LEBEN MIT DEM TODESURTEIL

Bild: verdadabierta.com
„Ich werde nicht aufhören, zu lachen und ich werde nicht aufhören, zu kämpfen!“ Entschlossen, aber mit Bitterkeit in der Stimme sagt Marta López Guisao diese Worte und man kann sich plötzlich vorstellen, wie es diese 49-jährige Kolumbianerin geschafft hat, noch immer am Leben zu sein – obwohl Paramilitärs schon fünfmal versucht haben, sie umzubringen, obwohl sie seit 2002 als „militärisches Ziel“ gilt, in Kolumbien ein Todesurteil. Sie sitzt am Tisch in einem schmucklosen Raum, das wettergegerbte Gesicht, die leicht angegrauten halblangen Haare, das blaue Kleid – alles an ihr strahlt Würde und Entschlossenheit aus. Eine Kämpferin. Der Ort bleibt namenlos, denn ihr Todesurteil ist noch immer gültig.
1991 vertrieben Paramilitärs die Familie von Marta López zum ersten Mal, aus Apartadó in der nordkolumbianischen Region Urabá, Teil der Provinz Antioquia. Ihre Mutter war bei der linken Partei Unión Patriótica aktiv, Marta López engagierte sich im Nachbarschaftskomittee und brachte Kindern aus armen Familien Lesen und Schreiben bei. So wurde aus Marta López la profesora, die Lehrerin. Urabá war eine der am stärksten umkämpften Regionen im kolumbianischen bewaffneten Konflikt und das zivilgesellschaftliche und basisdemokratische Engagement der Unión Patriótica war vielen Unternehmer*innen, Großgrundbesitzer*innen und Politiker*innen ein Dorn im Auge. Sie organisierten paramilitärische Banden und das basisdemokratische Experiment endete in einem Blutbad. Wie viele andere Familien floh die Familie López Guisao in die Hauptstadt der Provinz Antioquia, nach Medellín, zweitgrößte Stadt Kolumbiens.
„Wir kamen nach Medellín wie alle Vertriebenen, ohne zu wissen, wo wir leben und wie wir überleben sollen“, erzählt López. In jenen Jahren siedelten sich tausende Binnenvertriebene in den neu entstehenden Stadtvierteln an den Hängen von Medellín an. Viele der Vertriebenen organisierten sich, bildeten Komitees und gründeten schließlich ohne staatliche Hilfe ein eigenes Viertel: Olaya Herrera, knapp oberhalb der Comuna 13, einem marginalisiertes Viertel im Westen der Stadt. Marta López, ihre Schwestern und ihre Mutter halfen mit, das Viertel Olaya Herrera aus dem Nichts aufzubauen. Hilfe vom Staat gab es keine, denn das Viertel war, wie so viele, illegal. Weder Stadtverwaltung noch Polizei ließen sich blicken. Deshalb organisierten sich die Siedler*innen in Nachbarschaftskomitees und planten ihren eigenen Stadtteil: Wo werden die Straßen gezogen, wo kommen die Häuser hin? Noch heute schwärmt López davon, wie sie mit den neuen Nachbar*innen alles gemeinsam organisiert und aufgebaut haben: Die kleinen Häuser aus Holz, Treppen, Wasserleitungen, ein Gesundheitszentrum, Spielplätze. „Alles war sehr gut organisiert“, erinnert sich Marta. „Heute haben wir gemeinsam am Haus von Juan gebaut, morgen am Haus von Pedro; und wenn der ganze Block fertig war, konnte man einziehen.“ Marta López baute natürlich auch die Schule mit auf und arbeitete wieder als Lehrerin; ihre jüngste Schwester Alicia wurde Leiterin des Gesundheitskomitees.

