Digitale Mauer

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Warten auf eine App-Entscheidung Vor der Migrant*innenherberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt (Foto: Lilia Tenango)

Mitten in der COVID-19-Pandemie, im Oktober 2020, führte der US-amerikanische Zoll- und Grenzschutz (CBP) die Smartphone-App CBP One ein, um die Migration stärker zu kontrollieren und zu reduzieren. Die neue Applikation wurde im Kontext zweier bestehender Immigrations- und Grenzmaßnahmen eingeführt, die die Migrationsdynamiken zu dem Zeitpunkt zentral bestimmen: Zum einen das binationale Abkommen Quédate en México („Bleib in Mexiko“, MPP) von 2019 bis 2022, zum anderen das zwischen 2020 und Mitte 2023 verordnete Gesundheitsgesetz, das als Title 42 bekannt ist. Unter dem MPP mussten Asylsuchende monatelang in Mexiko verweilen, während ihr Asylverfahren in den USA verhandelt wurde. Title 42 hingegen erlaubte es der US-amerikanischen Grenzbehörde, vornehmlich mexikanische und zentralamerikanische Menschen, die irregulär die US-amerikanische Grenze überquerten, direkt abzuschieben, ohne ihnen eine Chance auf ein Asylverfahren zu geben. CBP One ist somit ein weiteres Instrument zur Steuerung der Migration sowie zur Reduzierung von irregulären Grenzübertritten und heute das zentrale Tool, das Grenzübertritte reguliert.

Lupe Alberto Flores, Anthropologe an der Rice University in Houston, erklärt gegenüber LN, dass die App seit ihrer Einführung bereits für verschiedene Zwecke eingesetzt wurde. Sie kam schon während des MPP zur Anwendung, um Personen zu verifizieren, die in Mexiko auf ihren US-amerikanischen Asylbescheid warteten. Außerdem wurde die App 2021 zur Evakuierung von Menschen aus Afghanistan oder 2022 für die Einreise von Ukrainer*innen im Rahmen des humanitären Schutzprogramms Uniting for Ukraine genutzt. Venezolaner*innen können über die App unter bestimmten Bedingungen im Rahmen eines anderen humanitären Schutzprogramms ihre Asylanträge sogar schon in Venezuela stellen. Bei einem positiven Bescheid dürfen sie direkt mit dem Flugzeug in die USA einfliegen. Kurzum: Wer als Nicht-US-Amerikaner*in über den Landweg die Grenze überqueren will, braucht einen Termin. Dies ist vor allem für das Stellen eines Asylantrags relevant. Wer sich ohne diesen Termin in die USA begibt, kann mit einer Abschiebung und einem fünfjährigen Wiedereinreiseverbot rechnen.

Die App ist zunächst für jede Person mit Mobiltelefon frei erhältlich. Flores beschreibt die Funktionsweise der App als einen Filter: Sie fragt neben biometrischen Echtzeitfotos und allen persönlichen Daten auch nach Informationen zur bisherigen Reise. Menschen werden auf der Grundlage ihrer Selbstauskunft schon vor ihrem ersten Kontakt von den US-amerikanischen Grenzbeamt*innen auf frühere Verurteilungen oder Straftaten überprüft. Außerdem fragt die App stets den aktuellen Standort ab. Dies ist insofern relevant, da die App grundsätzlich erst nördlich von Mexiko-Stadt funktioniert – was bedeutet, dass Menschen auch erst einmal bis dorthin kommen müssen. Wer einen Termin bekommt, darf Mexiko in der Regel ungehindert durchqueren. Berichten von Betroffenen und Organisationen zufolge fordern mexikanische Beamt*innen dennoch häufig Geld für die Weiterreise auf dem Landweg.

Flores erklärt, dass CBP One somit eine „logistische“ Technologie ist, die zwar einerseits die Einreise erleichtert, gleichzeitig aber eine verschärfte Kontrolle der Immigration bedeutet und umsetzt. Laut Flores konnten, Stand August dieses Jahres, 90 Prozent der Asylsuchenden mit Termin die Grenze überqueren, um ihren Asylantrag in den USA zu stellen. Weil sie ebenjene Möglichkeit zur legalen Einreise in die USA bietet, ist die App unter den Menschen im Transit begehrt. Ein Mann aus Usbekistan sagt gegenüber LN darüber in Tijuana: „Du kannst die App hier einfach herunterladen und damit in die USA einreisen. Das ist cool. Du brauchst kein Visum und sie akzeptieren dich einfach“.

App mit Lotteriecharakter

Problematisch wird es für Personen, die kein Mobiltelefon besitzen oder deren Telefone die technischen Voraussetzungen der App nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass viele Menschen im Transit durch verschiedene Städte und Länder oftmals nur eingeschränkten oder gar keinem Zugang zum Internet haben. Flores beschreibt die Terminbeantragung darüber hinaus als ein Labyrinth, bei dem verschiedene Wege zum Ziel führen können. Allerdings können technische Fehler oder fehlerhaft eingegebene Informationen genauso in eine Sackgasse führen. Diese Momente verursachen enorme Stresssituationen, da in solchen Fällen ganze Registrierungen gelöscht und erneuert werden müssen. Die Psychologin der Migrant*innen-Herberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt, Janett De Jesús, betont im Interview mit LN, dass sich die CBP One-App erheblich auf die Psyche der Menschen auswirke. Abseits der Zufriedenheit darüber, eine legale Möglichkeit zu haben, in die USA einzureisen, kommen zunehmend Frust und Verzweiflung auf. Hervorgerufen werden diese von vielen technischen und strategischen Unsicherheiten, aber auch von den zahlreichen Gerüchten zur aktuell verbreiteten erfolgreichen Vorgehensweise. Viele Menschen können auch die Tragweite ihrer eingegeben Daten nicht einschätzen. Die App machte zudem schon zu Beginn Schlagzeilen, weil die damit aufgenommenen Echtzeitfotos Menschen mit dunkler Haut oftmals nicht erkennen.

Ein zusätzlicher Frustfaktor ist der willkürliche Lotteriecharakter, der für die Menschen eine große Belastungsprobe bedeuten kann. Flores erklärt, dass die Auswahl für die Termine zweispurig erfolgt: 50 Prozent der Anfragen werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, die Logik der Vergabe der anderen 50 Prozent erfolgt nach dem Registrierungsdatum. Die Wartezeiten variieren somit stark und reichen von wenigen Tagen oder Wochen bis hin zu mehreren Monaten – für Menschen in prekären Situationen eine sehr lange Zeit. Darüber hinaus leiden sie unter der täglichen Ungewissheit darüber, wie lange sie noch warten müssen. Die Wartezeit ist daher nicht nur mit Geduld und Nerven, sondern im Zweifel auch mit erheblichen Kosten und Gefahren in Mexiko verbunden.

Wer nicht mehr warten kann, entscheidet sich, irregulär weiter Richtung Norden zu reisen. Die Psychologin De Jesús berichtet: „Der Grad der Verzweiflung ist so groß, dass die Menschen bereit sind, alles zu tun, was nötig ist, um den Termin tatsächlich zu bekommen. Dies impliziert, wieder auf bekannte Migrationswege wie den Zug zu setzen, auf denen die Personen Gefahren wie Überfällen, Entführungen, oder Unfällen ausgesetzt sind.“ Als Reaktion auf den Anstieg irregulärer Grenzübertritte im September haben die USA und Mexiko gemeinsam weitere Abschreckungsmaßnahmen beschlossen. Unter anderem sollen Menschen, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in den nordmexikanischen Grenzstädten aufhalten, verstärkt in ihre Herkunftsländer abgeschoben und die Nutzung von Güterzügen als Transportmittel unterbunden werden.

Durch die „neue” Situation, die sich durch die App ergibt, müssen auch die Migrant*innenherbergen ihre Arbeit mit und für die Menschen im Transit anpassen. Dazu gehört, dass sich Mitarbeiter*innen und Freiwillige mit der CBP One-App und ihren Funktionen vertraut machen, denn die Nachfrage nach Unterstützung bei der Registrierung ist groß. Maricela Reyes, die in der Casa Tochan arbeitet, betont im Interview mit LN, dass dies gar nicht so einfach sei, da die Funktionsweise der App ständig verändert wird. Weiter führt sie aus, dass die Herberge ständig am Limit arbeite. Denn obwohl Casa Tochan lediglich für 46 Bewohner*innen mit Betten ausgestattet ist, beherbergt sie weit mehr Menschen: Mitte September waren es um die 150 Menschen, für die die Mitarbeiter*innen zeitweise sogar ein großes Zelt vor dem Eingang aufstellen mussten, damit sie die Nacht dort verbringen konnten. Die Direktorin der Migrant*innenherberge, Gabriela Hernández, erklärt gegenüber LN, dass es dringend politische Maßnahmen seitens des mexikanischen Staates brauche, um diesen Menschen während ihrer Wartezeit eine temporäre Aufenthaltserlaubnis zu geben: „Wenn sie ein humanitäres Visum hätten, dürften sie arbeiten. Dann könnten sie in Ruhe arbeiten und sich unabhängig machen, Miete zahlen und auf ihren Termin warten. Das wäre eine weitere Möglichkeit, die Überfüllung der Herbergen zu beenden. Stattdessen setzt die Regierung darauf, Menschen an der irregulären Reise in die USA zu hindern und sie abzuschieben.” Die mexikanische Regierung selbst äußerte sich positiv über die Möglichkeit der legalen Grenzüberquerung mithilfe der CBP One-App. So auch Präsident López Obrador im August in einem Brief an den US-amerikanischen Präsidenten Biden.

Menschenrechtler*innen und Betroffene klagen gegen die App

Wie sich die Situation zukünftig entwickeln wird, ist ungewiss. Erstens bleibt die Frage offen, inwiefern die großen Mengen an gesammelten Daten der CBP One-Nutzer*innen zukünftig verwendet werden. Zweitens wartet auf diejenigen, die mit der App die Grenze überqueren, in den USA der Gerichtsprozess, in dem endgültig über ihr Asylersuchen geurteilt wird. Drittens ist ungeklärt, ob der Einsatz der App im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Asylrechtrechtswidrig ist und in dieser Form überhaupt bestehen bleiben kann. Menschenrechtsorganisationen und Asylbewerber*innen haben gegen dieses Vorgehen gemeinsam Klage eingereicht.

Die neue US-amerikanische Strategie im Namen einer „sicheren, geordneten und regulären Migration” schafft somit zwar eine legale Möglichkeit der Einreise in die USA, doch sie schränkt das Recht auf Asyl ein. Die damit verbundenen Kosten und Risiken tragen die Personen im Transit, die sich gezwungen sehen, im für sie unsicheren Mexiko einen längeren Zeitraum auszuharren. Außerdem fällt die größte Arbeitslast auf zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen in Mexiko, die an vorderster Front für eine menschenwürdige Behandlung und Wahrung der Menschenrechte von Migrant*innen und Geflüchteten kämpfen. Flores zufolge ist mit der App zur physischen Mauer nun noch eine digitale Mauer hinzugekommen, die es erst einmal zu überqueren gilt, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Letztlich handelt es sich um eine weitere Externalisierungsmaßnahme der USA, um die Migrationen Richtung Norden schon in Mexiko zu kontrollieren.

