Zwischen Erwachen und Erwachsenwerden

Foto: Plan B Entertainment

Eines Nachmittags vertraut Cecilia (Andrea Suárez Paz) ihrem Sohn Olmo an, sich um seinen Vater Néstor (Gustavo Sánchez Parra) zu kümmern. Der ist mit Multipler Sklerose bettlägerig und zum Überleben auf seine Familienmitglieder angewiesen. Auch sonst geht es der Familie nicht wirklich gut: Sie sind drei Monatsmieten schuldig, es gibt weder Zeit noch Geld für selbstgekochtes Essen (außer der Tiefkühl-Lasagne, die der Vater nicht essen will) und die Stereoanlage ist kaputt. All das hält den 14-jährigen Olmo aber nicht davon ab, sich für seine Nachbarin Nina (Melanie Frometa) zu interessieren. Seiner älteren Schwester Ana (Rosa Armendáriz) geht es ähnlich wie ihm: Sie will ihre Jugend abseits von Verpflichtungen erleben. Währenddessen versucht ihre überforderte Mutter, ihren häuslichen und finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, indem sie Doppelschichten in einem Restaurant arbeitet.

Fernando Eimbckes Film Olmo wurde in der Sektion Panorama der Internationalen Filmfestspiele Berlin 2025 uraufgeführt. Es ist Eimbckes vierter Film und das zweite Mal, dass der mexikanische Regisseur an der Berlinale teilnimmt. Das erste Mal war er 2008 mit Lake Tahoe vertreten, einem Film, der mit dem Silbernen Bären für den Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet wurde. Sein Regiedebüt gab er 2004 mit Temporada de Patos, der in Cannes uraufgeführt wurde und in seinem Heimatland mehrere Preise gewann. Im Jahr 2013 präsentierte er Club Sandwich, seinen dritten Spielfilm, der beim 61. Internationalen Filmfestival von San Sebastian unter anderem mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde.

Olmo spielt 1979 in New Mexico und schildert auf humorvolle Weise den komplexen Übergang vom Heranwachsen zum Erwachsenwerden in einem von Unsicherheit geprägten Umfeld. Aivan Uttapa spielt darin den Protagonisten: Olmo ist ein junger Mann, der versucht, den Härten seines Zuhauses zu entkommen, indem er sich in seine Freundschaft mit Miguel (Diego Olmedo) und seine romantischen Träume zurückzieht.Sein Freund nimmt dabei im Laufe des Films die Rolle des treuen Helfers für ihn ein, fast wie Sam Gamdschie für den Helden Frodo in der Fantasy-Saga Herr der Ringe. Unter anderem unterstützt er ihn dabei, seinen Schwarm Nina dazu zu bringen, ihn zu einer Party einzuladen. Aber die Sache hat einen Haken: Die Eintrittskarte dafür ist, sich die Stereoanlage der Familie auszuleihen. So muss sich Olmo zwischen der Verantwortung für seine Angehörigen und dem Wunsch, seine Jugend zu leben, entscheiden. Auf diese Weise zeigt der Film eine unausweichliche Wahrheit: Erwachsenwerden bedeutet, schwierige Entscheidungen zu treffen.

Doch Olmo ist mehr als nur eine Coming-of-Age-Geschichte, sondern auch ein intimes Porträt einer Migrant*innenfamilie, in der die Eltern auf Spanisch kommunizieren und die Kinder auf Englisch antworten. Einer Familie, die durch die Krankheit von Néstor zerbrochen ist, der als Vater, obwohl körperlich eingeschränkt, immer noch versucht, seiner Rolle mit Anekdoten und Ratschlägen gerecht zu werden, auf die seine Kinder nicht immer hören wollen. Das fehlende Gleichgewicht in seiner Familie hinterlässt Olmo in einem großen Dilemma: Inwieweit soll er mit Aufgaben belastet werden, die seinem Alter nicht entsprechen? Während seine Mutter und seine Schwester versuchen, auf ihre Weise zu entkommen, sehnt auch er sich nach einer solchen Pause. So erinnert uns der Film daran, dass das Erwachsenwerden nicht nur ein Prozess der Selbstfindung ist, sondern auch ein Akzeptieren der familiären Bindungen, mit all der Last, die sie mit sich bringen.

Olmo ist kein effekthascherischer Film, aber wenn er erst einmal angefangen hat, überzeugt er mit seinen Charakteren, einer soliden Geschichte und einem sorgfältigen Setting. Er handelt vom Aufwachsen und von Beziehungen in einer unvollkommenen Familie und erinnert uns daran, dass das Leben wie ein Film sein kann. In dieser Geschichte ist die Familie kein idealisierter Zufluchtsort, sondern ein komplexes Band, das von Opfern und kleinen täglichen Kämpfen aufrechterhalten wird. Jede Figur geht auf ihre eigene Weise mit der Realität um, aber alle sind durch eine gemeinsame Wahrheit verbunden: Trotz ihrer Brüche bleiben sie ein Team, in dem Verantwortung und Zuneigung in einem fragilen Gleichgewicht koexistieren.



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Toxische Träume

© Teorema

Man hat das Bild zu viele Male gesehen, um dabei nicht sofort ein übles Gefühl in der Magengrube zu spüren: Ein verlassener, verschlossener Lastwagen mitten in der Wüste ist die erste Einstellung in Michel Francos beeindruckendem mexikanischen Berlinale-Wettbewerbsbeitrag Dreams. Und die Ahnung bestätigt sich: Der Truck ist voll mit lateinamerikanischen Migrant*innen, die die Grenze zu den USA auf der Suche nach einem besseren Leben überquert haben und denen nun langsam Luft und Wasser ausgehen. Erst kurz vor der Katastrophe öffnet sich doch noch die Tür zur Ladefläche. Doch die Retter sind keine Wohltäter, sondern Verbrecher: Das restliche Geld und die wenigen Dinge, die sie noch haben, werden denen, die knapp dem Tod entronnen sind, sofort von einer kriminellen Schieberbande entrissen. Wer noch kann, macht sich danach so schnell wie möglich davon auf den Weg ins Ungewisse.

Diese Auftaktsequenz dauert in Dreams nur wenige Minuten, zeigt aber gerade wegen ihrer Kürze die lebensgefährliche Realität der Migrant*innen in schockierender Klarheit. Es gelingt auch, weil der mexikanische Regisseur Michel Franco (u.a. New Order, Chronic, After Lucia) ein Meister seines Fachs ist und bei der Konstruktion seiner oft in Totalen gefilmten Bilder und Schnitte kein Detail dem Zufall überlässt. Im weiteren Verlauf folgt der Film dem jungen Balletttänzer Fernando (Isaac Hernández, auch in der Realität einer der besten Balletttänzer der Welt). Der erreicht zwar völlig ausgelaugt und mit nicht mehr als der Kleidung, die er am Leib trägt, sein Ziel San Francisco. Schon bald wird aber klar: Fernandos Motive, in die USA zu migrieren, waren nicht Armut und Chancenlosigkeit, sondern Ambition und Liebe. Auch in Mexiko hatte er ein gutes Leben in der Oberschicht – eine Ballettausbildung muss sich eine Familie erst einmal leisten können. Weil er aber exzellent in dem ist, was er tut, will er das auch auf dem höchstmöglichen Niveau weiterverfolgen. Dabei soll ihm seine Mäzenin Jennifer (Jessica Chastain) helfen, die in San Francisco eine Stiftung ihrer reichen Familie leitet und mit ihrem Geld eine Ballettschule in Mexiko-Stadt aufgebaut hat. Die Beziehung zwischen den beiden, auch das ist schnell kein Geheimnis mehr, geht weit über das Professionelle hinaus. Doch während Fernando sich bei Jennifer angekommen am Ziel seiner privaten Träume wähnt, will sie die Beziehung geheim halten. Die Dynamik von Macht und Privilegien, die die Lebensverhältnisse aller illegalen Migrant*innen durchdringt, beginnt sich unaufhaltsam zu entfalten.

Dreams ist ein hochrelevanter Beitrag zur Migrationsdebatte, vor allem weil Fernando nicht als hilfloses Objekt gezeigt wird. Für eine Rolle als Spielzeug im Goldenen Käfig ist er sich zu schade. Er weiß um seine exzellente Qualifikation und behält trotz seiner Rechtlosigkeit immer seine Würde und die Zügel seines eigenen Schicksals in der Hand. Jennifer verkörpert dagegen als seine Partnerin und Gegenspielern in einer Person, je länger der Film dauert, in immer unheimlicherer Weise das Phänomen des white privilege Bei ihr ist vieles gut gemeint, selbst ihre romantischen Gefühle für Fernando nimmt man ihr ab. Und doch ist sie blind für die Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die sie seit ihrer Geburt ausnutzt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Bei ihren Reisen per Privatjet nach Mexiko kann sie in ihrem eigenen Haus ein- und ausgehen wann und wie sie will. Die luxuriösen Auszeiten vom Familienclan in ihrer Heimat sprechen im Kontrast zur Lastwagenszene zu Beginn Bände. Spanisch zu lernen hat sie ebenfalls nicht nötig: In den Kreisen, in denen sie in Mexiko verkehrt, ist perfektes Englisch Standard.

Interessant wird es immer dann, wenn Fernando in irgendeiner Form zur Bedrohung für den Status quo der weißen Mehrheitsgesellschaft wird und deren tolerante Fassade innerhalb von Sekunden in sich zusammenfällt. Sei es durch den offenen Rassismus eines Kollegen in der Ballettgruppe in San Francisco oder die Ressentiments von Jennifers Familie gegen den jüngeren Partner aus Mexiko (hier spielt fast beiläufig auch noch sexistische Diskriminierung mit hinein – bei umgekehrten Geschlechterrollen wäre eine soziale Akzeptanz wahrscheinlicher). Diese toxische Mischung wartet nur darauf, zu explodieren, zumal Michel Franco bekannt dafür ist, mit provokanten oder gar tabubrechenden Plot-Twists sein Publikum zu verstören. Ohne zu viel zu verraten, wird er diesem Ruf auch in Dreams gerecht. Vor allem eine Szene gegen Ende des Films muss dabei als problematisch und gleichzeitig unnötig bezeichnet werden, da sie weder für die Botschaft noch für die Dramaturgie entscheidende Impulse liefert. Davon abgesehen ist Dreams aber eine ästhetisch und inhaltlich exzellente Parabel auf Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in den Beziehungen USA/Mexiko geworden, die auch auf der Meta-Ebene funktioniert. Bei der Preisvergabe auf der Berlinale dürfte er deshalb und wegen des hochaktuellen Themas eine wichtige Rolle spielen.

Triggerwarnung: Darstellung von Gewalt


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Ganz allein

Javier ist erst neun, als er seine Reise antritt, solito. Im April 1999 verlässt er sein Zuhause im salvadorianischen La Herradura, um seinen Eltern, die vor dem Bürgerkrieg geflohen sind, in die USA zu folgen. Zurück bleiben seine Tante Mali, Oma Neli, Freunde und vielleicht auch seine Kindheit. Der gleiche Coyote (Schlepper), der Jahre zuvor seine Mutter in die USA gebracht hat, soll nun ihn und fünf andere Menschen sicher über die Grenze schmuggeln. Sein Opa begleitet ihn noch im Bus ins guatemaltekische Tecún, danach ist er allein.

