehrwertsteuer sollen die zukünftigen Bewohner*innen zahlen. Sollte die Rechnung aufgehen, wäre El Salvadors Bitcoin-
Ökonomie ein Modell von „Entwicklung“, das nicht auf die wirtschaftliche Ermächtigung benachteiligter Gruppen abzielt. Es wäre ein Modell, das darauf hofft, im Schattenreich des globalen Kapitalismus eine profitable Nische zu finden – ähnlich Panama, das sich als wichtiger Standort am globalen Finanzmarkt etabliert hat.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Die mediale Aufmerksamkeit rund um Bitcoin, Bitcoin-City und Bitcoin-Bonds sind auch Nebelkerzen, die vom autoritären Umbau des Staates ablenken, den Bukele in einem atemberaubenden Tempo vorantreibt. Er hat in der Rekordzeit von nur zwei Jahren die Gewaltenteilung und demokratische Kontrollmechanismen abgeschafft. Er hat etwa ein Drittel der Richter*innen abbestellt und gesetzeswidrig die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofes mit regierungstreuen Jurist*innen besetzt, die ihm – verfassungswidrig – seine Wiederwahl erlaubt haben. Die Zusammenarbeit mit der Internationalen Kommission gegen Straffreiheit und Korruption in El Salvador (CICIES), die er erst vor zwei Jahren gemeinsam mit der Organisation Amerikanischer Staaten gegründet hatte, hat Bukele aufgekündigt. Auch Journalist*innen und andere Kritiker*innen geht der Präsident aggressiv an und hat Einschüchterungen gegen sie ermutigt und toleriert. Erst kürzlich wurde nachgewiesen, dass die Telefone von mindestens 35 Journalist*innen und Oppositionellen von der israelischen Spionagesoftware Pegasus überwacht wurden. Man kann davon ausgehen, dass Bukele hinter der Überwachung von Journalist*innen und Oppositionellen steckt.

Sollte Bukele es schaffen, dank Bitcoin-Bonds die drohende Zahlungsunfähigkeit auch bei einem Ausfall weiterer Kredite vom IFW abzuwenden, so hätte er ausreichend Zeit, seine Machtposition abzusichern, bevor der Stern seiner Popularität sinkt. In diesem Fall würde Bukele auf lange Jahre die Politik des Landes bestimmen. Das benachbarte Nicaragua der Ortegas auf der anderen Seite des Golfo de Fonseca, nicht weit entfernt von der geplanten Bitcoin-City, steht als mahnendes Beispiel für eine Familiendiktatur, auf die auch El Salvador unter dem Clan der Bukeles zusteuert. Geht das Experiment schief, so stehen dem geplagten Land schwere soziale, wirtschaftliche und politische Konflikte bevor. In beiden Fällen zahlen 6,5 Millionen Salvadorianer*innen einen hohen Preis für das Experiment ihres Präsidenten.

„ES GEHT UM MEHR ALS BITCOIN“

YOLANDA ANABEL BELLOSO SALAZAR

stammt aus bescheidenen Verhältnissen und schloss sich bereits in jungen Jahren der linken Partei FMLN an, die 1992 nach den Waffenstillstandsvereinbarungen aus der gleichnamigen Guerilla hervorging. Salazar sitzt seit 2018 im Parlament in El Salvador. (Foto: privat)


 

Bei den jüngsten Demonstrationen war auf den Bannern zu lesen: „Bitcoin ist Betrug“, aber auch „Nein zur Diktatur“. Sind die Anschuldigungen gerechtfertigt?
Es sind Zuspitzungen mit einem wahren Kern. Seit die Regierung Bukele 2019 angetreten ist, sind alle ihre Aktionen und Entscheidungen auf ein Ziel gerichtet, nämlich das politische System in Richtung eines autoritären Regimes umzubauen. Gleichzeitig wird die Wirtschaft so umgestaltet, dass sie die Interessen der Familie Bukele und der mit ihr verbündeten Familien begünstigt. Bukele ist selbst als Unternehmer tätig. Er konsolidiert seine ökonomische Macht, indem er öffentliche Gelder einsetzt. Er lässt auch Gesetze verabschieden, die seinen Wirtschaftsinteressen entgegenkommen – wie das Gesetz zum Bitcoin, mit dem die Kryptowährung gleichberechtigt zum US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt wurde. Das kommt der Unternehmensgruppe seiner Familie und befreundeten Familien zugute.

Sind das die 14 Familien der klassischen Oligarchie, die sich einst El Salvador untereinander in 14 Departamentos aufteilten und seit Jahrzehnten die ganze ökonomische Macht in ihren Händen halten?
Ein Teil der traditionellen Oligarchie ist auf der Seite von Bukele, ein anderer Teil liegt im Streit mit ihm. Die, die mit ihm an einem Strang ziehen, erhoffen sich damit, ihre wirtschaftliche Macht zu konsolidieren. Das passiert mit öffentlichen Geldern. So wurde das Unternehmen Chivo, das hinter der virtuellen Geldbörse für die Bitcoin-Nutzung steht, mit öffentlichen Geldern geschaffen. Bukele verschafft auch ihm gewogenen privaten Unternehmen profitable Verträge. Der Betrieb eines neuen Luftfrachtterminals wurde für 35 Jahre einem Financier von Bukeles Wahlkampf 2019 zugeschanzt.

Woran zeigt sich der politische Umbau?
Am 1. Mai stimmte das neue Parlament, in dem die Regierungspartei Nuevas Ideas (Neue Ideen) eine Mehrheit von mehr als zwei Dritteln hat, für die Absetzung aller fünf Richter des Verfassungsgerichts, die sich in der Vergangenheit gegen Bukele gestellt hatten. Die Abgeordneten haben mit ihrem Vorgehen die gültige Verfassung verletzt. Durch ihr illegales Vorgehen haben sie die Macht über alle Institutionen bekommen, auch über den Obersten Gerichtshof und die Staatsanwaltschaft. Bukele stößt auf dem Weg zu einem autokratischen Regime aber mehr und mehr auf Widerstand in der Bevölkerung.

Weshalb stößt der Bitcoin als zusätzliche gesetzliche Währung auf so wenig Gegenliebe?
Weil die einfachen Leute den Eindruck haben, dass er ihnen keinesfalls zugutekommt. 90 Prozent haben sich in Umfragen gegen den Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel ausgesprochen. Die einfachen Leute sind sich sicher, dass der Bitcoin ihnen nicht bei der Bewältigung ihrer wirtschaftlichen Probleme hilft, sondern zu noch mehr Ungleichheit beiträgt. Außerdem öffnet der Bitcoin das Fenster zum Betrug und Diebstahl von Identitäten. Viele wurden schon Opfer davon, dass ihre Ausweisnummer dazu benutzt wurde, die Bitcoin-App herunterzuladen. Es gibt keine effektive Kontrolle dafür, dass die Person, die die App herunterlädt, auch diejenige ist, der die Ausweisnummer zugeordnet ist. In El Salvador gibt es keine Datenschutzgesetze.
Der Bitcoin ist eines von vielen Themen das die Salvadoreños derzeit auf die Straßen treibt. Die Militarisierung ist ein weiteres. Bukele hat erklärt, dass er die Zahl der Soldaten in den nächsten Jahren verdoppeln will – und hat dafür für das nächste Jahr bereits den Militäretat kräftig erhöht. Und das in einem Land, in dem seit dem Friedensabkommen 1992 die Rolle des Militärs zurückgedrängt wurde. Bukele dreht die Uhr zurück und räumt dem Militär wieder Kompetenzen ein, die nicht mit der Verfassung vereinbar sind. Die Bevölkerung lehnt das ab, sie weiß um den Missbrauch der Macht und die Repression der Militärs aus der Vergangenheit.

Ein Argument von Bukele ist, dass der Bitcoin inflationssicherer sei als der US-Dollar. Wird diese Auffassung von der Bevölkerung geteilt?
Nein. Was die Bevölkerung auch umtreibt, sind die hohen Lebenshaltungskosten. Darauf gibt es keine Antwort der Politik. Das trifft die Menschen, egal ob es die hohen Treibstoffpreise oder die steigenden Preise für öffentliche Basisdienstleistungen wie Strom und Wasser sind. Alles wird teurer, und von der Regierung kommt keine Lösung.