Y UN PEQUEÑO MILAGRO CADA MES

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Foto: Jan-Holger Hennies

Era un soleado día de mayo de 1973 cuando quince o veinte jóvenes, todos ellos recién llegados a Alemania del agitado clima político chileno, se reunieron en un prado verde bajo un cerezo en Hessen para pensar juntos cómo ayudar al pueblo chileno, que atravesaba una difícil situación, y al Gobierno de la Unidad Popular, mediante información educativa (¿conferencias, artículos?) y apoyo práctico (¿bicicletas, por ejemplo?). El ambiente era positivo, incluso optimista, teniendo en cuenta las malas noticias que llegaban en su mayoría del otro lado del Océano Atlántico: asesinatos políticos organizados por grupos de extrema derecha, la inflación en rápido aumento, la escasez de suministros en todas partes. Sin embargo, el grupo estaba animado y no se imaginaba que el “experimento “, una profunda agitación política y social mediante un Gobierno electo, pudiera fracasar. Así se fundó el comité “Solidaridad con Chile”, cuya tarea principal era organizar ayuda práctica para las personas pasando aún más hambre durante el invierno chileno. Más para la comunicación interna del círculo que para la educación de la sociedad alemana occidental, se decidió compilar, cada 14 días, unas páginas con las informaciones más importantes sobre Chile y consejos en cuestiones prácticas. Los textos breves debían recopilarse “primero” en Berlín (Occidental).

Los comienzos

El momento había llegado: el 28 de junio de 1973, un jueves, como ocurriría de allí en adelante. A las siete de la tarde, seis —¿o siete?— personas se reunieron y planificaron el contenido de las páginas del primer número de la revista: comenzando con un breve informe “Sobre los acontecimientos en Chile”, seguido por referencias a materiales informativos, eventos, etcétera; y al fin de la página, también los nombres y direcciones de los implicados. Después de la sopa de frijol, que durante meses se convirtió en un elemento fijo de la tarde de producción, pusimos manos a la obra y, al cabo de tres horas, todos los textos estaban escritos y cuidadosamente mecanografiados en siete matrices Ormig. La noticia del intento fallido de golpe de Estado el día anterior en Chile apenas pudo acomodarse. A la mañana siguiente, se hicieron 50 copias de cada matriz, se clasificaron, se metieron en sobres y se llevaron a correos. Además de los miembros del comité, se pidieron donativos a algunos amigos para sufragar los gastos de producción, que se recibieron rápida y abundantemente.

La noticia de la existencia de esta fuente de información se extendió rápidamente, y en el quinto número —dos meses más tarde— hubo que retirar 200 ejemplares de las matrices para satisfacer la demanda. Pero eso era lo máximo que las matrices podían producir en aquel momento.

El número de involucrados también aumentó con rapidez. Pronto acudieron a ayudar diez, quince, veinte personas interesadas. Se hizo necesaria una reunión adicional el jueves, que hasta ese entonces había sido el día “libre”, para preparar el siguiente número. Por supuesto, todos en nuestras filas estaban convencidos de que la protección constitucional estaba implicada; no obstante, los nombres de los implicados se imprimieron valientemente. Los participantes chilenos en el Festival Mundial de la Juventud en Berlín (Oriental) debían recibir algunos ejemplares del número 3, pero la Policía Popular del paso fronterizo de la calle Heinrich-Heine estuvo vigilante y confiscó el pequeño folleto informativo tras un largo control del contenido. En el viaje de vuelta, los ejemplares fueron devueltos, porque la Policía Popular tampoco los quería como regalo.

Un intento de organizar un evento informativo en Berlín Occidental con la gente de Chile del festival fracasó porque esto sólo habría sido posible en conjunto con la FDJW (la Juventud Alemana Libre de Berlín Occidental), que impuso como condición que en el evento no se hubiera espacio de discusión: “Mejor ningún evento que uno descontrolado”.

Cualquiera que lea hoy los textos de los cinco primeros números de CHILE-NACHRICHTEN comprobará que estos muestran con toda claridad la inevitabilidad de un golpe de Estado de la derecha en Chile. Esto no fue intencionado, al contrario. Al discutir y escribir, todo el mundo era más o menos optimista de que todavía se podía cambiar la marea. Parecía demasiado escandaloso que el mundo se atreviera a tolerar un golpe contra un Gobierno electo.

La conmoción fue aún mayor cuando el golpe se produjo finalmente el 11 de septiembre de 1973. Para CHILE NACHRICHTEN esto significó de inmediato un fuerte aumento de la demanda y el procesamiento de más noticias, informaciones, manifestaciones de solidaridad. Ahora había que imprimir bien. En noviembre, la tirada era ya de 6000 ejemplares, cuya producción no supuso ningún problema financiero gracias a las ricas donaciones. El número 10 se publicó con un alcance considerablemente mayor; un amigo inglés llamó desde Londres durante una reunión editorial posterior: “¡Están locos! ¡Sesenta páginas!”Muy pronto, a finales de 1973, quedó claro que el calendario de publicación quincenal no podía mantenerse. La pequeña revista, cada vez más densa y pronto ampliada con números especiales —inicialmente gratuitos— con fines de documentación, sólo podía publicarse mensualmente. El estudio, la enseñanza, la investigación, la actuación, en resumen: la vida normal no podía subordinarse por completo al trabajo en la revista.

El archivo

A medida que los apartamentos de los y las integrantes de la redacción se llenaban de documentos importantes que nadie quería desechar, surgió la necesidad de construir un archivo. Esto no habría sido posible sin el apoyo y la infraestructura de la Comunidad de Estudiantes Evangélicos de la Universidad Técnica de Berlín.  En torno al archivo se fundaría pronto como asociación sin fines de lucro el Centro de Investigación y Documentación Chile-Latinoamérica (FDCL), que fue ampliando sus actividades con el tiempo. Cuanto más clara se volvían las violaciones a derechos humanos de la junta militar, sobre el carácter criminal del régimen de Pinochet mismo, sobre la imprudente política económica de los Chicago Boys y sobre las relativamente buenas relaciones del régimen con importantes figuras de la política y economía de la República Federal de Alemania; las y los integrantes de la redacción reconocían el valor de su trabajo al servicio de la información y la solidaridad cada vez más.

Solidaridad creciente

Junto a las CHILE-NACHRICHTEN (¿o sobre ellas? ¿en torno a ellas?), surgió en Berlín Occidental, directamente después del golpe de Estado, el Chile-Komitee, desde donde se organizaron manifestaciones, protestas y acciones de apoyo para las personas refugiadas que llegaron a Berlín. No se olvida —pese a las duras negociaciones previas con los comunistas de Berlín occidental del Partido Socialista Unificado de Berlín Oeste (SEW)— la gran manifestación de 30 mil personas el 4 de noviembre de 1973. Tampoco se olvida cómo durante la Copa Mundial de Fútbol de 1974, durante el partido de Chile contra Alemania, una enorme bandera chilena ondeó en la cancha en el medio tiempo, con el mensaje “CHILE SÍ — JUNTA NO”. Desde luego, el Chile-Komitee también fue un espacio de arduos debates políticos, en los que las CHILE-NACHRICHTEN no solo recibieron elogios. Si bien los Jóvenes Socialistas, inicialmente muy involucrados, percibían a la revista con cierta generosidad paternal, los spontis consideraban a la redacción como poco radical y demandaban con frecuencia una mayor consideración de las corrientes revolucionarias en Chile, como el Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) —incluso cuando estas corrientes tenían poco o nada en común con los spontis. Para muchos miembros habría sido preferible que la revista se convirtiera formalmente en un órgano del Komitee pero, como ello habría implicado demasiado trabajo de control, la independencia de la redacción se mantuvo siempre. Fundamentalmente, la redacción estaba organizada de manera poco rígida y tan espontánea como el Komitee. La participación era absolutamente voluntaria y además anónima, puesto que nadie quería divulgar los nombres de miembros del equipo a la inteligencia chilena.

Conflictos ideológicos

Un miembro del Komitee abogaba incansablemente por agilizar el trabajo a partir de principios organizacionales claros. Sin embargo, este enviado oficial de la Liga contra el Imperialismo, una organización de fachada del Partido Comunista de Alemania (KPD) maoísta, no encontró simpatía hacia sus propuestas de elegir un consejo y establecer un secretariado. A los otros maoístas de la Liga Comunista de Alemania Occidental (KBW) se les ocurrió otra cosa. Enviaron a un camarada —le llamaremos Fritz— a la redacción de las CHILE-NACHRICHTEN, donde consiguió hacer amigos con diligencia y prudencia. Un día Fritz declaró que se ausentaría por tres semanas porque debía dedicarse a estudiar un documento. Tres semanas más tarde, trajo a otro camarada, y ambos asumieron la tarea de iluminar a la redacción en que las CHILE-NACHRICHTEN estaban objetivamente al servicio de la contrarrevolución, puesto que no seguían fielmente la línea de la República Popular China de apoyar al “tercer mundo” —incluido Pinochet— contra el imperialismo. Los dos enviados del KBW solicitaron sacar de la redacción a todo aquel que no quisiera seguir la línea correcta. Perdieron con dos votos contra 18, desaparecieron y no fueron vistos por un largo rato, hasta que Fritz —ya purgado hacía tiempo— apareció en un buen proyecto vecino del Mehringhof.

Caos constructivo

El trabajo de la redacción era algo descoordinado. Ya en aquel entonces, cada edición tenía una nueva coordinación. Sin embargo, por lo general, todo se mantenía abierto hasta el último minuto; por ello, ya en aquel tiempo, las noches de producción se extendían hasta altas horas de la madrugada.

Por un buen tiempo, lo más caótico fue la situación financiera. Tras el golpe de Estado en Chile, la revista recibió muchas suscripciones de individuos, grupos y librerías. Pero nadie tenía tiempo para ocuparse de las cuentas pendientes. La revista se encontraría pronto al borde de la ruina  —hasta que alguien tuvo la idea de llamar a las y los suscriptores a saldar sus deudas—. El excedente fue tal que la redacción decidió ofrecer una revista similar en idioma español a las personas refugiadas chilenas en Berlín Occidental para sus pares en Europa. Bajo el nombre “CHILE COMBATIENTE” y “SÍ, COMPAÑERO” se publicaron un par de ejemplares, hasta que conflictos partidarios dentro de los grupos de refugiados y refugiadas complicaron cada vez más el trabajo. El dinero tampoco habría alcanzado para mucho más.

A mediados de los setenta quedó claro que, si bien Chile representaba un caso especialmente flagrante de combinación de gobierno militar autoritario y políticas económicas ultraliberales, los demás países sudamericanos seguían cada vez más su ejemplo. En Uruguay, los militares habían asumido el poder casi simultáneamente. Brasil y Perú ya eran dictaduras militares.A más tardar con el golpe en Argentina en 1976 se hizo evidente que se trataba de  una tendencia generalizada que debía interesar a la redacción de las CHILE-NACHRICHTEN. Como resultado, se publicaban cada vez más artículos sobre los vecinos de Chile, hasta que eventualmente se encontraron ante la decisión de ampliar fundamentalmente tanto el contenido como el título de la revista. Como todos los cambios fundamentales en la historia de la publicación, la discusión al respecto fue intensa; pero con el número 51, y con el inicio del quinto año de publicación en el verano de 1977, el momento había llegado. A partir de ese momento, la revista se llamaría LATEINAMERIKA NACHRICHTEN; el nombre CHILE-NACHRICHTEN se mantuvo once años más como subtítulo y aparecía con un dejo de vergüenza en el Impressum, la declaración legal de autoría y propiedad. Las CHILE-NACHRICHTEN se volvieron parte de la historia. Ahora la redacción está conformada por jóvenes que no habían nacido cuando ya se había sepultado el nombre CHILE-NACHRICHTEN. Eso es digno de celebración.