Was die Flucht für ein Kind in dem Alter bedeutet, beschreibt Javier Zamora, der lange nicht über das Erlebte sprechen konnte, eindrücklich. Er schildert Details wie die Hilflosigkeit dabei, sich die Schuhe zuzubinden oder auf die Toilette zu gehen, bis hin zum Schauspiel, um als Mexikaner durchzugehen.

Sein Weg mit Transporter, Bus und Boot wirkt an manchen Stellen wie eine Abenteuerreise, wenn er von Witzeleien mit seinen Reisegefährten erzählt, von Sonnenaufgängen in der Sonora-Wüste schwärmt oder darauf vertraut, dass sein cadejo ihn beschützen wird. Dennoch ist die brutale Realität allgegenwärtig und entfaltet sich auf besondere Weise durch die Perspektive eines Kindes, das vieles nicht benennen, aber intensiv fühlen kann.

Trotz all dieser körperlichen und seelischen Strapazen, der anhaltenden Anspannung und ewiger Zweifel gelingt es Javier, die Komplexität seiner Gefühle nachvollziehbar zu machen und auf seine Außenwelt zu übertragen. Fremde Menschen werden zur Familie – manche nur für einen sehr kurzen Moment, andere bis zum Ende – so eng, dass es beim Lesen schmerzt, wenn sie wieder auseinandergerissen werden.

Die Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann schafft es mit den zahlreichen umgangssprachlichen Ausdrücken, die direkt aus dem spanischen Original übernommen wurden, Javiercitos Reise auf sprachlicher Ebene verständlich zu machen. Denn der hat nicht nur mit den Unterschieden von mexikanischem und salvadorianischem Slang zu kämpfen, sondern auch mit den tortillas, die so anders sind als zu Hause, und mit der immer wiederkehrenden Frage nach seiner Hautfarbe. „Ich weiß nur, dass ich ein indio bin“.

Seine Flucht über tausende von Kilometern ist eine von unzähligen und zugleich einzigartigen Migrationsgeschichten, die im Kopf und im Herzen bleibt. Alle Emotionen werden aneinandergereiht, wieder durcheinandergeworfen und dennoch – oder gerade deshalb – bleibt Javiers Stimme so klar und unverhüllt. Viele Fragen bleiben offen: Was wird aus den Reisegefährt*innen, der zurückgelassenen Familie? Wie sehen die Geschichten anderer aus, die immer wieder ihr Leben riskieren, um die Grenze zu überqueren? Wohin mit all diesen erschütternden Erinnerungen, die viel zu groß für einen kleinen Jungen sind? Púchica, cipotillo.


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Kniefall vor Washington

Neue außenpolitische Ausrichtung Milei blickt nach “Westen” (Foto: Cancillería Argentina)

Auch wenn man es als Lappalie abtun könnte: Die Symbolkraft ist nicht zu unterschätzen. Gleich zwei Mal erklang Anfang April auf argentinischem Staatsterritorium die Hymne der Vereinigten Staaten. Beide Male intoniert vom Orchester der Streitkräfte, beide Male im Beisein des ultralibertären Präsidenten Javier Milei und der Chefin des Südkommandos der US-Streitkräfte (Southcom), Laura Richardson.

Die Szenen wurden sowohl in der argentinischen Presse als auch in den sozialen Medien heiß diskutiert. Auch, weil nur kurz zuvor der Opfer des Malwinen-Krieges gedacht worden war. 1982 hatte Washington fest an der Seite des Vereinigten Königreichs gestanden. London hält die Inselgruppe im Atlantik bis heute unter Kontrolle.

Die Anekdote zeigt: Der Wind in der argentinischen Außenpolitik hat sich gedreht. In den Worten von Milei geht es um nicht weniger als eine „neue Doktrin in der Außenpolitik“. Das betonte er anlässlich des Besuchs von Richardson am 5. April. „In dieser vernetzten Welt, in der die Grenzen verschwimmen, was direkte Auswirkungen auf unsere Souveränität hat, ist es fundamental, strategische Allianzen zu schmieden“, sagte der Staatschef weiter. Die Grundlage dafür stelle ein „gemeinsames Weltbild“ dar.

Was sich Milei unter solch einer „strategischen Allianz“ vorstellt, machen er und Vertreter*innen seiner Regierung nahezu im Wochentakt deutlich. Zuletzt traf sich der argentinische Verteidigungsminister Luis Petri am 18. April in Brüssel mit dem stellvertretenden Generalsekretär der NATO, Mircea Geoană. Beim Besuch im Hauptquartier des Militärbündnisses übergab Petri das Gesuch seines Landes, als sogenannter globaler Partner in den Pakt aufgenommen zu werden.

Zwar ist ein „globaler Partner“ kein Vollmitglied – diesen Status dürfen derzeit nur Staaten Europas sowie die USA und Kanada innehaben –, trotzdem sind auf die Art assoziierte Länder militärisch eng an die NATO gebunden. So tauschen sie beispielsweise nachrichtendienstliche Erkenntnisse aus oder nehmen an gemeinsamen Einsätzen teil. Auch in den Bereichen Aus- und Aufrüstung, Ausbildung sowie Forschung gewährt der Status Vorteile für „globale Partner“. In Lateinamerika hat derzeit nur Kolumbien diesen Status inne.

Geoană zeigte sich erfreut über das Gesuch vom Río de la Plata. In einer nach dem Treffen verbreiteten Erklärung heißt es: „Argentinien spielt eine wichtige Rolle in Lateinamerika, und ich begrüße das heutige Ersuchen, die Möglichkeit einer NATO-Partnerschaft zu prüfen.“ Eine „engere politische und praktische Zusammenarbeit“ sei „für beide Seiten von Vorteil“. Wie schnell es mit der Aufnahme tatsächlich gehen wird, ist allerdings ungewiss. Notwendig für diese ist die Zustimmung aller 32 Mitgliedstaaten des Bündnisses. Gerade die Großbritanniens gilt angesichts des Konflikts um die Inselgruppe Malwinas (engl.: Falklands) keineswegs als sicher.

Auf die Unterstützung der USA dürfte Milei indessen zählen können. Das machte Washington noch am Tag von Petris Brüssel-Besuchs deutlich. So kündigte die US-Botschaft in Argentinien an, dass die Vereinigten Staaten dem südamerikanischen Land 40 Millionen US-Dollar „ausländischer Militärfinanzierung“ zur Verfügung stellen werden – ein „Zuschuss, der den wichtigsten Partnern vorbehalten ist“. Mit dem Geld solle die „Modernisierung der Verteidigungsfähigkeiten“ unterstützt werden. Es sei das erste Mal seit 2003, dass Argentinien eine derartige Finanzspritze aus Washington erhalte.

Buenos Aires kann das Geld gut gebrauchen. Nur wenige Tage zuvor hatte die argentinische Regierung 24 „F-16“-Kampfjets von Dänemark gekauft – ein als „historisch“ bezeichnetes Geschäft. Der Kauf stelle „die wichtigste Beschaffung von Militärflugzeugen seit 1983“ dar, erklärte Verteidigungsminister Petri noch vor Ort. Die Jets seien „mit der besten Technologie ausgestattet“ und gehörten „zu den besten Flugzeugen, die am Himmel über Südamerika und der Welt fliegen“. Inklusive Nachrüstungsarbeiten dürften sie laut Medienberichten bis zu 650 Millionen US-Dollar kosten – viel Geld für ein Land wie Argentinien, das extrem verschuldet ist und sich in einer wirtschaftlichen Dauerkrise befindet.

Besonders der Umstand, dass die Jets aus US-Produktion stammen, ist von Bedeutung. Im vergangenen Jahr hatte die stellvertretende Staatssekretärin des US-Verteidigungsministeriums, Mira Resnick, die Frage nach den künftigen Kampfflugzeugen Argentiniens als „von nationalem Interesse für die Vereinigten Staaten“ bezeichnet. Die argentinische Luftwaffe wird künftig auf Nachrüstungs- und Pflegearbeiten aus den Vereinigten Staaten angewiesen sein.

Ausgestochen wurde bei dem Deal die Volksrepublik China. Jahrelang hatte zuvor der Kauf von „JF-17 Thunder“-Kampfjets aus chinesischer Produktion im Raum gestanden. Das moderne Flugzeug, das die Volksrepublik gemeinsam mit Paktistan entwickelt hat, wäre auch wegen seiner laut Medienberichten geringeren Anschaffungskosten von Parteigänger*innen des Expräsidenten Alberto Fernández vorgezogen worden.

Auf einem Treffen Mitte April in Buenos Aires, das der Gründung des Thinktanks „Argentinisches Zentrum für nationale Verteidigung und Souveränität“ diente, kritisierten die Exminister*innen Nilda Garré und Jorge Taiana den nun geschlossenen Deal. Garré erklärte, dieser gehe auch auf den Besuch der Southcom-Chefin sowie den von CIA-Chef William Burns zurück, der nur wenige Wochen vor Richardson nach Argentinien gereist war. Beide hätten kategorisch klar gemacht: „keine Zusammenarbeit mit China. Ohne Wenn und Aber.“

Auf die Unterstützung der USA kann Milei zählen

Tatsächlich ist Mileis Kniefall vor Washington im Rahmen der Konkurrenz zwischen den USA und China zu sehen. Unter den vergangenen Regierungen konnte die Volksrepublik die Vereinigten Staaten in der Region Südamerika insbesondere auf wirtschaftlicher Ebene überholen. Mittlerweile ist China der zweitwichtigste Handelspartner Argentiniens nach Brasilien. Mileis Vorgänger Fernández vertiefte die Beziehungen zu Peking. Höhepunkt seines außenpolitischen Kurses hätte die Aufnahme des Landes in den BRICS-Staatenbund zum 1. Januar 2024 sein sollen.

Einmal im Amt, zog Milei den Beitrittswunsch sofort zurück. Und auch sonst agiert die junge argentinische Regierung wie der willige Verbündete, den die USA in der Region benötigen. Bereits im Wahlkampf hatte Milei stets betont, fest an der Seite des „Westens“ stehen zu wollen. Seine ersten Auslandsreisen führten den Ultrarechten in die USA und nach Israel. Die dortige argentinische Botschaft plant er von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen.

Die vermeintliche Zugehörigkeit „zur westlichen Tradition“ begründet Milei mit einer „natürlichen Affinität“, die auf dem „Streben nach Freiheit und Privateigentum“ basiere. Anfang April warnte der Präsident beim Besuch der Southcom-Chefin, diese „Werte“ seien heute in Gefahr, weshalb „wir heute mehr denn je die Bande der Freundschaft zwischen denjenigen stärken, die diese Werte vertreten“. Mileis Sprecher Manuel Adorni wiederum bezeichnete die ersten Monate der Regierung als „Botschaft Argentiniens an die Welt“: „Nach Jahrzehnten der scheinheiligen Pakte hat Argentinien beschlossen, sich wieder in das Konzert der Nationen einzugliedern und eine Führungsrolle einzunehmen.“

Teil dessen soll auch der Anfang April verkündete Bau eines gemeinsamen Marinestützpunkts mit den USA auf der südlichen Insel Feuerland sein. Der Stützpunkt direkt vor der Antarktis mache „Argentinien und die Vereinigten Staaten zum Eingangstor zum weißen Kontinent“, erklärte Milei and der Seite Richardsons. Von Feuerland aus lässt sich die Schifffahrt um den südlichen Zipfel Südamerikas besonders gut kontrollieren, ebenso wie der Zugang zur Antarktis.

