Über meine Asche reden

Als Rebeca eines Tages unerwartet von ihrer Großtante Peggy angerufen wird, die sie bittet ihre Asche in den Ruinen einer längst verlassenen Salpetersiedlung zu verstreuen, öffnet sich ein Fenster in eine andere Zeit: Zwischen knappen Kapiteln, die immer wieder zwischen Gegenwart und Vergangenheit springen, entfaltet sich die Geschichte einer Siedlerfamilie im Chile von vor 100 Jahren. Dazu kommen Peggys regelmäßige Briefe an eine verlorene, doch sehr vermisste Kindheitsfreundin.

Durch Rebecas Augen lernen wir ihre Großtante kennen. Peggy, auf deren Besuch sie früher jedes Jahr wartete; Peggy, die so unabhängig und einsam ist; Peggy, die immer wieder zu den gleichen Erinnerungen zurückkehrt. Durch Peggys Briefe wiederum wird ein verschwommenes Bild der Salpeterindustrie der 1920er Jahre in der Pampa der Atacamawüste gezeichnet. Als Tochter eines Verwalters der Oficina Aurora erlebt Peggy eine glänzende, scheinbar glückliche Kindheit, die von Silberbesteck, Pariser Modezeitschriften und Fahrten nach Iquique geprägt ist, aber auch vom Zerfall der Oficina, dem Bankrott der Familie bis zur unvermeidlichen Rückkehr nach England.

Obwohl Identitätsfragen der jungen Siedlergeneration oder Machtdifferenzen zwischen chilenischen Arbeiter*innen und englischen Verwaltern angeschnitten werden, bleibt die Perspektive ganz und gar bei Peggy, die die Oficina bis zum Ende hin romantisiert. Auf kritische Nachfragen von Rebeca reagiert sie mit Trotz und der gleichen Hartnäckigkeit, mit der sie durchs Leben geht.

Trotz detailreich ausgeschmückter Erinnerungen und intimster Gedanken schwebt über der Familie ein großes Schweigen, das mal bewusst, mal unbewusst scheint. So wird die Stille zwischen Rebeca und ihrem Vater zwar mit der Zeit durchbrochen, doch die unsichtbare Wand, die zwischen ihnen steht, wandert mit.

Carolina Brown schreibt, als würde sie ihre eigene Familiengeschichte erzählen, malt die Charaktere in all ihren Fehlern und Eigenartigkeiten, legt ihnen Fragen in den Mund, auf die sie selbst die Antwort nicht zu wissen scheint. Telefonate und vertraute Gespräche zwischen Personen, die meinen, sich zu kennen, tragen die Authentizität einer undurchsichtigen, durchbrochenen Familie.

Während sich die Handlung anfangs langsam, fast unbemerkt aufbaut, abgelenkt von so viel Vergangenheit, geht am Ende alles sehr schnell und kommt doch nur auf den ersten Blick zu einem Punkt. Innere Konflikte bleiben, Fragen werden nicht klarer, sondern scheinen immer mehr zu verschwimmen. Vielleicht wird gerade hier aufgezeigt, wie Erinnerung auch mit dem Vergessen Hand in Hand geht und wie wenig Kontrolle wir doch über die Wahrheiten unseres Lebens haben. Aber so wie Briefe an Personen geschrieben werden, die nicht mehr da sind, müssen auch Erinnerungen die Sehnsüchte nach verlorenen Orten und Zeiten halten.


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Kultur nicht verkaufen, sondern verschenken

Die Biblioteca popular Salvador Allende versorgt die Nachbarschaft mit Büchern (Foto: Francisco Osorio via Flickr (CC BY 2.0))

Im März 1995 stach die Bibliolancha Itinerante (etwa: „wanderndes Biblioboot“) zum ersten Mal in See. Teolinda Higueras von der Insel Chiloé im zentralen Süden Chiles, damals Leiterin der öffentlichen Bibliothek von Quemchi, hatte sich die Reise auf einem Boot der Gemeinde zur Aufgabe gemacht: Sie wollte die abgelegensten Ortschaften der Inselgruppe anfahren und diese mit Büchern versorgen.

Seit der Gründung dieses einzigartigen Projekts sind fast dreißig Jahre vergangen. Noch immer steht es unter der Leitung von Teolinda und ihrer Familie, heute unter Schirmherrschaft eines Kulturvereins, der den Namen der Kunsthandwerkerin Otilia Yáñez trägt. Schon im Jahr 1998 konnte sich das Projekt den Traum eines eigenen Bootes erfüllen: Seitdem fährt die kleine Fähre, in der bis zu 32 Menschen Platz haben, die Inseln Tac, Metahua, San José, Añihue, Mechuque, Voigue, Cheniao, Chauques und Butachauques an und öffnet den abgelegenen Ortschaften die Türen zur Welt der Kultur.

Nach den ständigen Fahrten über die Inseln sei Teolinda in den ersten Jahren bewusst geworden, in welchen Realitäten die Menschen in dieser Gegend lebten: geprägt von der Einsamkeit der Ferne und dem fehlenden Zugang zu Kulturangeboten, die dem Rest des Landes zur Verfügung stehen. Im Laufe der Jahre bietet sie auf dem Boot nicht nur Bücher an, sondern auch Theater, Kino und reist zusammen mit Geschichtenerzähler*innen. „Dort, wo der der Staat nicht hinkommt, sind wir da“, berichtet sie. Die Gemeinschaftsbibliotheken wurden auf Initiative von Nachbar*innen gegründet und von ihnen verwaltet. Sie entstehen an Orten, in denen die Entfaltung kultureller Institutionen nicht ausreichend ankommt und somit als Antwort auf eine bestimmte Notwendigkeit: der Suche nach einem Raum, um sich Büchern und anderen künstlerischen Ausdrucksformen zu nähern. Doch oft werden die Bibliotheken auch zu dem Ort, an dem Menschen ihre gemeinsamen sozialen Kämpfe aufbauen können.

Um zur Villa Andes del Sur im Stadtteil Puente Alto von Santiago zu kommen, braucht man mehr als eine Stunde. An einer Haltestelle an der Kreuzung der Straßen Los Toros und Nuevo Continente wurde sich ein vernachlässigter Ort wieder angeeignet, um dort die heutige Bibliothek der Villa aufzubauen. Es ist ein bunter Ort voller verschiedenster Bücher entstanden.

„Mir wurden viele Bücher gespendet und alles Mögliche überlassen, das ist das Wichtigste. Filme, Poster, VHS-Kassetten, Zeitschriften. Auch beim Verfassungsplebiszit wurden mir die Ablehnungs- und die Zustimmungskampagnen überlassen, dieser Ort dient also kulturell gesehen sehr vielem“, erzählt Diego Riffo, der das Projekt leitet und Vizepräsident des Gemeinderats ist. Er erklärt auch, dass „die Bibliothek entstanden ist, um auf eine Forderung einzugehen, die nicht erst während des estallido (chilenische Revolte ab Oktober 2019, Anm. d. Übers.) aufkam: die Alphabetisierung. Es gab so wenig Kultur, Bücher hatten so wenig Prestige, das Lesen war immer sehr zentralisiert“.

Was Riffo sagt, wird von einer Studie der Stiftung Vivienda von 2019 untermauert, die untersuchte wie viele Familien aus Santiago Zugang zu Verkaufs- und Verleihstellen von Büchern haben. Hierbei stellte man eine beachtenswerte Schere zwischen verschiedenen Stadtteilen fest. Die geringsten Anteile von Familien mit Zugang zu Büchern – jeweils unter zehn, teilweise sogar unter fünf Prozent – wiesen die Stadtteile San Bernardo, Puente Alto, La Pintana, El Bosque, Quilicura, Macul, Renca und Conchalí auf. Diese Kommunen liegen größtenteils am Rande Santiagos, die Fahrtwege betragen teilweise mehrere Stunden.

Ein paar Kilometer weiter, in der Villa Doña Gabriela, findet man die Biblioteca Popular Ramiro, die an Mauricio Hernández Norambuena erinnert, auch bekannt als comandante Ramiro der Frente Patriótico Manuel Rodríguez (linke Guerrillaorganisation der Zeit der Diktatur, Anm. d. Übers.). Auf einem Regal vor dem Haus von Juan Pablo Álvarez in Puente Alto stapeln sich die Bücher in die Höhe: Schulbücher, Fiktion, Literaturklassiker. In diesem Haus befand sich früher eine der öffentlichen Bibliotheken von Santiago, deren Verwaltung dem Gemeinderat überlassen wurde. Juan Pablo sitzt auf der Straße und erinnert an die Anfänge des Projekts, das im Mai 2020 von ihm gegründet wurde und inzwischen bis zu 3.600 Bücher besitzt, die den Nachbar*innen der Siedlung zur freien Verfügung stehen. Das Projekt wurde mit der Vision gestartet, die Bildung aus dem Stadtteil heraus zu organisieren.

„Die Idee für die Bibliothek entstand aus einer Unruhe heraus – und aus dem Aufruf dazu, dass es auch am Stadtrand Bibliotheken geben sollte“, sagt Álvarez, der sich selbst Professor der öffentlichen Bildung von unten nennt. Dabei hat er sich von anderen Bibliotheken der Kommune inspirieren lassen, die Bücher an Bushaltestellen oder vor Häusern platzierten und Workshops sowie Kulturangebote organisierten. All das wurde von den Nachbar*innen gut aufgenommen – vor allem während der Pandemie, als Bücher angesichts der sozialen Isolation zu einem Rückzugsort wurden. „Die Menschen, die am Stadtrand wohnen, brauchen Abwechslung, wenn sie ihr Zuhause zum Schlafen oder zusammen mit anderen benutzen. Ich denke, es braucht neben den Fußballplätzen und den Spielen auf den Plazas auch Orte der Entspannung und zum Lesen. Aber das Lesen fällt am Stadtrand schwer. Das liegt am Scheitern des Bildungssystems, weil in den Schulen nicht gelesen wird. Es gibt eine Krise des Leseverständnisses, der Textbearbeitung und der Textanalyse“, meint der Professor.

Das aktuelle Staatliche System Öffentlicher Bibliotheken (SNBP), das in Partnerschaft mit der Verwaltung für Bibliotheken, Archive und Museen (DIBAM) organisiert ist, deckt 96 Prozent der Fläche Chiles ab. Das heißt, dass es in 332 von 346 Kommunen mindestens eine Ausleihstelle für Bücher gibt. Da stellt sich die Frage: Warum haben sich die Gemeinschaftsbibliotheken von staatlichen Vorgaben und etablierten Strukturen unabhängig gemacht? Ihre Motivation liegt laut den Betreiber*innen darin, horizontale Strukturen in ihren Projekten zu fördern und nicht nur zum Lesen anzuregen, sondern auch Gemeinschafts- und Kulturräume zu schaffen.

Nachbarschaftliche Beziehungen knüpfen

Bibliotheken wie die von Teolinda, Diego und Juan Pablo beweisen eine Organisierung der Nachbarschaften rund um die Projekte. Die Initiativen haben ein Netzwerk der gegenseitigen Zusammenarbeit zwischen Nachbarschaftsgruppen geschaffen, das es ihnen ermöglicht, ihre Kontakte zu erweitern und mehr Teilnehmer*innen anzusprechen. So sind rund um die Demokratisierung des Lesens auch verschiedene Räume des Miteinanders sowie Kulturzentren entstanden.