50 Jahre Lateinamerika Nachrichten

„Amerika den Amerikanern“ formulierte der US-amerikanische Präsident James Monroe vor 200 Jahren und meinte doch nur „Lateinamerika den USA“. Der Aufstieg der USA zur neuen Hegemonialmacht in Lateinamerika vollzog sich in wenigen Jahrzehnten, schon Anfang des 20. Jahrhunderts war der Kontinent fest in den Händen der USA.
Auch die Gründung der Lateinamerika Nachrichten vor nunmehr 50 Jahren verdankt sich, zumindest indirekt, dieser Doktrin. Die Rolle der USA bei der wirtschaftlichen Destabilisierung der Unidad Popular-Regierung in Chile und beim Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende mag heute längst nicht mehr allen bekannt sein. Für die Aktiven des Komitees „Solidarität mit Chile“, die am 28. Juni 1973 die erste Ausgabe der Chile-Nachrichten (seit Nummer 51: Lateinamerika Nachrichten) produzierten, war der Kampf gegen den US-Imperialismus jedoch ein wichtiges Motiv für ihr politisches und journalistisches Engagement.
Der Diktator ging, die Lateinamerika Nachrichten blieben. Nur mäßig konnte uns zu unserem Silberjubiläum im Jahre 1998 der Abgang von Augusto Pinochet erfreuen: Den Oberbefehl über die chilenischen Streitkräfte tauschte er damals mit einem Senatorenposten auf Lebenszeit. Und auch sonst boten uns eher die Kontinuität der eigenen Arbeit, denn die Verhältnisse in Lateinamerika Anlaß zu Optimismus.
Das waren überhaupt komische Zeiten damals, als sich das Jahrtausend dem Ende zuneigte. Die Zauberworte Neoliberalismus und Globalisierung bestimmten die Regierungspolitik in fast allen Ländern des Kontinents. Fast: Wie ein gallisches Dorf trotzte nur Kuba den Römern, die damals in Washington residierten. Und als ob auch er als Kind in einen Zaubertrank gefallen wäre, zeigte sich Fidel Castro Jahrzehnt um Jahrzehnt unschlagbar: In der westlichen Hemisphäre hält er noch heute den Rekord für die längsten Ansprachen – unterbrechen ließ er sich meist nur, wenn auf der Zuckerinsel mal wieder der Strom abgestellt wurde. Vor Yankees hatte er nur auf dem Baseball-Platz Respekt, die Blockade konnte Kuba nicht in die Knie zwingen (für jüngere LeserInnen: die USA versuchten bis nach der Jahrtausendwende, Kuba durch Wirtschaftsblockade und politische Isolierung in die Knie zu zwingen – was sich ja bekanntlich erst änderte, als vor fünfzehn Jahren die kurz zuvor eingebürgerte Ex-Präsidentin Brasiliens, Benedita da Silva, ins Weiße Haus gewählt wurde).
Lange Zeit war Politik ja eine Angelegenheit korrupter Männer, die mit Militärs kungelten und Phantasie nur zeigten, wenn sie für ihre Wiederwahl mal wieder eine Verfassungsänderung durchsetzten – in Peru durfte damals nur noch zum Präsidenten gewählt werden, wer japanische Vorfahren, und in Argentinien, wer syrische Vorfahren hatte. Brasilien konnte nur regieren, wer Großgrundbesitzer war und ein Soziologie-Diplom sein eigen nannte.
Die Wende in Lateinamerika brachten bekanntlich die ZapatistInnen und die Landlosenbewegung MST. Der erste Präsident mit Skimütze in Mexiko und die Vergabe eines Landtitels an die letzte landlose Bäuerin in Brasilien – das waren bewegende Momente, die auch uns wieder optimistisch in die Zukunft blicken ließen.
Denn während unsere Freunde und Freundinnen in Lateinamerika die Verhältnisse zum Tanzen brachten, wurde es in Deutschland immer eisiger. Die Grünen stritten mal wieder, ob es der Bevölkerung zuzumuten sei, den Benzinpreis um drei Prozent zu erhöhen, während Joschka Fischer als Verteidigungsminister den Parteiausschluß von Jürgen Trittin verlangte, weil der sich noch immer weigerte, an den wöchentlichen öffentlichen Rekrutengelöbnissen vor dem Reichstag teilzunehmen.
Grund zur Freude hatten wir erst wieder, als Jamaica 2006 Fußballweltmeister wurde und Berti Vogts durchsetzte, daß Gras endlich auch in Deutschland legalisiert wird. Die Cannabis-Pflanze statt dem Bundesadler auf der Schwarz-Rot-Goldenen Flagge und „Keine Macht für niemand“ von den Scherben als Nationalhymne – das hat sich vor 25 Jahren niemand in der Redaktion zu träumen gewagt. Auch nach 50 Jahren Lateinamerika Nachrichten – wir machen weiter: „Get up, stand up for your rights“.

Alte Texte neu gelesen – dieses Editorial erschiet in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.

Nachtschwärmen mit Kaktus

Foto: Leo Calzoni

Der Bus ist gerade weg. Und der nächste kommt erst in acht Stunden. Es sieht also so aus, als ob Hugo diese Nacht an der Haltestelle verbringen müsste. Ganz schön langweilig, wenn die einzige Aussicht auf Gesellschaft dabei in einem Kaktus mit Namen Adolfo besteht, den er in einem Blumentopf mit sich herumschleppt. Nicht, dass das den stillen Einzelgänger groß stören würde. Aber die Alternative ist verlockend: Das Mädchen mit der Fliegermütze auf der anderen Straßenseite schnorrt nicht nur eine Zigarette von Hugo, sondern lädt ihn gleich auch noch auf eine Kostümparty ein. Nach kurzem Zögern lässt sich Hugo auf das Angebot der quirlig-durchgeknallten Momo ein und los geht es auf eine vergnügliche und turbulente Reise durch die Nacht.

Sofía Auzas stimmungsvoller Debütfilm funktioniert von der ersten Sekunde an prima. Das liegt in erster Linie an seinen Hauptdarsteller*innen: Zwischen Juan Daniel García Treviño als Hugo und der sehr überzeugenden Rocio de la Mañana als Momo stimmt die Chemie. Dabei wird zum Glück nicht übertrieben auf Teeniefilm-Klischees herumgeritten. Stattdessen hauen sich die beiden mit viel Wortwitz Dialoge um die Ohren, bei denen kein Auge trocken bleibt. Die schlagfertige Momo behält hier zwar meist die Oberhand, doch im Laufe des Films lernt auch Hugo immer besser, ihr ordentlich Kontra zu geben.

Die Geschichte des Films wird in knackigen 70 Minuten erzählt, von denen dafür keine einzige verschwendet ist. Dass Hugo mit Adolfo unterwegs ist, hat einen traurigen Hintergrund: Den Kaktus hat ihm sein kürzlich verstorbener Vater hinterlassen und er ist auf dem Weg zu seiner Beerdigung. Seine Mission: Einen Platz finden, an dem es Adolfo gut ergehen wird. Das entpuppt sich aber als gar nicht so einfach, wie es klingt und die Suche wird durch einige Zwischenfälle unterbrochen. Denn Momo hat ein Geheimnis und keine Skrupel, den gutmütigen Hugo zur Ausführung ihrer Pläne einzuspannen. Wobei auch sie seine Hilfe noch mehr benötigt, als es zunächst den Anschein hat.

Sofía Auza ist mit Adolfo eine erfrischende Komödie gelungen, die mit authentischen Charakteren und einigen echten Lachern überzeugt. Die Inszenierung ist in sich stimmig, fast märchenhaft leuchten die Schauplätze und die Gesichter der Protagonist*innen in der Nacht. Dazu passt, dass der Film in keiner erkennbaren Stadt spielt. Nur Mexiko ist als Land durch Sprache und kulturelle Items wie Tacos vorgegeben. Adolfo ist ein gelungener Film für Jugendliche, weil er einen originellen und glaubwürdigen Ton findet, ohne abgedroschene Plattitüden zu benutzen. Kein Wunder, dass sich davon auch die Jury der Berlinale überzeugen ließ: Sie verlieh Adolfo den Gläsernen Bären für den besten Jugendfilm in der Sektion Generation 14plus.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Die Suche nach dem Glück

© I Love You Chingos LLC

„The last one is a Republican!“ Dieser simple Spruch beim Wettrennen zwischen den Freund*innen Silvia Del Carmen Castaños und Estefanía „Beba“ Contreras, zugleich Regisseur*innen und Protagonist*innen des preisgekrönten Dokumentarfilms Hummingbirds, entspricht der lakonischen Stimmung, die ihn trägt. Es ist Sommer in Laredo, Texas, wo die mexikanische Grenze in Sichtweite ist. In wackeligen Handkamerabildern, die große Nähe erzeugen, wird das Leben der Freund*innen zwischen Bowling, Bingo und Border gezeigt. Beiläufig und doch unmittelbar beschäftigen sich die beiden mit schweren Themen, die ihre Lebensrealität bestimmen. Estefanías unsicherer Aufenthaltsstatus (sie hat keine gültigen Papiere), die drohende Abschiebung und die eigene Migrationsgeschichte, die beide seit Kindesbeinen bzw. noch im Mutterleib erlebt haben, bilden ein zentrales Thema dieser Doku. Wer den Grenzraum Mexiko-USA kennt, weiß, wie sehr der Austausch beider Welten dort den Alltag bestimmt. Die Doku zeigt die Lebenswelt der Chicano-Community, der aus Mexiko oder anderen Ländern Mittelamerikas stammenden Bewohner*innen der Borderlands zwischen USA und Mexiko. Dort sind auch  Silvia und Estefanía aufgewachsen und verwurzelt. Ihre Sprache ist Spanglish (US-amerikanisches Englisch durchsetzt mit spanischen Halbsätzen), der örtliche Wal-Mart akzeptiert mexikanische Pesos und an jeder Ecke werden Tacos oder Tamales verkauft.

In diesem Setting im geografischen Niemandsland, sehen wir Silvia, Estefanía und ihren Freund*innen einen Sommer lang zu. Wir sehen ihre jugendliche Lebensfreude, das Kichern Pubertierender, aber auch ihren entschlossenen Aktivismus. Sie kämpfen für die Legalisierung von Abtreibung und sind auf der Suche nach einer eigenen Identität ohne binäre Genderzuschreibungen und tradierten Rollenbildern. Das Gestern ist passé, die Zukunft hat noch nicht angefangen. Die Protagonist*innen befinden sich in der Schwebe zwischen Unbeschwertheit, Melancholie und dem Streben nach Glück.

