SCHLUSSVERKAUF AUF DEM WAHLMARKT

Am 19. November ist die Bevölkerung Chiles aufgerufen, eine neue Regierung zu wählen. Acht Kandidat*innen stehen im Rennen um die nächste Präsidentschaft der Republik und dennoch deutet kaum etwas auf einen tiefgreifenden Richtungswechsel hin. Weder die unzähligen Korruptionsfälle noch die permanente Krise zwischen dem Staat (sowie den verwickelten Unternehmensgruppen) und den indigenen Mapuche im Süden Chiles konnten bisher nachhaltig am Image und der Vormachtstellung des aktuellen neoliberalen Modells kratzen. Seit Jahrzehnten folgt das Land einem extraktivistischen Wirtschaftsmodell und einer Strategie der Privatisierung von Ressourcen und Dienstleistungen in fast allen Lebensbereichen, von der frühen Schulbildung bis zur Rente, in dem der Staat nur subsidiären Charakter hat. Auch nach den vergangenen vier Jahren unter Präsidentin Michelle Bachelet von der Sozialistischen Partei ist das Land von einer steigenden sozialen Ungleichheit und der extremen Konzentration von Vermögen geprägt.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen blieben knapp 60 Prozent der Wähler*innen den Urnen fern und auch bei der anstehenden Wahl wird mit einer ähnlich niedrigen Beteiligung gerechnet. Die Politikverdrossenheit in der chilenischen Bevölkerung und ein gewisser entpolitisierter kultureller Ethos stehen dem Wunsch nach Wandel im Weg. Das neoliberale Erbe der Chicago Boys, mit seinen Mantras über individuelle Leistung, Unternehmergeist und Wettbewerb, wiegt schwer in der chilenischen Gesellschaft und hat große Teile der Bevölkerung zu der Annahme verleitet, dass Wählen sowieso keinen realen Einfluss auf politische und ökonomische Veränderungen hat.


Die schärfste Kritik am neoliberalen Modell kommt von den Kandidat*innen Eduardo Artes und Beatriz Sánchez.

Die schärfste Kritik am neoliberalen Modell im aktuellen Wahlkampf kommt von den Kandidat*innen Eduardo Artes von der radikal linken Partei Unión Patriótica und Beatriz Sánchez vom Linksbündnis Frente Amplio. Sánchez liegt in den Umfragen mit zwölf Prozent immerhin auf dem dritten Platz, allerdings mit deutlichem Abstand zu dem erstplatzierten Kandidaten und Ex-Präsidenten Sebastián Piñera vom rechten Parteienbündnis Chile Vamos. Der vertritt ebenso wie der unabhängige, jedoch chancenlose Kandidat José Antonio Kast explizit die Intention, das neoliberale Modell noch weiter zu vertiefen. Piñera erreicht in den Umfragen gut 45 Prozent.

Der mit 21 Prozent zweitplatzierte unabhängige Kandidat Alejandro Guillier, aufgestellt vom regierenden Parteienbündnis Nueva Mayoría, steht indes für den Fortgang einer Politik á la Michelle Bachelet – mit nur zögerlichen Reformen und der Beibehaltung des grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Systems. Die Kandidaten Alejandro Navarro von der PAIS-Partei und Marco Enríquez-Ominami von der Progressiven Partei vertreten zwar reformerische Ansätze und fordern wichtige Veränderungen, stehen aber ebenfalls nicht für strukturelle Veränderungen und liegen in den Umfragen bisher unter fünf Prozent. Als Kandidatin der liberalen rechten Mitte rangiert Carolina Goic von der Christdemokratischen Partei momentan auf Platz vier. Ihr Einfluss wird vermutlich aber darauf beschränkt bleiben, mit ihrer Kandidatur in Konkurrenz zu Guillier getreten zu sein und damit einen Bruch innerhalb der aktuellen Regierungskoalition hervorgerufen zu haben.

Auch wenn Umfragen in Wahlzeiten mit Vorsicht zu genießen sind, zeigen der deutliche Vorsprung Piñeras und das schwache Abschneiden transformatorischer und reformerischer Positionen, dass Wetten auf den Fortgang des neoliberalen Status Quo schon im ersten Wahlgang aussichtsreich sein könnten. Nichtsdestotrotz könnte eine mögliche Stichwahl am 17. Dezember einen Sieg Piñeras gefährden. Dazu muss der oder die entsprechende Gegenkandidat*in es jedoch schaffen, das gesamte politische Spektrum links des Parteienbündnisses Chile Vamos für sich zu mobilisieren – von der radikal linken Unión Patriótica bis zu den Christdemokrat*innen. Auch die Stimmen der im Ausland lebenden Chilen*innen könnten für Überraschungen sorgen, sollten die Ergebnisse zwischen den Kandidat*innen knapp ausfallen.

Neben der Mobilisierung von Stammwähler*innen besteht die große Herausforderung für die Präsidentschaftsanwärter*innen vor allem jedoch darin, jene knapp 60 Prozent der Bevölkerung für sich zu gewinnen, die bei den vergangenen Wahlen zu Hause geblieben sind. Dabei präsentieren die meisten Kampagnen allerdings kein umfassendes politisches Projekt und setzen weder auf Transformation noch auf Partizipation. Stattdessen gibt es vor allem schnelle Versprechungen und diverse Absichtserklärungen in letzter Minute. Bei der Jagd auf Stimmen wird vor allem auf künstliche Bilder und mögliche Sympathiepunkte für die Kandidat*innen gesetzt, außerdem auf die Betonung ihrer angeblichen Beziehungen zu den „Problemen und Nöten der Menschen“. All dies transportiert über die bunten Bilder der Massenmedien, die Kanäle der sozialen Netzwerke, Massenevents nach US-amerikanischem Vorbild und dem traditionellen Klinkenputzen.

Es bleibt fraglich, bis zu welchem Punkt die politische Elite ihre Legitimität, trotz der Abwesenheit eines langfristigen politischen Projektes, das auf einem kollektiven und partizipativen Prozess fußt, aufrechterhalten kann. Programmatische Vorschläge werden auf eine Reihe öffentlicher Absichts­erklärungen und eine Menge Wahlmarketing reduziert. Es stellt sich die Frage, ob das eine angebrachte Methode ist, um eine Wählerschaft für sich zu gewinnen, die anfängt, in den sozialen Bewegungen den entscheidenden Ort der Teilhabe am politischen Prozess der Beein-flussung von Entscheidungen zu sehen. Große Teile der Bevölkerung betrachten die falsche Empathie, die Selbstbeweihräucherung und Marketingsprache der Kandidat*innen in diesem „Wahlbusiness“ mittlerweile mit Argwohn. In Zeiten, in denen politische Versprechungen bei den Menschen keine Hoffnungen mehr wecken, braucht es Projekte mit langem Atem, die Mitbestimmung ermöglichen und Menschen wieder für ein gemeinsames politisches Projekt begeistern können – keine Marketing­rethorik. Denn im Dezember, im verzweifelten Rennen der Stichwahl, werden die „Super-Angebote“ ausgehen und die chilenische Bevölkerung wird, wie immer, die Rechnung zahlen.

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