Haben die Folgen der Corona-Pandemie Einfluss auf die Demonstrationen?
Das spielt durchaus eine Rolle. Die einheimischen Produzenten sind oft sauer auf Bukele, weil er während der Pandemie die Importe von Grundnahrungsmitteln und Konsumgütern ausgeweitet hat. Das geht zu Lasten der einheimischen Produktion. Auch der Transportsektor ist in Aufruhr. Die Beschäftigten dort drohen seit dem 20. Oktober ebenfalls, auf die Straße zu gehen, wenn ihren Forderungen nicht nachgekommen wird. Sie sind über die hohen Treibstoffpreise erbost. Obwohl es staatliche Subventionen für den Transportsektor gibt, funktioniert er nicht mehr richtig. So kommen viele Gründe zusammen, die die Leute auf die Straßen treiben. Es geht also um weit mehr als um das Gesetz zum Bitcoin, das am Anfang der Proteste stand. Bisher zeigt sich die Regierung unbeeindruckt gegenüber den Forderungen. Stattdessen stellt sie die Legitimität der Proteste infrage.

Ist das Land auf dem Weg zur Diktatur?
Es ist immer die Frage, woran man eine Diktatur festmacht. Auf alle Fälle wird ein autoritäres Regime mit einer verstärkten Konzentration der Macht immer weiter ausgebaut. Bukele setzt sich über die Verfassung hinweg, regiert autoritär, die Räume für Partizipation werden zunichte gemacht. Die totale Kontrolle über Staatsanwaltschaft und die Polizei wird angestrebt, das Verfassungsgericht ausgehebelt.

Mit der Neubesetzung?
Ja. Wegen der Erfahrung mit der Diktatur wurde in der Verfassung unveränderbar festgeschrieben, dass eine direkte Wiederwahl des Präsidenten ausgeschlossen wird. Das mit Richtern von Bukeles Gnaden neu besetzte Verfassungsgericht hat das einfach übergangen – nur vier Monate nachdem sie durch das neue Parlament eingesetzt wurden.
Der Reformvorschlag von Bukele zur Verfassung umfasst 216 Artikel, im Prinzip soll die gesamte Verfassung neu geschrieben und auf ihn zugeschnitten werden. Das geht schon in Richtung Diktatur. Bukele selbst scherzt bei Twitter darüber und nennt sich dort immer mal wieder Diktator des coolsten Landes der Welt. Er macht darüber Witze, ohne sich Gedanken zu machen, welche Empfindlichkeiten es bei der Bevölkerung angesichts der langen Militärdiktatur von 1931 bis 1979 gibt. Ansonsten sagt er, es sei ja keine echte Diktatur, weil die Menschen nicht gewaltsam unterdrückt würden. Das ist eine fragwürdige Sicht, zumal es ja durchaus politische Gefangene gibt. Darunter viele ehemalige Funktionäre aus der Regierungszeit meiner Partei, der FMLN, die von 2009 bis 2019 den Präsidenten stellte. Die wurden unter Verletzung ihrer Rechte eingesperrt, ohne formale Anklagen, wie es die Gesetze vorsehen. Auch das sind Zeichen einer aufkommenden Diktatur. Das Militär wird auch zur Unterdrückung der Demonstrationsfreiheit eingesetzt. Am großen Protesttag, dem 17. Oktober, wurden landesweit Polizei- und Militärsperren auf Straßen errichtet, um zu verhindern, dass Busse mit Demonstranten in die Stadt fahren konnten.

Wie steht es um Bukeles Wirtschaftspolitik?
Er folgt dem neoliberalen Modell. Er nützt andere Mechanismen als in der neoliberalen Phase in den 1990er Jahren in El Salvador. Damals wurden die staatlichen Dienstleistungen privatisiert. Heute wird anders vorgegangen: Privaten Unternehmen werden Lizenzen erteilt, um für eine bestimmte Zeit öffentliche Leistungen zu erbringen und dafür abzukassieren.
Die Pandemie wurde dazu benutzt, um sich bei den Importen zu bereichern. Ein großer Teil wurde über Unternehmen von Regierungsmitgliedern abgewickelt. Die Familie des Gesundheitsministers lieferte Importgüter und Dienstleistungen für das Gesundheitsministerium. Die Tourismusministerin stellte über ihre Familie Unterkünfte für die Touristen zur Verfügung, die in Quarantäne mussten. Grundnahrungsmittel wurden aus Mexiko von Unternehmen importiert, die in keinem Unternehmensregister auftauchen. Es gab im Jahr 2020 Ausgaben in Höhe von etwa einer Milliarde Dollar, für die es keine buchhalterischen Belege gibt, monierte der Rechnungshof. Es gibt ein System der Korruption. Bukele hat in seinem Wahlkampf 2019 die Abkehr vom neoliberalen Modell versprochen, hat sich als progressiver Kandidat verkauft. Aber er hat nicht Wort gehalten.

Versprochen hat Bukele auch die Bekämpfung der Gewaltkriminalität, die vor allem von den Straßengangs, den Maras, ausgeht. Dafür hat er den „territorialen Kontrollplan“ auf den Weg gebracht. Die offizielle Mordrate ist in seiner Amtszeit deutlich gesunken. Trauen Sie den Zahlen und was halten Sie von dem Plan?
Der Plan ist vor allem ein Propagandainstrument. Er wird als riesiger Erfolg verkauft mit dem Verweis auf die niedrigen offiziellen Mordzahlen. Was sich dahinter verbirgt, weiß niemand. Der Plan wird nicht erklärt, mit der Begründung, dass man sonst ja die Strategie der Gewaltbekämpfung verraten würde. Es ist aber keine Frage der Strategie, wenn man die Bevölkerung im Unklaren darüber lässt, wie die öffentliche Ordnung hergestellt werden soll.
Die offiziellen Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Es stimmt, dass die Zahl der Morde zurückgegangen ist. Verschwiegen wird, dass die Zahl der Verschwundenen gestiegen ist. Die tauchen in den meisten Fällen als ermordete Personen auf, wenn sie überhaupt wieder auftauchen.

Bukele gehörte einst selbst der FMLN an. Wie ist das Verhältnis zu ihm?
Es gibt keinen Kontakt mehr zu ihm, seit er 2017 ausgeschlossen wurde. Schon davor war das Verhältnis sehr schwierig, weil er gegen Ziele der Partei verstieß. Er ist kein Mensch, der den Dialog sucht, er will seine Positionen ohne Diskussion durchdrücken.

Wie kann Bukele gestoppt werden? Bedarf es dafür einer kontroversen Hilfe der USA?
Wir wollen das im Rahmen der nationalen Souveränität schaffen, wir wollen keine Intervention. Wir wollen das schaffen über die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen, mit all denen, die derzeit auf die Straßen gehen. Mit ihnen zusammen wollen wir dafür kämpfen, auf den demokratischen Weg zurückzukehren, der 1992 mit dem Friedensabkommen mit allen Schwierigkeiten eingeschlagen wurde. Es werden immer mehr Gruppen aus der Gesellschaft, die sich diesem Kampf anschließen. Internationale Solidarität können wir dafür schon gebrauchen, aber keine Intervention.

DER NEUE WIDERSTAND

Neue Bewegung an vielen Fronten “Tausche Bitcoin gegen meine verschwundene Tochter (Foto: Kellys Portillo-Alharaca)

Am 15. September 2021, dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit El Salvadors, waren die Hauptstraßen der salvadorianischen Hauptstadt von Menschen überlaufen. Im Gegensatz zu anderen Jahren gehörte der Zustrom jedoch nicht zur traditionellen Militärparade zur Feier der Unabhängigkeit. Dieses Jahr waren die Straßen des historischen Zentrums von San Salvador voller Bürger*innen, die gegen die Regierung von Nayib Bukele demonstrierten. Zwar gingen schätzungsweise nur 10.000 Menschen auf die Straße. Dennoch gilt die Protestaktion vom 15. September seither als Meilenstein für eine junge salvadorianische Demokratiebewegung.

Im Gegensatz zu den breiten Mobilisierungen zur Zeit der Militärdiktatur waren die salvadorianischen Bürger*innen seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens 1992 kaum noch in großer Zahl auf die Straße gegangen. Dabei hätte es an Anlässen nicht gemangelt: Weder die Gewaltexzesse im Land mit der zwischenzeitlich höchsten Mordrate der Welt noch Korruptionsskandale bei allen Parteien oder geheime und illegale Pakte zwischen Politiker*innen und Gangs hatten Massendemonstrationen herbei geführt.