„Aber weil wir sehr stark politisch organisiert waren, war klar, dass wir nicht einfach gehen“

Heute leben in den 23 Stadtvierteln der Comuna 13 etwa 130.000 Menschen. Ende der 1990er Jahre dominierten Milizen der FARC, der ELN und der CAP (Comandos Armados del Pueblo) viele dieser Viertel. Wie an vielen anderen Orten auch, versuchte die kolumbianische Armee, solche Guerillas mit paramilitärischen Gruppen gewaltsam zu vertreiben. Die meisten anderen Viertel von Medellín wurden damals bereits den immer stärker werdenden paramilitärischen Gruppen Bloque Cacique Nutibara (BCN) und Bloque Metro kontrolliert und zunehmend gab es Versuche, auch die Comuna 13 und die angrenzenden Viertel unter ihre Kontrolle zu bringen. In ihrem Viertel sei zwar die Kriminalität gering und der Umgang miteinander solidarisch gewesen, betont López. Doch in vielen anderen Vierteln der Stadt nahmen Morde, Entführungen und Schutzgelderpressungen zu.
Stadtverwaltung und Regierung verkündeten, die Milizen zu vertreiben und so für „Sicherheit“ sorgen zu wollen. Marta López erzählt die Geschichte anders: Für den Bau eines Tunnels sollten Teile der erst vor wenigen Jahren errichteten Stadtteile wie Olaya Herrera zerstört werden. „Aber weil wir sehr stark politisch organisiert waren, war klar, dass wir nicht einfach gehen“, erzählt López und setzt hinzu: „Wenn eine Gemeinde politisch stark ist und selbst für ihre Rechte sorgt, weil der Staat es nicht macht – dann macht das dem Staat, den Behörden und der Bourgeoisie Angst. Sie fürchteten, es würde einen Aufstand geben.“

  Militärübung in Olaya Herrera // Foto: Flickr, George Donnelly, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

Paramilitärs konnten nun ungehindert Stützpunkte ober- und unterhalb der Comuna 13 aufbauen. Gleichzeitig errichteten Polizei und Armee nun immer häufiger Straßensperren oder drangen in die Comuna 13 und angrenzende Viertel ein. Am frühen Morgen des 27. Februar 2002 wurden an einer solchen Straßensperre vier Jugendliche und ein Taxifahrer erschossen. Die Armee behauptete, die Jugendlichen seien Guerillakämpfer*innen gewesen und legte als angeblichen Beweis ein Gewehr neben die Leichen. Anwohner*innen hatten jedoch nur einzelne Schüsse gehört, keinen Schusswechsel. Eine Hinrichtung. Marta López kannte die Jugendlichen gut; es waren ihre Schüler*innen, 14 bis 16 Jahre alt. „Die Jugendlichen wollten gegen fünf Uhr morgens zum Markt, denn es war der Geburtstag eines der Mädchen. Aber die Armee hatte eine Straßensperre errichtet und das Taxi mit den Jugendlichen gestoppt. Sie haben sie aus dem Wagen geholt, durchsucht – und schrecklich zugerichtet.“ López arbeitete an dem Morgen schon in der Schule, erzählt sie, als ein Kind weinend angelaufen kam und von dem Vorfall berichtete. Lòpez fuhr sofort zum Krankenhaus und traf dort die Eltern. Dann nahm sie der Arzt beiseite. López erzählt folgenden Dialog: „Der Arzt sagte, ‘Frau Lehrerin, kann ich Ihnen etwas anvertrauen?’ Ich: ‘Was ist passiert?’ Er sagt: ‘Was sollen diese Kinder nur angerichtet haben, dass sie auf diese Weise ermordet worden sind?’ Die Opfer wurden missbraucht und verstümmelt.“ López Stimme versagt, als sie sich daran erinnert.
Am 21. Mai 2002 startet die „Operation Mariscal“, der erste großangelegte Militäreinsatz in Kolumbien im innerstädtischen Raum. Noch vor Tagesanbruch dringen etwa 1.000 Polizisten und Soldaten in mehrere Stadtviertel der Comuna 13 ein, begleitet von Panzern, Maschinengewehren, Hubschraubern – und einem großen Medienaufgebot. Über zwölf Stunden lang schießen die Uniformierten auf alles, was sich bewegt.
Die Bilanz: Neun Tote, erschossen von Sicherheitskräften, drei davon minderjährig. 55 Menschen werden verhaftet. Dann wird die „Operation Marisca“ schließlich abgebrochen: Die Bevölkerung geht unter Lebensgefahr mit weißen Tüchern auf die Straßen, um die Verletzten zu bergen und ein Ende des stundenlangen Beschusses zu verlangen. Auch die mediale Berichterstattung setzt den Staat offenbar unter Druck. Die Paramilitärs vom BCN, die oberhalb des Gebietes auf Ihren Einsatz warteten, können vorerst nicht in die Viertel eindringen.
Doch nur drei Tage nach der „Operation Mariscal“ kommen die Soldaten erneut. Diesmal mit maskierten Männern und Uniformen ohne Abzeichen. Die Maskierten zeigen auf Häuser, die daraufhin von den Soldaten durchsucht wurden. Fotos, Ausweise und Unterlagen werden beschlagnahmt. Viele werden festgenommen, darunter auch Gemeindefunktionär*innen oder ganz normale Bewohner*innen. „Auch Alicia ist dabei“, berichtet López, „meine Schwester, die die Krankenstation leitet. Sie kamen mit Vermummten und Alicia wurde festgenommen, weil der Vermummte auf sie zeigte. Er sagte: Sie ist die Leiterin der Krankenstation, die die Verletzten versorgt. Vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes wird sie verhaftet und geschlagen”.
In den folgenden Monaten werden die Bewohner*innen eingeschüchtert und leben im Kreuzfeuer der bewaffneten Gruppen. Ein Belagerungszustand. Die Armee errichtet Straßensperren und übergibt junge Männer an die Paramilitärs. Oft verschwinden diese Männer daraufhin spurlos; andere werden von den Paramilitärs angeworben oder gezwungen, Wohnorte von angeblichen Guerilleros zu verraten.
Am 16. Oktober 2002 beginnt die dreitägige Operation Orión. Zwei Monate zuvor hat Álvaro Uribe Vélez sein Präsidentenamt angetreten. Er hat die Wahl unter anderem mit dem Versprechen gewonnen, mit „harter Hand“ gegen die Guerilla vorzugehen. Die Operation Orión ist eine Art Generalprobe für seine „Politik der Demokratischen Sicherheit“.Comuna 13 // Foto: Flickr, Nigel Burgher, Attribution 2.0 Generic (CC BY 2.0)

