Im Oktober 2019 kam es in Chile zu einer sozialen Revolte. Die Erhöhung des Fahrpreises für den öffentlichen Nahverkehr um 30 Pesos war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hintergrund waren tägliche und anhaltende Demütigungen, die die Arbeiter*innenklasse des Landes jahrelang hatte tolerieren müssen. Demütigungen, die in allen Lebensbereichen stattfanden, so ein nach Einkommensniveau gegliedertes Gesundheitssystem, Renten unterhalb der Armutsgrenze, eine hohe Verschuldung der Bevölkerung nur zur Finanzierung alltäglicher Ausgaben, nicht für Luxusgüter.
Besonders junge Menschen hatten wochenlang gegen die Erhöhung der Fahrpreise protestiert, indem sie ohne Fahrschein im ÖPNV fuhren. Darauf reagierte die Regierung mit einer Militarisierung der Haltestellen und der Kriminalisierung der Bewegung. Am 18. Oktober weitete sich der Protest dann von der U-Bahn auf die gesamte Hauptstadt Santiago aus, die Polizei war überfordert. Am Nachmittag desselben Tages wurden überall in Santiago Barrikaden errichtet, die Empörung breitete sich schnell in die anderen Regionen Chiles aus.
Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung fand nicht statt
Allein zwischen dem 18. Oktober und dem 30. November 2019 mussten nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 12.500 Menschen nach Zusammenstößen bei den Protesten in öffentlichen Krankenhäusern notfallversorgt werden. Mindestens 347 Menschen erlitten nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte Augenverletzungen durch von der Polizei abgefeuerte, sogenannte nicht-tödliche Kugeln.
Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung der für diese Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen gab es nicht. Die chilenische Staatsanwaltschaft gab an, dass zwischen dem 18. Oktober 2019 und dem 31. März 2020 8.508 Verfahren wegen institutioneller Gewalt im Zusammenhang mit Demonstrationen eingeleitet worden waren. 10.568 Opfer konnten identifiziert werden, wie die Staatsanwaltschaft Amnesty International in einem offiziellen Schreiben vom 9. August 2023 mitteilte.
Anzeigen durch das Nationale Institut für Menschenrechte wurde dabei noch am häufigsten nachgegangen. Bis Oktober 2022 hatte das Institut 3.151 Anzeigen wegen Folter, exzessiver Gewalt, unrechtmäßiger Nötigung und Tötung durch staatliches Handeln gestellt, von denen sich 2.987 gegen Mitglieder der Carabineros de Chile (chilenische Militärpolizei) richteten. Allerdings wurde nur gegen weniger als 200 Beamtinnen ein Verfahren eingeleitet. Diese Verfahren führten bis Oktober 2022 nur zu 14 Verurteilungen, wie die Zeitung La Tercera in einem Artikel vom 15. Oktober desselben Jahres berichtete. Auch wenn die Zahl seitdem gestiegen ist, wurden viele der Strafen dank eines im April 2023 verabschiedeten Gesetzes mit dem umgangssprachlichen Namen Ley gatillo fácil („Feuer frei-Gesetz“) reduziert.
Angesichts dieser Zahlen kann man bei den Menschenrechtsverletzungen der Jahre 2019 bis 2020 nicht von Einzelfällen sprechen. Die sozialen Bewegungen, Solidaritätsorganisationen, kritische Presse und engagierte Jurist*innen verstehen diese Übergriffe als systemisch – als Teil einer kohärenten Politik von Repression und Gewalt.
Und gerade die für diese Gewalt Verantwortlichen, die Polizist*innen, werden nicht zur Verantwortung gezogen. So teilte die chilenische Polizei dem Ministerium für Justiz und Menschenrechte im Jahr 2020 mit, dass sie 1.270 interne Ermittlungsverfahren eingeleitet habe, also in weniger als der Hälfte der gemeldeten Fälle. 1.033 davon wurden geschlossen und zu den Akten gelegt, da ein Fehlverhalten angeblich nicht nachgewiesen werden konnte.
Die ranghöchsten Vertreter der Polizei, der derzeitige Generaldirektor Ricardo Yáñez und auch der ehemalige General Mario Rozas (der in den Monaten Oktober und November 2019 das Kommando innehatte), haben sich während der Niederschlagung der Proteste stets davor gedrückt, sich zu ihrer Verantwortung zu äußern. Sie haben sich mehrfach geweigert, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, um sich zu den Verbrechen, die ihnen aufgrund ihrer Befehlsverantwortung vorgeworfen werden, einzulassen. Gleichzeitig erhielten die für die Ermittlungen zuständige Staatsanwältin und ihre Familie ständig Drohungen und die Polizei versuchte, sie von den Fällen abzuziehen, indem sie ihr „Feindschaft, Hass und Ressentiments“ gegenüber der Institution vorwarfen. Trotzdem haben sowohl die Regierung von Sebastián Piñera als auch der jetzige Präsident Gabriel Boric, der sich auf die Frente Amplio, eine Koalition aus progressiven Mitte-links- Parteien stützt, Yáñez in seiner jetzigen Position belassen, obwohl sich die Frente Amplio angeblich die aus der Revolte hervorgegangenen Forderungen zu Eigen gemacht hat.