Dass sich die Initiativen zusammenschließen und vernetzen, wird zur kulturellen und gesellschaftlichen Stärke: Juan Pablo erzählt, dass die Netzwerke zwischen verschiedenen Bibliotheken in Puente Alto schon ermöglichten, die Bibliotheken als Vorratszentren zu nutzen, um Notfälle wie Stürme oder Brände zu bekämpfen. Die Gemeinschaft besteht also nicht nur aus Leser*innen, die in den Büchern Zuflucht suchen, sondern aus aktiven gesellschaftlichen Akteur*innen.

Auch Diego Riffo von der Bibliothek aus Villa Andes Sur berichtet davon, dass durch die Vernetzung zwischen den Nachbar*innen aus Puente Alto eine Einheit entstanden ist, in der Unbekannte zu Bekannten wurden. „Was auch schön ist: Wenn neue Gemeinschaftsbibliotheken entstehen und bekannter werden, sehen die Leiter der anderen Bibliotheken ihre eigene Arbeit fruchten – weil eine nach der anderen entsteht“, freut sich Riffo.

Beide Initiativen in Puente Alto setzen einen Schwerpunkt darauf, das Lesen mit anderen Arten der Kultur zu verbinden. Juan Pablo erzählt davon, wie er Musikbands kennengelernt und dazu eingeladen hat, auf ihren Konzerten einen Bücherstand aufzustellen. „Anstelle die Kultur zu verkaufen, wird sie verschenkt“, sagt er mit Überzeugung.

So entstehen zwischen den Seiten der Bücher menschliche Bindungen. Nataly Nuñez, die die Bibliothek Villa Andes Sur benutzt, erzählt davon, wie sie Nachbar*innen näherkam, die vorher Fremde waren: „An einem Tag las ich gerade, als eine ältere Frau bei der Suche nach einem Buch hinfiel. Ich half ihr, aufzustehen und nun ja – heute gehen wir sogar zusammen zum Yoga. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir so dankbar für diesen Ort sind. Er bringt uns dazu, miteinander ins Gespräch zu kommen.“ In dem Stadtviertel, das weit entfernt vom Zentrum der Hauptstadt liegt, bilden sich Bindungen, die denen einer Familie ähneln. „Ich komme her, um die Bücher zu sortieren und die Frau von gegenüber gibt mir ein Eis, der von der Bäckerei schenkt mir Gebäck. Es ist sehr schön, was hier entsteht“, sagt Riffo, dankbar.

Den Betreiber*innen geht es auch darum, die Nachbarschaftsorganisierung mit Institutionen der Bürger*innenbildung und politischer Debatte in Verbindung zu bringen. In der Gemeinschaftsbibliothek Ramiro gab es während des ersten Verfassungsprozesses drei Bürger*innentreffen, zu denen auch Verfassungsdelegierte wie Alondra Carrillo kamen. Diego hat außerdem organisiert, dass der Bibliothek Exemplare des Vorschlags für den neuen Verfassungstext geliefert wurden.

Auch das Netzwerk der Gemeinschaftsbibliotheken von Gran Valparaíso ist ein Beispiel für die Nachbarschaftsorganisierung, die diese Kulturinitiativen auszeichnet. Das Netzwerk ist 2012 entstanden und erstreckt sich von den Hügeln Valparaísos bis Los Andes.

Eine der Bibliotheken des Netzwerks trägt den Namen von Irma Cid Parra, die als Französischlehrerin in der Mädchenschule von Viña del Mar arbeitete und im Jahr 1973 gefeuert wurde, weil sie der Kommunistischen Partei angehörte. Die Bibliothek wird aktuell von Alejandra Jiménez Cid geleitet, der Tochter von Irma. Jiménez erklärt, bei der Gründung sei es darum gegangen, einen Ort der Erinnerung und der Wiederbegegnung von Familien zu schaffen.

Ghislaine Barría, Bibliothekarin und Ex-Präsidentin des Netzwerks, führt die Zunahme an Bibliotheken auf das große Interesse zurück, neue Orte zum Lesen zu finden. Diese seien manchmal auch weniger konventionell, sondern entstünden beispielsweise durch Besetzungen.

Barría erklärt, dass diese Orte Teil der Geschichte der Hafenregion seien. Sie richteten sich an strategischen Orten ein, um gegen soziale Ungleichheiten wie etwa in der Bildung zu kämpfen. Auch wenn es den Orten primär darum gehe, ein Bewusstsein zu schaffen und neue Generationen zu unterstützen, kämpfen sie auch gegen den Rückgang der Alphabetisierungsrate unter älteren Generationen an, indem Lesekreise und Familien- oder Nachbarschaftstreffen organisiert werden. Die Bibliothekarin erinnert auch an die Bedeutung der Gemeinschaftsbibliotheken: „Wir dürfen nicht vergessen, dass solche Räume aus dem Widerstand heraus entstehen.“

Kulturpolitik von der Basis aus

In Chile gibt es aktuell 681 Bibliotheken, die dem Netzwerk der staatlichen Bibliotheken (SNBP) des Ministeriums für Kultur, Kunst und Kulturerbe angehören. Im Jahr 2022 wurden dort landesweit 1.448.148 Bücher ausgeliehen und 415.223 Bücher digital bereitgestellt. Hierbei ist ein Zuwachs von 61 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Im April 2023 wurde zudem eine nationale Politik des Lesens, des Buches und der Bibliotheken vorgestellt. Dass der Staat in den letzten Jahren versucht, mit seiner Kulturpolitik das Lesen zu fördern, Leseverständnis zu vermitteln und seine Bibliotheken zu professionalisieren, kann also nicht geleugnet werden. Dennoch wenden sich die Gemeinschaftsbibliotheken gegen solche Statistiken und versuchen, ein anderes Problem zu lösen: den schwierigen Zugang in ihren Regionen, sei es der Stadtrand von Santiago, die Hügelkette von Valparaíso oder die verborgenen Winkel der Insel Chiloé, die die Bibliolancha Itinerante besucht.

Laut Andrés Fernández, Soziologe an der Universidad de Chile, habe es hier Fortschritte gegeben: „Diese Politik stellt den Menschen und den kulturellen Ausdruck in den Fokus und entwickelt staatliche Strukturen, um den Menschen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Was der Buchpolitik bisher gefehlt hat, war zum Beispiel ein tatsächliches politisches Interesse daran, das, was auf dem Papier steht, auch in die Praxis umzusetzen“, so der Autor.

Dennoch: In einer Studie von Ipsos und der Stiftung La Fuente über Lesegewohnheiten und -wahrnehmungen in Chile geben 82 Prozent der Chilen*innen an, dass sie gern mehr lesen würden, als sie es aktuell tun. Aber warum? In der gleichen Studie bestätigen 53 Prozent der Befragten, der Zeitmangel sei der Hauptgrund, der sie vom Lesen abhalte. Dies ist insbesondere in den sozioökonomisch schwächeren Kommunen zu beobachten.

Deshalb sind die Gemeinschaftsbibliotheken für ihre Gemeinden so wichtig. „Diese Orte erfüllen die grundlegende Funktion, Identitäten zu stärken. Als kulturelle Treffpunkte versuchen sie, Orte anzuerkennen, die historisch gesehen in den Vierteln eine sehr wichtige Rolle spielten. Diese wurden aber nicht staatlich finanziert, weil sie das Spiel nicht mitspielen wollten“, erklärt Tomás Peters, Soziologe an der Universidad de Chile.

Auch der Soziologe Andrés Fernández erklärt, dass Bildung auf unterschiedliche Weise prekarisiert worden sei. Lehrbücher würden überarbeitet, ohne den Lernprozess der Menschen zu beachten, es würden keine Anreize geschaffen, Bücher zu lesen. Fernández hebt das SNBP hervor, kritisiert allerdings die Art und Weise, in der Geldvergabe über Wettbewerbe, nicht nachhaltig und langfristig konzipiert sei. „Der springende Punkt liegt beim Fokus auf das Bildungssystem: Wie bringen wir das Lesen bei und schaffen Lesegewohnheiten?”

Die Bibliolancha, die seit 29 Jahren über das Meer vor Chiloé schippert, ist wegen ihrer Langlebigkeit zu einer Ikone der Leseförderung geworden. Die kulturelle Demokratisierung, an den entlegensten Orten, ist mit der Zeit vorangeschritten. Heute bleibt Teolinda Higueras mit der Bibliolancha jeweils eine Woche an der Küste der Inseln, damit Kinder, Erwachsene und Nachbar*innen nicht nur an den Büchern, sondern auch an Workshops und anderen Aktivitäten Spaß haben können.

Mit den Erfahrungen und Meinungen der verschiedenen Organisationen und Expert*innen lässt sich die These des Soziologen Peters bestätigen: Diese Kulturzentren sind Orte des Zusammentreffens und strategisch wichtig für die kulturelle Demokratisierung des Landes.


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“Estábamos convencidos de nosotros”

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“¿Dónde está?” Apoyar a los familiares de los detenidos-desaparecidos fue una parte importante del trabajo de la Vicaría (Foto: Centro de Documentación y Archivo Vicaría de la Solidaridad)

Después del violento golpe contra el gobierno socialista de Salvador Allende el 11 de septiembre de 1973, la junta militar bajo el general Augusto Pinochet declaró que pretendía devolver a Chile a la vía de la democracia. En realidad, las fuerzas de seguridad secuestraron y torturaron a más de 40.000 supuestos miembros de la oposición entre 1973 y 1990, según el conteo de las Comisiones de Verdad. Mientras la mayoría de los chilenos volvía a su vida cotidiana después del golpe, un círculo de izquierdistas laicos y clericales tomó en sus manos el apoyo a los perseguidos políticos.

“Como abogados, trabajábamos en los tribunales con otro nombre y a cara descubierta”, recuerda Álvaro Varela, funcionario del COPACHI, fundado en octubre de 1973. “Lo que nos hacía sentirnos tranquilos – entre comillas – era que representábamos a la Iglesia y teníamos ese respaldo internacional tan grande “. 

Bajo la protección del cardenal Raúl Silva Henríquez, Varela y casi 150 colegas apoyaron a las personas que hayan sido despedidas de su trabajo o detenidas después del golpe. Sólo en el transcurso de los meses, los empleados empezaron a comprender su trabajo sucesivamente como un trabajo para defender los derechos humanos universales. 

Pero no fue sólo en Chile donde la resistencia a la represión anticomunista comenzó a agitarse. En todo el mundo se formaron grupos de solidaridad con Chile que organizaron rutas de escape para los exiliados y siguieron de cerca la situación en Chile. Lateinamerika Nachrichten (LN) también siguió cada paso dado por la junta contra la clase obrera chilena. La revista llamó “lección chilena” al impacto del caso del país sudamericano en la izquierda antimperialista alemana. Este fue tan intenso que profesores y alumnos debatieron la situación en clases y los sindicatos publicaron textos periodísticos al respecto. En tanto, activistas de la solidaridad y trabajadores del COPACHI estrecharon vínculos. Los unía el sentimiento por ayudar de emergencia en el caos político y social que dejó el violento golpe.