Diesmal dringen 1.500 Soldaten und Polizisten in die Comuna 13 ein, begleitet von Luftwaffe, Geheimdienst und Paramilitärs. Marta López ist in der Schule, als der Angriff beginnt. Stundenlang liegt sie mit den Kindern auf dem Boden und sucht Schutz vor den Querschlägern. Auch aus den Hubschraubern heraus werde geschossen, „als ob wir Ratten wären“. Im Verlauf der Operation werden nach Zählung der Corporación Jurídica Libertad 88 Menschen erschossen, davon 71 von Paramilitärs und 17 von Sicherheitskräften. Weitere 92 Menschen verschwinden spurlos.
Es ist der Beginn einer militärischen und paramilitärischen Belagerung, die sich bis Anfang Dezember 2002 hinzieht. Denn auch nach dem Ende der Operation werden Gemeindeaktivist*innen gezielt verfolgt. Dutzende Menschen werden verschleppt und tauchen nie wieder auf. Auch nach Marta López wird gesucht. „Die Lehrkräfte waren wie immer um halb sieben in der Schule, um die Kinder zu empfangen, als eine bewaffnete Gruppe ankam, die sich nicht auswies“, erzählt Marta. „Sie kamen mit einem Vermummten und fragten nach mir: ‘Wo ist die Lehrerin Marta?’” Aber López ist an dem Tag nicht in der Schule. Das Kollegium hat zuvor beschlossen, dass es für sie zu gefährlich sei.

