DIE URBANE BASIS FEHLT

Für die Regierung auf die Straße Die Marcha por la patria von MAS-Anhänger*innen in Achica Arriba, kurz vor La Paz (Foto: Josué Antonio Castañeta – ABI)

„Hier ist dein Volk, Bruder Lucho, es wird dich nicht verlassen“ rief Evo Morales dem aktuellen Präsidenten Luis Arce auf dem Plaza San Francisco im Zentrum von La Paz zu, als die Marcha por la patria (Marsch für das Vaterland) in der Innenstadt der Andenmetropole ankam. Der amtierende Präsident zeigte sich sichtlich gerührt und hatte Tränen in den Augen. Zuletzt hatten sich immer mehr Verbände und soziale Organisationen dem Marsch angeschlossen, auch die mächtigen Nachbarschaftsvereinigungen des benachbarten El Alto, die FEJUVES, beteiligten sich an der Mobilisierung. Deren Vizepräsident Ramón Quispe ließ verlauten: „El Alto hat sich immer darin ausgezeichnet, die Demokratie zu verteidigen und das werden wir auch weiterhin machen.“

Die Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) und die sozialen Bewegungen sahen sich gezwungen, die Demonstration der Unterstützung für die aktuelle Regierung auf der Straße zu organisieren, nachdem die Administration Arce durch Proteste der Opposition unter Druck geraten war. Diese hatten seit Oktober mit Streiks und Blockadeaktionen begonnen und so auf sich aufmerksam gemacht. Vor allem die Bürger*innenkomitees aus Santa Cruz und Potosí sahen sich unter Zugzwang. Die Ermittlungen wegen des erzwungenen Rücktritts von Evo Morales 2019 und den Massakern in Senkata und Sacaba (siehe LN 547 und LN 549) hatten bereits dazu geführt, dass Luis Fernando Camacho, der Gouverneur von Santa Cruz, wie auch sein Vater von der Staatsanwaltschaft zur Vernehmung vorgeladen wurde.

Camacho, zentrale Figur der Ereignisse im Jahr 2019, als Militärs den Rücktritt von Evo Morales forderten, ist auf einem Video zu sehen, das auf Dezember 2019 datiert ist. Dort erläutert er Mitstreiter*innen, dass sein Vater mit Führungsfiguren der Militärs und der Polizei gesprochen habe, um diese davon zu überzeugen, nicht gegen die Proteste vorzugehen, die schließlich zum Sturz von Evo Morales führten. Viele sehen in dem Video einen Beweis, dass es sich bei den Ereignissen vor zwei Jahren um einen Putsch handelte.

Opposition geht in die Offensive

Mit den Protestaktionen, die am 11. Oktober begannen, versuchte die Opposition wieder in die Offensive zu gelangen. Gelegenheit bot das Gesetz 1386, das die Bekämpfung von Geldwäsche und der Finanzierung von Terrorismus regeln sollte. Der Präsident des Bürger*innenkomitees von Santa Cruz, Rómulo Calvo sprach von „politischer Verfolgung“. Auch Händler*innen wendeten sich gegen die Rechtsverordnung. Diese fürchteten, dass der Staat die Gewinne der informellen Ökonomie abschöpfen wolle.

Die Ablehnung des Gesetzes durch die zwei unterschiedlichen Sektoren der Gesellschaft führte zu einer starken Dynamik, die die Regierung letztendlich zwang, das Gesetz zurückzunehmen. Dabei kam es zunächst nur lokal begrenzt zu Streikmaßnahmen. Die MAS versuchte es mit einer Gegenmobilisierung, die in einigen Regionen, wie in La Paz, auch gelang. Hier war von den angekündigten Blockaden so gut wie nichts zu verspüren. Und selbst in der Hochburg der Opposition, Santa Cruz, wurde der Streik nur teilweise befolgt. In Stadtvierteln in denen die MAS Anhänger*innen hat, kam es zum Teil zu Ausschreitungen zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen.