Mit am Tisch bei den Gesprächen zwischen US-Offiziellen und Vertreter*innen der argentinischen Regierung sitzt immer die „Sorge“ über den wachsenden Einfluss Chinas. Das zeigt auch der orchestrierte Aufschrei über eine von der Volksrepublik betriebene Raumstation in der argentinischen Provinz Neuquén. Kurz vor Richardsons Besuch erklärte der US-Botschafter in Argentinien, Marc Stanley, in der Tageszeitung La Nación: „Es überrascht mich, dass Argentinien den chinesischen Streitkräften erlaubt, in Neuquén zu operieren.“ Weiter behauptete er, es seien Soldaten der chinesischen Volksarmee, „die dieses Weltraumteleskop bedienen“.

Der Bau der Raumstation war 2014 von der damaligen Regierung unter Cristina Fernández de Kirchner genehmigt worden. Deren Nachfolger Mauricio Macri, heute ein Verbündeter Mileis, handelte einen Zusatzvertrag aus, laut dem die Basis nur zu zivilen und wissenschaftlichen Zwecken genutzt werden darf. Das Kooperationsabkommen gilt bis 2064. Zuletzt hatten 2019 auch diplomatische Vertreter*innen aus den USA die Station besucht. Trotzdem beeilte sich die Milei-Regierung, anzukündigen, eine erneute „technische Inspektion“ der Weltraumstation beantragen zu wollen.

„Keine Zusammenarbeit mit China. Ohne Wenn und Aber“

Deutlich weniger von den Medien aufgegriffen, machten die USA bereits Anfang März einen wichtigen Schritt, um ihre Kontrolle über strategische Handelsrouten in der Region auszuweiten. So unterzeichnete die Allgemeine Hafenbehörde Argentiniens (AGP) eine Absichtserklärung, die ein wenig definiertes „Engagement“ des Ingenieursstabs der US-Armee zur „technischen Kooperation“ auf der Wasserstraße Paraguay-Paraná ermöglicht.

Die in der Region als Hidrovía bezeichnete Wasserstraße verläuft auf einer Länge von fast 3.500 Kilometern entlang der Flüsse Paraguay und Paraná und ist von immenser wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung für die gesamte Region. Sie ermöglicht eine durchgehende Schifffahrt zwischen den Häfen von Argentinien, Brasilien, Bolivien, Paraguay und Uruguay.

Auch hier steht im Hintergrund der Versuch Washingtons, China von strategischen Feldern zu verdrängen. Über die Hidrovía wird der überwiegende Teil der argentinischen Agrarexporte transportiert. Zuletzt stieg auch der Export illegaler Drogen über die Wasserstraße in Richtung Europa massiv an.


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Die Tragödie um La Gorgona

Paradies in Not Der Küstenwachenkomplex auf der Pazifikinsel La Gorgona soll um ein Radarsystem und Landungsbrücken erweitert werden
(Foto: travail via wikimedia commons (CC BY-SA 3.0 Deed))

28 Kilometer westlich der kolumbianischen Pazifikküste liegt die Insel Gorgona. Ihren mythologischen Namen, der auf die drei Schlangen­monster anspielt, zu denen der berühmte Seefahrerschrecken Medusa zählte, verdankt sie der Vielzahl von Schlangen, die sie bevölkern. Mit einer Fläche von nur 26 Quadratkilometern war Gorgona bereits Standort eines Gefängnisses, eines Nationalparks und ist heute die Basis eines Küstenwachenpostens, der ein von den Vereinigten Staaten finanziertes und installiertes Radarsystem beschützen soll. Das von der Regierung Juan Manuel Santos´ begonnene Projekt wird von der Regierung Petro fortgeführt.

Gorgona hat einen einzigartigen ökologischen Wert, nicht nur für Kolumbien, sondern für die gesamte Region. Manuel Rodríguez Becerra, Professor an der Universidad de los Andes, der die Gründung des kolumbianischen Umweltministeriums vorangetrieben hat, bezeichnet Gorgona als „ein Juwel des Nationalparksystems und der Inseln der Welt“ mit einer besonders hohen biologischen Vielfalt, und einer Vielzahl an Fisch-, Amphibien-, Reptilien- und Blumenarten. Darüber hinaus beherbergt die Insel eines der größten Korallenriffe im kolumbianischen Pazifik.

Ihre Lage an der Westküste Kolumbiens macht Gorgona zu einem wichtigen Durchgangsort für Meerestiere wie Buckelwale. Während der Saison zwischen Juni und Oktober/November können diese Wale zusammen mit ihren Kälbern gesichtet werden. Die Walbeobachtung in dem Gebiet ist zudem zu einer wichtigen Einnahmequelle für die Einwohner*innen der Küstenstadt Guapi und ihrer umliegenden Ortschaften geworden. Die Gemeinden an der Pazifikküste, die das Militärprojekt ablehnen, haben – wie sie es in einem Rundbrief vom 14. Februar ausdrücken – auf diese Weise „in einer harmonischen Beziehung zu Gorgona gelebt und das einzigartige Ökosystem, das Teil unseres kollektiven und ethnischen Territoriums ist, respektiert und geschützt“.

Die biologische Vielfalt der Insel ist immer widerstandsfähig gegenüber politischen Ereignissen und Entscheidungen wie etwa der Einrichtung des Hochsicherheitsgefängnisses im Jahr 1960 gewesen. Beschwerden über die ständigen Misshandlungen und unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Gefangenen auf der Insel festgehalten wurden, sowie die Anerkennung der umweltpolitischen Bedeutung der Insel führten 1983 zur Schließung des Gefäng­nisses. Die Künstlerin und Aktivistin Cecilia Castillo aus der Stadt Ibagué hatte dafür jahrelang unermüdlich gekämpft. Bei einem Besuch war sie Zeugin der Bedingungen in dem Gefängnis geworden, ein Erlebnis, das sie dazu veranlasste, eine Kampagne für seine Schließung zu initiieren. Castillo war in den darauffolgenden Jahren entscheidend am Protest gegen das Gefängnis und für die Umwandlung der Insel in einen Nationalen Naturpark beteiligt.

Für die US-Regierung ist die Insel vor allem wegen ihrer Lage inmitten der Drogenhandelsroute nach Norden interessant. Die US-Initiative für die Installation des Radarsystems ist Teil der von der Leiterin des US-Südkommandos, Laura Richardson, vorgeschlagenen Strategie, den US-Einfluss in der Region zu verstärken.

Das Projekt wurde bereits während der Regierung von Juan Manuel Santos (2010 bis 2018) begonnen. Der Vorschlag, der der Nationalen Umweltbehörde (ANLA) vorgelegt wurde, sah unter anderem einen 50 Meter hohen Turm für ein Radar, den Bau einer Küstenwachstation und einen 163 Meter langen Kai vor.

Der Bau sollte durch ein Budget von 12 Millionen Dollar aus den Vereinigten Staaten finanziert werden. Eine Umweltgenehmigung wurde am 31. Dezember 2015 erteilt, nur 29 Tage nachdem das Projekt vorgeschlagen worden war – eine auffällig kurze Zeit, um die notwendigen Studien zur Einschätzung der tatsächlichen sozio-ökologischen Auswirkungen des Projekts durchzuführen. Die Auswirkungen, die der Bau des Kais auf die Reise der Wale haben würde, oder die Risiken, die mit der Installation von Benzintanks nahe der Insel verbunden sind, wurden nicht berücksichtigt. Nach Erteilung der Genehmigung wurde dann schnell mit der Umsetzung des Projektes begonnen.

Die Zivilgesellschaft hat der Durchsetzung des US-Projektes auf der Insel jedoch nicht tatenlos zugesehen. Aus Gemeindeverbänden der Ortschaften an der Pazifikküste und aus akademischen und Umweltgruppen sind Organisationen wie das Komitee Salvemos Gorgona („Lasst uns Gorgona retten“) hervorgegangen, die sich von Anfang an gegen die Versuche der verschiedenen Regierungen gewehrt haben, das Projekt zu verwirklichen. Die Organisation betont, wie wichtig es ist, sowohl die biologische Vielfalt der Insel als auch die Souveränität über das Territorium zu schützen.

Mit den Wahlen im Jahr 2022 und dem Amtsantritt von Gustavo Petro als Präsidenten ging die Erwartung einher, dass die selbsternannte „Regierung des Wandels“ das Projekt stoppen würde. Nachdem Salvemos Gorgona verschiedene Forderungen vorgetragen hatte und eine öffentliche Anhörung im Kongress, den die Abgeordnete Jennifer Pedraza initiierte und an der auch die Umweltministerin Susanna Muhammad teilnahm, stattgefunden hatte, wurde das Projekt vorübergehend ausgesetzt. Trotzdem versuchte die Regierung weiterhin, die Gemeinden von den angeblichen Vorteilen des Projekts zu überzeugen, indem sie in der Region Bürgerforen durchführte, an denen auch die Vizepräsidentin Francia Márquez teilnahm.

Bei einem Besuch der Regierung in Guapi, inmitten von Bannern, die die Absage des Projektes forderten und von Ausrufen, der Präsident möge sich zu dem Thema positionieren, beschloss dieser, die Gemeinden zu ignorieren und die Veranstaltung zu beenden. Die Entscheidung war bereits getroffen worden.

US-Militärpräsenz in Kolumbien verfestigt sich auch unter Petro

Am 12. Februar 2024 gab die Regierung auf einer Pressekonferenz in Anwesenheit von Umweltministerin Muhammad und Verteidi­gungs­­­­­minister Iván Velásquez bekannt, dass sie mit dem Bau des Projekts in Gorgona beginnen werde. Sowohl die Minister*innen als auch der Präsident haben sich darum bemüht, das Ganze als ein Projekt für Forschung und Tourismusförderung zu rahmen.

Es wurde versichert, dass die Bauarbeiten nicht während der Walbeobachtungssaison stattfinden und unter großer Rücksicht auf die Umwelt durchgeführt werden würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies wirklich so umgesetzt wird, ist allerdings gering. Außerdem blieben die Pläne für das Radar und die militärischen Elemente der Küstenwachstation unverändert, wie der Kommandeur der Küstenwache, Javier Bermudez, erklärte. Bezüglich der US-Finanzierung des Projektes gab Verteidigungsminister Velásquez bekannt, dass das Geld nach Gesprächen mit der US-Botschaft nun nicht für die Küstenwache oder das Radar, sondern für ein geplantes Forschungszentrum verwendet werden würde. Andrés Pachón, Sprecher von Salvemos Gorgona, hält diese Ankündigung für irreführend, da „die Umweltlizenz, alle durchgeführten Beratungsstudien und die früheren Umweltverträglichkeitsstudien bereits mit US-Geldern bezahlt worden sind“. Außerdem wurde nicht nur das Radar schon 2019 gekauf. Die bestehende Baulizenz sieht auch keine der von der Regierung erwähnten wissenschaftlichen Konstruktionen vor, sondern nur militärische Einrichtungen. Die US-Militärpräsenz in Kolumbien hat sich während der aktuellen Regierungsperiode entgegen allen Erwartungen weiter verfestigt. Die US-Generälin Laura Richardson hat das Land regelmäßig besucht und hochrangige Treffen mit Militärchefs, Präsident Petro und Vizepräsidentin Márquez abgehalten. Diese wurden von Ankündigungen, etwa über Pläne zur Militarisierung des Amazonasschutzes und der grundsätzlichen Stärkung der militärischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern begleitet.