„Was haben wir verbrochen, dass sie uns verfolgen und ermorden?“

Auch eine weitere ihrer Schwestern wird gesucht. In den folgenden Monaten bleibt die Familie in Medellín, weil Alicia noch immer in Haft ist, muss aber immer wieder den Wohnort wechseln, wird immer wieder aufgespürt. „Uns war klar: Wenn sie uns schnappen, dann foltern sie und töten uns“, sagt López knapp. „Deshalb haben wir uns Zyankalikapseln besorgt. Wir waren bereit, uns umzubringen, damit sie uns nicht foltern können.“ Als Alicia nach einem Jahr Haft endlich freigesprochen wird, flieht die Familie, begleitet von der Menschenrechtsorganisation Peace Brigades nach Bogotá.
Heute ist die Comuna 13 ein Schwerpunkt des Drogenhandels und der Gewalt. Über 180 Mütter der Verschwundenen suchen noch immer nach ihren Kindern. Bis zu 300 Leichen könnten auf der Bauschuttdeponie La Escombrera in Sichtweite der Comuna 13 liegen. Das haben mehrere Paramilitärs ausgesagt, unter anderem der Chef des inzwischen aufgelösten BCN, Diego Murillo Bejarano alias Don Berna. Damit wäre La Escombrera eines der größten Massengräber Kolumbiens. Doch die Deponie ist noch immer in Betrieb, eine Ausgrabung wird bis heute verhndert.
López arbeitet an ihrem neuen Wohnort mit Bäuer*innen in Sur de Bolívar, später in Venezuela, schließlich mit afroindigenen Frauen im Chocó. Erst 15 Jahre später wagen sich Marta López und ihre Schwester Alicia wieder nach Medellín, um ihren noch dort lebenden Bruder zu besuchen. Doch nach wenigen Tagen, am Morgen des 2. März 2017, kommt ein Mordkommando in das Restaurant des Bruders und tötet Alicia mit einem Kopfschuss. Marta López ist noch heute fassungslos, ihre Stimme bricht und für einen Moment weicht jede Entschlossenheit der Trauer, die sie noch immer quält: „Diese Todesstrafe war 15 Jahre später immer noch gültig in dem Viertel, aus dem sie uns vertrieben haben, dort wo sie uns zum Tod verurteilt haben – dort wurde meine Schwester erschossen!“ Und schluchzend fügt sie hinzu: „Als sie meine Schwester erschossen haben, dachten sie, sie hätten mich erschossen, die Lehrerin.“
Ausnahmsweise hat es in diesem Fall zwei Festnahmen gegeben; einer der Täter wird im Februar 2019 für den Mord zu 40 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Und offen geblieben ist die Frage: Wer hat den Befehl gegeben? Und warum?
López lebt nun an einem halbwegs sicheren Ort. Sie heilt ihren Schmerz mit Meditation und spirituellen Ritualen, die sie auch bei den Frauen in den Gemeinden anwendet, die ebenfalls unter dem Krieg leiden. Denn sie ist entschlossen, ihren Kampf nicht aufzugeben: „Ich werde den Kopf nicht senken. Ich werde weiter als Menschenrechtsverteidigerin und Führungsperson arbeiten.“
Zum Schluss erhebt sie nochmal die Stimme zu einer Anklage: „Warum bringen sie uns um? Weil wir anders denken? Weil wir etwas einfordern? Weil wir den Gemeinden beibringen, ihre Rechte einzufordern? Deshalb bringen sie uns um? Was haben wir verbrochen, dass sie uns verfolgen und ermorden?“

„WIR BRAUCHEN DRINGEND INTERNATIONALE UNTERSTÜTZUNG“

Simón Trinidad sitzt seit 13 Jahren in den Vereinigten Staaten in Haft. Was waren die genauen Anklagepunkte?
Ihm wurden Drogenhandel und Entführung vorgeworfen, er wurde aber nur für die Mittäterschaft im zweiten Punkt schuldig gesprochen. Das ist eigentlich lächerlich, weil er gar nichts mit den Geiseln zu tun hatte. Das waren drei Amerikaner, die die Stellung von den FARC-Kämpfern im Land filmten und die Informationen dem Southern Kommando der amerikanischen Armee weiterleiteten. Laut Völkerrecht und des Genfer Abkommens, waren sie als Kriegsgefangene einzuordnen (2008 wurden sie, die Politikerin Ingrid Betancourt und andere in der Operation Jaqué befreit, Anm. d. Red.).

Welche Beweise lagen zum Zeitpunkt des Prozesses vor?
Es wurden falsche Zeugen zum Prozess gebracht. Lügner und Deserteure von der FARC-EP behaupteten, dass Simón Trinidad der Entführungschef der karibischen Küste sei – aber ich glaube, dass selbst die Jury nicht ganz daran geglaubt hat. Allerdings wurde auch ein kolumbianischer Diplomat als Zeuge hinzugezogen. Dieser erklärte, die FARC-EP seien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich. Aber in Wahrheit – wie aus mehreren Berichten der UNO mittlerweile hervorgeht – war überwiegend die kolumbianische Regierung für solche Verbrechen verantwortlich.