Das bedeutet nicht, dass die Straßen in den vergangenen 30 Jahren leer waren. Insbesondere feministische Gruppen, bäuerliche und Umwelt-*bewegungen sowie die LGBTIQ*-Community demonstrierten regelmäßig und standen in sozialen Kämpfen der demokratischen Ära an vorderster Front. Auch sie waren es, die sich in den vergangenen zwei Jahren konsequent gegen die antidemokratischen Maßnahmen der Regierung einsetzten. Trotz des Engagements für Demokratie und Menschenrechte war es ihnen jedoch nicht gelungen, eine breitere zivilgesellschaftliche Beteiligung an den Demonstrationen zu mobilisieren.

Die Nichtregierungsorganisation Fundaungo bringt in einer Studie aus dem Jahr 2015 die schwache Protestkultur mit der Politikverdrossenheit der Salvadorianer*innen und ihrer tiefen Unzufriedenheit mit der Repräsentation im Zweiparteiensystem in Verbindung. So haben sich die früheren Kriegsparteien ARENA und FMLN in der demokratischen Parteienlandschaft als die zwei wichtigsten politischen Kräfte etabliert. Die rechte ARENA war für 20 Jahre an der Macht, die linke FMLN regierte für zwei fünfjährige Amtsperioden. In diesen drei Jahrzehnten haben die verschiedenen Regierungen es nicht geschafft, die schweren politischen Problemen des Landes zu lösen. Die salvadorianische Bevölkerung war zugleich innerlich tief gespalten und enttäuscht von den Regierenden (siehe LN 526).

Die Flitterwochen sind vorüber

Vor diesem Panorama bedeutete die Präsidentschaftskandidatur von Nayib Bukele für eine Gesellschaft, die das etablierte Zweiparteiensystem immer stärker ablehnte, neue Hoffnung. Bukele war jung, verkaufte sich als anti-ideologisch und verkörperte den Bruch mit dem veralteten Zweiparteiensystem. Zudem versprach er eine Art friedliche Revolution: Seine Partei Nuevas Ideas solle eine soziale Bewegung mit Raum für alle Salvadorianer*innen sein.

Die Unterstützung für Nayib Bukele wuchs daher schnell, nachdem er seine Präsidentschaftskandidatur angekündigt hatte. Im Jahr 2018 sammelte er innerhalb von drei Tagen etwa 200.000 Unterschriften für die Anmeldung seiner Partei – viermal so viele wie nötig. Sein Regierungskonzept Plan Cuscatlán sollte ein kollaboratives Projekt werden und wurde mit Vorschlägen von über 20.000 Menschen zusammengestellt. Seit Bukeles Amtsantritt im Jahr 2019 versucht seine Regierung, diese Illusion aufrechtzuerhalten. Derzeit ist der Präsident laut Umfragen noch immer einer der beliebtesten Staatschefs Lateinamerikas.

Doch die Kritik wächst. Nach dem Erfolg bei den Parlamentswahlen Anfang 2021 kontrolliert Bukele das Parlament und stellt nun auch die Mehrheit der Bürgermeister*innen in den Kommunen des Landes. Durch verfassungswidrige Maßnahmen hat sich der Präsident auch Kontrolle über die Judikative verschafft (siehe LN 564). Sogar für Bukeles Anhänger*innen wird immer klarer, dass diese „Bewegung” eher ein Vehikel für die Machtakkumulation des Präsidenten und seines engsten Kreises ist. Die weitere Militarisierung der Sicherheit, die harte Hand in der Pandemie (siehe LN 551), die sich häufenden Korruptionsskandale und der systematische Abbau der Demokratie zeigen ein gänzlich anderes Bild als jenes, das die Regierung selbst zu zeichnen versucht. Das Versprechen eines neuen Anfangs für El Salvador gerät mehr und mehr in Vergessenheit. Maßnahmen wie die Einführung des Bitcoins als gesetzliche Währung ohne vorherige Diskussion verschärfen unterdessen neben den steigenden Lebensmittelpreisen die Unzufriedenheit der Gesamtbevölkerung.

Auf der Demonstration am 15. September wurden all diese Kritikpunkte laut. Die Protestierenden richteten sich gegen die neue Währung, gegen das Verschwindenlassen von Personen, gegen den eingeschränkten Zugang zu Informationen, gegen die Angriffe auf Presse und Zivilgesellschaft, gegen die offensichtliche Korruption und den Abbau der Rechtsstaatlichkeit im Land. Die Aufrufe zur Demonstration kamen aus allen erdenklichen Gruppen, von Studierenden, Basisorganisationen, Gewerkschaften, Kirchen, Gremien und Aktivist*innen. Da die Initiativen so vielfältig waren, verlief die Planung nicht zentral. Dies führte dazu, dass es drei unterschiedliche Demonstrationsrouten gab, die sich schließlich aber im historischen Stadtzentrum am Platz Gerardo Barrios trafen. Dort kamen die verschiedensten Seiten der salvadorianischen Gesellschaft im Protest zusammen.

Wie erwartet fanden sich feministische Kollektive und Umweltorganisationen an der Spitze des Zuges wieder. Für Überraschungen sorgten allerdings Gruppen, die sonst kaum auf die Straßen gehen: Richter*innen und Rechtsan-*wält*innen, die gegen die Krise der Judikative demonstrierten; ebenso Mitglieder evangelikaler Kirchen und katholische Abtreibungs-*gegner*innen; sogar ganze Familien, die zum ersten Mal an einer Demonstration teilnahmen und sich eher als unpolitisch beschreiben würden. Sogar ARENA- und FMLN-Politiker*innen und Anhänger*innen beider Parteien forderten Seite an Seite die Aufrechterhaltung der demokratischen Institutionen.

Die Demonstrationen haben eine Tür geöffnet, die die Regierung nicht mehr schließen kann

Diese massive und vielfältige Demonstration hat die Regierung wie eine Ohrfeige getroffen. Und es war erst der Anfang: Im Zweiwochentakt sollten weitere Protestzüge folgen. Die Reaktion der Regierung auf die Demonstration bestand zunächst in ihrer Verharmlosung: Politiker*innen und staatliche Medien versuchten, den Rest des Landes davon zu überzeugen, dass nur sehr wenige Menschen demonstriert hätten. Andere Medien hätten das Ausmaß der Demonstrationen völlig übertrieben und die Demonstrierenden seien von den traditionellen politischen Parteien bezahlt worden, um ihre Unzufriedenheit mit dem Präsidenten vorzutäuschen. Alles in allem seien die Proteste also winzig und unbedeutend.

Widersprüchlicher Weise unternahm die Regierung gleichzeitig Maßnahmen, um weitere Demonstrationen zu vermeiden. In den folgenden Wochen kam es vor geplanten Protesten zu polizeilichen Straßensperren auf den Autobahnen, die die Hauptstadt mit dem Rest des Landes verbinden. Busse mit Demonstrierenden wurden von der Polizei ohne Rechtfertigung festgehalten. Am 20. Oktober, drei Tage nach einem erneuten Massenprotest gegen Bukele, sprach das Parlament ein Verbot für öffentliche und private Massenkundgebungen aus, angeblich aufgrund der hohen Corona-Infektionszahlen. Ausgenommen von diesem Verbot sind jedoch sportliche Aktivitäten wie Fußballspiele der Nationalmannschaft oder kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte und Partys. Darüber hinaus erlaubt das Gesetzesdekret des Parlaments, dass die von Bukele kontrollierte Generalstaatsanwaltschaft gegen die Organisator*innen von Massenkundgebungen ermittelt und sie strafrechtlich verfolgt.

Doch die Bemühungen der Regierung, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und die salvadorianische Bevölkerung von der Straße fernzuhalten, halten diese bisher nicht auf. Zehn Tage nach dem gesetzlichen Verbot von Demonstrationen fand eine neue Kundgebung statt, um die Regierung aufzufordern, Maßnahmen gegen die Welle des Verschwindenlassens von Personen zu ergreifen. Die Empörung der Demonstrierenden zeigt sich derzeit stärker als jegliche Drohung oder Repression. Das Verbot der Demonstrationen lässt die Ablehnung von Bukeles Vorgehen zudem wachsen. Die Demonstration vom 15. September hat daher eine Tür geöffnet, die die Regierung nicht mehr schließen kann.