Zurecht gewann Hummingbirds den mit 7.500 Euro dotierten Großen Preisder Jury in der Sektion Generation 14plus. In der Begründung der Jury heißt es: „Für einen berührenden und subtilen Blick in intime Momente eindrücklicher Charaktere, die mit ihrer Freundschaft wachsen […] Ihre Aktionen, Jokes, Lieder, ihr Lachen und ihre Körper sind politisch – und ein notwendiger Weg des Widerstandes.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

EINKASSIERT

Für die venezolanische Regierung ist der Fall heikel: Seit seiner Auslieferung aus Kap Verde am 16. Oktober befindet sich der in Kolumbien geborene Unternehmer Alex Saab in Miami in Haft. Ihm drohen 20 Jahre Gefängnis wegen Geldwäsche. Sieben weitere Anklagepunkte wurden aufgrund von Zusicherungen an Kap Verde Anfang November fallen gelassen.

Am Tag nach Saabs Auslieferung bezeichnete der venezolanische Präsident Nicolás Maduro ihn als „unschuldig“ und größten Unterstützer der venezolanischen Bevölkerung: „Als die Verfolgung gegen Venezuela brutal zunahm, brachte er als Sonderbotschafter Lebensmittel für eure Haushalte. Das Benzin, das in dieser harten Zeit zu uns kam, die Medikamente, wurden von Alex Saab aus der ganzen Welt mitgebracht.“

Von einer seiner Geschäftsreisen, die Saab im Juni 2020 im Auftrag der venezolanischen Regierung durchführte, kehrte er nicht zurück. Am 12. Juni wurde der Geschäftsmann während eines Zwischenstopps auf dem Weg nach Teheran in Kap Verde inhaftiert. Aus Sicht der venezolanischen Regierung und ihrer Unterstützer*innen habe sich Kap Verde dem Druck der US-Regierung gebeugt und Saabs Diplomatenpass und die damit einhergehende Immunität ignoriert.
Saabs Geschäfte mit der venezolanischen Regierung begannen im Jahr 2011 im Rahmen des großen Sozialwohnungsbauprogramms unter der Regierung von Hugo Chávez. Saab verkaufte als Immobilienunternehmer Wohnungen an die Regierung. Laut der Rechercheplattform Armando.Info erhielt er dafür 159 Millionen US-Dollar – baute angeblich jedoch nur im Wert von drei Millionen US-Dollar Immobilien. Mit der Zeit weiteten sich seine Geschäfte auf den Lebensmittel- und Medikamentenhandel bis hin zum Bergbausektor aus.

Über Briefkastenfirmen soll Saab Lebensmittelimporte organisiert haben

Seit 2014 leidet Venezuela unter einer extrem hohen Inflation von zwischenzeitlich selbst laut offiziellen Zahlen bis zu 130.000 Prozent. Zwischen 2016 und 2018 bestand zudem ein akuter Mangel an Lebensmitteln und anderen grundlegenden Produkten. US-Sanktionen und eine ineffiziente Verwaltung durch die Regierung verschlimmerten die Lage im Land. Seit Jahren versucht die US-Regierung durch gezielte Unterstützung oppositioneller Kräfte, wie zuletzt des selbsternannten Präsidenten Juan Guaidó, sowie durch Verhängung von Sanktionen die venezolanische Regierung zu destabilisieren. Diese Politik war bisher nicht von Erfolg gekrönt. Im Gegenteil; die venezolanische Regierung hat sich zuletzt stabilisiert. Doch die im Land verbliebene Bevölkerung treffen die Sanktionen hart. Mittlerweile werden Produkte hauptsächlich über Privatunternehmen importiert – und für horrende Preise verkauft.

Die Sanktionen begannen im März 2015 unter US-Präsident Obama und richteten sich zunächst gegen Einzelpersonen. Vor allem ab 2017 unter Donald Trump wurden die Sanktionen stark ausgeweitet und schnitten Venezuela zunächst von den Kreditmärkten und ab 2019 weitgehend von den Einnahmen aus dem Erdölhandel ab. Internationale Banken froren die Staatsgelder ein und erlaubten selbst dann keine Transaktionen, wenn es sich um den Import von Medikamenten und Lebensmitteln handelte.

Alex Saab und seine Geschäftspartner*innen erhielten daraufhin verstärkt Aufträge von der Regierung zum Privatimport dieser Güter. Mittels Briefkastenfirmen soll Saab in den vergangenen Jahren auf Umwegen Produkte aus Mexiko, der Türkei sowie dem Iran für die venezolanischen Produktions- und Versorgungskomitees (Clap) importiert haben, die regelmäßig Lebensmittelkisten an die Bevölkerung verteilen. Saab und sein Partner, der Kolumbianer Álvaro Pulido Vargas, entwickelten infolgedessen zwischen 2016 und 2018 eine Struktur von Briefkastenfirmen und Scheinunternehmen in Hongkong, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Nachdem sie von dem staatlichen Unternehmen Corpovex Millionenverträge erhalten hatten, hätten die beiden von mexikanischen Lieferanten große Mengen von Produkten sehr geringer Nährwertqualität angekauft, die sie dann nach Venezuela geschickt hätten, berichtet die spanische Tageszeitung El Pais. Wie genau Saab und seine Kontakte bei diesen Aufträgen vorgingen und welche internationalen Akteur*innen sie dabei unterstützen, will die US-Regierung nun herausfinden.

Dialog liegt vorerst auf Eis

Kurz vor den Regional- und Kommunalwahlen am 21. November bringt noch ein weiteres Auslieferungsgesuch die venezolanische Regierung in Bedrängnis. In Madrid war im September Hugo Carvajal, Ex-Geheimdienst-Chef unter Maduros Vorgänger im Amt, Hugo Chávez, zum zweiten Mal festgenommen worden. Gegen ihn läuft ein Gerichtsverfahren im Bundesstaat New York, wo ihm unter anderem Drogenhandel, Geldwäsche und Zusammenarbeit mit der FARC-Guerilla zur Last gelegt wird. Die USA fordern seine Auslieferung. Während Carvajal 2019 mit Maduro brach und offen den selbsternannten Übergangspräsidenten Juan Guaidó unterstützte, nahm Saab während Maduros Präsidentschaft eine immer wichtigere Funktion ein.

Sowohl Saab als auch Carvajal werden als mögliche Informanten der US-Regierung gegen Präsident Maduro gesehen. Besonders Saabs Wissen über die Abwicklung der Geldgeschäfte der Regierung, Handelspartner*innen und kooperierenden Banken sind für die USA von besonderem Interesse. Auch Carvajal soll über wichtige Informationen über hochrangige venezolanische Politiker*innen und Militärs verfügen, die die Regierung weiterhin unterstützen. Im Gegensatz zu Saab, der angekündigt hat, nicht aussagen zu wollen, hat Carvajal bereits gegenüber spanischen Medien und vor einem spanischen Gericht über mutmaßliche Zahlungen der venezolanischen Regierung an zwei Mitgründer*innen der linken spanischen Partei Podemos, Juan Carlos Monedero und Carolina Bescansa, gesprochen. Zwar wurde die Auslieferung Carvajals am 25. Oktober zunächst ausgesetzt. Es wird jedoch erwartet, dass sie schon bald erfolgen wird.
Der venezolanische Soziologe und Politologe Ociel Alí López bezweifelt ein Interesse der US-Regierung an der Korruptionsbekämpfung. Wenn die US-Regierung wirklich an Korruption und Geldwäsche interessiert sei, so López auf der Internetplattform Venezuelanalysis.com, müssten sie auch chilenische und ecuadorianische Präsidenten verklagen. Die Verhaftung von Saab habe dagegen andere Motive. In ähnlicher Weise beschrieb die US-Zeitschrift Forbes Saab Anfang Oktober als „den Schlüssel, zum Geheimnis der venezolanischen Geldpolitik.“

Ganz konkrete Folgen hat die Auslieferung Saabs für den unter Vermittlung Norwegens stattfindenden Dialog zwischen venezolanischer Regierung und Opposition. Den in Mexiko laufenden Gesprächen bleibt die Regierungsdelegation aus Protest gegen das US-Vorgehen vorerst fern.
Die Art und Weise, in der die US-Regierung die Auslieferungen durchsetzt, verdeutlicht abermals, dass sie nicht an einer politischen Lösung in Venezuela interessiert ist, die sie nicht selbst kontrollieren kann. Indem sie die internationale Isolation vorantreibt, stärkt die Biden-Regierung die venezolanische Regierung letztlich sogar. Wie Ociel Alí López schreibt, haben Maduro und sein Team aufgrund der weltweiten Verfolgung „keine andere Wahl, als an der Macht zu bleiben.”

// UNSICHERHEIT VON OBEN BIS UNTEN

Sicherheit ist in Haiti trügerisch. „Ich bedanke mich beim Chef der Sicherheitseinheit des Nationalpalastes. Das Ziel dieser Leute war ein Attentat auf mein Leben. Dieser Plan wurde vereitelt.“ Allzu viele nahmen dem haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse am 7. Februar 2021 diese Geschichte nicht ab, auch wenn 23 potenzielle Attentäter präsentiert wurden. Ein neuer Trick zum Machterhalt, um sich ein weiteres Jahr Präsidentschaft zu sichern, vermuteten viele.

Am 7. Juli 2021 hatte Moïse weder Grund noch Zeit, um seinem Sicherheitschef Dimitri Herard zu danken. Angeblich sieben bewaffnete kolumbianische Söldner stürmten die Residenz des Präsidenten, das Sicherheitspersonal schaute zu. „Operation der DEA, alle runter!“ Dass sich Herard und seine Sicherheitskräfte allein davon zur Untätigkeit bewegen ließen, ist kurios. Ein paar der Söldner informierten nun die haitianischen Ermittler darüber, ihnen sei gesagt worden, es gehe darum, Moïse festzunehmen und der US-Anti-Drogenbehörde DEA zu übergeben.

Fest steht: Haiti erlebt unsichere Zeiten. Seit Juni wurden laut UN allein in der Hauptstadt Port-au-Prince 15.500 Menschen wegen Bandenkriegen zur Flucht gezwungen. Ebenfalls steht fest: Der 53 Jahre alte Staatschef ist in der Nacht zum 7. Juli in seiner Residenz überfallen und erschossen worden. Seine Ehefrau wurde schwer verletzt. Insgesamt waren laut Polizeiangaben 26 kolumbianische Söldner und zwei US-Amerikaner haitianischer Herkunft an der Mord-Operation beteiligt. Die DEA weist jede Verantwortung von sich, keiner habe in ihrem Auftrag gehandelt.

Der Anschlag gegen den umstrittene Moïse, der gerade einmal von 600.000 der 11 Millionen Haitianer*innen gewählt wurde, ist der neueste Ausdruck der Privatisierung der Sicherheit. Gegen seinen Sicherheitschef Herard, seinerseits Eigentümer einer privaten Sicherheitsfirma, ermittelten US-Behörden bereits wegen Waffenschmuggels in den USA und Haiti. Inzwischen ist er auch im Zusammenhang mit der Ermordung von Präsident Moïse festgenommen worden. Seit dem Erdbeben 2010 wurde Haitis Sicherheit weitgehend privatisiert. Ein Staat im Staate, ein Sicherheitskomplex mit beträchtlichen Mitteln. Privatarmeen spielen darin eine so große Rolle, dass sie offenbar auch einen Präsidenten töten können.