Dass die Regierung dennoch das Gesetz zurückzog und der Opposition damit einen Überraschungserfolg bescherte, lag daran, dass es Arce nicht gelang, die Händler*innen und Fernfahrer*innen davon zu überzeugen, dass das Gesetz gegen Geldwäsche den informellen Sektor nicht betreffen würde. Das Kommunikationsdesaster der Regierung führte dazu, dass die Bürger*innenkomitees in der Debatte die Oberhand gewannen. Als es zu einem eilig einberufenen Runden Tisch durch die Regierung in der ersten Novemberhälfte Absagen der Berufsverbände hagelte und die Fernfahrer*innen mit landesweiten Blockaden drohten, nahm die Regierung das Gesetz zurück.

Der Sieg der Opposition führte auch zu Kritik aus den eigenen Reihen. Juan Ramón Quintana, unter Morales Minister des Präsidialamtes, monierte: „Wir sind in eine schwierige Lage geraten, unseren Genossen in der Regierung und im Parlament fehlte die notwendige politische und ideologische Reife, um auf die Straße zu gehen und das Gesetz zu verteidigen.” Nicht zuletzt deshalb formierte sich der Marsch auf La Paz. Die MAS möchte nicht wieder, wie 2019, auf der Straße in die Defensive geraten. Insbesondere die erfolgreichen Mobilisierungen in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba zeigten damals, dass es der MAS an Rückhalt in den Städten fehlt. Der Analyst Boris Ríos weist darauf hin, dass der populäre urbane Sektor ohne Koordination gewesen sei und die Partei auf diesen Teil der Gesellschaft nicht eingehen würde.

Das gilt auch für kleinere Städte im andinen Hochland. Yhilmer Poma ist dort seit einigen Monaten im Stadtrat für die Liste Jallalla in Viacha, einer Stadt vor den Toren El Altos. Der Aktivist setzt sich seit Jahren für Verbesserungen in der Jugendpolitik der Kommune ein, „Jallalla war offen für unsere Vorschläge, die MAS nicht“ meint der junge Politiker. Nun macht er Politik für die Liste des „Mallkus“, Felipe Quispe, der im Jahr 2020 den Widerstand im Departamento La Paz gegen die Übergangsregierung Añez in La Paz koordinierte und im Januar vergangenen Jahres überraschend an einem Herzinfarkt gestorben ist. Das Departamento La Paz wurde bei den Regionalwahlen Anfang des Jahres von Jallalla gewonnen, nicht von der MAS. In El Alto trat die bekannte Politikerin Eva Copa für die Liste an, nachdem sie von Evo Morales nicht als Kandidatin der MAS für die zweitgrößte Stadt Boliviens berücksichtigt wurde. Sie gewann prompt mit knapp 70 Prozent, dem Stimmenanteil, den die MAS in der Stadt bei den Präsidentschaftswahlen holte.

Die MAS, so meint Stadtrat Poma, sei sehr hierarchisch strukturiert und würde von oben dirigiert. So war es auch im Wahlkampf in Viacha und sei es jetzt in der Arbeit im Stadtrat: „Mit den jüngeren Stadträten*innen der MAS ist die Zusammenarbeit und der Austausch möglich, aber mit den Älteren ist es sehr schwierig.“

Solange dieses hierarchische Prinzip herrscht, wird es für die MAS schwer sein, eine solide Basis in den Städten aufzubauen. Zwar will die Partei das nun unter Führung von Evo Morales angehen. Aber die Mobilisierung des Marsches für das Vaterland hat gezeigt, dass es immer noch die traditionelle Basis der MAS ist, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die indigenen Organisationen des Einheitspakts (Pacto de Unidad) und des nationalen Gewerkschaftsverbandes COB, der den Marsch federführend orga-*nisierte, die das Rückgrat der Macht bilden.

Das Problem ist in der MAS bekannt. Der Analyst Gabriel Villalba, der die Regierung unterstützt, ist davon überzeugt, dass sich die MAS hier erneuern muss, wenn sie in den Ballungszentren eine solide Basis zurückgewinnen will. Zwar sind die Städte nach wie vor durch die Migration vom Land geprägt, die Migrant*innen seien inzwischen jedoch in der dritten Generation, so Villalba, „ihre Eltern sind vom Land in die Stadt gekommen, aber die jetzige Generation hat in der Stadt eine Schule besucht, ist zur Uni gegangen. Diese Generation hat eine andere Perspektive, die sich von denen ihrer Eltern und Großeltern unterscheidet. Wenn man am historischen indigenen Subjekt hängen bleibt, das aus dem ländlichen Raum kommt, hat man kein klares Panorama. Heute geht es nicht mehr nur darum, die Leute aus der Armut zu holen, sondern es gilt zu erklären, wohin die Reise gehen soll, dafür braucht es Projekte der Zukunft.“