Es bleibt abzuwarten, ob es dem neuen salvadorianische Widerstand gelingt, auch langfristig zu denken. Denn Demonstrationen auf der Straße als Reaktion auf politische Entwicklungen sind wichtig, aber nicht genug, um die salvadorianische Demokratie zu verteidigen und wieder aufzubauen. Derzeit handelt es sich bei der Widerstandsbewegung um eine sehr breite und vielfältige Allianz. Das mag Hoffnung bringen, reicht aber langfristig nicht aus. So wird sich die Bewegung bemühen müssen, weitere Anknüpfungspunkte zu finden, um mehr als lediglich eine Oppositionskraft zu verkörpern und eine echte politische Alternative aufzuzeigen. Denn auch wenn Nayib Bukele irgendwann nicht mehr Präsident sein sollte, bestehen die multiplen Krisen, die zu seiner Präsidentschaft geführt haben, weiterhin. Es sind diese multiplen Krisen, die die neue Widerstandsbewegung angehen muss. Der aufkeimende Widerstand muss sich also vielen Herausforderungen stellen. Aber eines hat er mit den größten Demonstrationen seit Jahren klargemacht: Die Flitterwochen sind vorüber. Eine neue Generation von Salvadorianer*innen wacht auf. Sie weigert sich, die Geburt einer Demokratie miterlebt zu haben, nur um sie drei Jahrzehnte später wieder zu beerdigen.

„SO MÄCHTIG WIE DIE TRADITIONELLE OLIGARCHIE”

Wie ist das Verhältnis zwischen Nayib Bukele und seiner ehemaligen Partei FMLN?
Die Beziehung zwischen Nayib Bukele und seiner ehemaligen Partei ist angespannt. Er wird nicht müde, die FMLN als Partei von Korrupten zu bezeichnen: Sie sei eine Verbündete der ultrarechten ARENA-Partei und der Bürgerkrieg vor allem ein Geschäft gewesen. Seit seinem Rauswurf ist es Bukeles Ziel, die FMLN zu zerstören.

Seit der Entlassung des Generalstaatsanwalts und der Ernennung neuer Richter Anfang Mai wird kritisiert, dass es keine Gewaltenteilung mehr gebe. Ist El Salvador bereits eine Diktatur?
Ich würde nicht sagen, dass wir eine Diktatur haben, sondern eine Regierung mit diktatorischen Tendenzen. Wir sind noch nicht in einem Staat, in dem der Opposition jeder Raum genommen wird, Parteien verboten, Menschen ins Exil oder ins Gefängnis getrieben würden und es keine Freiheiten mehr gäbe. Das wäre eine Diktatur. Aber es geht in die Richtung. Bukele hat von der Bevölkerung die Mehrheit im Parlament bekommen – das ist legitim. Er ist der gewählte Präsident. Aber die Art wie er die Justiz kontrollieren will, wie er mehrere der Obersten Richter entlassen hat, das ist illegal! Bukele braucht die Kontrolle über die Staatsanwaltschaft und das Verfassungsgericht. Über die Staatsanwaltschaft, damit diese Straftaten wie Korruption nicht untersuchen kann, sondern besser seine politischen Gegner verfolgt. Und über das Verfassungsgericht, damit dieses alle illegalen Maßnahmen genehmigt. Und er braucht die Kontrolle über den Rechnungshof, weil der aktuelle von ihm ständig Rechenschaft fordert.

Er will auch die Menschenrechtskommission kontrollieren und den Ombudsmann durch einen ersetzen, der bescheinigt, dass der Staat die Menschenrechte einhält. Und er will die Generalstaatsanwältin durch eine Person ersetzen, die ihm nützlich ist.
Er könnte zudem versuchen, die Oberste Wahlbehörde vorzeitig neu zu besetzen, die eigentlich bis 2024 gewählt ist. Er hat zwar die Mehrheit im Parlament, doch um die Obersten Vertreter der genannten Institutionen zu schassen, müsste er ihnen Verfehlungen nachweisen und das kann er nicht. Deswegen braucht er den Oberstaatsanwalt, damit dieser mal ein paar Ermittlungen startet.

Begünstigt das Sondergesetz zum Umgang mit der Pandemie die Korruption?
Das Gesetz über medizinische Produkte und Behandlungen in Ausnahmesituationen der öffentlichen Gesundheit, wie sie durch Covid-19 verursacht wurden, dient der Straflosigkeit für Beamte und Unternehmen im Gesundheitssektor und der Privatisierung öffentlicher Güter. Das Gesetz besagt, dass Personen und Körperschaften im Gesundheitssektor Immunität gegenüber gerichtlicher oder administrativer Klagen und Forderungen genießen. Sie sind von zivilrechtlicher, strafrechtlicher oder kommerzieller Verantwortung ebenso freigestellt, wie von Schadensersatzansprüchen, die sich aus Gesundheitsprodukten oder -dienstleistungen ergeben. Das bedeutet: In allen Korruptionsfällen, die sich im Gesundheitsministerium bereits ereignet haben oder für die es Indizien gibt, wird nicht weiter ermittelt. Der abgesetzte Oberstaatsanwalt hat 17 öffentliche Institutionen durchsuchen lassen, weil es Hinweise auf Veruntreuung gab. Das hat der neue Staatsanwalt bereits gestoppt, das neue Gesetz kommt noch obendrauf, weil es rückwirkend gültig ist. Außerdem kann das Gesetz noch viel weiter gehen, weil Bukele nun ständig sagen kann, dass wir uns wegen der Pandemie bis zum Ende der Wahlperiode im dauerhaften Gesundheitsnotstand befinden.

Was sind weitere Gefahren des Gesetzes?
Dazu kommt, dass der Staat mit diesem Gesetz das Recht verliert, zu pfänden. Ein Artikel des Gesetzes sagt, dass ein Unternehmer oder Unternehmen öffentlichen Besitz pfänden darf, wenn der Staat Forderungen nicht erfüllt. Das bedeutet: Beamte und Minister können nicht zur Rechenschaft gezogen werden, der Staat aber schon. Das kann zur Privatisierung von Teilen des Gesundheitswesens führen: Von Krankenwagen, Krankenhäusern – alles kann durch diesen Artikel gepfändet werden.

Außerdem muss der Staat pünktlich zahlen! Wenn das Gesundheitsministerium aus irgendeinem Grund nicht pünktlich zahlt, dann müssen andere Ministerien Geld zuschießen. Das begünstigt ausschließlich die Unternehmen – und die Familie Bukele besitzt zwei Gesundheitsunternehmen. Diese machen der Oligarchie den Markt in der chemischen und pharmazeutischen Industrie streitig. Weiterhin gibt es eine Schadensersatzklausel nach der das Gesundheitsministerium die Verteidigung von Unternehmen übernimmt gegen die Schadensersatzansprüche erhoben werden. Wenn es also Probleme mit einer Lieferung gibt, zahlt nicht der Lieferant, sondern der Staat. Der Staat darf so etwas gar nicht akzeptieren. Dieses Gesetz ist verfassungswidrig! Aber wenn gegen das Gesetz vor dem Obersten Verfassungsgericht Beschwerde eingereicht werden sollte, dann wird es das (von Bukele neu besetzte, Anm. der Red.) Gericht für verfassungskonform erklären.

Worin besteht die Wirtschaftspolitik von Bukele?
Bukele verhandelt mit dem IWF über ein Dreijahresprogramm: Ausgaben reduzieren, Einnahmen steigern. Um die Ausgaben zu reduzieren, müssten Sozialprogramme gekürzt werden, die Preise würden steigen. Das macht Bukele Angst nachdem was in Kolumbien gerade passiert. Aber auch weil er wegen der Entlassung des Generalstaatsanwalts in der nationalen und internationalen Kritik steht. Er will also einen Kredit, aber nicht unter den Vorgaben einer Steuererhöhung. Durch die IWF-Programme werden öffentliche Ausgaben gekürzt und die Bevölkerung wird durch Steuererhöhungen betroffen. Am Ende wächst die Wirtschaft langsamer, Investitionen bleiben aus, die Preise steigen und es können nicht die Arbeitsplätze zurückgewonnen werden, die im letzten Jahr durch die Pandemie verloren gegangen sind.

Was ist das derzeitige Verhältnis der USA zu Bukele?
Sie haben einen Emissär geschickt, der ihm ausrichten sollte, seine Sache gut zu machen und sich gut zu benehmen: Du bist der den wir haben wollen, weil du die Linke zerstören kannst. Aber mach’ die Sachen korrekt: keine Rechtsverstöße – das würde die Sache für uns vor dem Kongress und der öffentlichen Meinung in den USA schwierig machen, unsere Unterstützung für deine Regierung zu rechtfertigen.