Trabajo de los derechos humanos bajo la protección clerical

Al cabo de pocas semanas, las oficinas del COPACHI en la calle Santa Mónica en Santiago fueron abarrotadas. Los informes sobre los métodos de tortura de las fuerzas de seguridad eran especialmente difíciles de creer “para terceros”, afirma la trabajadora social María Luisa Sepúlveda: “Pero nosotros ya sabíamos que era verdad”. La entonces joven de 26 años trabajó inicialmente en la atención primaria de víctimas y familiares que dieron sus testimonios. Fueron esos testimonios los que se archivaron como expedientes del caso y que el COPACHI empezó a sistematizar con el tiempo. Igualmente, Varela recuerda la sensación abrumadora que sintió cuando revisó esos expedientes: “Era muy difícil imaginarse a seres humanos actuando de esa forma contra otros seres humanos. Ahí me di cuenta, obviamente, que lo que yo sabía era la nada al lado de lo que realmente estaba pasando “.

En los primeros meses, los informes sobre torturas y detenciones ilegales llegaron a Alemania principalmente de rumores. Al mismo tiempo aterradoras cifras, que carecían de veracidad, circularon en el movimiento de solidaridad en el extranjero. En febrero de 1974, Hortensia Bussi, esposa del asesinado presidente chileno Salvador Allende, declaró ante la Comisión de Derechos Humanos de las Naciones Unidas que habían sido asesinados entre 15.000 y 80.000 opositores políticos. Esta estimación tan exagerada dio justo alas a la delegación del gobierno chileno, que ahora pudo afirmar que las denuncias formaron parte de una campaña internacional de difamación en manos marxistas.

“Los familiares nos alejaban del desamparo”

“El cardenal nos dijo que la Iglesia no se equivoca porque es infalible”, recuerda el abogado penal Héctor Contreras. “Entonces no nos podemos equivocar. ¿Por qué? Porque con un caso falso van a decir todo esto es mentira”. Contreras se convirtió en un experto en la de represión estatal gracias a su trabajo en la Vicaría de la Solidaridad, la organización sucesora del COPACHI. Al buscar a los detenidos desaparecidos y desenterrar cadáveres acabó realizando tareas que hubieran sido realmente deberes estatales. Para él era imposible detener la búsqueda, a pesar de la complicidad entre la policía, los tribunales y el Servicio Médico Legal. “Si se decía que el caso judicial se archivó, los familiares te preguntaban: ‘¿Y qué vas a hacer ahora?’ ¿Y quieres tu decir: ‘Nada’?”, explica Contreras su determinación de seguir con la búsqueda. 

“Siempre estábamos tratando de hacer cosas “, recuerda Sepúlveda. “Se hacían denuncias ante Naciones Unidas, los acompañábamos a los familiares a los tribunales, se hacían querellas… En otras palabras: los familiares nos alejaban del desamparo. “

En abril de 1974, seis meses después del golpe, los trabajadores del COPACHI se decidieron a publicar una parte de las informaciones que habían recolectado en secreto. Denunciar la tortura en el país no fue posible debido a la prensa centralizada y, además, resultaba muy peligroso. “En ese momento nuestro único instrumento era informar a la opinión pública internacional y que informando los de afuera, rebotara la noticia acá.”, explica Varela la decisión de remitir una documentación de casos al diario mexicano Excélsior.

El informe, que documentaba cientos de casos de tortura por agentes estatales, fue acogido con gran interés por el movimiento internacional de solidaridad. En septiembre de 1974, Chile-Nachrichten escribió también sobre el uso masivo de descargas eléctricas y mutilaciones testimoniadas en el informe y documentaciones sobre mujeres que quedaron embarazadas durante la encarcelación. Incluso se informó sobre “el caso de un joven de 16 años que estuvo encerrado durante 15 días en una caja con un agujero por el que se pasaba la comida”. 

Estas imágenes perturbadoras – documentadas por el COPACHI y compartidas por el movimiento de derechos humanos y redes de solidaridad – se difundieron hasta la última aula alemana y con ello el conocimiento sobre las formas de violencia de los aparatos de seguridad chilenos. La opinión pública internacional durante la década de 1970 se hizo cada vez más crítica y llevó al Estado chileno a la condición de un paria. Anteriores aliados de la junta, como el gobierno de los Estados Unidos, debieron suspender temporalmente la ayuda económica al país.

Ahora bien, después de que la información se publicara en el extranjero, se aumentó la presión sobre los empleados del COPACHI. La prensa cercana al régimen acusó al cardenal Silva que apoyaba una estructura apropiada por marxistas y sembró la desconfianza entre las iglesias que aportaron al COPACHI. 

“Creo que las iglesias nos agradecían que atendiéramos a la gente”, dice Sepúlveda. “Pero a la vez sospechaban que nosotros estábamos tan al favor del gobierno anterior.” Poco a poco las iglesias dejaron de apoyar al COPACHI. Finalmente, el cardenal cedió a las presiones de Pinochet y cerró la organización ecuménica a finales de 1975, solo para reabrirla unos días después, bajo la única protección de la Iglesia católica con el nombre Vicaría de la Solidaridad.

En adelante, los trabajadores del COPACHI cuidaron cierta distancia pública con el movimiento internacional de solidaridad y derechos humanos. “No habría sido bueno hacerlo con la OEA (Organización de los Estados Americanos, nota del editor) y Naciones Unidas encima”, recuerda Sepúlveda una discusión interna en 1978. En ese momento, la Vicaría de la Solidaridad tuvo a altos representantes de comisiones internacionales de derechos humanos de visita y era justo en ese momento en que se descubrieron los restos quemados de un grupo de detenidos desaparecidos en un horno en la comuna de la Isla del Maipo. Los trabajadores del COPACHI se decidieron de ocultar el descubrimiento hasta que sus huéspedes internacionales se hayan ido del país. “Se habría pensado que era una cosa programada para hacer escándalo.”, dice Sepúlveda: “Y estábamos convencidos de nosotros mismos.”

El tiempo no todo lo cura

En la actualidad, Chile tiene una de las tasas más altas de condenados por violaciones de derechos humanos en el mundo. Sin embargo, los familiares de los detenidos desaparecidos siguen buscando a sus seres queridos. “Las cosas avanzan poco porque estaba una política de hecho de los militares y de las Fuerzas Armadas que sigue hasta hoy día: de no reconocer que esto ocurrió”, afirma Héctor Contreras. María Luisa Sepúlveda está convencida de que la centralización de toda la información es la tarea estatal más urgente para la búsqueda. “En este momento, cada institución tiene su propia información: el programa Derechos Humanos, la del [Servicio, nota del editor] Médico Legal, los tribunales militares”, dice Sepúlveda. “No les daría a los familiares la tarea de la búsqueda porque no les corresponde.”

Contreras critica el estancamiento de la búsqueda de verdad y justicia: “Muchos que estuvieron acompañándonos antes, ya no están porque la situación no es tan dramática. Pero uno nunca sabe si es, o no es dramático.” Y agrega: “Se asumía también que después de la guerra mundial no habrá otra guerra que tuviera enfrentada a las potencias y aparece Ucrania. Yo creo que deberían recapacitar un poco: Las cosas que parecen cerrarse con el tiempo no se cierran.”


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Im Weltall verklingen die Schreie

Als der Geheimdienstagent Andrés Valenzuela Morales im Jahr 1984 die Redaktionsräume der Zeitschrift Cauce betritt, um auszusagen, ist die Erzählerin von Nona Fernández’ Roman Twilight Zone noch ein Kind. An das Gesicht des Agenten auf der Titelseite erinnert sie sich aber genau. Denn „jeder konnte der Mann sein, der gefoltert hatte. Auch unser Lehrer an der Oberschule.“

Die Erzählerin hat den Agenten niemals persönlich kennengelernt, aber er begegnet ihr immer wieder. Zuletzt, als sie für einen Film über die Vicaría de la Solidaridad, eine katholische Organisation, die Opfern der Diktatur half, recherchiert. Er wird als „Mann, der gefoltert hat“ zum Ausgangspunkt, die Geschichte der Diktatur zu erzählen und zu erfassen, wie die (mangelnde) Erinnerung daran die chilenische Gesellschaft weiterhin durchdringt.

Dazu lässt Fernández ihre Erzählerin die Geschichte weiterspinnen – ein großer Teil der Handlung findet in ihrer Vorstellungswelt statt. Besonders diese Teile bieten eine tiefe, spannende, zugleich schreckliche Annäherung an die Unaussprechlichkeit der Folter und des gewaltsamen Verschwindenlassens.

Um sich dem Unerklärlichen zu nähern, es gleichzeitig anschaulicher und erträglicher zu machen bedient sich die Erzählerin Anleihen aus ihrer Lieblingsserie Twilight Zone. Wie der in einer Folge der Serie auf einem fernen Planeten des Weltalls gestrandete Astronaut sind die Protagonist*innen ihrer Geschichte verloren in der Todesmaschinerie der Militärdiktatur. Sie zeigt die komplexen Widersprüche der Personen auf, die sich nur schwer an die grausame Arbeit der Folter gewöhnen und derer, die ihre Genoss*innen verraten. Umso liebevoller ist auf der anderen Seite die Darstellung der Erzählerin, wenn es um die Verschwundenen geht, von denen oft nur Urlaubsfotos geblieben sind. Ihnen gibt Fernández eine Stimme, die weit über die Rolle als Opfer hinausgeht. Sie stellt sich vor, was für Menschen die Verschwundenen im ausgelassenen Moment der Aufnahme der Fotos waren, aber auch im Moment ihres Todes.

Ergänzt wird diese imaginäre Handlung von autofiktional anmutenden Szenen, die aus der persönlichen Perspektive der Autorin selbst erzählt scheinen. Diese handeln von den Unzulänglichkeiten institutionalisierter Erinnerungskultur und Rückblicken auf die vermeintlich normale eigene Kindheit vor dem Ausnahmezustand der Militärdiktatur.

Dabei stellt sie auch immer wieder den Bezug zur Gegenwart her. Etwa, indem sie die Angst der Erzählerin um ihre Kinder mit Geschichten Verschwundener verknüpft, die vor den Augen ihrer Familie entführt worden sind. Dies macht das Ganze auf schmerzhafte Weise aktuell. Es wird deutlich, dass das Vergangene wieder geschehen kann.

Fernández nimmt die Leser*innen mit auf ihre Reise durch Vorstellung, Manipulation, Täuschung und Wahrnehmung und wendet sich manchmal direkt an sie, was die Lektüre mitreißend und fesselnd macht. Der großartig von Friederike von Criegern übersetzte Roman wurde mit dem Premio Sor Juana Inés de la Cruz ausgezeichnet. Ein schmerzhaftes, liebevolles und wichtiges Buch.


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Erwachen in Chile

© Felipe Morgado MAFI

„Chile ist aufgewacht“ schreien Aktivist*innen nachdem Chile sich für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt hat. Sie schwenken Flaggen: die chilenische, die der Mapuche und die Wiphala-Flagge. Die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung hat sich gerade entschieden, eine historische Veränderung auf den Weg zu bringen. Doch dass eine neue Verfassung kein punktuelles Event ist, wird klar, wenn man sich die Dokumentation Oasis von Tamara Uribe und Felipe Morgado ansieht. Die angebliche „Oase“ Lateinamerikas, wie Chile wegen seiner lange Zeit relativ stabilen wirtschaftlichen Lage genannt wurde, wurde deswegen jahrelang von heftigen Protesten und Diskussionen erschüttert.