Simón Trinidad wurde 2004 in Ecuador verhaftet und in die USA ausgeliefert. Warum war er dort?
Er war dort, um einen Mitarbeiter der UNO, James Lemoyne, zu treffen. Sie hatten sich während des Friedensprozesses in San Vicente del Caguán in Kolumbien kennengelernt. Die FARC-EP wollten sich wieder mit Lemoyne treffen um über einen Kriegsgefangenenaustausch zu beraten. Simón Trinidad war für diese Aufgabe zuständig. Es gab auch eine Mitteilung im Jahr 2003 von den FARC, aus der hervorgeht, dass Simón Trinidad die Guerilla in einem möglichen Dialog vertreten würde. Jedenfalls gab er während des Prozesses an, dass er die Nominierung angenommen hatte. Simón hatte überhaupt nichts mit den amerikanischen Kriegsgefangenen zu tun. Weder hatte er Kontrolle über sie noch über ihre Geiselnahme, dennoch wurde er schuldig gesprochen. Nachdem sein Fall zwei weitere Instanzen durchlaufen hatte, wurde seine Anklage wegen Drogenhandels fallen gelassen. Die Jury fand außer einigen sehr fragwürdigen Zeugenaussagen keine Beweise.

Sind Sie gegen diese falschen Zeugnisse vorgegangen?
Wir haben Einspruch eingelegt, dieser wurde aber verweigert.

Wie wollen Sie und das Verteidigungsteam Simón Trinidads Unschuld beweisen?
Zurzeit verfolgen wir den politischen Weg. Vermutlich wird der Fall in Zukunft erneut vor Gericht eröffnet werden, aber wann ist unklar. Wir informieren die Leute über seinen Fall und die Bedingungen, unter denen er inhaftiert ist sowie über die Notwendigkeit seiner Teilnahme am Friedensprozess und an der neuen Gesetzgebung in Kolumbien. Sowohl als ehemaliger Kämpfer als auch als Opfer des bewaffneten Konflikts muss er die Vorteile des Friedensabkommens in Kolumbien genießen können. Er ist Kolumbianer, alle ihm vorgeworfenen Delikte sind in Kolumbien geschehen. Er sollte Zugang zur Übergangsjustiz haben, die im Rahmen des Friedensabkommens in Kraft treten wird.

Warum sprechen Sie von Simón Trinidad als Opfer?
Er lebte unter ständiger Bedrohung, wegen seiner politischen Ideen ermordet zu werden. Er war Mitglied der Partei Unión Patriótica (UP) im Jahr 1987, viele seiner Kollegen und Freunde sind ermordet worden. Wegen der Bedrohungen musste seine Familie aus dem Land fliehen. Sie sind zuerst nach Mexiko gegangen und danach in die Vereinigten Staaten. Simón hatte nur zwei Optionen: entweder zusammen mit seiner Familie zu fliehen oder in den Bergen für die Guerilla zu kämpfen. In diesem Sinne ist er Opfer, genau wie seine Familie, die ins Exil gezwungen oder seine Schwester, die von Paramilitärs entführt wurde. Während des bewaffneten Konfliktes sind seine Frau und sein Kind von der kolumbianischen Regierung aufgesucht und während einer Bombardierung ermordet worden.

Die Regierung hatte sich im Laufe der Friedensverhandlungen in Havanna über die Freilassung Simón Trinidas geäußert, allerdings bis jetzt nicht gehandelt.
Das ist genau das Problem. Die Regierung äußerte sich, aber ein formaler Antrag wurde nie gestellt. Wir brauchen eine Regierung in Kolumbien, die versteht, dass diese Frage für den Staat wichtig ist. Es ist eine Voraussetzung des vollständigen Friedensprozesses. Ohne Simón Trinidad bleibt er unvollendet.

Und wie hoch stehen die Chancen, dass der politische Druck zu seiner Freilassung führt?
Es ist schwierig, aber nichts ist unmöglich. Als Beispiel nehmen wir den Fall der Cuban 5, die nach Jahren Öffentlichkeitsarbeit 2014 freigelassen wurden. Auch Oscar López Rivera (Unabhängigkeitskämpfer aus Puerto Rico, Anm. d. Red.) ist nach 36 Jahren Kampf entlassen worden. Wir müssen die geeigneten politischen und sozialen Verhältnisse schaffen, um die Freilassung von Simón Trinidad zu ermöglichen.