Die USA werden akzeptieren, dass Bukele seine Entscheidungen bezüglich der Gerichte nicht zurücknehmen wird. Sie könnten ihn mit einer kleinen Sanktion belegen um den Schein zu wahren. Aber die US-Regierung unterstützt Bukele. Doch was er macht, beunruhigt die USA auch. Denn wenn er es zu weit treibt, dann ist das wie Sauerstoff für die FMLN.

Es gibt hier keinen Rechtsruck in der Bevölkerung. Das Phänomen Bukele ist das Resultat eines internen Konflikts der FMLN. Und die Leute glauben, dass Bukele ein linkes Projekt hat. Wenn er diese Erwartungen nicht erfüllt, schafft das die Bedingungen für einen Wiederaufstieg der Linken, sei es der FMLN oder ein anderes linkes Projekt. Die sozialen Bewegungen in El Salvador sind ohnehin der Regierung gegenüber kritisch eingestellt. Das mag den USA Sorgen bereiten, aber sie werden Bukele mit Sicherheit nicht destabilisieren. Er wird daher auch beim Thema Migration keine Probleme mit den USA bekommen. Sie werden allenfalls darauf bestehen, dass der legale Rahmen respektiert wird.

Was sind die Ziele von Nayib Bukele?
Die Familie Bukele und mit ihr befreundete Unternehmer bilden etwas, das wir „Unternehmerclan“ nennen. Dazu gehören Hotelbesitzer, Besitzer von Fernsehkanälen, Baufirmen. Diese Unternehmer gehören aber nicht zur salvadorianischen Oligarchie – diese traditionell mächtigen Familien dominieren die Wirtschaft in allen Bereichen. Bukele spielt nicht auf diesem Niveau. Sein Unternehmerclan hat zwei Ziele: Er will die FMLN als linkes Projekt fertigmachen und er will selbst zur Oligarchie aufschließen.

Beim ersten Ziel unterstützt ihn die Oligarchie. Beim Zweiten gibt es jedoch Widerstand. Viele mächtige Oligarchen wollen nicht, dass Bukele zu reich wird. Auch wenn sie es gut finden, wenn er die FMLN vernichtet, so kann er doch in seiner Präsidentschaft ungeheure Reichtümer anhäufen und der Oligarchie Konkurrenz machen.

Um das zu erreichen, will Bukele öffentliche Unternehmen privatisieren, das heißt günstig an seine Unternehmerclique verkaufen: staatliche Kreditinstitute, Energieunternehmen, das nationale Radio, den Flughafen, die Häfen. Zweitens: öffentliche Ausschreibungen. Hier soll alles so intransparent gestaltet werden, dass die Öffentlichkeit zum Beispiel nicht mehr erfährt, wer eine Ausschreibung mit welchem Angebot verloren hat. Da geht es um viele Milliarden Dollar. Und die landen alle in dieser Unternehmerclique, wenn der Staat dann von ihnen kauft. Dann die Wirtschaftsförderung, die Unternehmen zu Gute kommt. Steuererleichterungen, z.B. Importsteuern auf Produkte, mit denen Bukele Geschäfte macht. Und dazu kommt natürlich noch die Korruption. Das muss nicht alles so kommen, ich sage nur, was er machen kann. Und wenn er es dann noch schafft, sich entgegen der Verfassung erneut als Präsidentschaftskandidat aufstellen zu lassen oder wenn ein anderer aus seinem Clan der nächste Präsident wird, kann der Clan durchaus so mächtig werden wie die traditionelle Oligarchie.

BUKELE WIRD ZUM ALLEINHERRSCHER

Nayib Bukele Die Regierungspartei errang mehr als die Hälfte der Parlamentssitze (Foto: PresidenciaSV CC BY-SA 4.0)

Das Ergebnis der Parlamentswahlen ist ein politischer Epochenwechsel für El Salvador – schließlich war das Land fast drei Jahrzehnte lang von zwei Parteien dominiert worden, die aus dem 1992 beendeten Bürgerkrieg hervorgegangen waren: Der rechten ARENA-Partei und der linken FMLN, der politischen Kraft der ehemaligen Guerilla. Beiden Parteien droht im neuen Parlament die politische Bedeutungslosigkeit, da die Regierungspartei „Nuevas Ideas“ („Neue Ideen“) nach vorläufigen Ergebnissen über eine komfortable Zweidrittelmehrheit verfügt. Mit dieser kann sie selbst Verfassungsänderungen ohne die Zustimmung der Opposition durchsetzen.

„Die Mehrheit ist einfach enttäuscht von den früheren Regierungen“

Es gibt keinen Zweifel: Die Partei von Präsident Nayib Bukele hat die Parlamentswahlen am 28. Februar im zentralamerikanischen El Salvador klar gewonnen. Aus dem Stand errang die neue politische Gruppierung weit mehr als die Hälfte der 84 Parlamentssitze. Anders als bisher kann Bukele nun ohne Absprachen mit der Opposition durchregieren.

„Ein kleiner Teil der Bevölkerung ist sich der Gefahren bewusst, die diese Machtkonzentration mit sich bringt“, sagt Jessica Estrada vom salvadorianischen Think Tank Stiftung für Entwicklung (FUNDE). „Aber die Mehrheit ist einfach enttäuscht von den früheren Regierungen und unterstützt Bukele fast bedingungslos.“ Tatsächlich haben es weder die rechte ARENA-Partei noch die linke FMLN seit Ende des Bürgerkrieges geschafft, die grundlegenden Probleme des Landes wie Armut, Gewalt und Korruption in den Griff zu bekommen.

Besonders bitter ist das starke Abschneiden der neuen Regierungspartei für die FMLN – schließlich hatte der erst 39 Jahre Präsident Bukele seine politische Karriere als Bürgermeister eines kleinen Vorortes von San Salvador in der Ex-Guerilla-Partei begonnen. Überraschend schnell war er schon 2015 zum Bürgermeister der Hauptstadt aufgestiegen – ebenfalls für die FMLN, hatte sich dann aber mit der Partei überworfen. „Niemand hat es damals für möglich gehalten, dass eine neue politische Kraft auftauchen würde, die ARENA und die FMLN verdrängt“, sagt Estrada. Andere Parteineugründungen in der Vergangenheit waren schließlich gescheitert, die Dominanz der zwei großen Altparteien galt als unüberwindbar.

Noch heute reiben sich viele politische Beobachter*innen verwundert die Augen angesichts der Geschwindigkeit, mit der Präsident Bukele das traditionelle Parteiengefüge verändert hat. Vor zwei Jahren war er als Kandidat der kleinen Partei GANA mit überwältigender Mehrheit zum Staatsoberhaupt gewählt worden – seine eigene Partei „Nuevas Ideas“ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht offiziell zugelassen. Der Sieg bei den Parlamentswahlen zeigt nun, dass es sich bei Bukeles Wahlerfolgen offenbar um ein dauerhaftes Phänomen handelt.

Andere Parteien im Parlament von El Salvador werden zu Statisten

Dabei ist der junge Präsident in El Salvador keineswegs unumstritten: Er gilt als äußerst autoritärer Staatschef, der sich über Gerichtsentscheidungen hinwegsetzt und demokratische Grundprinzipien wie die Gewaltenteilung und den respektvollen Umgang mit dem politischen Gegner missachtet. Als wenige Wochen vor der Wahl zwei Mitglieder der FMLN von Anhängern des Präsidenten nach einem Disput auf offener Straße erschossen worden waren, rief Bukele nicht zu Gewaltverzicht und Mäßigung auf, sondern machte sich über die Tat lustig. „Es scheint, dass Bukele diese Art von Zusammenstößen, bei denen seine Anhänger ihn bis aufs Blut verteidigen, sogar genießt“, meint Jessica Estrada.