Die Fortführung von geostrategischen Interessensprojekten der USA wie auf Gorgona und des alten „Kriegs gegen die Drogen“ hat Richardson selbst zu der Bemerkung veranlasst, die Beziehungen zwischen den Ländern „könnten nicht besser sein“. Trotz mangelndem Interesse in der Regierung setzen die Organisationen ihre Protestaktionen gegen das Projekt fort.

Neben nationalen Aufrufen zur Mobilisierung zur Verteidigung der Insel und der Souveränität gründete sich die Bancada en Defensa de Gorgona („Fraktion zur Verteidigung von Gorgona“) mit mehr als 15 Abgeordneten verschiedener Parteien, die versuchen wird, die Debatte auf die legislative Ebene zu bringen. Die Basisorganisation und Mobilisierung ist das Einzige, was La Gorgona vor dem Schwert des Perseus retten kann.


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Digitale Mauer

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Warten auf eine App-Entscheidung Vor der Migrant*innenherberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt (Foto: Lilia Tenango)

Mitten in der COVID-19-Pandemie, im Oktober 2020, führte der US-amerikanische Zoll- und Grenzschutz (CBP) die Smartphone-App CBP One ein, um die Migration stärker zu kontrollieren und zu reduzieren. Die neue Applikation wurde im Kontext zweier bestehender Immigrations- und Grenzmaßnahmen eingeführt, die die Migrationsdynamiken zu dem Zeitpunkt zentral bestimmen: Zum einen das binationale Abkommen Quédate en México („Bleib in Mexiko“, MPP) von 2019 bis 2022, zum anderen das zwischen 2020 und Mitte 2023 verordnete Gesundheitsgesetz, das als Title 42 bekannt ist. Unter dem MPP mussten Asylsuchende monatelang in Mexiko verweilen, während ihr Asylverfahren in den USA verhandelt wurde. Title 42 hingegen erlaubte es der US-amerikanischen Grenzbehörde, vornehmlich mexikanische und zentralamerikanische Menschen, die irregulär die US-amerikanische Grenze überquerten, direkt abzuschieben, ohne ihnen eine Chance auf ein Asylverfahren zu geben. CBP One ist somit ein weiteres Instrument zur Steuerung der Migration sowie zur Reduzierung von irregulären Grenzübertritten und heute das zentrale Tool, das Grenzübertritte reguliert.

Lupe Alberto Flores, Anthropologe an der Rice University in Houston, erklärt gegenüber LN, dass die App seit ihrer Einführung bereits für verschiedene Zwecke eingesetzt wurde. Sie kam schon während des MPP zur Anwendung, um Personen zu verifizieren, die in Mexiko auf ihren US-amerikanischen Asylbescheid warteten. Außerdem wurde die App 2021 zur Evakuierung von Menschen aus Afghanistan oder 2022 für die Einreise von Ukrainer*innen im Rahmen des humanitären Schutzprogramms Uniting for Ukraine genutzt. Venezolaner*innen können über die App unter bestimmten Bedingungen im Rahmen eines anderen humanitären Schutzprogramms ihre Asylanträge sogar schon in Venezuela stellen. Bei einem positiven Bescheid dürfen sie direkt mit dem Flugzeug in die USA einfliegen. Kurzum: Wer als Nicht-US-Amerikaner*in über den Landweg die Grenze überqueren will, braucht einen Termin. Dies ist vor allem für das Stellen eines Asylantrags relevant. Wer sich ohne diesen Termin in die USA begibt, kann mit einer Abschiebung und einem fünfjährigen Wiedereinreiseverbot rechnen.

Die App ist zunächst für jede Person mit Mobiltelefon frei erhältlich. Flores beschreibt die Funktionsweise der App als einen Filter: Sie fragt neben biometrischen Echtzeitfotos und allen persönlichen Daten auch nach Informationen zur bisherigen Reise. Menschen werden auf der Grundlage ihrer Selbstauskunft schon vor ihrem ersten Kontakt von den US-amerikanischen Grenzbeamt*innen auf frühere Verurteilungen oder Straftaten überprüft. Außerdem fragt die App stets den aktuellen Standort ab. Dies ist insofern relevant, da die App grundsätzlich erst nördlich von Mexiko-Stadt funktioniert – was bedeutet, dass Menschen auch erst einmal bis dorthin kommen müssen. Wer einen Termin bekommt, darf Mexiko in der Regel ungehindert durchqueren. Berichten von Betroffenen und Organisationen zufolge fordern mexikanische Beamt*innen dennoch häufig Geld für die Weiterreise auf dem Landweg.

Flores erklärt, dass CBP One somit eine „logistische“ Technologie ist, die zwar einerseits die Einreise erleichtert, gleichzeitig aber eine verschärfte Kontrolle der Immigration bedeutet und umsetzt. Laut Flores konnten, Stand August dieses Jahres, 90 Prozent der Asylsuchenden mit Termin die Grenze überqueren, um ihren Asylantrag in den USA zu stellen. Weil sie ebenjene Möglichkeit zur legalen Einreise in die USA bietet, ist die App unter den Menschen im Transit begehrt. Ein Mann aus Usbekistan sagt gegenüber LN darüber in Tijuana: „Du kannst die App hier einfach herunterladen und damit in die USA einreisen. Das ist cool. Du brauchst kein Visum und sie akzeptieren dich einfach“.

App mit Lotteriecharakter

Problematisch wird es für Personen, die kein Mobiltelefon besitzen oder deren Telefone die technischen Voraussetzungen der App nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass viele Menschen im Transit durch verschiedene Städte und Länder oftmals nur eingeschränkten oder gar keinem Zugang zum Internet haben. Flores beschreibt die Terminbeantragung darüber hinaus als ein Labyrinth, bei dem verschiedene Wege zum Ziel führen können. Allerdings können technische Fehler oder fehlerhaft eingegebene Informationen genauso in eine Sackgasse führen. Diese Momente verursachen enorme Stresssituationen, da in solchen Fällen ganze Registrierungen gelöscht und erneuert werden müssen. Die Psychologin der Migrant*innen-Herberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt, Janett De Jesús, betont im Interview mit LN, dass sich die CBP One-App erheblich auf die Psyche der Menschen auswirke. Abseits der Zufriedenheit darüber, eine legale Möglichkeit zu haben, in die USA einzureisen, kommen zunehmend Frust und Verzweiflung auf. Hervorgerufen werden diese von vielen technischen und strategischen Unsicherheiten, aber auch von den zahlreichen Gerüchten zur aktuell verbreiteten erfolgreichen Vorgehensweise. Viele Menschen können auch die Tragweite ihrer eingegeben Daten nicht einschätzen. Die App machte zudem schon zu Beginn Schlagzeilen, weil die damit aufgenommenen Echtzeitfotos Menschen mit dunkler Haut oftmals nicht erkennen.

Ein zusätzlicher Frustfaktor ist der willkürliche Lotteriecharakter, der für die Menschen eine große Belastungsprobe bedeuten kann. Flores erklärt, dass die Auswahl für die Termine zweispurig erfolgt: 50 Prozent der Anfragen werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, die Logik der Vergabe der anderen 50 Prozent erfolgt nach dem Registrierungsdatum. Die Wartezeiten variieren somit stark und reichen von wenigen Tagen oder Wochen bis hin zu mehreren Monaten – für Menschen in prekären Situationen eine sehr lange Zeit. Darüber hinaus leiden sie unter der täglichen Ungewissheit darüber, wie lange sie noch warten müssen. Die Wartezeit ist daher nicht nur mit Geduld und Nerven, sondern im Zweifel auch mit erheblichen Kosten und Gefahren in Mexiko verbunden.

Wer nicht mehr warten kann, entscheidet sich, irregulär weiter Richtung Norden zu reisen. Die Psychologin De Jesús berichtet: „Der Grad der Verzweiflung ist so groß, dass die Menschen bereit sind, alles zu tun, was nötig ist, um den Termin tatsächlich zu bekommen. Dies impliziert, wieder auf bekannte Migrationswege wie den Zug zu setzen, auf denen die Personen Gefahren wie Überfällen, Entführungen, oder Unfällen ausgesetzt sind.“ Als Reaktion auf den Anstieg irregulärer Grenzübertritte im September haben die USA und Mexiko gemeinsam weitere Abschreckungsmaßnahmen beschlossen. Unter anderem sollen Menschen, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in den nordmexikanischen Grenzstädten aufhalten, verstärkt in ihre Herkunftsländer abgeschoben und die Nutzung von Güterzügen als Transportmittel unterbunden werden.

Durch die „neue” Situation, die sich durch die App ergibt, müssen auch die Migrant*innenherbergen ihre Arbeit mit und für die Menschen im Transit anpassen. Dazu gehört, dass sich Mitarbeiter*innen und Freiwillige mit der CBP One-App und ihren Funktionen vertraut machen, denn die Nachfrage nach Unterstützung bei der Registrierung ist groß. Maricela Reyes, die in der Casa Tochan arbeitet, betont im Interview mit LN, dass dies gar nicht so einfach sei, da die Funktionsweise der App ständig verändert wird. Weiter führt sie aus, dass die Herberge ständig am Limit arbeite. Denn obwohl Casa Tochan lediglich für 46 Bewohner*innen mit Betten ausgestattet ist, beherbergt sie weit mehr Menschen: Mitte September waren es um die 150 Menschen, für die die Mitarbeiter*innen zeitweise sogar ein großes Zelt vor dem Eingang aufstellen mussten, damit sie die Nacht dort verbringen konnten. Die Direktorin der Migrant*innenherberge, Gabriela Hernández, erklärt gegenüber LN, dass es dringend politische Maßnahmen seitens des mexikanischen Staates brauche, um diesen Menschen während ihrer Wartezeit eine temporäre Aufenthaltserlaubnis zu geben: „Wenn sie ein humanitäres Visum hätten, dürften sie arbeiten. Dann könnten sie in Ruhe arbeiten und sich unabhängig machen, Miete zahlen und auf ihren Termin warten. Das wäre eine weitere Möglichkeit, die Überfüllung der Herbergen zu beenden. Stattdessen setzt die Regierung darauf, Menschen an der irregulären Reise in die USA zu hindern und sie abzuschieben.” Die mexikanische Regierung selbst äußerte sich positiv über die Möglichkeit der legalen Grenzüberquerung mithilfe der CBP One-App. So auch Präsident López Obrador im August in einem Brief an den US-amerikanischen Präsidenten Biden.

Menschenrechtler*innen und Betroffene klagen gegen die App

Wie sich die Situation zukünftig entwickeln wird, ist ungewiss. Erstens bleibt die Frage offen, inwiefern die großen Mengen an gesammelten Daten der CBP One-Nutzer*innen zukünftig verwendet werden. Zweitens wartet auf diejenigen, die mit der App die Grenze überqueren, in den USA der Gerichtsprozess, in dem endgültig über ihr Asylersuchen geurteilt wird. Drittens ist ungeklärt, ob der Einsatz der App im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Asylrechtrechtswidrig ist und in dieser Form überhaupt bestehen bleiben kann. Menschenrechtsorganisationen und Asylbewerber*innen haben gegen dieses Vorgehen gemeinsam Klage eingereicht.