Die Regierungspartei setzt auf Sicherheitsgesetze
An symbolträchtigen Tagen wie dem día del joven combatiente (Tag des jungen Kämpfers), der an die Ermordung linker politischer Aktivist*innen durch die Polizei während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) als Vergeltung für den Angriff eines Teils der Carabineros auf Pinochet erinnert, zeigte die Partei von Boric, dass sie an der Seite der Polizei steht. Angesichts der Welle von „Law and Order“-Politik, die das Land derzeit erlebt, rühmte sich die Regierungspartei nur einen Tag nach dem Jahrestag der Revolte 2023 in den sozialen Netzwerken damit, die Regierung zu sein, die seit 1990 die meisten Sicherheitsgesetze beschlossen hat: 34 an der Zahl. Dabei ist das schon erwähnte „Feuer frei“-Gesetz das wichtigste. Ein weiteres Gesetzesvorhaben, das unter der Piñera-Regierung nicht mehr verabschiedet werden konnte, sah eine Ermächtigung zum Einsatz des Militärs für die Verteidigung „kritischer Infrastruktur“ vor.
Verschärfend kommt hinzu, dass die Schwere der politischen Verfolgung während der Proteste weiter geleugnet wird – auch von der Frente Amplio. Obwohl diese im Wahlkampf versprochen hatte, die politischen Gefangenen der Revolte zu begnadigen, wurden nur zwölf Verurteilte begnadigt, und das erst fast ein Jahr nach dem Amtsantritt von Präsident Boric. Eine große Zahl von Gefangenen wurde ohne Verurteilung in unverhältnismäßig langer Untersuchungshaft gehalten.
Es bestand die Absicht, Sebastián Piñera sowohl politisch als auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Am 19. November 2019 wurde ein Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen der Polizei und der Streitkräfte angestrengt. Dieses wurde allerdings nicht einmal inhaltlich diskutiert, da es aus verfahrenstechnischen Gründen zurückgewiesen worden war.
Mindestens drei strafrechtliche Klagen gab es im Zusammenhang mit der Revolte von 2019 gegen Piñera, zusätzlich zu anderen wegen Korruption bei der Genehmigung von Bergbaubetrieben und wegen des Gesundheitsmanagements während der Pandemie. All diese Klagen wurden von Einzelpersonen eingebracht und wurden nun, nach dem Tod des ehemaligen Präsidenten, eingestellt.. Das deutet darauf hin, dass der wichtigste Akteur, der Piñeras Straflosigkeit garantierte, der Staat war, da dessen öffentliche Strafverfolgungsbehörde (die Staatsanwaltschaft) davon absah, gegen ihn vorzugehen. Das lag zum Teil daran, dass ihr damaliger nationaler Leiter vom ehemaligen Präsidenten selbst ernannt worden war. Dessen derzeitiger Nachfolger wurde wiederum von Gabriel Boric ernannt, wohl wissend, dass die Straflosigkeit andauern würde. Aber selbst, wenn es unter der neuen Regierung eine Bereitschaft gegeben haben sollte, ihn zu verfolgen: Dass Piñera auch nach seinem Tod verteidigt wird, leugnet schließlich weiter, dass der Staat Gewalt ausübt.
Der Absturz des Hubschraubers, den der Expräsident steuerte, um sich eine 50-minütige Fahrt zu seinem Sommerhaus in einer der exklusivsten Gegenden des Landes zu ersparen, wurde von der Presse als eine der größten Tragödien dargestellt, die je ein chilenischer Präsident erlitten habe. Boric selbst hielt zusammen mit mehreren seiner Minister am Sarg Piñeras Totenwache. Er wies in seiner Rede während der Beerdigung darauf hin, dass während seiner Zeit „als Opposition während (Piñeras) Regierungszeit Beschwerden und Schuldzuweisungen über das hinausgingen, was fair und vernünftig war“. Piñera sei „ein Demokrat der ersten Stunde“ gewesen. Derlei Aussagen machen die jahrelangen Bemühungen, ein Bewusstsein für Staatsverbrechen zu schärfen, zunichte.
Es war also nicht nur sein unerwarteter Tod, der Piñera davor bewahrte, vor Gericht gestellt zu werden. Die Straflosigkeit, die er mit ins Grab genommen hat, ist die Konsequenz des Handelns von Institutionen, die eine von der Exekutive unabhängige Strafverfolgung verhindern. Hinzu kommt eine Opposition, die eine sicherheits- und polizeifreundliche Agenda unterstützt, um daraus kurzfristig politisch Vorteil zu ziehen.