Doch selbst der pietätlose Umgang mit dem Mord an den zwei FMLN-Anhängern hat den Wahlausgang offenbar nicht beeinflusst, Präsident Bukele gilt als einer der beliebtesten Regierungschefs Lateinamerikas. Sympathien dürfte ihm vor allem die drastische Reduzierung der hohen Gewaltrate eingebracht haben – Kritiker*innen monieren allerdings, dass diese nur durch geheime Absprachen mit den gewalttätigen Jugendbanden, den sogenannten maras zustande gekommen ist. Sie kontrollieren ganze Stadtviertel und sind für die hohe Mordrate im Land maßgeblich mitverantwortlich.
Aufgrund der überragenden Beliebtheitswerte von Bukele war auch der nun zu Ende gegangene Parlamentswahlkampf von „Nuevas Ideas“ komplett auf den Präsidenten zugeschnitten. Die neuen Abgeordneten der Partei gelten alle als äußerst loyal gegenüber Bukele, der nun keine Schwierigkeiten haben wird, sämtliche Gesetzesvorhaben geräuschlos durch das Parlament zu bringen. Alle anderen im Parlament vertretenen Parteien werden de facto in eine Statistenrolle gezwungen, da Bukele ihre Stimmen für keine seiner zukünftigen politischen Entscheidungen benötigt – den Staatshaushalt oder neue Gesetzesvorhaben, aber auch weitreichende Verfassungsänderungen kann er allein mit der Zweidrittel-Mehrheit von „Nuevas Ideas“ beschließen.
Zudem steht demnächst die Ernennung von neuen Richter*innen für den Obersten Gerichtshof an, auch ein neuer Generalstaatsanwalt oder eine neue Generalstaatsanwältin muss bald schon ernannt werden – ebenfalls Entscheidungen, die Bukele nun im Alleingang treffen kann und so seinen Machtzugriff auf die Judikative deutlich erweitert.

Der Wahlsieg von „Nuevas Ideas“ könnte auch Auswirkungen auf die künftige Zusammenarbeit mit den USA haben, die Zentralamerika von jeher als ihre direkte Einflusssphäre betrachten. US-Präsident Joe Biden hat bereits angekündigt, sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger Donald Trump wieder stärker um den Kampf gegen die Korruption als wichtigen Teil der Fluchtursachenbekämpfung zentralamerikanischer Migrant*innen kümmern zu wollen. Allerdings dürfte Präsident Bukele kaum Interesse daran haben, seine oft intransparente Amtsführung von einer unabhängigen Kontrollinstanz prüfen zu lassen.

„Washington kann damit drohen, die internationalen Hilfsgelder für El Salvador zu kürzen“

Doch welche konkreten Druckmittel hätte die US-Regierung, um innenpolitischen Einfluss im Land zu nehmen? „Washington kann zum Beispiel damit drohen, die internationalen Hilfsgelder für El Salvador zu kürzen oder die Zusammenarbeit sogar ganz einzustellen“, erläutert Jessica Estrada. „Das hätte dramatische Auswirkungen auf große Infrastrukturprojekte der Regierung Bukele, die von den USA unterstützt werden.“

Zudem könnte Bukele ein Gesetz in die Quere kommen, das der US-Kongress erst im Dezember vergangenen Jahres verabschiedet hat. Es sieht die jährliche Veröffentlichung derjenigen Personen aus Guatemala, Honduras und El Salvador vor, die der US-Regierung als korrupte und undemokratische Akteur*innen bekannt sind. Eine Veröffentlichung in der „Liste Engel“ – benannt nach dem früheren Kongress-Abgeordneten Eliot Engel, der das Gesetz initiiert hat – kann weitreichende Sanktionen wie den Entzug der Einreisegenehmigung oder die Beendigung geschäftlicher Tätigkeiten in den USA nach sich ziehen. Bukele muss nun befürchten, dass Mitglieder seiner eigenen Regierung auf der „Liste Engel“ öffentlich gebrandmarkt werden. „Wir wissen noch nicht, wie er darauf reagieren wird“, sagt Estrada. „Washington hat allerdings klargemacht, dass es Machtmissbrauch und Korruption nicht länger tolerieren wird.“

// ALLEIN DIE SOLIDARITÄT KANN UNS RETTEN

Ein vorbildlicher Demokrat ist Nayib Bukele ganz sicher nicht: Das zeigte El Salvadors junger Präsident, als er Anfang Februar das Parlamentsgebäude von Soldat*innen und Polizist*innen besetzen ließ, um ein Paket zur Finanzierung seiner repressiven Sicherheitspolitik durchzusetzen (siehe LN 549). Dieses verfassungswidrige Vorgehen war den hiesigen Medien kaum mehr als eine Nachricht wert. Nicht viel anders verhält es sich in Bezug auf Bukeles bemerkenswertes Vorgehen gegen das Coronavirus. Nach nur fünf nachgewiesenen Fällen im Land erließ er weitreichende Maßnahmen: Alle, die sich in „obligatorischer Quarantäne“ befänden, könnten ihre Zahlungen für Miet-, Wasser- und Telefon für drei Monate aussetzen, ebenso wie Kredit- und Zinszahlungen. 

In seiner viral gehenden Videobotschaft wandte sich der ehemalige Unternehmer Bukele an die Vertreter*innen der Geschäftswelt: „Ich garantiere Dir, was Dich am wenigsten interessiert, wenn Du ein Beatmungsgerät brauchst, ist Dein Bankkonto. Wie viel sind Dir Deine Mutter wert, Dein Vater, Deine Kinder? Gut, Du wirst vielleicht 20 Prozent Deines Kapitals verlieren, aber es gibt Menschen, die heute Abend nichts zu essen haben. Das Einzige, was uns jetzt rettet, ist Solidarität.“

Bukele neigt zur One-Man-Show, daher wird sich zeigen müssen, ob seinen Worten entsprechende Taten folgen. Unbestreitbar trifft allerdings seine Kernbotschaft zu: „Das Einzige was uns jetzt rettet, ist Solidarität.“

 Nicht die Solidarität, sondern das Virus rettet derzeit Chiles Präsident Sebastián Piñera. Die rechte Regierung hat unter dem Schirm des Seuchenschutzes endlich das geeignete Mittel gefunden, um die seit mehr als fünf Monaten andauernden Proteste zu seinem Vorteil und dem der herrschenden Elite zu beenden. Ein Negativbeispiel dafür, wie die Aussetzung von Grundrechten missbraucht werden kann.
 
Nicht alle Regierungschefs in Lateinamerika nehmen das Corona-Virus ernst. Von extremer Ignoranz ist die Situation in Nicaragua gekennzeichnet, wo weiterhin zu Massenveranstaltungen aufgerufen wird. Bereits zu Beginn der Krise hatte Rosario Murillo, die Ehefrau von Präsident Ortega, unter dem Motto „Liebe in Zeiten von Covid-19″ zu einer Demonstration mobilisiert. Die staatlichen Institutionen sind nicht geschlossen, Schulen und Universitäten bleiben weiterhin geöffnet. 
 
Auch in Brasilien versucht der rechtsradikale Präsident Jair Bolsonaro mit allen Mitteln, den Stillstand des öffentlichen Lebens zu unterbinden und erklärt sich in täglichen Videobotschaften als willfähriger Handlanger seiner Unterstützer*innen: „Das Land muss zur Normalität zurückkehren. Eine Wirtschaftskrise ist viel tödlicher als diese kleine Grippe.“ Ein Diskurs, der auch in Europa in den vergangenen Tagen zunehmend an Fahrt aufnimmt. 
 
In der Corona-Pandemie zeigt sich überdeutlich, dass ein System, in dem Gesundheit zur Ware erklärt wurde, nicht dazu geeignet ist, auf eine weltweite Katastrophe angemessen zu reagieren. Der Wettbewerb der Konzerne, um Tests, Impfstoffe und Medikamente zuerst „auf den Markt zu bringen“, überlagert die gemeinsamen Forschungsanstrengungen und Normen der Weltgesundheitsorganisation. Internationale Lieferketten für Teststäbchen und Atemschutzmasken sind ebenso wenig pandemie-kompatibel wie eine privatisierte Gesundheitsversorgung. 
 
Wenn die Welt “nach Corona” tatsächlich nie wieder so sein wird wie zuvor, wie überall zu hören ist, dann müssen wir uns schon jetzt dafür einsetzen, dass nach der Pandemie die demokratischen Rechte nicht nur wieder hergestellt, sondern erweitert werden. Menschenrechte sind keine Ware, weder das Recht auf Gesundheit noch das Recht auf Wohnen, auf Nahrung oder auf Wasser. Wenn uns heute allein die Solidarität rettet, dann muss dies auch in Post-Corona-Zeiten gelten. Anders als in der Finanzkrise sollten und müssen wir die neuen Erkenntnisse und Handlungsspielräume, die sich in der aktuellen Krise eröffnen, nutzen.