Der Film beginnt mit den Protesten gegen die Fahrpreiserhöhung für U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago. Durch die rasant steigenden Preise angeheizt, schwappen sie von dort bis auf die Straßen Chiles. Die Reaktion des Präsidenten Piñera ist harsch: Erstmals seit der Diktatur Pinochets lässt er das Militär wieder patrouillieren. Es kommt zu vielen Toten und Verletzten. Doch durch die wochenlangen Proteste ist das Undenkbare plötzlich möglich: Ein Referendum für oder gegen eine neuen Verfassung findet statt. Und Chile stimmt dafür.

Oasis folgt diesen Prozessen kommentarlos, lässt Bilder und Akteur*innen für sich selbst sprechen. Auch im bittersten Moment für die Demonstrant*innen: Als die neue Verfassung endlich ausgearbeitet ist, stimmt Chile nochmals ab, über das Inkrafttreten der neuen Gesetzgebung. Die Diskussionen schlagen erneut hoch, Angst und Ungewissheit sind genauso wie Freude und Hoffnung groß. Schließlich wird die neue Verfassung von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Ihre Einführung ist damit vorerst verhindert.

Tamara Uribe und Felipe Morgado nehmen die Zuschauer*innen in Oasis mit mit auf eine Reise über den Zeitraum von drei Jahren, von den Protesten in Santiago 2019 bis zum Scheitern der neuen Verfassung 2022. Sie dokumentieren die Bewegungen in den Metropolen und aus der Peripherie, berichten von feministischen und indigenen bis hin zu konservativen und militanten Kämpfen. Eine Reise, die aus Momentaufnahmen entsteht, so nah, so ungefiltert, so harsch und doch so weich. Die Personen werden porträtiert ohne sie zu protagonisieren. Und gerade wenn man denkt, einen festen Gedanken gefasst zu haben, kommt schon der nächste Moment, die nächste Aufnahme, die sprachlos macht. Manchmal sind es Landschaftsaufnahmen, an anderen Stellen ist es Gewalt. Es gibt keine*n Sprecher*in zur Einordnung, doch trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – erzählen die für sich stehenden Bilder überzeugend ihre eigene Geschichte.

So zeichnet Oasis ein eindrückliches Bild von den Gesichtern des Aktivismus, den Emotionen des Protests, der Gespaltenheit und Verbundenheit innerhalb eines Landes. Und davon, wie ungewiss die Zukunft, die wir zu gestalten versuchen, ist – in Chile und überall.

LN-Bewertung: 5/5 Lamas


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Die Verfassungskrise verschärft sich

Die alte Verfassung kann weg Aber wird der neue Entwurf besser als Pinochets Verfassung? (Foto: simenon simenon via wikimedia commons , CC BY-SA 2.0)

Bloß keine Experimente – so ließe sich der Entwurf der sogenannten Expert*innenkommission für eine neue Verfassung für Chile vielleicht am besten beschreiben. Denn es ist ein schlichtes Dokument mit 134 Seiten, das die 24 vom Parlament ernannten „Expert*innen“ Anfang Juni nach dreimonatiger Arbeit vorgelegt haben. In 14 Kapiteln samt Übergangsregelungen werden grundlegende Themen wie Rechtsstaat, politisches System und Justizsystem abgehandelt.

Neben der Definition Chiles als „sozialer und demokratischer Rechtsstaat“ wird im Entwurf eine Sammlung sozialer Rechte festgeschrieben. So etwa das Recht auf Gesundheit, Bildung, angemessene Arbeit, Freiheit der Gewerkschaften, soziale Absicherung, angemessene Wohnung, Wasser und Eigentum. Die Wahrung und Förderung dieser Rechte soll jedoch durch „staatliche und private Institutionen“ sichergestellt werden – eine Formulierung, die aktuelle neoliberale Strukturen wie etwa die privatisierte Gesundheits- und Rentenversorgung auch in der neuen Verfassung absichern könnte.

Was im Entwurf nicht vorkommt, sind Worte wie Plurinationalität, reservierte Sitze für Indigene im Parlament, Geschlechterparität in politischen Institutionen oder die Rechte der Natur. Stattdessen endet der Entwurf mit einem nüchternen Kapitel über Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Entwicklung mit der Betonung darauf, dass Umweltschutz immer mit Rücksicht auf nationalen Fortschritt und Entwicklung stattfinden müsse. Als besonders fortschrittlich lässt sich dieser Entwurf, vor allem im Vergleich zum im September abgelehnten Verfassungstext, also nicht beschreiben. Tatsächlich blieben manche Inhalte aus der aktuell gültigen Verfassung von 1980 einfach erhalten, wie das Observatorio Ciudadano, eine Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Fokus auf indigene Rechte, in einer Erklärung feststellt: Der Entwurf zeige aus Menschenrechtsperspektive ebenso wie Pinochets Verfassung „ernste Defizite“, heißt es dort.

Das Menschenrecht auf Wasser wird nicht festgeschrieben, das Recht auf Wassernutzung dagegen sehr wohl

Ein Beispiel dafür, dass der neue Verfassungsentwurf nicht mit dem neoliberalen System bricht, ist das Thema Wasser, wie Manuela Royo gegenüber LN erläutert. Sie ist Anwältin und saß 2021 und 2022 für die Wasser- und Umweltbewegung MODATIMA im Verfassungskonvent. Bei einem ersten Blick auf den Entwurf ließe sich annehmen, dass die Expert*innenkommission das Wasser erhalten und schützen wolle. „Besonderes Augenmerk wird auf die Sicherstellung des Menschenrechts auf Wasser für heutige und zukünftige Generationen gelegt, ebenso auf seine Verfasstheit als ‚nationales Gut öffentlicher Nutzung‘. Bei einer tieferen Analyse treten jedoch Widersprüchlichkeiten auf“, erklärt Royo. Erstens werde das Menschenrecht auf Wasser nicht als solches festgeschrieben, Wassernutzungsrechte aber als grundlegende Rechte aufgefasst. „Dieses Verständnis kann dazu führen, dass die Wahrung des Rechts auf Wasser mit der Wahrung des Rechts auf Wassernutzung kollidiert, so wie wir es schon heute bei hunderten Rechtsstreitigkeiten erleben.“ Ebenso fehle es an Ansätzen zum Umgang mit der Wasserknappheit in weiten Regionen des Landes. Ihre Bewegung MODATIMA komme daher zu dem Fazit, „dass der Vorschlag einen Rückschritt bedeutet und dem Schutz des Menschenrechts auf Wasser zuwiderläuft“, so Royo.

Die ultrarechte Republikanische Partei hat ein Vetorecht im Verfassungsrat

Doch nicht nur inhaltlich, auch auf organisatorischer Ebene kritisiert die Anwältin den Verlauf des neuen Verfassungsprozesses. Indem Kandidat*innen bei den Wahlen für den Verfassungsrat am 7. Mai dieses Jahres nur auf Parteilisten kandidieren konnten, seien die sozialen Bewegungen „absichtlich ausgeschlossen“ worden. „Unserer Meinung nach war das eine sehr undemokratische Entscheidung“, sagt sie. Dass die etablierten Parteien großen Einfluss auf den Verfassungsprozess haben und nun wieder „Politik von oben“ gemacht werde, sei besorgniserregend: „Das verschärft eine politische Krise, die unter anderem zum Aufstieg der Ultrarechten geführt hat, wie wir sie in der Zusammensetzung des aktuellen Verfassungsrats beobachten können“, meint Royo. Tatsächlich haben rechte Parteien im Verfassungsrat, der nun über den Entwurf der Expert*innenkommission berät, eine deutliche Mehrheit. Allein die ultrarechte Republikanische Partei unter José Antonio Kast kommt mit 22 Delegierten auf über zwei Fünftel der 50 Sitze und hat damit ein Vetorecht. Drei Fünftel der Stimmen sind notwendig, um die Verfassungsnormen der Expert*innenkommission anzunehmen, zu ändern, abzulehnen oder zu ergänzen. Die Partei stellt mit Beatriz Hevia, die schon mehrmals wegen relativierender Aussagen über die Pinochet-Diktatur auffiel, außerdem die Präsidentin des Verfassungsrats.

Die vier thematischen Kommissionen des Rats haben inzwischen ihre Arbeit am Verfassungsvorschlag aufgenommen, alle unter Vorsitz von Politiker*innen der rechten Opposition. In der Kommission „Politisches System“ gehört es zu den Vorhaben der Vertreter*innen der Republikanischen Partei, dem chilenischen Militär ein eigenes Kapitel und damit höheren Verfassungsrang zu verschaffen. Zu den Inhalten der Kommission „Rechtssystem“ gibt es im Verfassungsvorschlag der Expert*innen am wenigsten Änderungen gegenüber der aktuell gültigen Verfassung. Wichtiger sind dagegen die Kommissionen zu Verfassungsprinzipien und zu sozialen Rechten, darunter Gesundheit, Renten und Sozialversicherung. Da der Vorschlag der Expert*innen nur wenige Absätze zu letzteren enthält, werden diese Themen im Verfassungsrat am längsten diskutiert werden.

In der Bevölkerung trifft der laufende Verfassungsprozess bislang vor allem auf Desinteresse und Ablehnung. So veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Cadem am 9. Juli eine Umfrage, laut der eine Mehrheit von 55 Prozent der Befragten die neue Verfassung ablehnen würde. In einer Umfrage von Pulso Ciudadano von Ende Juni gaben über zwei Drittel der Befragten an, sich gar nicht, wenig oder nur halb für den Prozess zu interessieren. Die Gründe für dieses Desinteresse sieht Manuela Royo „in der Glaubwürdigkeitskrise der traditionellen Politik.“ Außerdem fehle es der Regierung an Rückhalt an der Basis der Gesellschaft. Das Desinteresse am Verfassungsprozess überrascht nicht, ist dieser doch „weit davon entfernt, repräsentativ zu sein“, wie das Observatorio Ciudadano bemängelt − „insbesondere wegen der Einschränkung des Rechts auf Partizipation in den verfassunggebenden Organen. Das erschwert die Inklusion der unterschiedlichen Gemeinschaften, Völker und Bereiche, die zum Land gehören.“

Allein die Kräfteverteilung im Verfassungsrat lässt Böses erwarten

Als eine der zentralen Möglichkeiten zur Teilhabe der Bürger*innen am verfassunggebenden Prozess ist Anfang Juli die Unterschriftensammlung für sogenannte Volksinitiativen für Verfassungsnormen (inicativas populares de norma) zu Ende gegangen. Eingereicht haben diese jedoch zum größten Teil Männer, Menschen im Alter zwischen 45 und 55 Jahren und aus der Metropolregion Santiago. 31 Initiativen haben die 10.000 Unterschriften erreicht, die es braucht, damit der jeweilige Vorschlag im Verfassungsrat diskutiert wird. Dazu gehören mehrere Entwürfe zum Thema Renten und Sozialversicherung, eine Initiative sogenannter Lebensschützer*innen gegen das Recht auf Abtreibung, feministische Initiativen für das Recht auf Sorge, sexuelle und reproduktive Rechte sowie – mit den meisten Unterschriften – eine Initiative zum Schutz von Haustieren. Auch ein Vorschlag von MODATIMA zur Festschreibung des Rechts auf Wasser und Definition des Wassers als natürliches Gemeinschaftsgut gehört zu den prominentesten Initiativen. „Als Bewegung haben wir entschieden, dass wir keinen Vorschlag, der die Privatisierung und Ausbeutung des Wassers erhalten würde, still hinnehmen können“, begründet Manuela Royo. Hoffnungen mache man sich aber nicht: „Auch wenn wir wissen, dass unser Vorschlag höchstwahrscheinlich abgelehnt wird, müssen wir weiterhin überall Einfluss nehmen.“