Zum Beispiel in der Jugendpolitik, für die sich Yhilmer Poma im Stadtrat von Viacha einsetzt. Und hier, so der Jungpolitiker, ginge es zumindest auf kommunaler Ebene oftmals weniger um die Parteizugehörigkeit als um die Person, wie das Ergebnis für Eva Copa in El Alto gezeigt habe. „Die MAS setzte auf die Partei, aber auf der kommunalen Ebene entscheidet die Person, nicht die Partei.“ Für den aktuellen Konflikt interessiert sich Poma nur am Rande: „Die zwei politischen Kräfte werden sich weiterhin gegen-*überstehen, aber die Mobilisierungen werden sich jetzt totlaufen, nächstes Jahr gibt es vielleicht eine neue Runde“, meint er schulterzuckend.

Dort die proletarisierten Indigenen, hier die kreolische weiße Oberschicht

Sollte es so kommen, dann bleibt das Patt im Herzen Südamerikas bestehen. Die MAS ist zwar die politisch stärkere Kraft, wird die Opposition aber nicht besiegen können. Diese wiederum wird versuchen, mit Aktionen die Regierung zu schwächen. Eine konstruktive Opposition wird es mit den Bürger*innenkomitees, den Oppositionsparteien Creemos (Wir glauben) und Comunidad Ciudadana (Bürgergemeinschaft) nicht geben. Sie sind ebenfalls in der Vergangenheit verhaftet, wenngleich in einer anderen, der der katholischen Republik, in der die rassistisch begründeten Klassenverhältnisse klar waren: dort die proletarisierten Indigenen und hier die kreolische weiße Oberschicht.

Anfang Dezember veranstaltete die MAS in Mizque ihren elften Kongress auf dem Land in Zentralbolivien. Im staatlichen Fernsehen zählte der Vorsitzende der Partei, Evo Morales, die Organisationen auf, die an der Versammlung teilnahmen. Es war vor allem die traditionelle Basis, die anwesend war. Dem ehemaligen Präsidenten zufolge gehe es „um die Auswertung des Marsches fürs Vaterland, wir wollen sehen, welche neuen Mobilisierungen möglich sind“. Er sprach davon, dieses Mal auf die Hauptstadt Sucre und Santa Cruz, die Hochburg der Oppositionellen, zu marschieren. Er sprach von dem historischen Kampf gegen den kolonialen Staat und gegen den Neoliberalismus. Zu Ideen, wie Wählerschichten in den Ballungszentren gewonnen werden können, wie sich die MAS erneuern könnte, um an die veränderten Realitäten im Land anzudocken, sagte er kein Wort.

EINKASSIERT

Für die venezolanische Regierung ist der Fall heikel: Seit seiner Auslieferung aus Kap Verde am 16. Oktober befindet sich der in Kolumbien geborene Unternehmer Alex Saab in Miami in Haft. Ihm drohen 20 Jahre Gefängnis wegen Geldwäsche. Sieben weitere Anklagepunkte wurden aufgrund von Zusicherungen an Kap Verde Anfang November fallen gelassen.

Am Tag nach Saabs Auslieferung bezeichnete der venezolanische Präsident Nicolás Maduro ihn als „unschuldig“ und größten Unterstützer der venezolanischen Bevölkerung: „Als die Verfolgung gegen Venezuela brutal zunahm, brachte er als Sonderbotschafter Lebensmittel für eure Haushalte. Das Benzin, das in dieser harten Zeit zu uns kam, die Medikamente, wurden von Alex Saab aus der ganzen Welt mitgebracht.“