MIT GOTT UND MILITÄR

Der Präsident El Salvadors, Nayib Bukele, ist seit Juni 2019 im Amt (Foto: Presidencia El Salvador)

Nayib Bukele von der Mitte-Rechts-Partei GANA hat es wieder einmal in die internationalen Schlagzeilen geschafft. Nach seinem deutlichen Wahlsieg in der Präsidentschaftswahl im Februar vergangenen Jahres und seinem Selfie vor der UN-Generalversammlung im September steht er dieses Mal allerdings deutlich in der Kritik. Für den 9. Februar – einen Sonntag – hatte der salvadorianische Präsident das Parlament zu einer umstrittenen Sondersitzung befohlen. Als die meisten Abgeordneten sich weigerten, zu erscheinen, lief er gemeinsam mit Soldat*innen und Polizist*innen in Kampfuniform in den Plenarsaal ein. Dort betete er zu Gott, der ihm vermeintlich zuflüsterte, sich in „Geduld zu üben“.

Die brachialen Bilder des militärisch besetzten Parlaments haben eine Vorgeschichte: Der häufig als Twitterpräsident bezeichnete Bukele, der seine Meinung und Befehle vor allem über den Kurznachrichtendienst verbreitet, kann seit Monaten vor allem einen Erfolg vorweisen: die Senkung der Mordrate. Die Tendenz hatte zwar 2016 unter der linken FMLN-Regierung begonnen, sich aber unter Bukeles Regierung erheblich verstärkt. Dass dies vor allem auf einem Abkommen mit den Jugendbanden, den sogenannten Maras, beruhen könnte, ist zwar nicht bewiesen, aber recht offensichtlich. Die Regierung spricht von einem Sicherheitsplan mit sieben Etappen, von dem sie bisher jedoch nur zu drei Etappen diffuse Informationen veröffentlicht hat. Das Parlament billigte den Haushalt für 2020 mit erheblich gesteigerten Mitteln für die Ressorts innere Sicherheit und Verteidigung und winkte auch einen Kredit über 91 Millionen US-Dollar für die zweite Etappe des Sicherheitsplans mit einfacher Mehrheit durch. Damit darf die Regierung laut salvadorianischem Recht Verhandlungen mit dem Kreditgeber aufnehmen. Für eine endgültige Bewilligung ist anschließend eine Zweidrittelmehrheit nötig.

Parallel dazu beantragte die Regierung nun einen weiteren Kredit über 109 Millionen US-Dollar, mit dem neben Polizeiausrüstung und Videoüberwachung auch Helikopter und ein Patrouillenboot angeschafft werden sollen. Als die nötigen Stimmen beinahe zusammen waren, kamen Bilder von Osiris Luna Meza, dem Leiter der salvadorianischen Strafvollzugsanstalten, an die Öffentlichkeit. Sie zeigen ihn in einem Privatflugzeug auf einer vermeintlichen Arbeitsreise nach Mexiko. In den sozialen Netzwerken ging daraufhin die Frage „Wer hat die Mexikoreise bezahlt?“ viral. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich bei dem Finanzier um die Firma SeguriTech mit Sitz in Mexiko handelt. Sie geriet während der Amtszeit des mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto (2012-2018) wegen mangelhafter Überwachungstechnologie stark in die Kritik. Für die gleiche Technologie sind nun in einem der Kreditanträge rund 25 Millionen US-Dollar vorgesehen.

Bukele betete theatralisch zu Gott

Die FMLN-Regierung hatte in ihrer Amtszeit von 2009 bis 2019 oft über Monate und sogar Jahre hinweg mit der rechten Parlamentsmehrheit gerungen, um zum Beispiel Kredite für ein neues Zentralkrankenhaus in der Hauptstadt San Salvador oder die Modernisierung der wichtigsten Wasseraufbereitungsanlage für die Hauptstadtregion bewilligt zu bekommen. Der junge Präsident Bukele zeigt sich hingegen schon nach wenigen Wochen ungeduldig und wenig kompromissbereit.

Dies wurde besonders deutlich, als er auf einen für Katastrophenfälle gedachten Verfassungsparagraphen zurückgriff, der es dem Kabinett erlaubt, das Parlament zu einer Sondersitzung einzuberufen. Diese setzte er für Sonntag, den 9. Februar an und rief gleichzeitig zu einer Massendemonstration vor dem Parlament auf. Die Abgeordneten lehnten die Sondersitzung mehrheitlich ab.

In den Tagen vor dem 9. Februar spitzte sich die Situation zu. Staatsbedienstete wurden von Bukele unverhohlen dazu aufgefordert, an der Demo teilzunehmen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Am Sonntagmorgen war das Behördenviertel rund um das Parlament mit Militär­einheiten besetzt. Von den 84 Abgeordneten waren nur gut zwanzig vor Ort. Die FMLN-Fraktion wurde von eigenen Anhänger*innen beschützt, nachdem die Verantwortlichen der Polizei den Abgeordneten die Leibwächter*innen entzogen hatten.

Die öffentlichen Reaktionen fielen bis Sonntagmorgen eher zurückhaltend aus: Die Jesuitenuniversität UCA bezog früh kritisch Stellung, ebenso wie einige soziale Organisationen und Institute, während Luis Almagro, der US-hörige Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) der Regierung sein Vertrauen aussprach und der US-Botschafter zur Ruhe aufrief. Als sich die Situation weiter verschärfte, meldete sich die EU mit einem kritischen Kommuniqué zu Wort. Auch die Vereinten Nationen und vor allem der US-Botschafter Ronald Johnson äußerten sich immer deutlicher, während die Katholische Kirche und die Nationaluniversität UES sich in Schweigen hüllten.

Vor dem Parlament demonstrierten statt der erhofften Massen gerade einmal 5.000 Personen, viele von ihnen hatten das Angebot einer kostenlosen Reise in die Hauptstadt inklusive Verpflegung angenommen.

Auch eine erneute Sonntagsdemo für den „Volksaufstand“ in der darauffolgenden Woche versammelte nur 300 Personen, während sich in den (sozialen) Medien Entsetzen über das Vorgehen Bukeles abzeichnete. Letztlich erklärte das Verfassungsgericht die Entscheidungen des Präsidenten für gesetzeswidrig, weshalb der Kredit für die innere Sicherheit vorläufig auf Eis gelegt wurde.

300 Personen auf der Demo für den „Volksaufstand“

Bukele hat die rechte Arena-Partei und die linke FMLN in eine Ecke gedrängt, in der sie gemeinsam die Nachkriegsordnung inklusive der in der öffentlichen Wahrnehmung völlig diskreditierten Judikative, Legislative und Staatsanwaltschaft verteidigen. Dabei können sie auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und wohl auch breiter Teile des Bildungsbürgertums zählen. Die Frage ist jedoch, ob Bukele mit seinem konfrontativen Diskurs gegen das „alte“ und „korrupte“ System bis zu den Parlamentswahlen im Februar 2021 seine vergleichsweise breite Unterstützung halten kann. Gelingt dies, könnten im Parlament neue Mehrheitsverhältnisse entstehen, die ihm eine Vertiefung seines diffusen populistischen Projekts erlauben würden.

Die Lähmung der rechten Arena und der linken FMLN, die beide in interne Streitigkeiten verwickelt und öffentlich weitgehend diskreditiert sind, kommt Bukele dabei recht. Gegenwind droht ihm dennoch, da die Fortschritte im Bereich innerer Sicherheit fragil sind und die Wirtschaftspolitik des neuen Präsidenten bisher keine Verbesserungen erkennen lässt. Die systematische Demontage auch anerkannter Fortschritte der FMLN-Regierung, der harsche und populistische Umgangston und die Anfälligkeit für Korruption sind weitere Risikofaktoren. Nicht zuletzt aber droht Gefahr aus den eigenen Reihen. Denn in Bukeles politischem Umfeld tummeln sich Leute mit Machtansprüchen. Dies birgt für die internen Vorwahlen für die Listen der Kommunal- und Parlamentswahlen in den nächsten Monaten einiges an Zündstoff für Konflikte innerhalb der Partei.