So haben sich manche soziale Bewegungen dafür entschieden, sich über die Volksinitiativen am verfassunggebenden Prozess zu beteiligen, andere nicht. Laut dem Verfassungsdelegierten Fernando Viveros, der für die Kommunistische Partei (PC) im Verfassungsrat sitzt, sei jedoch gerade diese Partizipationsphase entscheidend. Die Volksinitiativen seien „die einzige Möglichkeit, die wir heute haben, um die Themen auf die Tagesordnung zu bringen – selbst, wenn sie abgelehnt werden können. Es geht darum, dem Land eine gesellschaftliche Diskussion ermöglichen zu können“, so Viveros im Onlineportal Emol. Würde diese Beteiligung fehlen, sieht er große Risiken: „Das ist ein Text, den wir verbessern können. Aber wenn die Rechten, die Republikaner, ihn in die Hände bekommen und die gesellschaftliche Ungleichheit weiter vertiefen, ist ein positiver Ausgang dieses Verfassungsrates in Gefahr.“

Allein die Kräfteverteilung im Verfassungsrat lässt Böses erwarten. So wird der Verfassungstext, der hier bis Anfang November entsteht, höchstens in Ansätzen fortschrittlicher werden als Pinochets Verfassung – oder aber schlimmer. Nicht erst beim Plebiszit am 17. Dezember, sondern bereits jetzt stellt sich daher vielen Chilen*innen die Frage, ob man für diese Verfassung stimmen und sie damit demokratisch legitimieren sollte. Aktuellen Umfragen zufolge würde sich eine Mehrheit dagegen entscheiden. Es wäre eine indirekte Wahl dafür, die Verfassung aus Diktaturzeiten weiterhin zu erhalten. Diese Entscheidung könnte der Glaubwürdigkeit der politischen Institutionen weiter schaden.

Gesamtgesellschaftlich nimmt statt der Verfassungsdebatte das Thema Sicherheit weiterhin großen Raum ein. Außerdem hat das Näherkommen des Jahrestags des Putsches gegen Allende eine öffentliche Debatte um Erinnerungspolitik und den Umgang mit den Verbrechen der Militärdiktatur entfacht. Mit den Verfassungsdelegierten der Republikanischen Partei haben Fans der Diktatur den Stift für den neuen Verfassungstext in der Hand – weitgehend ungestört und ausgerechnet 50 Jahre nach Pinochets blutigem Putsch.


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Y UN PEQUEÑO MILAGRO CADA MES

Für die deutschsprachige Version hier klicken

Foto: Jan-Holger Hennies

Era un soleado día de mayo de 1973 cuando quince o veinte jóvenes, todos ellos recién llegados a Alemania del agitado clima político chileno, se reunieron en un prado verde bajo un cerezo en Hessen para pensar juntos cómo ayudar al pueblo chileno, que atravesaba una difícil situación, y al Gobierno de la Unidad Popular, mediante información educativa (¿conferencias, artículos?) y apoyo práctico (¿bicicletas, por ejemplo?). El ambiente era positivo, incluso optimista, teniendo en cuenta las malas noticias que llegaban en su mayoría del otro lado del Océano Atlántico: asesinatos políticos organizados por grupos de extrema derecha, la inflación en rápido aumento, la escasez de suministros en todas partes. Sin embargo, el grupo estaba animado y no se imaginaba que el “experimento “, una profunda agitación política y social mediante un Gobierno electo, pudiera fracasar. Así se fundó el comité “Solidaridad con Chile”, cuya tarea principal era organizar ayuda práctica para las personas pasando aún más hambre durante el invierno chileno. Más para la comunicación interna del círculo que para la educación de la sociedad alemana occidental, se decidió compilar, cada 14 días, unas páginas con las informaciones más importantes sobre Chile y consejos en cuestiones prácticas. Los textos breves debían recopilarse “primero” en Berlín (Occidental).

Los comienzos

El momento había llegado: el 28 de junio de 1973, un jueves, como ocurriría de allí en adelante. A las siete de la tarde, seis —¿o siete?— personas se reunieron y planificaron el contenido de las páginas del primer número de la revista: comenzando con un breve informe “Sobre los acontecimientos en Chile”, seguido por referencias a materiales informativos, eventos, etcétera; y al fin de la página, también los nombres y direcciones de los implicados. Después de la sopa de frijol, que durante meses se convirtió en un elemento fijo de la tarde de producción, pusimos manos a la obra y, al cabo de tres horas, todos los textos estaban escritos y cuidadosamente mecanografiados en siete matrices Ormig. La noticia del intento fallido de golpe de Estado el día anterior en Chile apenas pudo acomodarse. A la mañana siguiente, se hicieron 50 copias de cada matriz, se clasificaron, se metieron en sobres y se llevaron a correos. Además de los miembros del comité, se pidieron donativos a algunos amigos para sufragar los gastos de producción, que se recibieron rápida y abundantemente.

La noticia de la existencia de esta fuente de información se extendió rápidamente, y en el quinto número —dos meses más tarde— hubo que retirar 200 ejemplares de las matrices para satisfacer la demanda. Pero eso era lo máximo que las matrices podían producir en aquel momento.

El número de involucrados también aumentó con rapidez. Pronto acudieron a ayudar diez, quince, veinte personas interesadas. Se hizo necesaria una reunión adicional el jueves, que hasta ese entonces había sido el día “libre”, para preparar el siguiente número. Por supuesto, todos en nuestras filas estaban convencidos de que la protección constitucional estaba implicada; no obstante, los nombres de los implicados se imprimieron valientemente. Los participantes chilenos en el Festival Mundial de la Juventud en Berlín (Oriental) debían recibir algunos ejemplares del número 3, pero la Policía Popular del paso fronterizo de la calle Heinrich-Heine estuvo vigilante y confiscó el pequeño folleto informativo tras un largo control del contenido. En el viaje de vuelta, los ejemplares fueron devueltos, porque la Policía Popular tampoco los quería como regalo.

Un intento de organizar un evento informativo en Berlín Occidental con la gente de Chile del festival fracasó porque esto sólo habría sido posible en conjunto con la FDJW (la Juventud Alemana Libre de Berlín Occidental), que impuso como condición que en el evento no se hubiera espacio de discusión: “Mejor ningún evento que uno descontrolado”.

Cualquiera que lea hoy los textos de los cinco primeros números de CHILE-NACHRICHTEN comprobará que estos muestran con toda claridad la inevitabilidad de un golpe de Estado de la derecha en Chile. Esto no fue intencionado, al contrario. Al discutir y escribir, todo el mundo era más o menos optimista de que todavía se podía cambiar la marea. Parecía demasiado escandaloso que el mundo se atreviera a tolerar un golpe contra un Gobierno electo.

La conmoción fue aún mayor cuando el golpe se produjo finalmente el 11 de septiembre de 1973. Para CHILE NACHRICHTEN esto significó de inmediato un fuerte aumento de la demanda y el procesamiento de más noticias, informaciones, manifestaciones de solidaridad. Ahora había que imprimir bien. En noviembre, la tirada era ya de 6000 ejemplares, cuya producción no supuso ningún problema financiero gracias a las ricas donaciones. El número 10 se publicó con un alcance considerablemente mayor; un amigo inglés llamó desde Londres durante una reunión editorial posterior: “¡Están locos! ¡Sesenta páginas!”Muy pronto, a finales de 1973, quedó claro que el calendario de publicación quincenal no podía mantenerse. La pequeña revista, cada vez más densa y pronto ampliada con números especiales —inicialmente gratuitos— con fines de documentación, sólo podía publicarse mensualmente. El estudio, la enseñanza, la investigación, la actuación, en resumen: la vida normal no podía subordinarse por completo al trabajo en la revista.

El archivo

A medida que los apartamentos de los y las integrantes de la redacción se llenaban de documentos importantes que nadie quería desechar, surgió la necesidad de construir un archivo. Esto no habría sido posible sin el apoyo y la infraestructura de la Comunidad de Estudiantes Evangélicos de la Universidad Técnica de Berlín.  En torno al archivo se fundaría pronto como asociación sin fines de lucro el Centro de Investigación y Documentación Chile-Latinoamérica (FDCL), que fue ampliando sus actividades con el tiempo. Cuanto más clara se volvían las violaciones a derechos humanos de la junta militar, sobre el carácter criminal del régimen de Pinochet mismo, sobre la imprudente política económica de los Chicago Boys y sobre las relativamente buenas relaciones del régimen con importantes figuras de la política y economía de la República Federal de Alemania; las y los integrantes de la redacción reconocían el valor de su trabajo al servicio de la información y la solidaridad cada vez más.

Solidaridad creciente

Junto a las CHILE-NACHRICHTEN (¿o sobre ellas? ¿en torno a ellas?), surgió en Berlín Occidental, directamente después del golpe de Estado, el Chile-Komitee, desde donde se organizaron manifestaciones, protestas y acciones de apoyo para las personas refugiadas que llegaron a Berlín. No se olvida —pese a las duras negociaciones previas con los comunistas de Berlín occidental del Partido Socialista Unificado de Berlín Oeste (SEW)— la gran manifestación de 30 mil personas el 4 de noviembre de 1973. Tampoco se olvida cómo durante la Copa Mundial de Fútbol de 1974, durante el partido de Chile contra Alemania, una enorme bandera chilena ondeó en la cancha en el medio tiempo, con el mensaje “CHILE SÍ — JUNTA NO”. Desde luego, el Chile-Komitee también fue un espacio de arduos debates políticos, en los que las CHILE-NACHRICHTEN no solo recibieron elogios. Si bien los Jóvenes Socialistas, inicialmente muy involucrados, percibían a la revista con cierta generosidad paternal, los spontis consideraban a la redacción como poco radical y demandaban con frecuencia una mayor consideración de las corrientes revolucionarias en Chile, como el Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) —incluso cuando estas corrientes tenían poco o nada en común con los spontis. Para muchos miembros habría sido preferible que la revista se convirtiera formalmente en un órgano del Komitee pero, como ello habría implicado demasiado trabajo de control, la independencia de la redacción se mantuvo siempre. Fundamentalmente, la redacción estaba organizada de manera poco rígida y tan espontánea como el Komitee. La participación era absolutamente voluntaria y además anónima, puesto que nadie quería divulgar los nombres de miembros del equipo a la inteligencia chilena.

Conflictos ideológicos

Un miembro del Komitee abogaba incansablemente por agilizar el trabajo a partir de principios organizacionales claros. Sin embargo, este enviado oficial de la Liga contra el Imperialismo, una organización de fachada del Partido Comunista de Alemania (KPD) maoísta, no encontró simpatía hacia sus propuestas de elegir un consejo y establecer un secretariado. A los otros maoístas de la Liga Comunista de Alemania Occidental (KBW) se les ocurrió otra cosa. Enviaron a un camarada —le llamaremos Fritz— a la redacción de las CHILE-NACHRICHTEN, donde consiguió hacer amigos con diligencia y prudencia. Un día Fritz declaró que se ausentaría por tres semanas porque debía dedicarse a estudiar un documento. Tres semanas más tarde, trajo a otro camarada, y ambos asumieron la tarea de iluminar a la redacción en que las CHILE-NACHRICHTEN estaban objetivamente al servicio de la contrarrevolución, puesto que no seguían fielmente la línea de la República Popular China de apoyar al “tercer mundo” —incluido Pinochet— contra el imperialismo. Los dos enviados del KBW solicitaron sacar de la redacción a todo aquel que no quisiera seguir la línea correcta. Perdieron con dos votos contra 18, desaparecieron y no fueron vistos por un largo rato, hasta que Fritz —ya purgado hacía tiempo— apareció en un buen proyecto vecino del Mehringhof.