Von einer seiner Geschäftsreisen, die Saab im Juni 2020 im Auftrag der venezolanischen Regierung durchführte, kehrte er nicht zurück. Am 12. Juni wurde der Geschäftsmann während eines Zwischenstopps auf dem Weg nach Teheran in Kap Verde inhaftiert. Aus Sicht der venezolanischen Regierung und ihrer Unterstützer*innen habe sich Kap Verde dem Druck der US-Regierung gebeugt und Saabs Diplomatenpass und die damit einhergehende Immunität ignoriert.
Saabs Geschäfte mit der venezolanischen Regierung begannen im Jahr 2011 im Rahmen des großen Sozialwohnungsbauprogramms unter der Regierung von Hugo Chávez. Saab verkaufte als Immobilienunternehmer Wohnungen an die Regierung. Laut der Rechercheplattform Armando.Info erhielt er dafür 159 Millionen US-Dollar – baute angeblich jedoch nur im Wert von drei Millionen US-Dollar Immobilien. Mit der Zeit weiteten sich seine Geschäfte auf den Lebensmittel- und Medikamentenhandel bis hin zum Bergbausektor aus.

Über Briefkastenfirmen soll Saab Lebensmittelimporte organisiert haben

Seit 2014 leidet Venezuela unter einer extrem hohen Inflation von zwischenzeitlich selbst laut offiziellen Zahlen bis zu 130.000 Prozent. Zwischen 2016 und 2018 bestand zudem ein akuter Mangel an Lebensmitteln und anderen grundlegenden Produkten. US-Sanktionen und eine ineffiziente Verwaltung durch die Regierung verschlimmerten die Lage im Land. Seit Jahren versucht die US-Regierung durch gezielte Unterstützung oppositioneller Kräfte, wie zuletzt des selbsternannten Präsidenten Juan Guaidó, sowie durch Verhängung von Sanktionen die venezolanische Regierung zu destabilisieren. Diese Politik war bisher nicht von Erfolg gekrönt. Im Gegenteil; die venezolanische Regierung hat sich zuletzt stabilisiert. Doch die im Land verbliebene Bevölkerung treffen die Sanktionen hart. Mittlerweile werden Produkte hauptsächlich über Privatunternehmen importiert – und für horrende Preise verkauft.

Die Sanktionen begannen im März 2015 unter US-Präsident Obama und richteten sich zunächst gegen Einzelpersonen. Vor allem ab 2017 unter Donald Trump wurden die Sanktionen stark ausgeweitet und schnitten Venezuela zunächst von den Kreditmärkten und ab 2019 weitgehend von den Einnahmen aus dem Erdölhandel ab. Internationale Banken froren die Staatsgelder ein und erlaubten selbst dann keine Transaktionen, wenn es sich um den Import von Medikamenten und Lebensmitteln handelte.

Alex Saab und seine Geschäftspartner*innen erhielten daraufhin verstärkt Aufträge von der Regierung zum Privatimport dieser Güter. Mittels Briefkastenfirmen soll Saab in den vergangenen Jahren auf Umwegen Produkte aus Mexiko, der Türkei sowie dem Iran für die venezolanischen Produktions- und Versorgungskomitees (Clap) importiert haben, die regelmäßig Lebensmittelkisten an die Bevölkerung verteilen. Saab und sein Partner, der Kolumbianer Álvaro Pulido Vargas, entwickelten infolgedessen zwischen 2016 und 2018 eine Struktur von Briefkastenfirmen und Scheinunternehmen in Hongkong, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Nachdem sie von dem staatlichen Unternehmen Corpovex Millionenverträge erhalten hatten, hätten die beiden von mexikanischen Lieferanten große Mengen von Produkten sehr geringer Nährwertqualität angekauft, die sie dann nach Venezuela geschickt hätten, berichtet die spanische Tageszeitung El Pais. Wie genau Saab und seine Kontakte bei diesen Aufträgen vorgingen und welche internationalen Akteur*innen sie dabei unterstützen, will die US-Regierung nun herausfinden.

Dialog liegt vorerst auf Eis

Kurz vor den Regional- und Kommunalwahlen am 21. November bringt noch ein weiteres Auslieferungsgesuch die venezolanische Regierung in Bedrängnis. In Madrid war im September Hugo Carvajal, Ex-Geheimdienst-Chef unter Maduros Vorgänger im Amt, Hugo Chávez, zum zweiten Mal festgenommen worden. Gegen ihn läuft ein Gerichtsverfahren im Bundesstaat New York, wo ihm unter anderem Drogenhandel, Geldwäsche und Zusammenarbeit mit der FARC-Guerilla zur Last gelegt wird. Die USA fordern seine Auslieferung. Während Carvajal 2019 mit Maduro brach und offen den selbsternannten Übergangspräsidenten Juan Guaidó unterstützte, nahm Saab während Maduros Präsidentschaft eine immer wichtigere Funktion ein.