Die neue US-amerikanische Strategie im Namen einer „sicheren, geordneten und regulären Migration” schafft somit zwar eine legale Möglichkeit der Einreise in die USA, doch sie schränkt das Recht auf Asyl ein. Die damit verbundenen Kosten und Risiken tragen die Personen im Transit, die sich gezwungen sehen, im für sie unsicheren Mexiko einen längeren Zeitraum auszuharren. Außerdem fällt die größte Arbeitslast auf zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen in Mexiko, die an vorderster Front für eine menschenwürdige Behandlung und Wahrung der Menschenrechte von Migrant*innen und Geflüchteten kämpfen. Flores zufolge ist mit der App zur physischen Mauer nun noch eine digitale Mauer hinzugekommen, die es erst einmal zu überqueren gilt, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Letztlich handelt es sich um eine weitere Externalisierungsmaßnahme der USA, um die Migrationen Richtung Norden schon in Mexiko zu kontrollieren.


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Y UN PEQUEÑO MILAGRO CADA MES

Für die deutschsprachige Version hier klicken

Foto: Jan-Holger Hennies

Era un soleado día de mayo de 1973 cuando quince o veinte jóvenes, todos ellos recién llegados a Alemania del agitado clima político chileno, se reunieron en un prado verde bajo un cerezo en Hessen para pensar juntos cómo ayudar al pueblo chileno, que atravesaba una difícil situación, y al Gobierno de la Unidad Popular, mediante información educativa (¿conferencias, artículos?) y apoyo práctico (¿bicicletas, por ejemplo?). El ambiente era positivo, incluso optimista, teniendo en cuenta las malas noticias que llegaban en su mayoría del otro lado del Océano Atlántico: asesinatos políticos organizados por grupos de extrema derecha, la inflación en rápido aumento, la escasez de suministros en todas partes. Sin embargo, el grupo estaba animado y no se imaginaba que el “experimento “, una profunda agitación política y social mediante un Gobierno electo, pudiera fracasar. Así se fundó el comité “Solidaridad con Chile”, cuya tarea principal era organizar ayuda práctica para las personas pasando aún más hambre durante el invierno chileno. Más para la comunicación interna del círculo que para la educación de la sociedad alemana occidental, se decidió compilar, cada 14 días, unas páginas con las informaciones más importantes sobre Chile y consejos en cuestiones prácticas. Los textos breves debían recopilarse “primero” en Berlín (Occidental).

Los comienzos

El momento había llegado: el 28 de junio de 1973, un jueves, como ocurriría de allí en adelante. A las siete de la tarde, seis —¿o siete?— personas se reunieron y planificaron el contenido de las páginas del primer número de la revista: comenzando con un breve informe “Sobre los acontecimientos en Chile”, seguido por referencias a materiales informativos, eventos, etcétera; y al fin de la página, también los nombres y direcciones de los implicados. Después de la sopa de frijol, que durante meses se convirtió en un elemento fijo de la tarde de producción, pusimos manos a la obra y, al cabo de tres horas, todos los textos estaban escritos y cuidadosamente mecanografiados en siete matrices Ormig. La noticia del intento fallido de golpe de Estado el día anterior en Chile apenas pudo acomodarse. A la mañana siguiente, se hicieron 50 copias de cada matriz, se clasificaron, se metieron en sobres y se llevaron a correos. Además de los miembros del comité, se pidieron donativos a algunos amigos para sufragar los gastos de producción, que se recibieron rápida y abundantemente.

La noticia de la existencia de esta fuente de información se extendió rápidamente, y en el quinto número —dos meses más tarde— hubo que retirar 200 ejemplares de las matrices para satisfacer la demanda. Pero eso era lo máximo que las matrices podían producir en aquel momento.

El número de involucrados también aumentó con rapidez. Pronto acudieron a ayudar diez, quince, veinte personas interesadas. Se hizo necesaria una reunión adicional el jueves, que hasta ese entonces había sido el día “libre”, para preparar el siguiente número. Por supuesto, todos en nuestras filas estaban convencidos de que la protección constitucional estaba implicada; no obstante, los nombres de los implicados se imprimieron valientemente. Los participantes chilenos en el Festival Mundial de la Juventud en Berlín (Oriental) debían recibir algunos ejemplares del número 3, pero la Policía Popular del paso fronterizo de la calle Heinrich-Heine estuvo vigilante y confiscó el pequeño folleto informativo tras un largo control del contenido. En el viaje de vuelta, los ejemplares fueron devueltos, porque la Policía Popular tampoco los quería como regalo.

Un intento de organizar un evento informativo en Berlín Occidental con la gente de Chile del festival fracasó porque esto sólo habría sido posible en conjunto con la FDJW (la Juventud Alemana Libre de Berlín Occidental), que impuso como condición que en el evento no se hubiera espacio de discusión: “Mejor ningún evento que uno descontrolado”.

Cualquiera que lea hoy los textos de los cinco primeros números de CHILE-NACHRICHTEN comprobará que estos muestran con toda claridad la inevitabilidad de un golpe de Estado de la derecha en Chile. Esto no fue intencionado, al contrario. Al discutir y escribir, todo el mundo era más o menos optimista de que todavía se podía cambiar la marea. Parecía demasiado escandaloso que el mundo se atreviera a tolerar un golpe contra un Gobierno electo.

La conmoción fue aún mayor cuando el golpe se produjo finalmente el 11 de septiembre de 1973. Para CHILE NACHRICHTEN esto significó de inmediato un fuerte aumento de la demanda y el procesamiento de más noticias, informaciones, manifestaciones de solidaridad. Ahora había que imprimir bien. En noviembre, la tirada era ya de 6000 ejemplares, cuya producción no supuso ningún problema financiero gracias a las ricas donaciones. El número 10 se publicó con un alcance considerablemente mayor; un amigo inglés llamó desde Londres durante una reunión editorial posterior: “¡Están locos! ¡Sesenta páginas!”Muy pronto, a finales de 1973, quedó claro que el calendario de publicación quincenal no podía mantenerse. La pequeña revista, cada vez más densa y pronto ampliada con números especiales —inicialmente gratuitos— con fines de documentación, sólo podía publicarse mensualmente. El estudio, la enseñanza, la investigación, la actuación, en resumen: la vida normal no podía subordinarse por completo al trabajo en la revista.

El archivo

A medida que los apartamentos de los y las integrantes de la redacción se llenaban de documentos importantes que nadie quería desechar, surgió la necesidad de construir un archivo. Esto no habría sido posible sin el apoyo y la infraestructura de la Comunidad de Estudiantes Evangélicos de la Universidad Técnica de Berlín.  En torno al archivo se fundaría pronto como asociación sin fines de lucro el Centro de Investigación y Documentación Chile-Latinoamérica (FDCL), que fue ampliando sus actividades con el tiempo. Cuanto más clara se volvían las violaciones a derechos humanos de la junta militar, sobre el carácter criminal del régimen de Pinochet mismo, sobre la imprudente política económica de los Chicago Boys y sobre las relativamente buenas relaciones del régimen con importantes figuras de la política y economía de la República Federal de Alemania; las y los integrantes de la redacción reconocían el valor de su trabajo al servicio de la información y la solidaridad cada vez más.

Solidaridad creciente

Junto a las CHILE-NACHRICHTEN (¿o sobre ellas? ¿en torno a ellas?), surgió en Berlín Occidental, directamente después del golpe de Estado, el Chile-Komitee, desde donde se organizaron manifestaciones, protestas y acciones de apoyo para las personas refugiadas que llegaron a Berlín. No se olvida —pese a las duras negociaciones previas con los comunistas de Berlín occidental del Partido Socialista Unificado de Berlín Oeste (SEW)— la gran manifestación de 30 mil personas el 4 de noviembre de 1973. Tampoco se olvida cómo durante la Copa Mundial de Fútbol de 1974, durante el partido de Chile contra Alemania, una enorme bandera chilena ondeó en la cancha en el medio tiempo, con el mensaje “CHILE SÍ — JUNTA NO”. Desde luego, el Chile-Komitee también fue un espacio de arduos debates políticos, en los que las CHILE-NACHRICHTEN no solo recibieron elogios. Si bien los Jóvenes Socialistas, inicialmente muy involucrados, percibían a la revista con cierta generosidad paternal, los spontis consideraban a la redacción como poco radical y demandaban con frecuencia una mayor consideración de las corrientes revolucionarias en Chile, como el Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) —incluso cuando estas corrientes tenían poco o nada en común con los spontis. Para muchos miembros habría sido preferible que la revista se convirtiera formalmente en un órgano del Komitee pero, como ello habría implicado demasiado trabajo de control, la independencia de la redacción se mantuvo siempre. Fundamentalmente, la redacción estaba organizada de manera poco rígida y tan espontánea como el Komitee. La participación era absolutamente voluntaria y además anónima, puesto que nadie quería divulgar los nombres de miembros del equipo a la inteligencia chilena.

Conflictos ideológicos

Un miembro del Komitee abogaba incansablemente por agilizar el trabajo a partir de principios organizacionales claros. Sin embargo, este enviado oficial de la Liga contra el Imperialismo, una organización de fachada del Partido Comunista de Alemania (KPD) maoísta, no encontró simpatía hacia sus propuestas de elegir un consejo y establecer un secretariado. A los otros maoístas de la Liga Comunista de Alemania Occidental (KBW) se les ocurrió otra cosa. Enviaron a un camarada —le llamaremos Fritz— a la redacción de las CHILE-NACHRICHTEN, donde consiguió hacer amigos con diligencia y prudencia. Un día Fritz declaró que se ausentaría por tres semanas porque debía dedicarse a estudiar un documento. Tres semanas más tarde, trajo a otro camarada, y ambos asumieron la tarea de iluminar a la redacción en que las CHILE-NACHRICHTEN estaban objetivamente al servicio de la contrarrevolución, puesto que no seguían fielmente la línea de la República Popular China de apoyar al “tercer mundo” —incluido Pinochet— contra el imperialismo. Los dos enviados del KBW solicitaron sacar de la redacción a todo aquel que no quisiera seguir la línea correcta. Perdieron con dos votos contra 18, desaparecieron y no fueron vistos por un largo rato, hasta que Fritz —ya purgado hacía tiempo— apareció en un buen proyecto vecino del Mehringhof.

Caos constructivo

El trabajo de la redacción era algo descoordinado. Ya en aquel entonces, cada edición tenía una nueva coordinación. Sin embargo, por lo general, todo se mantenía abierto hasta el último minuto; por ello, ya en aquel tiempo, las noches de producción se extendían hasta altas horas de la madrugada.