Caos constructivo

El trabajo de la redacción era algo descoordinado. Ya en aquel entonces, cada edición tenía una nueva coordinación. Sin embargo, por lo general, todo se mantenía abierto hasta el último minuto; por ello, ya en aquel tiempo, las noches de producción se extendían hasta altas horas de la madrugada.

Por un buen tiempo, lo más caótico fue la situación financiera. Tras el golpe de Estado en Chile, la revista recibió muchas suscripciones de individuos, grupos y librerías. Pero nadie tenía tiempo para ocuparse de las cuentas pendientes. La revista se encontraría pronto al borde de la ruina  —hasta que alguien tuvo la idea de llamar a las y los suscriptores a saldar sus deudas—. El excedente fue tal que la redacción decidió ofrecer una revista similar en idioma español a las personas refugiadas chilenas en Berlín Occidental para sus pares en Europa. Bajo el nombre “CHILE COMBATIENTE” y “SÍ, COMPAÑERO” se publicaron un par de ejemplares, hasta que conflictos partidarios dentro de los grupos de refugiados y refugiadas complicaron cada vez más el trabajo. El dinero tampoco habría alcanzado para mucho más.

A mediados de los setenta quedó claro que, si bien Chile representaba un caso especialmente flagrante de combinación de gobierno militar autoritario y políticas económicas ultraliberales, los demás países sudamericanos seguían cada vez más su ejemplo. En Uruguay, los militares habían asumido el poder casi simultáneamente. Brasil y Perú ya eran dictaduras militares.A más tardar con el golpe en Argentina en 1976 se hizo evidente que se trataba de  una tendencia generalizada que debía interesar a la redacción de las CHILE-NACHRICHTEN. Como resultado, se publicaban cada vez más artículos sobre los vecinos de Chile, hasta que eventualmente se encontraron ante la decisión de ampliar fundamentalmente tanto el contenido como el título de la revista. Como todos los cambios fundamentales en la historia de la publicación, la discusión al respecto fue intensa; pero con el número 51, y con el inicio del quinto año de publicación en el verano de 1977, el momento había llegado. A partir de ese momento, la revista se llamaría LATEINAMERIKA NACHRICHTEN; el nombre CHILE-NACHRICHTEN se mantuvo once años más como subtítulo y aparecía con un dejo de vergüenza en el Impressum, la declaración legal de autoría y propiedad. Las CHILE-NACHRICHTEN se volvieron parte de la historia. Ahora la redacción está conformada por jóvenes que no habían nacido cuando ya se había sepultado el nombre CHILE-NACHRICHTEN. Eso es digno de celebración.


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¡Chile Sí, Junta No!

Ausschnitt aus dem Cover der Chile-Nachrichten 17 Spektakuläre Solidaritätsbekundung im Stadion

Die Fußballweltmeisterschaft 1974 in der BRD war aus zwei Gründen nicht nur ein sportliches, sondern auch ein politisches Ereignis: Zum ersten Mal qualifizierte sich die DDR für die Endrunde einer Fußballweltmeisterschaft. Sie schloss nicht nur die erste Finalrunde als Gruppensieger ab, sondern konnte durch das legendäre Tor von Jürgen Sparwasser auch dem „Klassenfeind“ aus der BRD eins auswischen. 1:0 stand es nach Abpfiff am 22. Juni 1974 im Berliner Olympiastadion.
Aber für einige politisch Aktive in Berlin war etwas anderes wichtiger: Nur neun Monate nach dem blutigen Putsch vom 11. September 1973 in Chile gegen die Volksfrontregierung des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende, trat die chilenische Nationalmannschaft ebenfalls in der Endrunde der WM an und spielte in der 1. Finalrunde gegen die BRD, die DDR und Australien. Das erste Spiel dieser Gruppe bestritt Chile am 14. Juni gegen die BRD. Schon Monate vorher wurde in der Soli-Szene ausgiebig diskutiert: Dieses Ereignis konnte unmöglich stattfinden, ohne die Anwesenheit der chilenischen Spieler und die Medienaufmerksamkeit dazu zu nutzen, die Situation in Chile an zu prangern und sich mit den von der Militärjunta brutal Unterdrückten in Chile solidarisch zu zeigen. Nicht nur im Chile-Komitee (schon im August 1973 in West-Berlin von Chile-Rückkehrern gegründet), sondern auch in vielen anderen politisch aktiven Gruppen in West-Berlin wurden Aktionen diskutiert und geplant. Auch viele „undogmatische Gruppen“ an den Universitäten beteiligten sich. Nicht jedoch die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) und die ihr nahe stehenden Studierendenvereinigungen. Der „diplomatische“ Triumph der Teilnahme einer endlich hoffähigen DDR-Mannschaft an der Weltmeisterschaft sollte nicht durch ungeordnete Politaktionen gestört werden. Damit vertraten sie ungewollt einen ähnlichen Standpunkt wie die Pinochet-Regierung in Chile: Diplomatische Reputation geht über alles. Chile sollte der Weltöffentlichkeit nicht als Folter- und Unterdrückungsstaat, sondern als Fußballnation vorgeführt werden.

Jenseits juristischer Grenzen

Den „Spontis“ aus der Solidaritätsszene, die die diplomatischen Verrenkungen der Realsozialisten nicht mitmachen und die die Militärjunta öffentlich brandmarken wollten, juckte es in den Fingern, eine spektakuläre Aktion zu planen. Schnell wurde im Chile-Komitee die richtige Losung gefunden: „¡Chile Sí, Junta No!“ Das versteht jede und jeder, und damit auch diejenigen, die kein Spanisch sprechen. Es sollte jeder Eindruck vermieden werden, dass gegen Chile oder die ChilenInnen demonstriert wurde. Im Gegenteil sollte gerade für und mit ihnen gegen die Verbrechen der Militärjunta protestiert werden. Schnell wurde klar, dass spektakuläre Aktionen nur gelingen konnten, wenn die Grenzen des „rechtlich Zulässigen“ überschritten wurden. Um das Chile-Komitee als Organisation nicht angreifbar zu machen, bildete sich im Umfeld des Komitees eine Arbeitsgruppe von zehn bis fünfzehn Personen. Beteiligt waren Mitglieder des Sozialistischen Arbeitskollektivs vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin (SAK-JUR) und andere „undogmatische Linke“.
Sie wollten eine Aktion vorbereiten, für die es bisher kein Vorbild gab: Während des Spiels und somit mitten in der weltweiten Fernsehübertragung sollten mehrere Personen mit chilenischen Flaggen, auf denen deutlich „¡Chile Sí, Junta No!“ zu lesen war, auf das Spielfeld stürmen. Hierzu brauchte es einige logistische Vorbereitung: Die Gruppe inspizierte mehrmals das Olympiastadion, um zu erkunden, wie der Graben und die Plexiglaswand, die das Spielfeld von den Zuschauerrängen trennten, überwunden werden konnten. 1974 gab es noch keine nennenswerten Hooliganauftritte in deutschen Stadien, die Sicherheitsmaßnahmen waren noch sehr lückenhaft. Später zeigte sich im Spiel, dass auch die Ordner nicht flächendeckend gleich dicht postiert waren, so dass die Akteure die Lücken ausnützen konnten.

Sprung über die Barriere

Erst einmal musste jedoch fleißig trainiert werden. Hierzu stellte Winni, damals Jurastudent, seine im Süden von West-Berlin gelegene „Datsche“ zur Verfügung. „Es war wie auf dem Hundeübungsplatz“, so einer der Beteiligten. Jedenfalls waren die Akteure, heute in die Jahre gekommen, damals noch athletisch genug, um den Sprung über die Barriere schaffen zu können. Dann mussten noch etliche chilenische Flaggen besorgt werden. Nicht besonders schwer zu bewerkstelligen, da wegen der in dieser Zeit häufig stattfindenden Chile-Solidaritätsdemonstrationen fast jede Wohngemeinschaft eine chilenische Fahne zu Hause hatte. Fleißige KünstlerInnen verzierten die Fahnen mit Farbe, manche nähten sogar den Slogan „¡Chile Sí, Junta No!“ auf die Fahnen.
Eintrittskarten für das erste Spiel der Gruppe I zu bekommen, war im Jahr 1974 kein Problem, allerdings sehr teuer für das Budget der meisten AktivistInnen. Es gelangten ungefähr 150 bis 200 Personen, ChilenInnen wie Deutsche aus der Solidaritätsbewegung, ins Stadion. Sie verteilten sich auf mehrere Zuschauerblöcke: Jeweils kleinere Einsatzgruppen Gruppen von circa drei bis vier Personen aus den Vorbereitungsgruppen waren in jedem Block präsent. Darunter auffällig viele schwangere Frauen, deren Bauch aus chilenischen Fahnen bestand. Wegen der Gefahr von härteren Repressalien für chilenische AktivistInnen nach der Aktion wurde verabredet, dass die Aktion auf dem Spielfeld nur von Deutschen durchgeführt werden sollte. Die Kontrollen konnten problemlos passiert werden und zum verabredeten Zeitpunkt zum Ende der ersten Halbzeit ging es los: Mehrere Gruppen machten sich von ihren Stehplätzen auf – das Berliner Olympiastadion war 1974 noch nicht so luxuriös ausgebaut wie heute – um den Barrikadensprung zu wagen und in die Geschichte der Solidaritätsbewegung mit Chile mit einer der sympathischsten Aktionen einzugehen. Die Gruppe, die sich gegenüber der Haupttribüne einquartiert hatte, schaffte es zuerst auf das Spielfeld. Die anderen hatten ihre Plätze auf den oberen Rängen und mussten sich erst durch viele vor ihnen stehenden Fußballfans durchwühlen.

Gelebte Solidarität

Mindestens drei Personen aus den Gruppen, die das Feld stürmen wollten, schafften es tatsächlich auf das Spielfeld. Das Ziel war, in den Mittelkreis zu laufen und dabei die Fahne mit dem Nein zur Junta, aber dem Ja zu Chile zu schwenken. Wie reagierten die Spieler? Sie blieben einfach stehen und spielten nicht weiter. Von den Rängen skandierten die mitgekommenen UnterstützerInnen fleißig: „¡Chile Sí, Junta No!“, aber schon damals wollte weder der Deutsche Fußballbund (DFB) noch das Fernsehen der BRD von „Politik“ etwas hören oder wissen: Die Mikrofone an diesen Blöcken wurden herunter gedreht, obwohl im Stadion selbst die Rufe gut zu hören waren. Auch in der Fernsehübertragung wurde von den deutschen Kameras versucht, die Fahnen schwenkenden Menschen auf dem Spielfeld möglichst nicht vor der Linse zu haben. Anders bei den ausländischen Fernsehsendern: Die Bilder wurden nicht zensiert und gingen um die Welt. Nach circa einer Minute war auch der letzte der Fahnenschwenker von den Ordnern überwältigt und vom Platz gezerrt.
Diejenigen, die auf das Spielfeld gerannt waren, wurden kurzzeitig festgenommen, ihre Personalien aufgenommen. Eine halbe Stunde nach dem Spiel wurden sie jedoch wieder freigelassen. Keinem, soweit bekannt, brachte die Aktion letztendlich juristischen Ärger ein. Zu später Stunde versammelten sich alle in der verabredeten Kneipe, um eine Bilanz der Aktion zu ziehen. Später erfuhren alle Beteiligten, dass in Chile die Aktion während der Übertragung des Fußballspiels ganz kurz zu sehen war, bevor das chilenische Fernsehen ausblendete, bis die „Störung“ beseitigt war.
Einer der damals Aktiven erinnert sich: „Wir wollten mit der Aktion verschiedene Dinge erreichen: Uns war es wichtig klar zu stellen, dass unsere Protestaktion sich nicht gegen Chile, sondern gegen die Militärjunta richtete – und dass diese Botschaft ganz besonders in Chile und Lateinamerika so ankam. Wir wollten ein öffentliches Signal der Solidarität gegen die Diktatur setzen. Hinterher haben wir erfahren, dass unsere Botschaft auch genau so angekommen ist.“
Die Fußballweltmeisterschaft 1974 erlebte einen kurzen, großen Moment, der nichts mit Fußball zu tun hatte: Mitten in der finstersten Zeit der chilenischen Geschichte eine knappe Minute gelebter internationaler Solidarität mit Chile.