HOFFNUNGSTRÄGER OHNE PLAN

Nayib Bukele im Wahlkampf Unabhängiger Querdenker? (Foto:Caroline Narr)

Der 3. Februar 2019 wird den Salvadorianer*innen noch lange in Erinnerung bleiben: Als der Tag, an dem das Zweiparteiensystem im Land begraben wurde. Seit den Friedensverträgen von 1992 hatten die linksgerichtete Nationale Befreiungs­front Farabundo Martí (FMLN) und die ultrarechte ARENA-Partei die Macht unter sich aufgeteilt. Doch seit Nayib Bukele die politische Bühne des Landes betreten hat, ist alles anders. Bukeles Aufstieg ist eine politische Karriere im Schnell­durchlauf: mit 30 Jahren zum Bürger-meister des kleinen Hauptstadt-Vororts Nuevo Cuscatlán gewählt, drei Jahre später Bürger-meister von San Salvador, nun, mit nur 37 Jahren, die Präsidentschaft. Sein Triumph hatte sich in den Wochen und Monaten vor der Wahl angekündigt. Dass er so deutlich ausfallen würde – Bukele sicherte sich schon im ersten Wahlgang mit rund 53 Prozent der Stimmen die Präsidentschaft – überraschte jedoch auch salvadorianische Beobachter*innen. Noch ist weitgehend unklar, mit welchem politischen Programm Bukele ab dem 1. Juni 2019 das Land regieren will. Denn gewonnen hat er die Wahl nicht so sehr mit eigenen politischen Konzepten, sondern vielmehr mit einer Kampagne gegen die etablierten Parteien und die „alte Politik“. „Bukele ist ein Kind der politischen Fehler, die die FMLN und ARENA begangen haben, als sie an der Macht waren“, sagt der Journalist Sergio Arauz vom salvadorianischen Online-Medium El Faro. „Die Straflosigkeit, die Gewalt, der fehlende Sozialstaat – wir haben noch heute mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie nach dem Bürgerkrieg.“

 

Bukele hat die Wahl nicht mit eigenen politischen Konzepten gewonnen

Ähnlich wie in Guatemala, wo der frühere Fernsehkomiker Jimmy Morales vor vier Jahren die Präsidentschaftswahlen mit einem Erdrutsch-sieg gewann, ist nun auch in El Salvador ein politischer Outsider an die Macht gewählt worden – so zumindest präsentierte sich Bukele im Wahlkampf. Stimmen tut das allerdings nur auf den ersten Blick. Denn Bukele, der viel gegen die Korruption der politischen Eliten wetterte und die Einrichtung einer Internationalen Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit nach dem Vorbild der CICIG in Guatemala versprach, ging als Präsidentschaftskandidat für die Gran Alianza por la Unidad Nacional (GANA) ins Rennen. Die kleine, rechte Partei ist mit ihren Problemen prototypisch für das salvadorianische Parteiensystem: Die Finanzierung ist intransparent, wichtige Partei­mitglieder werden der Korruption beschuldigt. Geschadet hat das Bukele im Wahlkampf offenbar wenig. Denn der zukünftige Präsident des Landes wusste sich stets als Opfer des politischen Establishments in Szene zu setzen. Mit GANA habe er nur paktiert, um seine Präsidentschaftskandidatur zu retten, so Bukele – seine eigene politische Organisation „Nuevas Ideas“ war nicht rechtzeitig zur Präsidentschaftswahl als Partei zugelassen worden. Dabei war es eben jenes Establishment, das ihn politisch überhaupt erst groß gemacht hat. Sein Vater Armando Bukele, ein Unternehmer palästinensischer Abstammung und Sympathisant der linken Guerilla, wurde zu seinem Mentor. Nayib Bukeles erste politische Heimat war die linke FMLN, die nach dem Bürger­krieg aus der ehemaligen Guerilla hervorgegangen war.

Der neue Präsident ist nur auf den ersten Blick ein Outsider.

Während seine Amtszeit als FMLN-Bürgermeister des kleinen Hauptstadt-Vororts Nuevo Cuscatlán öffentlich anfangs kaum wahrgenommen wurde, war Bukeles Wahl zum Bürgermeister San Salvadors 2015 gegen den prominenten ARENA-Politiker Norman Quijano eine echte Sensation. Doch die FMLN war für Bukele von Anfang an weniger politische Heimat aus Überzeugung als vielmehr ein Vehikel auf dem Weg zur Macht. Der Vorwurf der Frauenfeindlichkeit – Bukele soll während seiner Amtszeit als Bürgermeister eine städtische Angestellte beleidigt und mit einem Apfel beworfen haben – führte im Oktober 2017 zu seinem Rauswurf aus der Partei. Angekündigt hatte sich das Zerwürfnis schon seit Längerem: Durch seine wiederholte scharfe Kritik an der Regierungsarbeit der eigenen Partei – El Salvador wurde in den vergangenen zehn Jahren links regiert – war er für die FMLN untragbar geworden.

Seiner Popularität tat der Rausschmiss indes keinen Abbruch – im Gegenteil: Er verfestigte das Bild des unabhängigen Querdenkers, der seine Agenda im Zweifel auch gegen die mächtigen Parteiapparate durchsetzt. Bukele, der mit hunderttausenden Followern auf Instagram, Facebook und Twitter seine Wahlkampagne vor allem über die sozialen Netzwerke betrieben hat, gilt als Marketing-Genie. Sein Mandat als Bürger­meister nutzte er dementsprechend, um prestige­trächtige Projekte voranzutreiben – allen voran die Wiederbelebung des Zentrums San Salvadors. Noch vor wenigen Jahren war die historische Mitte der Hauptstadt ein chaotischer Ort voller Straßenhändler*innen und heruntergekommener Gebäude, den man nach Einbruch der Dunkelheit besser nicht betrat. Als Bürgermeister ließ Bukele einige Plätze und bedeutende Gebäude im Zentrum sanieren und siedelte die Straßenhändler*innen in eine neu gebaute Markthalle um. Dafür soll er auch mit den Jugendbanden verhandelt haben, wie das Online-Medium El Faro berichtet hat. Heute haben sich die Salvadorianer*innen einen Teil der Hauptstadt zurückerobert und flanieren auch noch am Abend durch das nun beleuchtete und von Polizist*innen überwachte Zentrum. „Die Dinge, die er versprochen hat, hat er tatsächlich umgesetzt“, sagt der Taxifahrer Humberto Quintanilla aner­kennend. „Das ist etwas Konkretes, das er allen Widerständen zum Trotz durchgesetzt hat – obwohl sich die traditionelle politische Klasse heftig dagegen gewehrt hat.“

Bukele diente die FMLN als Steigbügel für seine Karriere

Bukele profitierte bei seinem Wahlsieg von einer Mischung aus seinem Macher-Image und den Problemen der beiden großen Parteien ARENA und FMLN. Der frühere ARENA-Präsident Antonio Saca wurde 2018 wegen Korruption zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt, sein Nachfolger, der linke Mauricio Funes (FMLN) konnte wegen ähnlicher Delikte nur deshalb noch nicht verurteilt werden, weil Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega ihm politisches Asyl gewährt hat. So blieben die beiden großen Parteien bei der Wahl chancenlos: Carlos Calleja, Sohn einer einfluss-reichen Unternehmerfamilie und ARENA-Kandidat, hatte außer dem Versprechen von mehr Arbeitsplätzen in der Wahlkampagne kaum etwas Substanzielles anzubieten und landete mit etwa 32 Prozent deutlich hinter Bukele. Für den Kandidaten der Linken, den langjährigen Außenminister Hugo Martínez, reichte es sogar nur für einen abgeschlagenen dritten Platz – er kam auf gerade einmal gut 14 Prozent der Stimmen. Ein weiterer Rückschlag nach den Parlamentswahlen 2018, bei denen die FMLN nur noch knapp 25 Prozent und 23 Sitze einheimsen konnte. Die FMLN droht damit Schritt um Schritt in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, denn auch ihr ist es nicht gelungen, während der zehnjährigen Regierungszeit strukturelle Re-formen anzustoßen, um die großen Probleme des Landes, wie die Unterfinanzierung des Staates oder die grassierende Gewalt, zu lösen.

Unterstützer*innen Bukeles 53 Prozent der Menschen stimmten für den 37-Jährigen
Ob Nayib Bukele das allerdings schaffen wird, steht in den Sternen. Zum einen ist seine Partei GANA nur mit einer kleinen Fraktion im Parlament vertreten. Zum anderen ist Bukele selbst alles andere als ein transparenter Politiker: „Bei ihm ist es wie in einer Kirche, wie bei einem Künstler oder Rockstar: Er möchte nur Applaus bekommen, aber er will nicht darüber reden, was hinter diesem Applaus steckt: wer seine Vertrauensleute sind, woher sein Geld kommt, und was er über wichtige politische Themen denkt“, sagt der Journalist Sergio Arauz von El Faro. Die „alte Politik“, die der zukünftige Präsident so oft im Wahlkampf kritisiert hat, ist offenbar noch längst nicht tot. Vielleicht hat sie in Bukele lediglich einen neuen, modernen Vertreter gefunden.

 

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