Por un buen tiempo, lo más caótico fue la situación financiera. Tras el golpe de Estado en Chile, la revista recibió muchas suscripciones de individuos, grupos y librerías. Pero nadie tenía tiempo para ocuparse de las cuentas pendientes. La revista se encontraría pronto al borde de la ruina  —hasta que alguien tuvo la idea de llamar a las y los suscriptores a saldar sus deudas—. El excedente fue tal que la redacción decidió ofrecer una revista similar en idioma español a las personas refugiadas chilenas en Berlín Occidental para sus pares en Europa. Bajo el nombre “CHILE COMBATIENTE” y “SÍ, COMPAÑERO” se publicaron un par de ejemplares, hasta que conflictos partidarios dentro de los grupos de refugiados y refugiadas complicaron cada vez más el trabajo. El dinero tampoco habría alcanzado para mucho más.

A mediados de los setenta quedó claro que, si bien Chile representaba un caso especialmente flagrante de combinación de gobierno militar autoritario y políticas económicas ultraliberales, los demás países sudamericanos seguían cada vez más su ejemplo. En Uruguay, los militares habían asumido el poder casi simultáneamente. Brasil y Perú ya eran dictaduras militares.A más tardar con el golpe en Argentina en 1976 se hizo evidente que se trataba de  una tendencia generalizada que debía interesar a la redacción de las CHILE-NACHRICHTEN. Como resultado, se publicaban cada vez más artículos sobre los vecinos de Chile, hasta que eventualmente se encontraron ante la decisión de ampliar fundamentalmente tanto el contenido como el título de la revista. Como todos los cambios fundamentales en la historia de la publicación, la discusión al respecto fue intensa; pero con el número 51, y con el inicio del quinto año de publicación en el verano de 1977, el momento había llegado. A partir de ese momento, la revista se llamaría LATEINAMERIKA NACHRICHTEN; el nombre CHILE-NACHRICHTEN se mantuvo once años más como subtítulo y aparecía con un dejo de vergüenza en el Impressum, la declaración legal de autoría y propiedad. Las CHILE-NACHRICHTEN se volvieron parte de la historia. Ahora la redacción está conformada por jóvenes que no habían nacido cuando ya se había sepultado el nombre CHILE-NACHRICHTEN. Eso es digno de celebración.


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50 Jahre Lateinamerika Nachrichten

„Amerika den Amerikanern“ formulierte der US-amerikanische Präsident James Monroe vor 200 Jahren und meinte doch nur „Lateinamerika den USA“. Der Aufstieg der USA zur neuen Hegemonialmacht in Lateinamerika vollzog sich in wenigen Jahrzehnten, schon Anfang des 20. Jahrhunderts war der Kontinent fest in den Händen der USA.
Auch die Gründung der Lateinamerika Nachrichten vor nunmehr 50 Jahren verdankt sich, zumindest indirekt, dieser Doktrin. Die Rolle der USA bei der wirtschaftlichen Destabilisierung der Unidad Popular-Regierung in Chile und beim Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende mag heute längst nicht mehr allen bekannt sein. Für die Aktiven des Komitees „Solidarität mit Chile“, die am 28. Juni 1973 die erste Ausgabe der Chile-Nachrichten (seit Nummer 51: Lateinamerika Nachrichten) produzierten, war der Kampf gegen den US-Imperialismus jedoch ein wichtiges Motiv für ihr politisches und journalistisches Engagement.
Der Diktator ging, die Lateinamerika Nachrichten blieben. Nur mäßig konnte uns zu unserem Silberjubiläum im Jahre 1998 der Abgang von Augusto Pinochet erfreuen: Den Oberbefehl über die chilenischen Streitkräfte tauschte er damals mit einem Senatorenposten auf Lebenszeit. Und auch sonst boten uns eher die Kontinuität der eigenen Arbeit, denn die Verhältnisse in Lateinamerika Anlaß zu Optimismus.
Das waren überhaupt komische Zeiten damals, als sich das Jahrtausend dem Ende zuneigte. Die Zauberworte Neoliberalismus und Globalisierung bestimmten die Regierungspolitik in fast allen Ländern des Kontinents. Fast: Wie ein gallisches Dorf trotzte nur Kuba den Römern, die damals in Washington residierten. Und als ob auch er als Kind in einen Zaubertrank gefallen wäre, zeigte sich Fidel Castro Jahrzehnt um Jahrzehnt unschlagbar: In der westlichen Hemisphäre hält er noch heute den Rekord für die längsten Ansprachen – unterbrechen ließ er sich meist nur, wenn auf der Zuckerinsel mal wieder der Strom abgestellt wurde. Vor Yankees hatte er nur auf dem Baseball-Platz Respekt, die Blockade konnte Kuba nicht in die Knie zwingen (für jüngere LeserInnen: die USA versuchten bis nach der Jahrtausendwende, Kuba durch Wirtschaftsblockade und politische Isolierung in die Knie zu zwingen – was sich ja bekanntlich erst änderte, als vor fünfzehn Jahren die kurz zuvor eingebürgerte Ex-Präsidentin Brasiliens, Benedita da Silva, ins Weiße Haus gewählt wurde).
Lange Zeit war Politik ja eine Angelegenheit korrupter Männer, die mit Militärs kungelten und Phantasie nur zeigten, wenn sie für ihre Wiederwahl mal wieder eine Verfassungsänderung durchsetzten – in Peru durfte damals nur noch zum Präsidenten gewählt werden, wer japanische Vorfahren, und in Argentinien, wer syrische Vorfahren hatte. Brasilien konnte nur regieren, wer Großgrundbesitzer war und ein Soziologie-Diplom sein eigen nannte.
Die Wende in Lateinamerika brachten bekanntlich die ZapatistInnen und die Landlosenbewegung MST. Der erste Präsident mit Skimütze in Mexiko und die Vergabe eines Landtitels an die letzte landlose Bäuerin in Brasilien – das waren bewegende Momente, die auch uns wieder optimistisch in die Zukunft blicken ließen.
Denn während unsere Freunde und Freundinnen in Lateinamerika die Verhältnisse zum Tanzen brachten, wurde es in Deutschland immer eisiger. Die Grünen stritten mal wieder, ob es der Bevölkerung zuzumuten sei, den Benzinpreis um drei Prozent zu erhöhen, während Joschka Fischer als Verteidigungsminister den Parteiausschluß von Jürgen Trittin verlangte, weil der sich noch immer weigerte, an den wöchentlichen öffentlichen Rekrutengelöbnissen vor dem Reichstag teilzunehmen.
Grund zur Freude hatten wir erst wieder, als Jamaica 2006 Fußballweltmeister wurde und Berti Vogts durchsetzte, daß Gras endlich auch in Deutschland legalisiert wird. Die Cannabis-Pflanze statt dem Bundesadler auf der Schwarz-Rot-Goldenen Flagge und „Keine Macht für niemand“ von den Scherben als Nationalhymne – das hat sich vor 25 Jahren niemand in der Redaktion zu träumen gewagt. Auch nach 50 Jahren Lateinamerika Nachrichten – wir machen weiter: „Get up, stand up for your rights“.

Alte Texte neu gelesen – dieses Editorial erschiet in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.


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Nachtschwärmen mit Kaktus

Foto: Leo Calzoni

Der Bus ist gerade weg. Und der nächste kommt erst in acht Stunden. Es sieht also so aus, als ob Hugo diese Nacht an der Haltestelle verbringen müsste. Ganz schön langweilig, wenn die einzige Aussicht auf Gesellschaft dabei in einem Kaktus mit Namen Adolfo besteht, den er in einem Blumentopf mit sich herumschleppt. Nicht, dass das den stillen Einzelgänger groß stören würde. Aber die Alternative ist verlockend: Das Mädchen mit der Fliegermütze auf der anderen Straßenseite schnorrt nicht nur eine Zigarette von Hugo, sondern lädt ihn gleich auch noch auf eine Kostümparty ein. Nach kurzem Zögern lässt sich Hugo auf das Angebot der quirlig-durchgeknallten Momo ein und los geht es auf eine vergnügliche und turbulente Reise durch die Nacht.

Sofía Auzas stimmungsvoller Debütfilm funktioniert von der ersten Sekunde an prima. Das liegt in erster Linie an seinen Hauptdarsteller*innen: Zwischen Juan Daniel García Treviño als Hugo und der sehr überzeugenden Rocio de la Mañana als Momo stimmt die Chemie. Dabei wird zum Glück nicht übertrieben auf Teeniefilm-Klischees herumgeritten. Stattdessen hauen sich die beiden mit viel Wortwitz Dialoge um die Ohren, bei denen kein Auge trocken bleibt. Die schlagfertige Momo behält hier zwar meist die Oberhand, doch im Laufe des Films lernt auch Hugo immer besser, ihr ordentlich Kontra zu geben.

Die Geschichte des Films wird in knackigen 70 Minuten erzählt, von denen dafür keine einzige verschwendet ist. Dass Hugo mit Adolfo unterwegs ist, hat einen traurigen Hintergrund: Den Kaktus hat ihm sein kürzlich verstorbener Vater hinterlassen und er ist auf dem Weg zu seiner Beerdigung. Seine Mission: Einen Platz finden, an dem es Adolfo gut ergehen wird. Das entpuppt sich aber als gar nicht so einfach, wie es klingt und die Suche wird durch einige Zwischenfälle unterbrochen. Denn Momo hat ein Geheimnis und keine Skrupel, den gutmütigen Hugo zur Ausführung ihrer Pläne einzuspannen. Wobei auch sie seine Hilfe noch mehr benötigt, als es zunächst den Anschein hat.

Sofía Auza ist mit Adolfo eine erfrischende Komödie gelungen, die mit authentischen Charakteren und einigen echten Lachern überzeugt. Die Inszenierung ist in sich stimmig, fast märchenhaft leuchten die Schauplätze und die Gesichter der Protagonist*innen in der Nacht. Dazu passt, dass der Film in keiner erkennbaren Stadt spielt. Nur Mexiko ist als Land durch Sprache und kulturelle Items wie Tacos vorgegeben. Adolfo ist ein gelungener Film für Jugendliche, weil er einen originellen und glaubwürdigen Ton findet, ohne abgedroschene Plattitüden zu benutzen. Kein Wunder, dass sich davon auch die Jury der Berlinale überzeugen ließ: Sie verlieh Adolfo den Gläsernen Bären für den besten Jugendfilm in der Sektion Generation 14plus.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas


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Die Suche nach dem Glück

© I Love You Chingos LLC

„The last one is a Republican!“ Dieser simple Spruch beim Wettrennen zwischen den Freund*innen Silvia Del Carmen Castaños und Estefanía „Beba“ Contreras, zugleich Regisseur*innen und Protagonist*innen des preisgekrönten Dokumentarfilms Hummingbirds, entspricht der lakonischen Stimmung, die ihn trägt. Es ist Sommer in Laredo, Texas, wo die mexikanische Grenze in Sichtweite ist. In wackeligen Handkamerabildern, die große Nähe erzeugen, wird das Leben der Freund*innen zwischen Bowling, Bingo und Border gezeigt. Beiläufig und doch unmittelbar beschäftigen sich die beiden mit schweren Themen, die ihre Lebensrealität bestimmen. Estefanías unsicherer Aufenthaltsstatus (sie hat keine gültigen Papiere), die drohende Abschiebung und die eigene Migrationsgeschichte, die beide seit Kindesbeinen bzw. noch im Mutterleib erlebt haben, bilden ein zentrales Thema dieser Doku. Wer den Grenzraum Mexiko-USA kennt, weiß, wie sehr der Austausch beider Welten dort den Alltag bestimmt. Die Doku zeigt die Lebenswelt der Chicano-Community, der aus Mexiko oder anderen Ländern Mittelamerikas stammenden Bewohner*innen der Borderlands zwischen USA und Mexiko. Dort sind auch  Silvia und Estefanía aufgewachsen und verwurzelt. Ihre Sprache ist Spanglish (US-amerikanisches Englisch durchsetzt mit spanischen Halbsätzen), der örtliche Wal-Mart akzeptiert mexikanische Pesos und an jeder Ecke werden Tacos oder Tamales verkauft.