Alte Texte neu gelesen – dieser Text erschien in LN 382 (April 2006) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.


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Und jeden Monat ein kleines Wunder

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Hier fing alles an “Die Wiese” in Hessen, auf der die Idee für die Chile-Nachrichten entstand (Foto: Jan-Holger Hennies)

Es war ein sonniger Maientag des Jahres 1973, als sich fünfzehn bis zwanzig junge Leute, die alle erst vor kurzem aus dem aufgeregten politischen Klima Chiles nach Deutschland zurückgekehrt waren, auf einer grünen Wiese unter einem Kirschbaum im Hessischen versammelten, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie man durch aufklärende Informationen (Vorträge, Artikel?) und praktische Unterstützung (Fahrräder zum Beispiel?) den unter der schwierigen Situation leidenden Volksmassen und der Regierung der Unidad Popular helfen könnte. Die Stimmung war gut und sogar optimistisch, bedenkt man die meistens schlechten Nachrichten, die über den Atlantischen Ozean kamen: politische Attentate, von extrem rechten Gruppen organisiert, rasch ansteigende Inflation, Versorgungsengpässe an allen Ecken und Enden. Trotzdem konnte sich die muntere Runde nicht vorstellen, daß das »Experiment« einer gründlichen Umwälzung mittels einer gewählten Regierung scheitern könnte. Und so wurde denn ein Komitee »Solidarität mit Chile« gegründet, das es sich zur Hauptaufgabe machte, praktische Hilfe für die im chilenischen Winter noch mehr darbenden Massen zu organisieren. Mehr für die interne Kommunikation des Kreises als für die Aufklärung der westdeutschen Gesellschaft wurde beschlossen, alle 14 Tage ein paar Seiten mit den wichtigsten Informationen aus Chile und Tips in praktischen Fragen zusammenzustellen. Die kurzen Texte sollten »erst einmal« in (West-)Berlin zusammengestellt werden.

Die Anfänge

Am 28. Juni 1973, einem Donnerstag wie immer seither, war es dann so weit. Gegen sieben Uhr abends kamen sechs – oder sieben? – Leute zusammen und planten den Inhalt der Seiten der ersten Nummer: erst einen kurzen Bericht »Über die Ereignisse in Chile«, dann Hinweise auf Informationsmaterial, Veranstaltungen etc., schließlich auch die Namen und Adressen der Beteiligten. Nach der Bohnensuppe, die für Monate zu einer ständigen Einrichtung am Produktionsabend wurde, ging es an die Arbeit, und nach drei Stunden waren alle Texte geschrieben und sorgfältig auf sieben Ormig-Matritzen getippt. Die Nachrichten von einem mißlungenen Putschversuch am Vortag in Chile konnten gerade noch berücksichtigt werden. Am nächsten Morgen wurden von jeder Matritze 50 Abzüge gemacht, sortiert, in Briefumschläge gepackt und zur Post gebracht. Außer den Mitgliedern des Komitees wurden noch ein paar Freunde bedacht, von denen man für die Produktionskosten Spenden erbat, die dann auch schnell und reichlich eintrafen.

Die Existenz dieser Informationsquelle sprach sich schnell herum, und schon bei der fünften Nummer – zwei Monate später – mußten von den Matritzen 200 Exemplare abgezogen werden, um die Nachfrage zu befriedigen. Das war aber auch das Äußerste, was die Matritzen damals hergaben.
Die Zahl der Mitarbeitenden wurde auch ziemlich schnell größer. Bald kamen zehn, fünfzehn, zwanzig Interessierte, um zu helfen. Eine zusätzliche Sitzung an dem bisher »freien« Donnerstag wurde zur Vorbereitung der nächsten Nummer nötig. Natürlich waren alle davon überzeugt, daß der Verfassungsschutz in unseren Reihen mit dabei war; trotzdem wurden die Namen der Beteiligten tapfer abgedruckt. Von der Nummer 3 sollten die chilenischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Weltjugendfestival in (Ost-) Berlin einige Exemplare überreicht bekommen; aber die Volkspolizei am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße war wachsam und beschlagnahmte die kleine Informationsbroschüre nach länger dauernder Kontrolle des Inhalts. Bei der Rückreise wurden die Exemplare zurückgegeben, denn geschenkt haben wollte die Volkspolizei sie auch nicht.
Ein Versuch, mit den Leuten aus Chile vom Festival eine Informationsveranstaltung in Westberlin zu machen, scheiterte daran, daß das nur gemeinsam mit der FDJW (der Freien Deutschen Jugend Westberlin) möglich gewesen wäre, und die stellte die Bedingung, daß auf einer solchen Veranstaltung nicht diskutiert werden dürfe: Lieber gar keine Veranstaltung als eine unkontrollierte.

Wer heute die Texte der ersten fünf Nummern der CHILE-NACHRICHTEN liest, wird finden, daß sie in aller Klarheit die Unausweichlichkeit eines Putsches der Rechten in Chile aufzeigen. Das war nicht Absicht – im Gegenteil. Beim Diskutieren und Schreiben waren alle mehr oder weniger optimistisch, daß sich das Blatt noch wenden ließe. Es schien zu ungeheuerlich, daß die Welt es wagen sollte, den Putsch gegen eine gewählte Regierung zu dulden.

Umso größer war der Schock, als der Putsch dann am 11. September 1973 doch unternommen wurde. Für die CHILE-NACHRICHTEN bedeutete das sofort eine sehr stark wachsende Nachfrage und die Verarbeitung von immer mehr Nachrichten, Informationen, Solidaritätskundgebungen. Jetzt mußte richtig gedruckt werden. Im November lag die Auflage schon bei 6000 Exemplaren, deren Produktion finanziell wegen reicher Spenden kein Problem war. Die Nummer 10 erschien mit einem erheblich erweiterten Umfang; ein englischer Freund rief danach während einer Redaktionssitzung aus London an: »Ihr seid varrickt! Sixty pages!«

Ende 1973 wurde sehr schnell deutlich, daß die 14-tägige Erscheinungsweise nicht zu halten war. Die kleine Zeitschrift, die nun immer dicker wurde und bald zu Dokumentationszwecken um – zunächst kostenlose – Sonderhefte erweitert wurde, konnte nur noch monatlich hergestellt werden. Studium, Unterricht, Forschung, Schauspiel, kurz: das normale Leben konnte ja nicht völlig der Arbeit an dem Blatt untergeordnet werden.

Das Archiv

Weil sich die Wohnungen der Redaktionsmitglieder mit wichtigen Daten und Dokumenten füllten, die niemand wegwerfen wollte, mußte ein Archiv eingerichtet werden. Ohne die tatkräftige Mithilfe und die Infrastruktur der Evangelischen Studentengemeinde an der Technischen Universität wäre das wohl niemals möglich gewesen. Als gemeinnütziger Verein um das Archiv herum wurde dann bald das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile – Lateinamerika (FDCL) gegründet, dessen Aktivitäten sich später stark ausgeweitet haben.

Je genauer die Informationen über die Menschenrechtsverletzungen durch die Militärjunta, über den verbrecherischen Charakter des Pinochet-Regimes an sich, über die rücksichtslose Wirtschaftspolitik der Chicago Boys und über relativ gute Beziehungen zu wichtigen Figuren aus Wirtschaft und Politik der Bundesrepublik wurden, desto wichtiger empfanden die Redaktionsmitglieder ihre Arbeit im Dienst von Information und Solidarität.

Wachsende Solidarität

Neben den CHILE-NACHRICHTEN (oder über ihnen? oder um sie herum?) war in Westberlin schon gleich nach dem Putsch das Chile-Komitee entstanden, von dem aus Demonstrationen, Proteste und Hilfsaktionen für die nach Berlin gekommenen Flüchtlinge organisiert wurden. Unvergessen bleibt – trotz der zermürbenden Vorverhandlungen mit den Westberliner Kommunisten von der SEW – die große Demonstration der 30.000 am 4. November 1973; unvergessen bleibt auch, wie während der Fußball-WM 1974 beim Spiel Chile gegen Deutschland in der Pause auf dem Platz eine große chilenische Flagge erschien mit der Aufschrift: »CHILE SI – JUNTA NO«.

Natürlich war das Chile-Komitee auch Ort heftiger politischer Debatten, in denen die CHILE-NACHRICHTEN nicht nur gelobt wurden. Die anfangs noch stärker beteiligten Jungsozialisten betrachteten zwar die Zeitschrift mit einer Art altväterlichem Wohlwollen, aber die über weite Strecken tonangebenden Spontis hielten die Redaktion für eher zu wenig radikal und verlangten häufig eine stärkere Berücksichtigung der entschieden revolutionären Strömungen in Chile wie etwa der »Linksrevolutionären Bewegung« (MIR), auch wenn diese Strömungen mit Spontis absolut nichts im Sinn hatten. Am liebsten wäre manchen im Komitee gewesen, wenn die Zeitschrift regelrecht zum Organ des Komitees geworden wäre; da das aber viel Arbeit für die Kontrolleure bedeutet hätte, blieb die Unabhängigkeit der Redaktion immer erhalten. Im Kern war sie ebenso locker organisiert und spontan wie das Komitee. Die Mitarbeit war absolut freiwillig und dazu noch anonym, weil niemand dem chilenischen Geheimdienst die Namen der Mitarbeitenden verraten wollte.