Angenommen Simón Trinidad würde entlassen und nach Kolumbien ausgeliefert werden, könnte die normale Strafjustiz ein Verfahren gegen ihn eröffnen?
Nein, sein Fall müsste durch die zuständige Behörde der Sonderjustiz für den Frieden eröffnet werden. Im Verlauf dieses Prozesses könnte er gegen eine Kaution freigelassen werden, bis die letzte Entscheidung getroffen ist. Handelt es sich um politisch motivierte Straftaten, kann er begnadigt werden.

Was können Sie uns als Anwalt von Simón Trinidad über ihn erzählen? Unter welchen Bedingungen hat er in den letzten 13 Jahren gelebt?
Die Bedingungen sind die schlechtesten im Gefängnissystem der Vereinigten Staaten. Er ist schon seit 13 Jahren in Isolationshaft, mit wenig bis fast gar keinem menschlichen Kontakt. Erst letztes Jahr verbesserte sich die Situation – als Ergebnis unserer Arbeit. Nun kann er sich mit drei anderen Gefangenen einige Stunden pro Tag unterhalten. Am Anfang gab es einen Mexikaner. Als die Wachleute merkten, dass sie auf Spanisch redeten, wurde der Mexikaner in eine andere Zelle verlegt. Simón darf 15 Minuten pro Monat telefonieren. Nur mit seinem Anwalt und mit einigen Mitgliedern seiner Familie darf er Kontakt haben, keiner darf ihm Nachrichten von außen mitteilen, oder durch uns vermitteln. Simón befindet sich in einer Zelle kleiner als 2×3 Meter, in die wenig Licht reinkommt. Trotzdem ist er nicht gebrochen worden. Er ist eine sehr intelligente Person. Fokussiert auf seine Vision eines besseren Kolumbiens bleibt er stark. Diese Kraft hält ihn davon ab, zusammenzubrechen. Ganz im Gegenteil, er will sich weiter für sein Land einsetzen. Momentan ist er gesund. Wir müssten für bessere Haftbedingungen hart kämpfen, er hat einige Beschwerden, die Situation verbessert sch jedoch. Wir arbeiten daran, Simón Trinidad zu befreien.

„Wird als Würde geschrieben und als Simón Trinidad gelesen“- Die Kampagne für die Freilassung der damaligen Farc-Anführer geht nun auf der Internationalen Arena los. Warum wurde sie ins Leben gerufen?
Simón Trinidad ist eine Person, die sich gegen die Staatsgewalt gewehrt hat. Als würdige Person bedürfen sein Leben und sein Kampf Beachtung. Es gibt Leute, die großes Interesse an dem Fall von Simón Trinidad haben, Menschenrechtsaktivisten oder die soziale Bewegung Marcha Patriótica. Diese Kampagne ist aus der gemeinsamen Anstrengung diverser Gruppen in Spanien und Kolumbien geboren. Gruppen, die dank einer ausführlichen Koordination und eines eisernen Willens, das Projekt in Gang gesetzt haben. Jetzt ist der richtige Moment um Druck auszuüben und die Notwendigkeit seiner Freilassung, nach Jahren der Ungerechtigkeit ans Tageslicht zu bringen.

Und was steht auf Ihrer Agenda? Mit welchen Organisationen oder Persönlichkeiten werden Sie sich treffen? Welche Aktionen treibt die Kampagne genau voran?

Wir stehen erst am Anfang. Wir sind auf der Suche nach entscheidender Unterstützung von anderen Organisationen, die sich mit dem Thema Menschenrechte beschäftigen und sich für Lateinamerika interessieren. Hier in Europa haben wir Treffen mit verschiedenen Abgeordneten geplant. In Deutschland habe ich mit Heike Hänsel von der Partei Die Linke gesprochen. Dann geht es los nach Brüssel, um mit Abgeordneten des europäischen Parlaments zu reden. Danach fliegen wir nach Spanien und treffen uns mit Mitgliedern des baskischen und des spanischen Parlaments. Ein Treffen mit Abgeordneten des englischen Parlaments ist auch vorgesehen. Wir brauchen dringend internationale Unterstützung. Diese Situation ist auch eine internationale Frage, nicht nur der Vereinigten Staaten oder Kolumbien. Die Europäische Union hat sich dazu verpflichtet, den Friedensprozess in Kolumbien zu begleiten. Und ohne Simón Trinidad, wie ich schon erwähnt habe, ist er unvollständig. Er hat das Recht, ins System der Übergangsjustiz aufgenommen zu werden. In den Vereinigten Staaten geht das einfach nicht.