Sowohl Saab als auch Carvajal werden als mögliche Informanten der US-Regierung gegen Präsident Maduro gesehen. Besonders Saabs Wissen über die Abwicklung der Geldgeschäfte der Regierung, Handelspartner*innen und kooperierenden Banken sind für die USA von besonderem Interesse. Auch Carvajal soll über wichtige Informationen über hochrangige venezolanische Politiker*innen und Militärs verfügen, die die Regierung weiterhin unterstützen. Im Gegensatz zu Saab, der angekündigt hat, nicht aussagen zu wollen, hat Carvajal bereits gegenüber spanischen Medien und vor einem spanischen Gericht über mutmaßliche Zahlungen der venezolanischen Regierung an zwei Mitgründer*innen der linken spanischen Partei Podemos, Juan Carlos Monedero und Carolina Bescansa, gesprochen. Zwar wurde die Auslieferung Carvajals am 25. Oktober zunächst ausgesetzt. Es wird jedoch erwartet, dass sie schon bald erfolgen wird.
Der venezolanische Soziologe und Politologe Ociel Alí López bezweifelt ein Interesse der US-Regierung an der Korruptionsbekämpfung. Wenn die US-Regierung wirklich an Korruption und Geldwäsche interessiert sei, so López auf der Internetplattform Venezuelanalysis.com, müssten sie auch chilenische und ecuadorianische Präsidenten verklagen. Die Verhaftung von Saab habe dagegen andere Motive. In ähnlicher Weise beschrieb die US-Zeitschrift Forbes Saab Anfang Oktober als „den Schlüssel, zum Geheimnis der venezolanischen Geldpolitik.“

Ganz konkrete Folgen hat die Auslieferung Saabs für den unter Vermittlung Norwegens stattfindenden Dialog zwischen venezolanischer Regierung und Opposition. Den in Mexiko laufenden Gesprächen bleibt die Regierungsdelegation aus Protest gegen das US-Vorgehen vorerst fern.
Die Art und Weise, in der die US-Regierung die Auslieferungen durchsetzt, verdeutlicht abermals, dass sie nicht an einer politischen Lösung in Venezuela interessiert ist, die sie nicht selbst kontrollieren kann. Indem sie die internationale Isolation vorantreibt, stärkt die Biden-Regierung die venezolanische Regierung letztlich sogar. Wie Ociel Alí López schreibt, haben Maduro und sein Team aufgrund der weltweiten Verfolgung „keine andere Wahl, als an der Macht zu bleiben.”

PANDORA PAPERS BELASTEN POLITIKER MEHRERER LÄNDER

14 ehemalige und amtierende Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika stehen nach der Veröffentlichung der Pandora Papers unter Verdacht, einen Teil ihres Vermögens in Briefkastenfirmen vor der Öffentlichkeit versteckt zu haben. Darunter sind die amtierenden Präsidenten Sebastián Piñera (Chile), Guillermo Lasso (Ecuador) und Luis Abinader (Dominikanische Republik). Auch Regierungsmitglieder anderer Länder sind von den Enthüllungen betroffen, wie der brasilianische Wirtschaftsminister Paulo Guedes oder der mexikanische Staatssekretär für Kommunikation und Transport Jorge Arganis Díaz Leal.

Ein Zusammenschluss von mehr als 600 Journalist*innen aus 117 Ländern hatte in einer geheimen Recherche fast 12 Millionen vertrauliche Dokumente ausgewertet. Die Daten wurde dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) von einer anonymen Quelle zugespielt. Am 3. Oktober wurden die Ergebnisse ihrer Analysen unter dem Namen Pandora Papers weltweit veröffentlicht. Namhafte internationale Medien wie BBC, die Washington Post oder El País beteiligten sich an den Analysen und deren Veröffentlichung.