Seit dem 7. Juli hat Haiti nun zwei Ministerpräsidenten. Der Interims-Premierminister und Außenminister Claude Joseph wurde anfangs von der internationalen Gemeinschaft als Regierungschef stillschweigend akzeptiert, obwohl Moïse kurz vor seinem Tod mit Ariel Henry schon einen Nachfolger für Joseph ausgerufen hatte, dem die Vereidigung noch bevorstand. Auch er will an die Schalthebel der Macht. Die Core Group ermutigte inzwischen nachdrücklich den Ex-Innenminister Henry, eine „konsensuelle und inklusive“ Regierung zu bilden.

Joseph hat bisher Polizei und Militär hinter sich. 2004 war er in die Absetzung des gewählten Präsidenten Jean-Baptiste Aristide involviert. Federführend waren damals die Ex-Kolonialmacht Frankreich und die Hegemonialmacht USA. Der kolumbianische Rundfunksender Caracol hat Joseph mit Berufung auf die Ermittelnden als Hauptverdächtigen ausgemacht, was Haitis Interims-Polizeichef Léon Charles brüsk zurückwies.

Für Sicherheit sollte seit 2004 theoretisch auch die UN-Mission Minus­tah sorgen. Ihr Hauptfokus: die Straßengangs in den Armenvierteln. Die Bewohner*innen der Viertel gelten als Unsicherheitsfaktor, Teilhabe an der Gesellschaft ist für sie nicht vorgesehen.

Was Haiti weiterhin fehlt sind Sicherheit und Perspektiven. 80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft. Die sogenannte Core Group, in der unter anderem die UN, die USA, Kanada, Frankreich und auch Deutschland vertreten sind, unterstützt die Forderungen der Zivilgesellschaft nicht. Und das, obwohl diese Forderungen mehr als legitim sind: Zugang zu öffentlichen Gütern, freie Wahlen, Sicherheit. Die Haitianer*innen fragen sich, warum ihnen das verwehrt bleibt. Diese Antwort bleibt Ihnen die Core Group weiterhin schuldig.

Trotzdem fliegen

Fotoquelle: © Cine Candela

Ashley Mistral schlendert mit ihrem Hund die Straße entlang, lässt ihn durch einen Zaun an ein paar kläffenden Chihuahuas schnuppern und geht weiter. Die Kamera folgt ihr – immer auf Augenhöhe – während die Teenagerin aus dem Off zu erzählen beginnt. „Auf der Straße“, sagt sie, „musst du praktizieren, was du predigst. Aber gleichzeitig kannst du das Predigen auch nutzen, um anderen zu helfen, ein besseres Leben zu haben. Abseits von dem, was hier abgeht.“

In Dirty Feathers begleitet Carlos Alfonso Corral eine Community von Wohnungslosen im texanischen El Paso zwischen einer überfüllten Unterkunft und den Straßen der Grenzstadt. Während die einen im sogenannten Opportunity Center ausharren, Domino spielen und auf medizinische Hilfsangebote bauen, meiden andere diesen Ort lieber. Alle können sie ungefiltert ihre Geschichten erzählen. Da ist als erste Ashley. Ihre heisere, aber feste, fast prophetische Stimme setzt den Grundton der Dokumentation, fast als sei sie deren Gewissen. Die Handlung entwickelt sich entlang des Alltags von Reagan und Brandon Ashford. Das Pärchen lebt abseits des Opportunity Centers und erwartet trotz des schweren Alltags zusammen ein Kind. Dann sind da zwei Kumpel, die versuchen, sich gegenseitig ihre psychischen Leiden und erinnerungsträchtigen Tattoos zu erklären. „Was macht uns zu Wohnungslosen?“, fragen sie sich, „Sind es wirklich die Drogen und der Alkohol?“ Und auf einer abgewetzten Couch unter einer Brücke erzählt ein Navy-Veteran von seinen lang vergangenen Tagen im Einsatz für ein Land, das sich für ihn nicht mehr einsetzt.

Corrals Langfilmdebüt zeigt seine dokumentarische Einfühlsamkeit in der Auseinandersetzung mit dem Leben in seiner Heimat, den Schwesterstädten Ciudad Juarez und El Paso an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze. Corral kam über fotografische Arbeiten und seine Zeit als Filmvorführer und Barista in einem kleinen Arthouse-Kino in El Paso zum Film. Mit Dirty Feathers ist ihm ein respektvolles Porträt gelungen, in dem die Kooperation zwischen Regisseur und Protagonist*innen sichtbar wird: Er lässt sie aussprechen. So wird im Film – oder vielmehr durch den Film – deutlich, wie die Kontrolle über das eigene Leben für die Protagonist*innen vor allem bedeutet, die Kontrolle über ihre eigenen Narrative zurückzugewinnen. Sich die eigene Würde zu erhalten, die ihnen von der Gesellschaft konsequent aberkannt wird, ist für die Wohnungslosen gleichzeitig Wunsch und Wagnis.

Fotoquelle: © Cine Candela

Durch den agilen Einsatz der Handkamera, gelingt es Corral, eine eindringliche, fast intime Nähe zu den Protagonist*innen zu erzeugen. Ihre Gesichter und Körper füllen ununterbrochen den Bildschirm aus. Die filmische Umsetzung verdeutlicht, wie die Dokumentation aus dem affektiven Dazwischen zwischen den Menschen auf der Straße heraus entstand, aber subtil auch einen affektiven Anspruch an das Publikum stellt.

Dirty Feathers ist kein abgehobener Rundflug über der Grenzstadt und ihren Problemen. Die Doku liefert keine kontextuellen Erklärungsversuche für die prekäre Situation der Protagonist*innen. Sondern sie ist so bodenständig und sinnlich, wie die Nahaufnahme von Reagan und Brandon, die freudig die Fußtritte ihres ungeborenen Kindes erfühlen. Die zukunftsweisenden Perspektiven erhält der Film durch die Aufrichtigkeit, mit der Ashley, Reagan, Brandon und ihre Community ihre Ängste, ihren Glauben und ihre Träume in Worte fassen.

// NUR DAS KLEINERE ÜBEL

Am 6. April machten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel dem autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Ankara ihre Aufwartung. Dabei fand von der Leyen zwar kritische Worte, etwa zur kürzlich seitens der Türkei erfolgten Aufkündigung der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt oder zum Allgemeinplatz der Achtung von Menschenrechten und internationalem Recht. Doch an dem milliardenschweren Deal von 2016, mit dem sich die EU in der Türkei eine vorgelagerte Außengrenze erkauft hat, wird nicht gerüttelt. So wird Millionen von Schutzsuchenden effektiv die Asylsuche in der EU verwehrt.

Nicht nur in Europa ist das Outsourcing der Drecksarbeit die gängige Praxis. Auch die USA hatten 2019 unter Donald Trump mit den Regierungen von El Salvador, Guatemala und Honduras Abkommen zur Verhinderung von Migration geschlossen. Die Länder wurden de facto zu sicheren Drittstaaten erklärt, sodass alle Migrant*innen, die in die USA einreisen wollen, in diesen Staaten Asyl beantragen müssen. Trumps Nachfolger Joe Biden hat diese Migrationsverträge dieses Jahr wieder gekippt. Er steht zwar für eine weniger restriktive Politik als Trump, für eine offene Einwanderungspolitik steht er freilich nicht. Biden hat angekündigt, den Regierungen in Mittelamerika zu helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen und diese auch finanziell zu unterstützen. Wie er das gemeinsam mit den Autokraten in El Salvador, Guatemala und Honduras erreichen will, bleibt aber sein Geheimnis.

Biden hat Vizepräsidentin Kamala Harris mit der Migrationspolitik betraut und mit Ricardo Zúñiga Anfang April einen Sondergesandten ins „nördliche Dreieck“ geschickt. Zúñiga führte Gespräche mit Vertreter*innen aus Staat und Zivilgesellschaft in Guatemala und El Salvador, ein Treffen mit dem autoritären Präsidenten Nayib Bukele kam nicht zustande. Honduras wurde gänzlich ausgespart, vielleicht aufgrund der vermuteten Verstrickung des Präsidenten Juan Orlando Hernández in den Drogenhandel. Diese Distanz ist ein Unterschied zum Vorgänger Trump, verstand dieser sich doch bestens mit Bukele und Hernández und machte sich keine Mühe, zivilgesellschaftliche Organisationen oder Anti-Korruptionsinstitutionen in der Region zu fördern.

Allerdings ist Biden kein unbeschriebenes Blatt. Grundsätzlicher Wandel ist von dem ehemaligen Vizepräsidenten von Barack Obama nicht zu erwarten – weder beim Thema Migrationspolitik noch bei den Freihandelsabkommen USMCA (NAFTA-Nachfolger) und DR-CAFTA. So verwundert weder sein an die Migrant*innen gerichteter Appell, sich gar nicht erst auf den Weg zu machen, noch die nun unlängst bekannt gewordenen Pläne zum teilweisen Weiterbau von Trumps Grenzmauer ­– trotz gegenteiliger Wahlversprechen. Von den 172.000 Schutzsuchenden, die im März die US-Grenze erreichten, wurden 104.000 auf Basis einer unter Trump – offiziell zum Schutz vor der Ausbreitung der Covid-19-Pandemie – erlassenen Order nach Mexiko abgeschoben.

Bereits als Vizepräsident versuchte Biden im Rahmen der „Allianz für Wohlstand“ Fluchtursachen in Zentralamerika zu beseitigen. Erfolglos. Die Menschen machten sich weiterhin auf den Weg. Die Maßnahmen, mit denen jetzt sichergestellt werden soll, dass die Hilfen für Zentralamerika zielgerichtet ankommen, gehören in den Kanon der „guten Regierungsführung“. Damit haben die USA schon in den vergangenen 60 Jahren mit überschaubarem Erfolg operiert. An die strukturellen Fluchtursachen wird er seine Hand so wenig legen wie seine Vorgänger: Eine unfaire Welthandelsordnung und der Klimawandel, die in Mittelamerika Einkommensperspektiven zerstören, autoritäre Strukturen und die organisierte Kriminalität, die Gewalt fördern. Wenn es in Mittelamerika an einem nicht mangelt, sind es Fluchtursachen.

 

SCHWACHE REGIERUNG, SCHWÄCHERE OPPOSITION

Zwei Jahre lang hatte der ehemalige US-Präsident Donald Trump versucht, Juan Guaidó als Staatschef in Venezuela zu installieren. Doch während der venezolanische Präsident Nicolás Maduro weiterhin fest im Sattel sitzt, schied Trump am 20. Januar aus dem Amt. Der Regierungswechsel in den USA wirft auch Fragen zur Zukunft Guaidós auf. Dieser hatte sich im Januar 2019 mit Rückendeckung der USA zum Interimspräsidenten erklärt. Es folgte die Anerkennung durch mehr als 50 Staaten, ohne dass Guaidó innerhalb Venezuelas jemals präsidiale Machtbefugnisse ausgeübt hätte. Den vermeintlichen Anspruch auf die Interimspräsidentschaft leiteten die US-Regierung und die rechte venezolanische Opposition verfassungsrechtlich fragwürdig vom Parlamentsvorsitz ab. Doch seit Anfang dieses Jahres ist Guaidó nicht einmal mehr einfacher Abgeordneter. Sein Boykott der Parlamentswahl vom 6. Dezember sorgte dafür, dass die Regierungsgegner*innen die letzte von ihnen zumindest auf dem Papier kontrollierte Institution eingebüßt haben.

Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung von 31 Prozent hatte das Bündnis der regierenden Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) 69 Prozent der Stimmen geholt. Aufgrund des partiellen Mehrheitswahlrechts fallen ihr sogar mehr als 90 Prozent der Sitze zu. Moderat-rechte Parteien, die sich in den Augen vieler Oppositioneller von der Regierung haben kaufen lassen, konnten nur wenige Mandate erzielen. Guaidó versuchte mit einer selbst organisierten „Volksbefragung“ zu kontern, bei der laut Oppositionsangaben innerhalb und außerhalb Venezuelas knapp 6,5 Millionen Personen für Maduros Abgang und freie Wahlen mit internationaler Unterstützung votierten. Dies wären ein paar hunderttausend mehr, als sich an der Parlamentswahl beteiligt haben. Doch selbst wenn die Zahl stimmen sollte, ist es unwahrscheinlich, dass Guaidó noch einmal als ernsthafter Widersacher von Maduro zurückkommt. 

Das Kapitel Guaidó ist gescheitert

Denn auch innerhalb der rechten Opposition ist er nach mehreren dilettantischen Umsturzversuchen und Korruptionsvorwürfen gegen sein Umfeld umstritten. Hardliner*innen wie María Corina Machado drängen schon seit längerem auf eine US-Militärintervention, während sich der zweimalige Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles für die Teilnahme an Wahlen ausspricht. In einem Interview mit der britischen BBC ließ er kurz nach der Parlamentswahl keinen Zweifel daran, dass er das Kapitel Guaidó für gescheitert hält: „Ich habe nichts gegen Guaidó persönlich, aber das hier ist zu Ende.“ Die neue US-Regierung solle sich für faire Wahlbedingungen einsetzen, so Capriles weiter.

Guaidó will erreichen, dass die alte Nationalversammlung mit ihm an der Spitze international weiterhin als legitim betrachtet wird. Anfang Januar hatten er und eine Reihe weiterer Abgeordneter ihr Mandat eigenmächtig verlängert. Zwar erkennen weder die USA noch die EU oder die rechts regierten lateinamerikanischen Länder die Parlamentswahl an. Doch vermied es die EU in einem Statement nach der Wahl, Guaidó wie zuvor noch als Interimspräsidenten zu bezeichnen. Der neue US-Außenminister Antony Blinken bekräftigte bei einer Anhörung vor dem Senat am 19. Januar hingegen, dass die USA weiterhin an Guaidó als Interimspräsidenten festhielten. Vom neuen US-Präsidenten Joe Biden erhoffen sich viele Beobachter*innen zumindest, dass er die Sanktionen gegen Venezuela lockert und sich direkte Gesprächskanäle zwischen Washington und Caracas öffnen.

Wenngleich viele Chavist*innen betonten, dass das EU-Land Rumänien auch ohne Boykott keine höhere Wahlbeteiligung aufweise, gibt es an der Parlamentswahl in Venezuela durchaus berechtigte Kritik. Im Vorfeld hatte das regierungsnah besetzte Oberste Gericht (TSJ) etwa intransparent die Führung mehrerer rechter wie linker Parteien gegen moderate und regierungsnahe Politiker*innen ausgetauscht. Somit traten mehrere große Oppositionsparteien aus dem Guaidó-Lager sowie kleinere linke Parteien lediglich als Abspaltung einer Minderheit an, verwendeten dafür aber die altbekannten Namen und Symbole. Von den Eingriffen waren auch Mitglieder des alternativen linken Wahlbündnisses Revolutionär-Populare Alternative (APR) um die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) betroffen. Die APR-Kandidat*innen sammelten sich daraufhin allesamt auf der Liste der PCV, die als einzige Partei des Linksbündnisses auf den Wahlzetteln stand. Bei mehreren öffentlichen Debatten im privaten wie staatlichen Fernsehen waren zwar Kandidat*innen der rechten Opposition, nicht aber der neuen linken Alternative eingeladen. PCV-Kandidat Pedro Eusse erklärte in einem Radiointerview kurz vor der Wahl, einen derartigen Ausschluss aus den Medien habe die Kommunistische Partei zuletzt „in den 1970er Jahren“ erlebt. Am Ende holte die PCV lediglich 2,7 Prozent der Stimmen und stellt mit ihrem Generalsekretär Oscar Figuera im neuen Parlament nur einen Abgeordneten.

Diskrete Privatisierungen von Staatsunternehmen gehen weiter

Zwar kontrolliert die venezolanische Regierung nun offiziell alle politischen Gewalten im Land. De facto ändert sich aber nicht viel, denn die bislang oppositionell dominierte Nationalversammlung war in den letzten Jahren ohnehin juristisch kaltgestellt. Die seit August 2017 als Parallelparlament fungierende Verfassunggebende Versammlung beendete im Dezember ihre Arbeit, ohne auch nur über einen Verfassungsentwurf debattiert zu haben. In den Augen der regierenden Chavist*innen kommt dies einer Re-institutionalisierung gleich. Doch in breiten Teilen der Bevölkerung und auf internationaler Ebene genießen weder Maduro noch das neue Parlament Legitimität. Zudem verfügt die Regierung nicht über ausreichend politische und finanzielle Mittel, um die Dauerkrise im Land zu beenden. Beobachter*innen rechnen daher in den kommenden Jahren mit weiteren Privatisierungen von Staatsunternehmen. Diese führt die Regierung bereits hin und wieder diskret durch, um ihren sozialistischen Diskurs nicht zu untergraben. Nutznießer sind dabei meist regierungsnahe Geschäftsleute oder Kapital aus „befreundeten“ Ländern wie China, Russland, Iran oder der Türkei. 

Venezuelas Regierung hofft auf Ende der US-Sanktionen“

Dass die Parlamentswahl die Krise nicht lösen kann, ist offensichtlich. Nötig wäre ein breiter gesellschaftlicher Dialog, der sowohl rechte wie auch linke Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Gruppen mit einbeziehen müsste. Aufgrund der verhärteten Positionen scheint dies kurzfristig jedoch unrealistisch. Der neue chavistische Parlamentspräsident, Jorge Rodríguez, kündigte in seiner Antrittsrede am 5. Januar zwar eine große Dialoginitiative mit allen Sektoren an. Gleichzeitig sagte er aber, es gebe „Verbrechen, die geahndet werden müssen“. Damit eröffnete Rodríguez diskursiv sowohl die Möglichkeit für Verhandlungen als auch eine strafrechtliche Verfolgung der Ex-Abgeordneten um Juan Guaidó, die im chavistischen Lager teilweise offensiv eingefordert wird. Am Ende könnte es also doch darauf ankommen, ob die neue US-Regierung mehr Interesse an Verhandlungen oder einer weiteren Eskalation hat. Denn für die Regierung Maduro ist die Aufhebung der US-Sanktionen das wichtigste Thema bei möglichen Gesprächen. Und dies liegt nicht im Ermessen der venezolanischen Opposition.

AUSSENPOLITISCHE ISOLATION


Maria Luísa Mendonça ist Geografin und hat an der Universität von São Paulo (USP) promoviert. Sie ist Ko-Direktorin des Netzwerks für Soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte (Rede Social de Justiça e Direitos Humanos), das seit 2000 jährlich einen Bericht zur Menschenrechtslage in Brasilien veröffentlicht (www.social.org.br). Zur Zeit lebt sie in den USA und forscht am Center for Place, Culture and Politics, CUNY Graduate Center. Zuletzt erschien von ihr Economia Política do Agronegócio / Political Economy of Agribusiness (Annablume, Sāo Paulo, 2018). In den USA vernetzt sie verschiedene internationale Kampagnen zu Brasilien, unter anderem mit FIAN International, zu Investitionen US-amerikanischer und deutscher Pensionsfonds in die Landspekulation in Brasilien. (Foto: privat)


Präsident Bolsonaro gilt international als einer der engsten Verbündeten von Donald Trump. Was bedeutet die Abwahl des US-Präsidenten für Bolsonaro? Wird er eine wichtige Säule seiner Macht verlieren?
Ja, ich denke schon. Denn Bolsonaro ist bereits international isoliert. Er vertritt eine Außenpolitik, die sehr an der Politik der USA ausgerichtet ist. Er hat während der Wahlkampagne von Trump zu dessen Gunsten Kommentare gemacht. Das ist eigentlich undenkbar in der brasilianischen Außenpolitik. Brasilien hat eine diplomatische Tradition der „Nichteinmischung” und setzt auf Multilateralismus. Bolsonaro hat dies radikal verändert und ich denke, mit einem Präsidenten Biden wird er noch isolierter sein.

Was erwarten Sie von der neuen US-ameri­kanischen Regierung?
Wir hoffen sehr, dass Joe Biden eine Haltung einnimmt, die den Kampf der sozialen Bewegungen unterstützt, zum Beispiel im Umweltschutz. APIB, die Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens, fordert einen Boykott der vier landwirtschaftlichen Rohstoffe Soja, Eukalyptus, Fleisch und Zuckerrohr, die den Ökosystemen am meisten schaden. Hier können die USA, ebenso wie die EU, Einfluss ausüben. Denn die einzige Möglichkeit, der brasilianischen Regierung Schranken zu setzen, ist irgendeine Form von internationalen Sanktionen. Dass die Verhandlungen der EU mit Brasilien über die Freihandelszone Mercosur bereits gestoppt wurden, finde ich positiv. Denn die Freihandelszone nutzt nur der Agroindustrie, nicht der brasilianischen Gesellschaft. Wir haben die höchste Konzentration von Landbesitz weltweit, es gab nie eine Landreform, und die Agroindustrie ist für die Gewalt in den ländlichen Regionen verantwortlich. Wir brauchen internationale Solidarität, um unser System der Agrarproduktion zu verändern. Denn es hat einen enormen Einfluss auf die Umwelt und auch auf den Klimawandel.

Anfang Juli 2020 gab es ein Treffen von CEOs internationaler Firmen mit Vizepräsident Hamilton Mourão zum Thema illegaler Ab­holzung im Amazonasgebiet, aus dem sehr viel Hoffnung entstand, dass die Abholzung zukünftig sanktioniert wird. Ist der Druck internationaler Firmen tatsächlich ein gangbarer Weg, um Amazonien zu retten?
Ich denke, der einzige Weg geht über die internationale Handelspolitik. Bolsonaro glaubt nicht an Klimawandel, er hat überhaupt kein Interesse daran, die indigenen Völker zu verteidigen. Im Gegenteil, er ermutigt dazu, sie zu attackieren, er ermutigt die illegale Abholzung. Die einzige Botschaft, die Bolsonaro versteht, kommt aus der Wirtschaft. Ich halte einen individuellen Boykott dieser brasilianischen Rohstoffe, die ich bereits erwähnt hatte, für schwierig, weil die Konsument*innen nicht wissen, worin diese Rohstoffe stecken. Aber es ist für sie möglich, ihre eigenen Regierungen und Parlamente unter Druck zu setzen, damit sie Sanktionen gegen Brasilien aussprechen oder die Importsteuern auf diese Handelswaren erhöhen. Denn die brasilianische Agroindustrie besteht zu großen Teilen aus internationalen Firmen.