Was hat die Kampagne in Berlin erreicht?
Selbst wenn das hier nur unsere erste Haltestelle ist, haben wir uns schon mit einigen Medien getroffen. Das macht die Kampagne sichtbarer. Heike Hänsel hat Interesse daran geäußert, einen Antrag an die USA zu stellen, damit eine Gruppe Abgeordneter Simón Trinidad im Gefängnis besuchen kann. Das ist natürlich kompliziert, weil er keinen Kontakt mit der Außenwelt haben darf. Selbst wenn die Erlaubnis verweigert wird, bleibt das Ganze ein symbolischer Akt, der erheblichen Druck auf die Regierung der USA vor den Augen der Weltgemeinschaft ausüben könnte. Würden sie die Genehmigung verweigern, wäre dies ein guter Grund, eine Demonstration direkt vor dem Gefängnis zu organisieren. Das sind erstmal nur Ideen und Pläne, die man weiter entwickeln muss. Alles in allem bin ich aber mit den Ergebnissen dieser ersten Phase sehr zufrieden.

SCHLUSSVERKAUF AUF DEM WAHLMARKT

Am 19. November ist die Bevölkerung Chiles aufgerufen, eine neue Regierung zu wählen. Acht Kandidat*innen stehen im Rennen um die nächste Präsidentschaft der Republik und dennoch deutet kaum etwas auf einen tiefgreifenden Richtungswechsel hin. Weder die unzähligen Korruptionsfälle noch die permanente Krise zwischen dem Staat (sowie den verwickelten Unternehmensgruppen) und den indigenen Mapuche im Süden Chiles konnten bisher nachhaltig am Image und der Vormachtstellung des aktuellen neoliberalen Modells kratzen. Seit Jahrzehnten folgt das Land einem extraktivistischen Wirtschaftsmodell und einer Strategie der Privatisierung von Ressourcen und Dienstleistungen in fast allen Lebensbereichen, von der frühen Schulbildung bis zur Rente, in dem der Staat nur subsidiären Charakter hat. Auch nach den vergangenen vier Jahren unter Präsidentin Michelle Bachelet von der Sozialistischen Partei ist das Land von einer steigenden sozialen Ungleichheit und der extremen Konzentration von Vermögen geprägt.

Bei den letzten Präsidentschaftswahlen blieben knapp 60 Prozent der Wähler*innen den Urnen fern und auch bei der anstehenden Wahl wird mit einer ähnlich niedrigen Beteiligung gerechnet. Die Politikverdrossenheit in der chilenischen Bevölkerung und ein gewisser entpolitisierter kultureller Ethos stehen dem Wunsch nach Wandel im Weg. Das neoliberale Erbe der Chicago Boys, mit seinen Mantras über individuelle Leistung, Unternehmergeist und Wettbewerb, wiegt schwer in der chilenischen Gesellschaft und hat große Teile der Bevölkerung zu der Annahme verleitet, dass Wählen sowieso keinen realen Einfluss auf politische und ökonomische Veränderungen hat.


Die schärfste Kritik am neoliberalen Modell kommt von den Kandidat*innen Eduardo Artes und Beatriz Sánchez.

Die schärfste Kritik am neoliberalen Modell im aktuellen Wahlkampf kommt von den Kandidat*innen Eduardo Artes von der radikal linken Partei Unión Patriótica und Beatriz Sánchez vom Linksbündnis Frente Amplio. Sánchez liegt in den Umfragen mit zwölf Prozent immerhin auf dem dritten Platz, allerdings mit deutlichem Abstand zu dem erstplatzierten Kandidaten und Ex-Präsidenten Sebastián Piñera vom rechten Parteienbündnis Chile Vamos. Der vertritt ebenso wie der unabhängige, jedoch chancenlose Kandidat José Antonio Kast explizit die Intention, das neoliberale Modell noch weiter zu vertiefen. Piñera erreicht in den Umfragen gut 45 Prozent.