In diesem Setting im geografischen Niemandsland, sehen wir Silvia, Estefanía und ihren Freund*innen einen Sommer lang zu. Wir sehen ihre jugendliche Lebensfreude, das Kichern Pubertierender, aber auch ihren entschlossenen Aktivismus. Sie kämpfen für die Legalisierung von Abtreibung und sind auf der Suche nach einer eigenen Identität ohne binäre Genderzuschreibungen und tradierten Rollenbildern. Das Gestern ist passé, die Zukunft hat noch nicht angefangen. Die Protagonist*innen befinden sich in der Schwebe zwischen Unbeschwertheit, Melancholie und dem Streben nach Glück.

Zurecht gewann Hummingbirds den mit 7.500 Euro dotierten Großen Preisder Jury in der Sektion Generation 14plus. In der Begründung der Jury heißt es: „Für einen berührenden und subtilen Blick in intime Momente eindrücklicher Charaktere, die mit ihrer Freundschaft wachsen […] Ihre Aktionen, Jokes, Lieder, ihr Lachen und ihre Körper sind politisch – und ein notwendiger Weg des Widerstandes.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas


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ANNÄHERUNG ANS ERDÖL

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EINKASSIERT

Für die venezolanische Regierung ist der Fall heikel: Seit seiner Auslieferung aus Kap Verde am 16. Oktober befindet sich der in Kolumbien geborene Unternehmer Alex Saab in Miami in Haft. Ihm drohen 20 Jahre Gefängnis wegen Geldwäsche. Sieben weitere Anklagepunkte wurden aufgrund von Zusicherungen an Kap Verde Anfang November fallen gelassen.

Am Tag nach Saabs Auslieferung bezeichnete der venezolanische Präsident Nicolás Maduro ihn als „unschuldig“ und größten Unterstützer der venezolanischen Bevölkerung: „Als die Verfolgung gegen Venezuela brutal zunahm, brachte er als Sonderbotschafter Lebensmittel für eure Haushalte. Das Benzin, das in dieser harten Zeit zu uns kam, die Medikamente, wurden von Alex Saab aus der ganzen Welt mitgebracht.“

Von einer seiner Geschäftsreisen, die Saab im Juni 2020 im Auftrag der venezolanischen Regierung durchführte, kehrte er nicht zurück. Am 12. Juni wurde der Geschäftsmann während eines Zwischenstopps auf dem Weg nach Teheran in Kap Verde inhaftiert. Aus Sicht der venezolanischen Regierung und ihrer Unterstützer*innen habe sich Kap Verde dem Druck der US-Regierung gebeugt und Saabs Diplomatenpass und die damit einhergehende Immunität ignoriert.
Saabs Geschäfte mit der venezolanischen Regierung begannen im Jahr 2011 im Rahmen des großen Sozialwohnungsbauprogramms unter der Regierung von Hugo Chávez. Saab verkaufte als Immobilienunternehmer Wohnungen an die Regierung. Laut der Rechercheplattform Armando.Info erhielt er dafür 159 Millionen US-Dollar – baute angeblich jedoch nur im Wert von drei Millionen US-Dollar Immobilien. Mit der Zeit weiteten sich seine Geschäfte auf den Lebensmittel- und Medikamentenhandel bis hin zum Bergbausektor aus.

Über Briefkastenfirmen soll Saab Lebensmittelimporte organisiert haben

Seit 2014 leidet Venezuela unter einer extrem hohen Inflation von zwischenzeitlich selbst laut offiziellen Zahlen bis zu 130.000 Prozent. Zwischen 2016 und 2018 bestand zudem ein akuter Mangel an Lebensmitteln und anderen grundlegenden Produkten. US-Sanktionen und eine ineffiziente Verwaltung durch die Regierung verschlimmerten die Lage im Land. Seit Jahren versucht die US-Regierung durch gezielte Unterstützung oppositioneller Kräfte, wie zuletzt des selbsternannten Präsidenten Juan Guaidó, sowie durch Verhängung von Sanktionen die venezolanische Regierung zu destabilisieren. Diese Politik war bisher nicht von Erfolg gekrönt. Im Gegenteil; die venezolanische Regierung hat sich zuletzt stabilisiert. Doch die im Land verbliebene Bevölkerung treffen die Sanktionen hart. Mittlerweile werden Produkte hauptsächlich über Privatunternehmen importiert – und für horrende Preise verkauft.

Die Sanktionen begannen im März 2015 unter US-Präsident Obama und richteten sich zunächst gegen Einzelpersonen. Vor allem ab 2017 unter Donald Trump wurden die Sanktionen stark ausgeweitet und schnitten Venezuela zunächst von den Kreditmärkten und ab 2019 weitgehend von den Einnahmen aus dem Erdölhandel ab. Internationale Banken froren die Staatsgelder ein und erlaubten selbst dann keine Transaktionen, wenn es sich um den Import von Medikamenten und Lebensmitteln handelte.

Alex Saab und seine Geschäftspartner*innen erhielten daraufhin verstärkt Aufträge von der Regierung zum Privatimport dieser Güter. Mittels Briefkastenfirmen soll Saab in den vergangenen Jahren auf Umwegen Produkte aus Mexiko, der Türkei sowie dem Iran für die venezolanischen Produktions- und Versorgungskomitees (Clap) importiert haben, die regelmäßig Lebensmittelkisten an die Bevölkerung verteilen. Saab und sein Partner, der Kolumbianer Álvaro Pulido Vargas, entwickelten infolgedessen zwischen 2016 und 2018 eine Struktur von Briefkastenfirmen und Scheinunternehmen in Hongkong, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Nachdem sie von dem staatlichen Unternehmen Corpovex Millionenverträge erhalten hatten, hätten die beiden von mexikanischen Lieferanten große Mengen von Produkten sehr geringer Nährwertqualität angekauft, die sie dann nach Venezuela geschickt hätten, berichtet die spanische Tageszeitung El Pais. Wie genau Saab und seine Kontakte bei diesen Aufträgen vorgingen und welche internationalen Akteur*innen sie dabei unterstützen, will die US-Regierung nun herausfinden.

Dialog liegt vorerst auf Eis

Kurz vor den Regional- und Kommunalwahlen am 21. November bringt noch ein weiteres Auslieferungsgesuch die venezolanische Regierung in Bedrängnis. In Madrid war im September Hugo Carvajal, Ex-Geheimdienst-Chef unter Maduros Vorgänger im Amt, Hugo Chávez, zum zweiten Mal festgenommen worden. Gegen ihn läuft ein Gerichtsverfahren im Bundesstaat New York, wo ihm unter anderem Drogenhandel, Geldwäsche und Zusammenarbeit mit der FARC-Guerilla zur Last gelegt wird. Die USA fordern seine Auslieferung. Während Carvajal 2019 mit Maduro brach und offen den selbsternannten Übergangspräsidenten Juan Guaidó unterstützte, nahm Saab während Maduros Präsidentschaft eine immer wichtigere Funktion ein.

Sowohl Saab als auch Carvajal werden als mögliche Informanten der US-Regierung gegen Präsident Maduro gesehen. Besonders Saabs Wissen über die Abwicklung der Geldgeschäfte der Regierung, Handelspartner*innen und kooperierenden Banken sind für die USA von besonderem Interesse. Auch Carvajal soll über wichtige Informationen über hochrangige venezolanische Politiker*innen und Militärs verfügen, die die Regierung weiterhin unterstützen. Im Gegensatz zu Saab, der angekündigt hat, nicht aussagen zu wollen, hat Carvajal bereits gegenüber spanischen Medien und vor einem spanischen Gericht über mutmaßliche Zahlungen der venezolanischen Regierung an zwei Mitgründer*innen der linken spanischen Partei Podemos, Juan Carlos Monedero und Carolina Bescansa, gesprochen. Zwar wurde die Auslieferung Carvajals am 25. Oktober zunächst ausgesetzt. Es wird jedoch erwartet, dass sie schon bald erfolgen wird.
Der venezolanische Soziologe und Politologe Ociel Alí López bezweifelt ein Interesse der US-Regierung an der Korruptionsbekämpfung. Wenn die US-Regierung wirklich an Korruption und Geldwäsche interessiert sei, so López auf der Internetplattform Venezuelanalysis.com, müssten sie auch chilenische und ecuadorianische Präsidenten verklagen. Die Verhaftung von Saab habe dagegen andere Motive. In ähnlicher Weise beschrieb die US-Zeitschrift Forbes Saab Anfang Oktober als „den Schlüssel, zum Geheimnis der venezolanischen Geldpolitik.“

Ganz konkrete Folgen hat die Auslieferung Saabs für den unter Vermittlung Norwegens stattfindenden Dialog zwischen venezolanischer Regierung und Opposition. Den in Mexiko laufenden Gesprächen bleibt die Regierungsdelegation aus Protest gegen das US-Vorgehen vorerst fern.
Die Art und Weise, in der die US-Regierung die Auslieferungen durchsetzt, verdeutlicht abermals, dass sie nicht an einer politischen Lösung in Venezuela interessiert ist, die sie nicht selbst kontrollieren kann. Indem sie die internationale Isolation vorantreibt, stärkt die Biden-Regierung die venezolanische Regierung letztlich sogar. Wie Ociel Alí López schreibt, haben Maduro und sein Team aufgrund der weltweiten Verfolgung „keine andere Wahl, als an der Macht zu bleiben.”


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// UNSICHERHEIT VON OBEN BIS UNTEN

Sicherheit ist in Haiti trügerisch. „Ich bedanke mich beim Chef der Sicherheitseinheit des Nationalpalastes. Das Ziel dieser Leute war ein Attentat auf mein Leben. Dieser Plan wurde vereitelt.“ Allzu viele nahmen dem haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse am 7. Februar 2021 diese Geschichte nicht ab, auch wenn 23 potenzielle Attentäter präsentiert wurden. Ein neuer Trick zum Machterhalt, um sich ein weiteres Jahr Präsidentschaft zu sichern, vermuteten viele.

Am 7. Juli 2021 hatte Moïse weder Grund noch Zeit, um seinem Sicherheitschef Dimitri Herard zu danken. Angeblich sieben bewaffnete kolumbianische Söldner stürmten die Residenz des Präsidenten, das Sicherheitspersonal schaute zu. „Operation der DEA, alle runter!“ Dass sich Herard und seine Sicherheitskräfte allein davon zur Untätigkeit bewegen ließen, ist kurios. Ein paar der Söldner informierten nun die haitianischen Ermittler darüber, ihnen sei gesagt worden, es gehe darum, Moïse festzunehmen und der US-Anti-Drogenbehörde DEA zu übergeben.