Wird Bolsonaro ohne Trump innenpolitisch geschwächt?
Das ist schwierig zu beantworten. Die Massenmedien in Brasilien sind politisch von den USA beeinflusst, ebenso wie der konservative Sektor der brasilianischen Gesellschaft. Dieser sieht die USA als Vorbild, insofern kann eine andere US-amerikanische Politik auch in Brasilien Einfluss ausüben. Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Bolsonaro das Ergebnis des parlamentarischen Putsches gegen Präsidentin Dilma Rousseff ist. Damals haben die USA die Regierung von Dilmas Nachfolger Temer anerkannt, und nicht nur die USA, sondern die Mehrheit der Staaten weltweit. Sie haben die brasilianische Demokratie nicht verteidigt. Heute sind die demokratischen Institutionen, wie die Justiz und die Legislative, geschwächt, wir müssten die brasilianische Demokratie erst einmal rekonfigurieren.

Sehen sie in der Destabilisierung der Demokratie, ihrer Institutionen und Regeln, Parallelen zwischen den Entwicklungen in den USA und Brasilien?
Ja, hier sehe ich starke Parallelen, und ich halte dies nicht für einen Zufall. Es gibt sehr ähnliche Diskurse in den USA und in Brasilien, um zum Beispiel in der Bevölkerung die Idee zu erzeugen, dass man der Politik nicht glauben darf, um eine zynische Haltung gegenüber der Politik zu fördern. Das ist sehr gefährlich, weil es einen Kontext herstellt, der den Autoritarismus begünstigt. Trump wie auch Bolsonaro sind Teil der internationalen extremen Rechten, die überall eine sehr ähnliche Politik macht, zum Beispiel die Deregulierung von Umweltschutzmaßnahmen oder der Rechte von Frauen. Sie versuchen in vielen Ländern, den Staat zu schwächen. Und es gibt direkte persönliche Verbindungen, zum Beispiel zu Trumps ehemaligem Chefstrategen Steve Bannon. Das zeigen Fotos von ihm und den Söhnen von Bolsonaro, die in Brasilien als Repräsentanten der extremen Rechten auftreten. Nicht zu vergessen, dass Cambridge Analytica auch dabei geholfen hat, die Wahlen in Brasilien zugunsten Bolsonaros zu beeinflussen. Ich denke, es gibt hier eine Form von internationaler Koordination, auch wenn die genauen Verbindungen nicht bekannt sind.

Die Graswurzelbewegungen und Basisgruppen, die eine massenhafte Neuregistrierung von Wähler*innen erreicht haben, waren bei den Präsidentschaftswahlen in den USA ein Schlüsselfaktor für den Erfolg von Joe Biden. Könnte diese erfolgreiche Mobilisierung ein Modell für Brasilien sein, um den Bolsonarismus zu überwinden?
Es ist fundamental wichtig, dass die Linke die Arbeit an der Basis der Gesellschaft wieder aufnimmt. Denn der Erfolg von Bolsonaro ist auch eine Folge der Arbeit der evangelikalen Kirchen, die überall Räume besetzten. Ein großer Unterschied zu den Wahlen in den USA vor vier Jahren war, dass die Linke in der Demokratischen Partei, vor allem die soziale Bewegung der Jugendlichen, die sich um Bernie Sanders herum organisierte, dieses Mal aktiv die Wahl von Joe Biden unterstützt hat. Für die Kampagne von Hillary Clinton haben sie sich kaum engagiert. Hinzu kam die große Mobilisierung der Schwarzen Bewegung mit wichtigen Basisgruppen, die sich engagierten, um eine breite Wahlbeteiligung zu garantieren.

Eine Einheit der Linken gegen die Regierung Bolsonaro scheint in weiter Ferne – Brasiliens Linke wirkt immer noch sehr gespalten, auch wenn es kürzlich zu einer „offiziellen Versöhnung“ zwischen Lula da Silva und Ciro Gomes kam.
Ich denke, es gibt wenig Klarheit darüber, wie sich eine Einheit der Linken herstellen lässt. Ich fand es hier in den USA sehr interessant, dass Biden mit Bernie Sanders verhandelt hat und sich verpflichtete, einige grundsätzliche Forderungen der Linken umzusetzen, zum Beispiel im Gesundheitswesen, im Umweltschutz und in der Bildung. Ich finde das einen interessanten Prozess, um mit einigen Themen tatsächlich voranzukommen. Auch in Bezug auf die Corona-Pandemie, wo sich schon absehen lässt, dass Biden eine grundsätzlich andere Haltung einnehmen wird als Trump.

Bolsonaro gehört international zu den Corona-Leugnern und alles sieht danach aus, dass die brasilianische Bundesregierung keine wirksamen Maßnahmen mehr ergreifen wird, um die Pandemie einzudämmen. Sehen Sie noch Chancen, dass sich dies ändern wird, zum Beispiel, wenn es einen Impfstoff gibt?
Vor ein paar Tagen erschien die Meldung, dass das Haltbarkeitsdatum von fast sieben Millionen Coronatests im Dezember oder Januar abläuft, weil die Regierung Bolsonaro die Tests nicht an die Städte und Gemeinden verteilt hat. Aber viele Regierungen der Bundesstaaten haben eigene Maßnahmen ergriffen, auch wenn die Gouverneure sich damit in Opposition zu Bolsonaro begeben haben.
Was die Impfungen angeht: Brasilien hat traditionell ein sehr gutes, sehr solides Impfsystem. Bisher werden alle Impfstoffe über das Gesund­heitssystem Sistema Único de Saúde, das SUS, kostenlos an die gesamte Bevölkerung verteilt. Die Haltung der Regierung Bolsonaro macht es allerdings unmöglich, mit der Vorbereitung der Corona-Impfungen voranzukommen. Wie Trump ist Bolsonaro aus der WHO ausgetreten. Das bringt Brasilien Nachteile, denn die Verteilung des Impfstoffes über eine internationale Organisation erfolgt ganz anders als über private Unternehmen. Doch wenn die Verteilung der Corona-Impfungen in anderen Ländern beginnt, wird es sehr schwierig für die brasilianische Regierung werden, dies nicht auch zu machen. Bolsonaro kann verfügen, dass die Impfung nicht verpflichtend ist, oder er kann die Impfdosen nicht über das SUS verteilen lassen. Obwohl die Entscheidungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet werden sollten, wird er versuchen, die Corona-Impfung politisch zu instrumentalisieren.

REFORMIEREN, UM NICHT ABZUSTÜRZEN

Vorbild auch für andere Sektoren? Die Finca Marta bei Havana (Foto: Knut Henkel)

Seiner Wohnung gegenüber ist der Bauernmarkt, wo Ricardo Torres das Gros seiner Lebensmittel einkauft. „Das Angebot ist deutlich besser als noch im Mai und Juni – es kommen mehr Produkte in Havanna an“, beobachtet der Sozialwissenschaftler vom Studienzentrum der kubanischen Ökonomie (CEEC). Ein positives Signal inmitten der Pandemie, die in Kuba mit massiven Versorgungsengpässen einherging. Speiseöl, Hühner- und Schweinefleisch waren über Monate genauso knapp wie Reinigungsmittel, Seife und Shampoo. Doch Speiseöl, auch Schweinefleisch und Grundnahrungsmittel wie Gemüse, Reis und Kartoffeln seien auf den Bauernmärkten wieder vorhanden, die Schlangen deutlich kürzer als noch vor ein paar Monaten, meint Torres.

Allerdings kommt die Verbesserung der Versorgungslage doch etwas überraschend angesichts der massiven Sanktionen von Seiten der USA, deren Regierung die finanziellen Daumenschrauben im Wahlkampf bis zum Äußersten anzieht. Die remesas, die Dollartransfers aus den USA nach Kuba, haben die Verantwortlichen im Weißen Haus und im State Department im Visier. Die jüngsten Ankündigungen aus Washington sind dafür bezeichnend. „Personen, die der US-Gerichtsbarkeit unterliegen, sind nicht länger berechtigt, Überweisungen nach oder von Kuba zu bearbeiten, an denen ein Unternehmen oder eine Unterorganisation auf der ‘Cuba Restricted List’ des Außenministeriums beteiligt ist“, hieß es in einem Statement von US-Außenminister Michael Pompeo Ende Oktober 2020. Auf dieser US-Sanktionsliste finden sich neben kubanischen Regierungsstellen auch die Unternehmen des kubanischen Militärs (FAR). Dieses kontrolliert auf der sozialistischen Insel über ihre Finanzdienstleister die Geldsendungen aus dem Ausland. US-Überweisungen nach Kuba könnten „immer noch fließen, aber sie werden nicht durch die Hände des kubanischen Militärs fließen, das diese Mittel verwendet, um das kubanische Volk zu unterdrücken und Kubas Einmischung in Venezuela zu finanzieren“, begründete Washington die Maßnahme. Doch die treffe die ganz normalen Kubaner, die oftmals auf das Geld von den Verwandten im Ausland angewiesen seien, so Pavel Vidal, kubanischer Finanzexperte mit einem Lehrauftrag an der Universität Javeriana im kolumbianischen Cali. „Das wird bewusst in Kauf genommen, um die Stimmen der Exilgemeinde in Florida zu gewinnen“, kritisiert Vidal, der seine Eltern auf der Insel unterstützt.

Die US-Sanktionen treffen diejenigen, die auf das Geld von Verwandten im Ausland angewiesen sind

Große Finanzdienstleister wie Western Union spielen dabei eine wichtige Rolle, weshalb die neue Initiative aus dem Weißen Haus auch als „Lex Western Union“ bezeichnet wird. Das private US-Unternehmen Western Union kooperiert mit dem Finanzunternehmen Fincimex, einer Tochtergesellschaft von Cimex, die wiederum zur Militärholding GAESA gehört. Das ist den USA ein Dorn im Auge, aber auch kleinere Unternehmen sind im Geldtransfer-Sektor aktiv. Alle zahlen in Kuba allerdings ausschließlich in CUC aus, der kubanischen an den US-Dollar gekoppelten Hartwährung, und nicht in US-Dollar. Das ist schon länger und nicht erst seit Mitte dieses Jahres so, als die neuen Devisen-Supermärkte aufgemacht wurden, die nur international konvertierbare Devisen per Bankkarte akzeptieren. Der CUC, auch chavito genannt, ist bei vielen Kubaner*innen verpönt, da die bunten Scheine nur auf der Insel gelten und nicht konvertibel sind. Die Währung, in den 1990er Jahren im Tourismussektor eingeführt und 2004 inselweit zur Hartwährung und Ersatz für den damals verbotenen US-Dollar erhoben, der seit 1993 legal auf der Insel zirkuliert, steht derzeit vor dem Aus. Die über zehn Jahre von kubanischen Expert*innen diskutierte und notwendige Währungsreform soll nun erfolgen. Für Ökonomen wie Pavel Vidal ein überfälliger Schritt, der die Uhr partiell zurückdreht. „De facto sind wir in den letzten 12 Monaten Zeugen einer Re-Dollarisierung der kubanischen Wirtschaft geworden. Erst wurden im Oktober 2019 hochwertige Elektro-Produkte gegen US-Dollar in bar verkauft. Mit der Eröffnung der 72 Devisen-Supermärkte im Juli erfolgte dann ein weiterer Schritt zurück in die 1990er Jahre mit dem US-Dollar als Hartwährung und dem Peso nacional als schwache Insel-Währung“, so Vidal. Er sieht das Risiko, dass sich in Kuba die Geschichte wiederholt – eine Zweiteilung der Inselökonomie in einen dynamischen Devisensektor und einen schwachen Binnensektor. „Eine derartige duale Wirtschaft ist alles andere als wünschenswert, sie wirft enorme Probleme auf, die wir alle aus den 1990er Jahren kennen“, kritisiert er.