Die vertraulichen Dokumente stammen von 14 sogenannten Offshore-Providern. Diese Firmen helfen ihren Kunden dabei, in Steueroasen Briefkastenfirmen zu gründen. Der Besitz einer Offshore-Firma ist nicht illegal, wird aber häufig zur Geldwäsche oder Steuerhinterziehung genutzt. Gerade bei Regierungsmitgliedern wird der Versuch, dem Staat Steuern zu entziehen, als unethisch betrachtet, oft auch gesetzlich sanktioniert.

Brasilien: Wirtschaftsminister besitzt Briefkastenfirma

Paulo Guedes, seit 2019 „Superminister“ für Wirtschaft und Finanzen und neoliberaler Hardliner, wird von den investigativen Recherchen der Pandora Papers belastet. Er wird als Besitzer der Offshore-Firma Dreadnoughts International Group genannt, die in der Steueroase der Britischen Jungferninseln angesiedelt ist. Die Zeitschrift Piauí berichtete am 3. Oktober 2021, dass die Briefkastenfirma im September 2014 eröffnet wurde. Mitgesellschafterin von Guedes war seine Tochter Paula Drumond Guedes. Beide zahlten insgesamt 8 Millionen US-Dollar auf ein Konto der Crédit Suisse in New York ein, indem sie 50.000 mal den Betrag von 160 US-Dollar überwiesen. Bis August 2015 wurde die Einlage auf 9,5 Millionen US-Dollar erhöht.

Nach Aussagen seiner Anwälte verließ Guedes das Management seiner Offshore-Firma im Dezember 2018, bevor er das Amt als Minister antrat. Seither habe er auf jegliche Beteiligung an den finanziellen Entscheidungen des Unternehmens verzichtet und weder Überweisungen auf, noch Abhebungen von Konten im Ausland getätigt. Durch die Abwertung des Real während seiner Amtszeit stieg sein Vermögen in der Landeswährung allerdings von 35 auf 51 Millionen Reais.

In Brasilien ist der Besitz einer Offshore-Firma – auch in Steueroasen – nicht illegal, solange der Besitz der Steuerbehörde gemeldet wird. Dies ist laut Guedes der Fall. Die Opposition spricht jedoch von einem potenziellen Interessenkonflikt, da sich der Wirtschaftsminister indirekt durch seine Politik bereichert haben könnte. Am 6. Oktober wurde im Parlament entschieden, dass der Finanzminister dazu vor dem Plenum und vor zwei Kommissionen Stellung nehmen muss. Gegenüber Journalist*innen sagte Guedes, er sei „sehr gelassen“ und habe nie privat von seinem Amt profitiert.

Am 7. Oktober fanden vor dem Wirtschaftsministerium mehrere Proteste gegen Guedes statt. Morgens regnete es dort Dollar-Spielgeld mit dem Gesicht des Ministers, am Nachmittag wurde das Gebäude mit Slogans wie „Guedes im Paradies und das Volk in der Hölle“ oder „Guedes verdient am Hunger“ besprüht.

Chile: Transaktionen bedrohen Naturschutzgebiet

In Chile deckten die Pandora Papers neue Details zu Geschäften von Präsident Piñera im Zusammenhang mit der geplanten Eisen- und Kupfermine Minera Dominga auf. Der Milliardär Piñera war zu Beginn seiner ersten Amtszeit Hauptaktionär des Projekts, verkaufte jedoch Ende 2010 seine Anteile für 152 Millionen US-Dollar an seinen Schulfreund Carlos Alberto Délano. Davon wurden 138 Millionen mittels einer Transaktion auf den Britischen Jungferninseln bezahlt, einer Steueroase in der Karibik. Der Betrag sollte in drei Raten bezahlt werden, die letzte Rate war jedoch nur fällig, sofern das für das Projekt vorgesehene Küstengebiet nahe der Stadt La Higuera nicht zu einem Naturschutzgebiet erklärt würde. Darauf hatte Piñera als Präsident maßgeblichen Einfluss.

Die Region um La Higuera gilt als Hotspot der Biodiversität. Dort, wo für die geplante Mine ein eigener Hafen gebaut werden soll, befindet sich ein wichtiges Brutgebiet der vom Aussterben bedrohten Humboldt-Pinguine, auch Wale und Delfine leben dort. Piñera ignorierte jedoch die Umweltbewegung, die letzte der drei Raten wurde bezahlt und im August 2021 genehmigte die zuständige Behörde das Bergbauprojekt.