Der mit 21 Prozent zweitplatzierte unabhängige Kandidat Alejandro Guillier, aufgestellt vom regierenden Parteienbündnis Nueva Mayoría, steht indes für den Fortgang einer Politik á la Michelle Bachelet – mit nur zögerlichen Reformen und der Beibehaltung des grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Systems. Die Kandidaten Alejandro Navarro von der PAIS-Partei und Marco Enríquez-Ominami von der Progressiven Partei vertreten zwar reformerische Ansätze und fordern wichtige Veränderungen, stehen aber ebenfalls nicht für strukturelle Veränderungen und liegen in den Umfragen bisher unter fünf Prozent. Als Kandidatin der liberalen rechten Mitte rangiert Carolina Goic von der Christdemokratischen Partei momentan auf Platz vier. Ihr Einfluss wird vermutlich aber darauf beschränkt bleiben, mit ihrer Kandidatur in Konkurrenz zu Guillier getreten zu sein und damit einen Bruch innerhalb der aktuellen Regierungskoalition hervorgerufen zu haben.

Auch wenn Umfragen in Wahlzeiten mit Vorsicht zu genießen sind, zeigen der deutliche Vorsprung Piñeras und das schwache Abschneiden transformatorischer und reformerischer Positionen, dass Wetten auf den Fortgang des neoliberalen Status Quo schon im ersten Wahlgang aussichtsreich sein könnten. Nichtsdestotrotz könnte eine mögliche Stichwahl am 17. Dezember einen Sieg Piñeras gefährden. Dazu muss der oder die entsprechende Gegenkandidat*in es jedoch schaffen, das gesamte politische Spektrum links des Parteienbündnisses Chile Vamos für sich zu mobilisieren – von der radikal linken Unión Patriótica bis zu den Christdemokrat*innen. Auch die Stimmen der im Ausland lebenden Chilen*innen könnten für Überraschungen sorgen, sollten die Ergebnisse zwischen den Kandidat*innen knapp ausfallen.

Neben der Mobilisierung von Stammwähler*innen besteht die große Herausforderung für die Präsidentschaftsanwärter*innen vor allem jedoch darin, jene knapp 60 Prozent der Bevölkerung für sich zu gewinnen, die bei den vergangenen Wahlen zu Hause geblieben sind. Dabei präsentieren die meisten Kampagnen allerdings kein umfassendes politisches Projekt und setzen weder auf Transformation noch auf Partizipation. Stattdessen gibt es vor allem schnelle Versprechungen und diverse Absichtserklärungen in letzter Minute. Bei der Jagd auf Stimmen wird vor allem auf künstliche Bilder und mögliche Sympathiepunkte für die Kandidat*innen gesetzt, außerdem auf die Betonung ihrer angeblichen Beziehungen zu den „Problemen und Nöten der Menschen“. All dies transportiert über die bunten Bilder der Massenmedien, die Kanäle der sozialen Netzwerke, Massenevents nach US-amerikanischem Vorbild und dem traditionellen Klinkenputzen.

Es bleibt fraglich, bis zu welchem Punkt die politische Elite ihre Legitimität, trotz der Abwesenheit eines langfristigen politischen Projektes, das auf einem kollektiven und partizipativen Prozess fußt, aufrechterhalten kann. Programmatische Vorschläge werden auf eine Reihe öffentlicher Absichts­erklärungen und eine Menge Wahlmarketing reduziert. Es stellt sich die Frage, ob das eine angebrachte Methode ist, um eine Wählerschaft für sich zu gewinnen, die anfängt, in den sozialen Bewegungen den entscheidenden Ort der Teilhabe am politischen Prozess der Beein-flussung von Entscheidungen zu sehen. Große Teile der Bevölkerung betrachten die falsche Empathie, die Selbstbeweihräucherung und Marketingsprache der Kandidat*innen in diesem „Wahlbusiness“ mittlerweile mit Argwohn. In Zeiten, in denen politische Versprechungen bei den Menschen keine Hoffnungen mehr wecken, braucht es Projekte mit langem Atem, die Mitbestimmung ermöglichen und Menschen wieder für ein gemeinsames politisches Projekt begeistern können – keine Marketing­rethorik. Denn im Dezember, im verzweifelten Rennen der Stichwahl, werden die „Super-Angebote“ ausgehen und die chilenische Bevölkerung wird, wie immer, die Rechnung zahlen.

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