Dass nun der US-Dollar zurückkehrt, wenn auch nur partiell, ist alles andere als ein wünschenswertes Signal, aber der prekären finanziellen Situation geschuldet. Der Regierung von Präsident Miguel Díaz-Canel steht aus finanzpolitischer Perspektive das Wasser bis zum Hals. Altschulden beim Pariser Club konnten im Dezember 2019 nicht bedient werden, Finanzministerin Meisi Bolaños Weiss hat den Club der staatlichen Schuldner gebeten, die Schuldenzahlung angesichts der Pandemie auszusetzen und auch bei den Lieferanten steht die Insel knietief im Dispo. Bis zu zwei Milliarden US-Dollar an Schulden sollen Schätzungen von Experten zufolge aufgelaufen sein. In dieser Situation treffen die US-Sanktionen die Insel hart. Hinzu kommt, dass der Tourismus zwischen Ende März und Ende August 2020 kaum Einnahmen generiert hat. Mit der seit Mitte Oktober erfolgten Wiedereröffnung der wichtigsten Tourismusdrehscheibe der Insel, Varadero, kann sich das langsam wieder ändern. Doch die Entscheidung birgt trotz ausgeklügelter Hygienekonzepte, obligatorischer Tests am Flughafen von Varadero und medizinischen Teams in jedem Hotel durchaus Risiken. Bisher ist Kuba mit 7184 offiziell registrierten Infektionen und 129 Toten (Stand 06.11.2020) deutlich besser durch die Pandemie gekommen als viele Nachbarn. Das sei, so die Weltgesundheitsorganisation (WHO), auch darauf zurückzuführen, dass Medizinstudent*innen durch die Stadtteile gehen, Haus für Haus nach Infektionssymptomen fragen und Infektionsketten nachgegangen wird. Diese aufsuchende medizinische Hilfe ist eine Besonderheit und basiert auf einem flächendeckenden Gesundheitssystem, das nur wenige Länder in der Region vorweisen können. Trotzdem ist die Wiederöffnung des Flughafens von Varadero, der alsbald die des Airports von Havanna folgen soll, ein Risiko, da es vor allem Besucher*innen aus den USA, Kanada und Europa sind, die zu den typischen Gästen gehören – außer Kanada alles Regionen mit hohen Infektionszahlen.

Ökonomische Reformen bieten Chancen für kleine und mittlere Unternehmen

Trotz des Risikos eingeschleppter Viren wirbt die Regierung Díaz-Canel für die Reaktivierung dieses wichtigen Devisenbringers, wo mehr als 500.000 Menschen in staatlichen Einrichtungen arbeiten und etwa zehn Prozent des Brutto-Inselprodukts erwirtschaftet werden. Es sind die finanziellen Nöte, die trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, zu der Entscheidung beitragen und das treibt auch Analysten wie Pavel Vidal die Sorgenfalten auf die Stirn. Der begrüßt allerdings die Ankündigung, dass trotz Pandemie neue ökonomische Reformen auf den Weg gebracht werden sollen. „Der Reformstau ist seit Jahren ein immenses Problem. In den letzten Jahren ist trotz negativer ökonomischer Parameter kaum etwas passiert, die Reformagenda, die Raúl Castro 2011 auf dem Parteitag der kommunistischen Partei (PCC) vorgelegt hat, ist auf Eis gelegt worden“, moniert Vidal, der schon 2010 für strukturelle Reformen eintrat. Das eint die kubanischen Sozialwissenschaftler*innen, die vor allem für mehr Chancen für kleine und mittlere Unternehmen angesichts einer hoch zentralisierten und ineffizienten Wirtschaftsstruktur werben.

Die sollen nun kommen, wie Wirtschaftsminister Alejandro Gil und Präsident Miguel Díaz-Canel erstmals im Juli 2020 ankündigten. Kleine Schritte wie die Zulassung von angestellten Arbeiter*innen in der Landwirtschaft ohne bürokratisches Procedere oder die Legalisierung von Exporten durch Agrargenossenschaften haben dabei Signalcharakter, so Pavel Vida. „Ökonomisch fallen sie nicht ins Gewicht, aber sie zeigen, was zukünftig gehen könnte“, sagt er und befindet sich damit in Gesellschaft von Ricardo Torres und dem unabhängigen Analysten Omar Everleny Pérez, der früher an der Universität Havanna arbeitete. „Fruta Selecta heißt ein kubanisches Unternehmen, das kleinen und mittleren Produzenten den Export von Limonen, Avocados und anderen Agrarprodukten nach Italien und Spanien ermöglicht, bei Verpackung und Verschiffung hilft. Das sind Modelle, die zukünftig neue Dynamik bringen können“, so Everleny Pérez. Davon können Genossenschaften im Agrarsektor profitieren, so wie der Vivero Organopónico von Alamar, der seit Mitte der 1990er Jahre existiert und mit innovativen Produktionsstrukturen ein Beispiel sein könnte. Ein anderes Agrarunternehmen ist die Finca Marta von Fernando Funes, der mit seinem Team Restaurants mit frischem Gemüse beliefert. Optionen, die seit mehr als zehn Jahren auch für den staatlichen Tourismussektor diskutiert, aber eben nicht realisiert wurden.

„Reformen, um nicht in den Abgrund zu stürzen” hat das Raúl Castro einmal genannt und nun scheint die Insel zögerlich in eine neue vielfältigere Ökonomie zu starten. Doch Pavel Vidal und Ricardo Torres sind skeptisch. Sie wissen nur zu genau, dass es innerhalb der kommunistischen Partei erhebliche Widerstände gibt und weisen darauf hin, dass konkrete Programme und Maßnahmen noch nicht erlassen wurden. Darauf warten die rund 11 Millionen Kubaner*innen. Klar ist, dass die nationale Währung, der Peso nacional, abgewertet werden muss und parallel dazu die Löhne steigen sollten. Doch in welchem Verhältnis stehe in den Sternen, so Ricardo Torres. „Ich gehe von einem Wechselkurs vom Peso zum US-Dollar in etwa von 1:40 aus. Das wird viele hart treffen, könnte den Reformen aber einen Schub geben“, meint der Ökonom der Universität Havanna. Positiv dabei ist, dass in der Landwirtschaft viele in den Startlöchern stehen, die Verteilung der Produkte besser läuft als noch vor Monaten und mehr angebaut wird als früher. Das könnte die Reformen auch etwas abfedern.

DAS LEBEN IST KEIN FREIZEITPARK

© Octavio Arauz

“We want to go Disney – one ticket please!“ schreien Max und Leo immer und immer wieder und stören damit Lucías Schlaf. Ihre Mutter ist müde, weil sie wie so oft die Nacht durchgearbeitet hat. Die 8 und 5 Jahre alten Brüder haben ein berechtigtes Anliegen: Wenn sie Englisch sprechen, das hat Lucía ihnen versprochen, dann fahren sie endlich alle zusammen nach Disneyland. Doch ihre Mutter kann den Wunsch nicht erfüllen, weil sie weder Zeit noch Geld hat. Allmählich wird den Beiden klar: Obwohl sie die Sprache mittlerweile ein bisschen können, wird sich ihr Wunsch so schnell nicht erfüllen.

Die Einzimmerwohnung der kleinen Familie im US-amerikanischen Albuquerque, New Mexico (bekannt aus der Erfolgsserie Breaking Bad) grenzt die Welt, in der sich Los Lobos („Die Wölfe“), der zweite Berlinale-Beitrag des mexikanischen Regisseurs Samuel Kishi Leopo abspielt, weitgehend ein. Wenig ist bekannt von der Vorgeschichte der Drei in Mexiko. Der Vater, ein Polizist, hat die Familie schon lange verlassen (die Kinder haben keine Erinnerungen mehr an ihn), sodass sich Lucía ohne viel Geld, Gepäck und Englischkenntnisse mit Max und Leo auf die Reise in die USA gemacht hat. Vorgeblich ist es ein Tourismus-Trip nach – richtig – Disneyland, tatsächlich hat Lucía nicht vor, nach Mexiko zurückzukehren. Im neuen Land aber läuft zunächst alles ganz und gar nicht so glamourös, wie sich zumindest die Kinder das ausgemalt haben. Die Wohnung ist klein, hat keine Möbel und ist zu Beginn sehr schmutzig. Ihre Mutter muss viel arbeiten und ist deshalb oft müde und gestresst, das Geld ist knapp. In eine Schule können die beiden als illegale Migranten auch noch nicht gehen. Und zu allem Überfluss müssen sie sieben strenge Hausregeln beachten: So sollen sie zum Beispiel unter keinen Umständen vor die Tür gehen, weil das Viertel, in dem sie untergebracht sind, dafür zu gefährlich ist. „Ihr seid starke Wölfe. Ihr weint nicht, sondern beißt und verteidigt euer Zuhause“, schärft Lucía ihren Söhnen ein. Doch sie selbst ist zu oft und zu lange außer Haus, als dass vor allem der ältere Max sich auf Dauer mit einer Fantasiewelt aus Cartoons und Spielen zu zweit zufriedengeben würde.

Regisseur Leopo hat Los Lobos aus autobiografischen Erlebnissen konstruiert und für den Film fiktionale und dokumentarische Elemente vermischt. Herausgekommen ist eine einfühlsame Migrations- und Familiengeschichte, die allerdings ihre Längen hat und einige Zeit braucht, bis sie richtig in die Gänge kommt. Die guten schauspielerischen Leistungen trösten darüber jedoch meist hinweg. Stark ist vor allem Martha Reyes Arias als liebevolle, aber überforderte Mutter. Los Lobos ist zwar offenkundig nicht in der Aktualität verortet (ein Handy würde viele Probleme im Film schnell lösen), zeigt jedoch einige zeitlose Probleme für (illegale) Migrant*innen auf und macht deren oft prekäre Lebensverhältnisse auch für Kinder gut versteh- und erfahrbar. Der Film läuft auf der Berlinale im Kinderprogramm Generation Kplus und ist ab 9 Jahren empfohlen.

Los Lobos // Samuel Kishi Leopo // Mexiko 2019 // 94 Minuten // Europäische Premiere // Generation Kplus

Link zum Trailer

 

Spielzeiten auf der Berlinale
Montag, 24.02.10:00, Urania
Dienstag, 25.02.14:00, Zoo Palast 2
Mittwoch, 26.02.09:30, Filmtheater am Friedrichshain
Donnerstag, 27.02. 14:00, Cubix 8
Sonntag, 01.03. 14:00, CinemaxX 1

Deutsch eingesprochen | Kopfhörer für OV

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