Der Präsident bestreitet einen Interessenskonflikt und beruft sich darauf, dass seine Beteiligung an dem Projekt bereits im Jahr 2017 Gegenstand von Ermittlungen gewesen sei, die zu seinem Freispruch führten. Da die Bedingung für die Zahlung der dritten Rate damals jedoch nicht untersucht wurde, hat die Staatsanwaltschaft nun die Wiederaufnahme von Ermittlungen beschlossen. Die Oppositionsparteien haben angekündigt, ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten.

Ecuador: Das Geld zieht um

In Ecuador gibt es seit einem Referendum im Februar 2017 ein Gesetz, welches es politischen Funktionsträgern verbietet, Geld in Steueroasen zu haben. Die Pandora Papers weisen dem amtierenden Präsidenten des Landes, Guillermo Lasso, die Nutzung von 14 verschiedenen Offshore-Firmen nach. Etwa drei Monate nach Erlass des genannten Gesetzes wurden im US-amerikanischen Bundesstaat South Dakota zwei Trusts gegründet, auf die die Anteile der meisten von Lasso angeblich aufgelösten Unternehmen überschrieben wurde. Lasso verteidigte sich damit, keinerlei Besitz, Kontrolle, Nutzen oder Interesse an diesen Einrichtungen zu haben und behauptet, sich immer an geltendes ecuadorianisches Recht gehalten zu haben.

Wie die Süddeutsche Zeitung (SZ) am 3. Oktober 2021 berichtete, hatte Lasso für die Konten in South Dakota keine Adresse in Ecuador, sondern in Florida (USA) angegeben. Mit diesem „Umzug“ nach South
Dakota war Lasso laut SZ in gewisser Weise auch Vorreiter für andere, die nach den Enthüllungen Panama Papers ihre Gelder aus Steueroasen in den US-Bundesstaat brachten.

Aus den in den Pandora Papers enthaltenen Dokumenten soll nicht hervorgehen, wer die Begünstigten der Trusts sind. Sollte Lasso allerdings noch immer Verbindungen zu dem Geld haben, könnte es ungemütlich für ihn werden. Die für Steuerfragen zuständige Kommission im ecuadorianischen Parlament kündigte Untersuchungen gegen Lasso an.

Peru: Ex-Präsident Kuczynski kaufte Offshore

Der Name des neoliberalen peruanischen Ex-Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski (2016-2018) taucht ebenfalls in den Pandora Papers auf. Kuczynski (PPK) hatte im Jahr 2004, als er das Amt des Finanzministers unter Alejandro Toledo innehatte, die Offshore-Firma Dorado Asset Management auf den britischen Jungferninseln erworben. Diese soll nicht nur als Holding für Immobilien fungiert haben, sondern auch Finanzberatung zum Ziel gehabt haben, wie das Investigativportal Convoca schreibt.

In die Ermittlungen gegen PPK wegen Geldwäsche im Rahmen von Schmiergeldzahlungen durch das brasilianische Bauunternehmen Odebrecht war Dorado bereits 2019 einbezogen worden. Von Odebrecht als Beratungshonorare getarnte Gelder an PPKs Beraterfirma Westfield Capital sollen von Dorado zum Kauf zweier Immobilien in PPKs Besitz verwendet worden sein. Seit 2019 befindet sich PPK im Hausarrest, die betroffenen Immobilien wurden beschlagnahmt.

Nach Ansicht des zuständigen Staatsanwaltes Domingo Pérez ist das bisher unbekannte Ziel des Unternehmens, die Verschleierung des wahren Zwecks „eindeutig ein Verhalten, das mit Geldwäsche zu tun hat“, wie er gegenüber Convoca angab. Man werde nun weitere Transaktionen von Dorado aus dem Zeitraum von 2004-2014 prüfen. 2014 hatte PPK die Firma unter verändertem Namen nach Peru transferiert.