Fest steht: Haiti erlebt unsichere Zeiten. Seit Juni wurden laut UN allein in der Hauptstadt Port-au-Prince 15.500 Menschen wegen Bandenkriegen zur Flucht gezwungen. Ebenfalls steht fest: Der 53 Jahre alte Staatschef ist in der Nacht zum 7. Juli in seiner Residenz überfallen und erschossen worden. Seine Ehefrau wurde schwer verletzt. Insgesamt waren laut Polizeiangaben 26 kolumbianische Söldner und zwei US-Amerikaner haitianischer Herkunft an der Mord-Operation beteiligt. Die DEA weist jede Verantwortung von sich, keiner habe in ihrem Auftrag gehandelt.

Der Anschlag gegen den umstrittene Moïse, der gerade einmal von 600.000 der 11 Millionen Haitianer*innen gewählt wurde, ist der neueste Ausdruck der Privatisierung der Sicherheit. Gegen seinen Sicherheitschef Herard, seinerseits Eigentümer einer privaten Sicherheitsfirma, ermittelten US-Behörden bereits wegen Waffenschmuggels in den USA und Haiti. Inzwischen ist er auch im Zusammenhang mit der Ermordung von Präsident Moïse festgenommen worden. Seit dem Erdbeben 2010 wurde Haitis Sicherheit weitgehend privatisiert. Ein Staat im Staate, ein Sicherheitskomplex mit beträchtlichen Mitteln. Privatarmeen spielen darin eine so große Rolle, dass sie offenbar auch einen Präsidenten töten können.

Seit dem 7. Juli hat Haiti nun zwei Ministerpräsidenten. Der Interims-Premierminister und Außenminister Claude Joseph wurde anfangs von der internationalen Gemeinschaft als Regierungschef stillschweigend akzeptiert, obwohl Moïse kurz vor seinem Tod mit Ariel Henry schon einen Nachfolger für Joseph ausgerufen hatte, dem die Vereidigung noch bevorstand. Auch er will an die Schalthebel der Macht. Die Core Group ermutigte inzwischen nachdrücklich den Ex-Innenminister Henry, eine „konsensuelle und inklusive“ Regierung zu bilden.

Joseph hat bisher Polizei und Militär hinter sich. 2004 war er in die Absetzung des gewählten Präsidenten Jean-Baptiste Aristide involviert. Federführend waren damals die Ex-Kolonialmacht Frankreich und die Hegemonialmacht USA. Der kolumbianische Rundfunksender Caracol hat Joseph mit Berufung auf die Ermittelnden als Hauptverdächtigen ausgemacht, was Haitis Interims-Polizeichef Léon Charles brüsk zurückwies.

Für Sicherheit sollte seit 2004 theoretisch auch die UN-Mission Minus­tah sorgen. Ihr Hauptfokus: die Straßengangs in den Armenvierteln. Die Bewohner*innen der Viertel gelten als Unsicherheitsfaktor, Teilhabe an der Gesellschaft ist für sie nicht vorgesehen.

Was Haiti weiterhin fehlt sind Sicherheit und Perspektiven. 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft. Die sogenannte Core Group, in der unter anderem die UN, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind, unterstützt die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Und das, obwohl diese Forderungen mehr als legitim sind: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit. Die Haitianer*innen fragen sich, warum ihnen das verwehrt bleibt. Diese Antwort bleibt Ihnen die Core Group weiterhin schuldig.


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Trotzdem fliegen

Fotoquelle: © Cine Candela

Ashley Mistral schlendert mit ihrem Hund die Straße entlang, lässt ihn durch einen Zaun an ein paar kläffenden Chihuahuas schnuppern und geht weiter. Die Kamera folgt ihr – immer auf Augenhöhe – während die Teenagerin aus dem Off zu erzählen beginnt. „Auf der Straße“, sagt sie, „musst du praktizieren, was du predigst. Aber gleichzeitig kannst du das Predigen auch nutzen, um anderen zu helfen, ein besseres Leben zu haben. Abseits von dem, was hier abgeht.“

In Dirty Feathers begleitet Carlos Alfonso Corral eine Community von Wohnungslosen im texanischen El Paso zwischen einer überfüllten Unterkunft und den Straßen der Grenzstadt. Während die einen im sogenannten Opportunity Center ausharren, Domino spielen und auf medizinische Hilfsangebote bauen, meiden andere diesen Ort lieber. Alle können sie ungefiltert ihre Geschichten erzählen. Da ist als erste Ashley. Ihre heisere, aber feste, fast prophetische Stimme setzt den Grundton der Dokumentation, fast als sei sie deren Gewissen. Die Handlung entwickelt sich entlang des Alltags von Reagan und Brandon Ashford. Das Pärchen lebt abseits des Opportunity Centers und erwartet trotz des schweren Alltags zusammen ein Kind. Dann sind da zwei Kumpel, die versuchen, sich gegenseitig ihre psychischen Leiden und erinnerungsträchtigen Tattoos zu erklären. „Was macht uns zu Wohnungslosen?“, fragen sie sich, „Sind es wirklich die Drogen und der Alkohol?“ Und auf einer abgewetzten Couch unter einer Brücke erzählt ein Navy-Veteran von seinen lang vergangenen Tagen im Einsatz für ein Land, das sich für ihn nicht mehr einsetzt.

Corrals Langfilmdebüt zeigt seine dokumentarische Einfühlsamkeit in der Auseinandersetzung mit dem Leben in seiner Heimat, den Schwesterstädten Ciudad Juarez und El Paso an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Corral kam über fotografische Arbeiten und seine Zeit als Filmvorführer und Barista in einem kleinen Arthouse-Kino in El Paso zum Film. Mit Dirty Feathers ist ihm ein respektvolles Porträt gelungen, in dem die Kooperation zwischen Regisseur und Protagonist*innen sichtbar wird: Er lässt sie aussprechen. So wird im Film – oder vielmehr durch den Film – deutlich, wie die Kontrolle über das eigene Leben für die Protagonist*innen vor allem bedeutet, die Kontrolle über ihre eigenen Narrative zurückzugewinnen. Sich die eigene Würde zu erhalten, die ihnen von der Gesellschaft konsequent aberkannt wird, ist für die Wohnungslosen gleichzeitig Wunsch und Wagnis.

Fotoquelle: © Cine Candela

Durch den agilen Einsatz der Handkamera, gelingt es Corral, eine eindringliche, fast intime Nähe zu den Protagonist*innen zu erzeugen. Ihre Gesichter und Körper füllen ununterbrochen den Bildschirm aus. Die filmische Umsetzung verdeutlicht, wie die Dokumentation aus dem affektiven Dazwischen zwischen den Menschen auf der Straße heraus entstand, aber subtil auch einen affektiven Anspruch an das Publikum stellt.

Dirty Feathers ist kein abgehobener Rundflug über der Grenzstadt und ihren Problemen. Die Doku liefert keine kontextuellen Erklärungsversuche für die prekäre Situation der Protagonist*innen. Sondern sie ist so bodenständig und sinnlich, wie die Nahaufnahme von Reagan und Brandon, die freudig die Fußtritte ihres ungeborenen Kindes erfühlen. Die zukunftsweisenden Perspektiven erhält der Film durch die Aufrichtigkeit, mit der Ashley, Reagan, Brandon und ihre Community ihre Ängste, ihren Glauben und ihre Träume in Worte fassen.


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// NUR DAS KLEINERE ÜBEL

Am 6. April machten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel dem autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Ankara ihre Aufwartung. Dabei fand von der Leyen zwar kritische Worte, etwa zur kürzlich seitens der Türkei erfolgten Aufkündigung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt oder zum Allgemeinplatz der Achtung von Menschenrechten und internationalem Recht. Doch an dem milliardenschweren Deal von 2016, mit dem sich die EU in der Türkei eine vorgelagerte Außengrenze erkauft hat, wird nicht gerüttelt. So wird Millionen von Schutzsuchenden effektiv die Asylsuche in der EU verwehrt.

Nicht nur in Europa ist das Outsourcing der Drecksarbeit die gängige Praxis. Auch die USA hatten 2019 unter Donald Trump mit den Regierungen von El Salvador, Guatemala und Honduras Abkommen zur Verhinderung von Migration geschlossen. Die Länder wurden de facto zu sicheren Drittstaaten erklärt, sodass alle Migrant*innen, die in die USA einreisen wollen, in diesen Staaten Asyl beantragen müssen. Trumps Nachfolger Joe Biden hat diese Migrationsverträge dieses Jahr wieder gekippt. Er steht zwar für eine weniger restriktive Politik als Trump, für eine offene Einwanderungspolitik steht er freilich nicht. Biden hat angekündigt, den Regierungen in Mittelamerika zu helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen und diese auch finanziell zu unterstützen. Wie er das gemeinsam mit den Autokraten in El Salvador, Guatemala und Honduras erreichen will, bleibt aber sein Geheimnis.

Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit der Migrationspolitik betraut und mit Ricardo Zúñiga Anfang April einen Sondergesandten ins „nördliche Dreieck“ geschickt. Zúñiga führte Gespräche mit Vertreter*innen aus Staat und Zivilgesellschaft in Guatemala und El Salvador, ein Treffen mit dem autoritären Präsidenten Nayib Bukele kam nicht zustande. Honduras wurde gänzlich ausgespart, vielleicht aufgrund der vermuteten Verstrickung des Präsidenten Juan Orlando Hernández in den Drogenhandel. Diese Distanz ist ein Unterschied zum Vorgänger Trump, verstand dieser sich doch bestens mit Bukele und Hernández und machte sich keine Mühe, zivilgesellschaftliche Organisationen oder Anti-Korruptionsinstitutionen in der Region zu fördern.

Allerdings ist Biden kein unbeschriebenes Blatt. Grundsätzlicher Wandel ist von dem ehemaligen Vizepräsidenten von Barack Obama nicht zu erwarten – weder beim Thema Migrationspolitik noch bei den Freihandelsabkommen USMCA (NAFTA-Nachfolger) und DR-CAFTA. So verwundert weder sein an die Migrant*innen gerichteter Appell, sich gar nicht erst auf den Weg zu machen, noch die nun unlängst bekannt gewordenen Pläne zum teilweisen Weiterbau von Trumps Grenzmauer ­– trotz gegenteiliger Wahlversprechen. Von den 172.000 Schutzsuchenden, die im März die US-Grenze erreichten, wurden 104.000 auf Basis einer unter Trump – offiziell zum Schutz vor der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie – erlassenen Order nach Mexiko abgeschoben.

Bereits als Vizepräsident versuchte Biden im Rahmen der „Allianz für Wohlstand“ Fluchtursachen in Zentralamerika zu beseitigen. Erfolglos. Die Menschen machten sich weiterhin auf den Weg. Die Maßnahmen, mit denen jetzt sichergestellt werden soll, dass die Hilfen für Zentralamerika zielgerichtet ankommen, gehören in den Kanon der „guten Regierungsführung“. Damit haben die USA schon in den vergangenen 60 Jahren mit überschaubarem Erfolg operiert. An die strukturellen Fluchtursachen wird er seine Hand so wenig legen wie seine Vorgänger: Eine unfaire Welthandelsordnung und der Klimawandel, die in Mittelamerika Einkommensperspektiven zerstören, autoritäre Strukturen und die organisierte Kriminalität, die Gewalt fördern. Wenn es in Mittelamerika an einem nicht mangelt, sind es Fluchtursachen.

 


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