EINGESACKT

Am 29. August 2018 fiel das Urteil. Fünf Jahre Haft für Unterschlagung, und weitere fünf für Geldwäsche. Mehr als 300 Millionen US-Dollar soll der ehemalige Präsident Elías Antonia Saca González während seiner Regierungszeit laut Staatsanwaltschaft veruntreut haben. Zuvor hatten Saca und fünf weitere Angeklagte sich mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft verständigt, und ihnen wurde im Gegenzug für ihre geständige Einlassung eine Strafobergrenze von zehn Jahre zugesagt. Andernfalls hätte Saca für die vorgeworfenen Taten eine Freiheitsstrafe von bis zu 30 Jahren gedroht.

Saca wurde auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes verhaftet

Neben Saca wurden drei seiner ehemaligen Sekretäre, der ehemalige Leiter der Finanzabteilung, sowie sein Schatzmeister und sein Buchhalter verurteilt. Letzterer ließ sich nicht auf eine Verständigung mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft ein, beteuerte bis zuletzt seine Unschuld und erhielt eine längere Freiheitsstrafe von 16 Jahren.
Saca dagegen gestand vor Gericht, staatliche Gelder veruntreut zu haben. Während seiner Präsidentschaft habe er systematisch Schecks mit Beträgen über Beträge bis zu mehreren Millionen Dollar an seinen EX-Privatsekretär Élmer Charlaix übergeben, damit dieser das Geld auf privaten Konten deponiere.

Um das Geld aus der Staatskasse auf private Konten zu transferieren, wurde es zunächst an dafür gegründete Werbefirmen überwiesen, die es dann als vermeintliche Werbepartner*innen, abzüglich eines Anteils von 20 %, an Radiostationen weiterleiteten. Der Mediengeschäftsmann Saca selbst war jedoch zu 50 bis 90 Prozent Inhaber dieser Radiostationen und ließ sich anschließend das Geld als Geschäftsführergehalt auszahlen. Je Gesellschaft soll er sich monatliche Gehälter in Höhe von 4.000,00 bis 60.000,00 Dollar haben auszahlen lassen.

Generalstaatsanwalt Melénez bezeichnete das Urteil als ein historisches Ereignis, da es das erste mal sei, dass ein Gericht El Salvadors einen ehemaligen Staatspräsidenten wegen Korruption verurteilte. Mit dem Urteil wurde Saca zugleich verpflichtet, Schadensersatz in Höhe von rund 260 Millionen Dollar an den Fiskus zu leisten. „Die Verurteilten waren alle Teil der kriminellen Struktur und das Handeln jedes Einzelnen hat dazu beigetragen, dem Staat einen Schaden zuzufügen. Sie sind daher zivilrechtlich alle verantwortlich“, begründete die Richterin María Ábrego das Urteil hinsichtlich der Rückzahlung. Während des Strafverfahrens wurden zudem mehrere Anwesen von Saca durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt – samt Sportplatz, Tanzsaal, Privatkino und Beautysalon. Mario Machado, der Verteidiger Sacas, sagte, man behalte sich vor, das schriftliche Urteil abzuwarten, um zu entscheiden ob gegen die zivilrechtliche Entscheidung Berufung eingelegt wird.

Bereits während der Präsidentschaft Sacas wurden diesem insbesondere von der damaligen Oppositionspartei FMLN (Farabundo Martí zur Nationalen Befreiung), die Zweckendfremdendung staatlicher Gelder vorgeworfen. Erst als diese 2009 mit Mauricio Funes an die Macht kam, wurden Ermittlungen eingeleitet. Im Oktober 2016 wurde Saca, der den Tatvorwurf zunächst leugnete, dann auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes verhaftet. Funes Wahl wurde durch die Korruptionsvorwürfe gegenüber Saca und seiner Partei ARENA damals befeuert. Doch auch gegen ihn ermitteln die staatlichen Behörden mittlerweile wegen Veruntreuung staatlicher Gelder. Funes hat sich unterdessen im benachbarten Nicaragua Asyl ersucht. Er wolle sich aber dem Prozess in El Salvador stellen und seine Unschuld beweisen. Das Auswärtige Amt in Nicaragua bestätigte, dass Funes Asyl gewährt wurde, da dessen Leben in El Salvador in Gewahr sei. Funes selbst gab an, es würde einen Attentatsplan seitens der extremen Rechten gegen ihn geben.

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