Ideologische Auseinandersetzungen

Ein Komiteeteilnehmer trat immer wieder unbeirrbar für eine Straffung der Arbeit durch klare Organisationsprinzipien ein. Dieser offizielle Abgesandte der Liga gegen den Imperialismus, einer Frontorganisation der maoistischen KPD, fand aber mit seinen Vorschlägen für die Wahl eines Vorstandes und die Einrichtung eines Sekretariats keinerlei Gegenliebe. Die konkurrierenden Maoisten vom KBW ließen sich etwas anderes einfallen. Sie entsandten einen Genossen, nennen wir ihn Fritz, in die Redaktion der CHILE-NACHRICHTEN, wo er sich durch Fleiß und Umsicht Freunde zu machen wußte. Eines Tages erklärte Fritz, er könnte erst einmal drei Wochen lang nicht erscheinen, weil er ein Dokument zu studieren habe. Nach drei Wochen brachte er einen Genossen mit, und beide begannen mit dem Versuch, der Redaktion klarzumachen, daß die CHILE-NACHRICHTEN objektiv der Konterrevolution dienten, weil sie nicht konsequent gemäß der Linie der Volksrepublik China die Dritte Welt – einschließlich Pinochet – gegen den Imperialismus unterstützten. Die beiden KBW-Leute beantragten, alle aus der Redaktion zu entfernen, die der korrekten Linie nicht folgen wollten, unterlagen aber mit zwei gegen achtzehn Stimmen, verschwanden und wurden lange Zeit nicht mehr gesehen, bis Fritz – inzwischen längst geläutert – bei einem sehr vernünftigen Nachbarprojekt im Mehringhof auftauchte.

Konstruktives Chaos

Die eigentliche Arbeit der Redaktion verlief einigermaßen unkoordiniert. Für jede Ausgabe wurde schon damals eine neue Leitung bestimmt. Im übrigen aber blieb alles meistens bis zur letzten Minute offen; deshalb dauerten die Produktionsnächte schon damals bis in die Morgenstunden.

Am chaotischsten war nach einiger Zeit die Finanzlage. Nach dem Putsch in Chile waren sehr viele Abonnementsbestellungen von Personen, Gruppen und Buchhandlungen eingegangen. Aber niemand hatte Zeit, sich um das Eintreiben der Außenstände zu kümmern. Die Zeitschrift stand relativ bald vor dem Ruin, bis jemand auf den Gedanken kam, die Abonnenten einfach zur Bezahlung ihrer Schulden aufzufordern. Darauf ergab sich ein solcher Überschuß, daß beschlossen wurde, den chilenischen Flüchtlingen in Westberlin die Herausgabe einer ähnlichen Zeitschrift in spanischer Sprache für ihresgleichen in Europa anzubieten. Unter den Namen »CHILE COMBATIENTE« und »SI, COMPAÑERO« sind dann auch tatsächlich ein paar Nummern erschienen, bis Parteienstreitigkeiten unter den Flüchtlingsgruppen die Arbeit immer mehr erschwerten. Das Geld hätte auch nicht viel weiter gereicht.

Mitte der siebziger Jahre wurde deutlich, daß Chile zwar einen besonders krassen Fall der Kombination von autoritärer Militärherrschaft und ultraliberaler Wirtschaftspolitik bedeutete, daß aber die anderen südamerikanischen Länder diesem Beispiel immer stärker folgten. In Uruguay hatten die Militärs die Herrschaft fast gleichzeitig übernommen. Brasilien und Peru waren schon Militärdiktaturen gewesen.
Spätestens mit dem Putsch in Argentinien 1976 wurde deutlich, daß es sich um eine allgemeine Tendenz handelte, für die sich nun die Redaktion der CHILE-NACHRICHTEN interessieren mußte. Das Ergebnis waren immer mehr Artikel über Chiles Nachbarländer, bis dann irgendwann die Entscheidung anstand, den Inhalt und den Titel grundsätzlich zu erweitern. Wie jede der grundsätzlichen Veränderungen in der Geschichte der Zeitschrift war auch diese heiß umkämpft; aber mit Nummer 51 und dem Beginn des fünften Jahrgangs im Sommer 1977 war es dann soweit. Von jetzt ab hieß das Blatt LATEINAMERIKA NACHRICHTEN; der Name CHILE-NACHRICHTEN hielt sich noch elf Jahre als Untertitel und erscheint nur noch ganz schamhaft im Impressum. Die CHILE-NACHRICHTEN sind Teil der Geschichte geworden. Heute arbeiten in der Redaktion junge Leute, die noch nicht geboren waren, als der Name CHILE-NACHRICHTEN schon begraben wurde. Das gilt es zu feiern.

Alte Texte neu gelesen – dieser Text erschien zum 25. Jubiläum der in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.


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50 Jahre Lateinamerika Nachrichten

„Amerika den Amerikanern“ formulierte der US-amerikanische Präsident James Monroe vor 200 Jahren und meinte doch nur „Lateinamerika den USA“. Der Aufstieg der USA zur neuen Hegemonialmacht in Lateinamerika vollzog sich in wenigen Jahrzehnten, schon Anfang des 20. Jahrhunderts war der Kontinent fest in den Händen der USA.
Auch die Gründung der Lateinamerika Nachrichten vor nunmehr 50 Jahren verdankt sich, zumindest indirekt, dieser Doktrin. Die Rolle der USA bei der wirtschaftlichen Destabilisierung der Unidad Popular-Regierung in Chile und beim Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende mag heute längst nicht mehr allen bekannt sein. Für die Aktiven des Komitees „Solidarität mit Chile“, die am 28. Juni 1973 die erste Ausgabe der Chile-Nachrichten (seit Nummer 51: Lateinamerika Nachrichten) produzierten, war der Kampf gegen den US-Imperialismus jedoch ein wichtiges Motiv für ihr politisches und journalistisches Engagement.
Der Diktator ging, die Lateinamerika Nachrichten blieben. Nur mäßig konnte uns zu unserem Silberjubiläum im Jahre 1998 der Abgang von Augusto Pinochet erfreuen: Den Oberbefehl über die chilenischen Streitkräfte tauschte er damals mit einem Senatorenposten auf Lebenszeit. Und auch sonst boten uns eher die Kontinuität der eigenen Arbeit, denn die Verhältnisse in Lateinamerika Anlaß zu Optimismus.
Das waren überhaupt komische Zeiten damals, als sich das Jahrtausend dem Ende zuneigte. Die Zauberworte Neoliberalismus und Globalisierung bestimmten die Regierungspolitik in fast allen Ländern des Kontinents. Fast: Wie ein gallisches Dorf trotzte nur Kuba den Römern, die damals in Washington residierten. Und als ob auch er als Kind in einen Zaubertrank gefallen wäre, zeigte sich Fidel Castro Jahrzehnt um Jahrzehnt unschlagbar: In der westlichen Hemisphäre hält er noch heute den Rekord für die längsten Ansprachen – unterbrechen ließ er sich meist nur, wenn auf der Zuckerinsel mal wieder der Strom abgestellt wurde. Vor Yankees hatte er nur auf dem Baseball-Platz Respekt, die Blockade konnte Kuba nicht in die Knie zwingen (für jüngere LeserInnen: die USA versuchten bis nach der Jahrtausendwende, Kuba durch Wirtschaftsblockade und politische Isolierung in die Knie zu zwingen – was sich ja bekanntlich erst änderte, als vor fünfzehn Jahren die kurz zuvor eingebürgerte Ex-Präsidentin Brasiliens, Benedita da Silva, ins Weiße Haus gewählt wurde).
Lange Zeit war Politik ja eine Angelegenheit korrupter Männer, die mit Militärs kungelten und Phantasie nur zeigten, wenn sie für ihre Wiederwahl mal wieder eine Verfassungsänderung durchsetzten – in Peru durfte damals nur noch zum Präsidenten gewählt werden, wer japanische Vorfahren, und in Argentinien, wer syrische Vorfahren hatte. Brasilien konnte nur regieren, wer Großgrundbesitzer war und ein Soziologie-Diplom sein eigen nannte.
Die Wende in Lateinamerika brachten bekanntlich die ZapatistInnen und die Landlosenbewegung MST. Der erste Präsident mit Skimütze in Mexiko und die Vergabe eines Landtitels an die letzte landlose Bäuerin in Brasilien – das waren bewegende Momente, die auch uns wieder optimistisch in die Zukunft blicken ließen.
Denn während unsere Freunde und Freundinnen in Lateinamerika die Verhältnisse zum Tanzen brachten, wurde es in Deutschland immer eisiger. Die Grünen stritten mal wieder, ob es der Bevölkerung zuzumuten sei, den Benzinpreis um drei Prozent zu erhöhen, während Joschka Fischer als Verteidigungsminister den Parteiausschluß von Jürgen Trittin verlangte, weil der sich noch immer weigerte, an den wöchentlichen öffentlichen Rekrutengelöbnissen vor dem Reichstag teilzunehmen.
Grund zur Freude hatten wir erst wieder, als Jamaica 2006 Fußballweltmeister wurde und Berti Vogts durchsetzte, daß Gras endlich auch in Deutschland legalisiert wird. Die Cannabis-Pflanze statt dem Bundesadler auf der Schwarz-Rot-Goldenen Flagge und „Keine Macht für niemand“ von den Scherben als Nationalhymne – das hat sich vor 25 Jahren niemand in der Redaktion zu träumen gewagt. Auch nach 50 Jahren Lateinamerika Nachrichten – wir machen weiter: „Get up, stand up for your rights“.

Alte Texte neu gelesen – dieses Editorial erschiet in LN 289/290 (Juli/August 1998) und wurde in der Jubiläumsausgabe 588 zu 50 Jahren LN erneut abgedruckt.


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Die Revolte nicht verwelken lassen

In Flammen Foto aus dem Herzen der Revolte (Foto: Real Fiction Filmverleih)

Am Ende seines letzten Dokumentarfilms Die Kordillere der Träume hatte der chilenische Regisseur Patricio Guzmán einen Wunsch geäußert: Chile möge seine Kindheit und seine Freude wiederfinden. Wenige Monate, nachdem der Film 2019 in Cannes Premiere feierte, sprangen Hunderte Schüler*innen über die Drehkreuze der U-Bahnhöfe in Santiago de Chile und lösten damit eine Revolte aus, die das Land von einem Tag auf den anderen umkrempeln sollte. „Chile hatte sein Gedächtnis wiedergefunden“, so beschreibt es Guzmán. Sein Wunsch schien in Erfüllung zu gehen.

Ein Jahr nach Beginn der Revolte fliegt der in Frankreich lebende Regisseur nach Chile und beginnt die Arbeit am Dokumentarfilm Mi País Imaginario – Das Land meiner Träume, der ab Mitte April auch in deutschen Kinos zu sehen ist. Obwohl er auf einen Umbruch in Chile gehofft hat, haben die Revolte und ihre Form Guzmán überrascht: Es gebe „keine Anführer, keine Ideologie, das ist neu“. Anders als in Guzmáns Naturtrilogie stehen diesmal auch nicht die eindrucksvollen Naturelemente metaphorisch für die komplexe Geschichte des Landes, sondern das Hier und Jetzt in der in Schutt und Asche liegenden Hauptstadt Santiago und die Menschen im Mittelpunkt. „Diese Bewegung trägt die Stimme und das Gesicht der Frauen“, heißt es im Film. Und wohl aus einer bewussten Entscheidung heraus, aber ohne es groß betonen zu müssen, hat Guzmán für Das Land meiner Träume ausschließlich Frauen interviewt. Neben intellektuellen Chileninnen, Verfassungsdelegierten und dem Performance-Kollektiv LasTesis kommen vor allem die zu Wort, die bei den Protesten in erster Reihe standen. „Mit der Revolte bin ich aufgeblüht“

Da ist zum Beispiel die Fotografin Nicole Kramm, die nach Beschuss mit einem Gummigeschoss der Carabineros die Sicht auf einem Auge fast gänzlich verloren hat. Guzmán begleitet eine Rettungssanitäterin, die sich im Straßenkampf um Verletzte kümmert und eine Landbesetzerin, an deren Beispiel die gesellschaftliche Ungleichheit in Chile wohl am stärksten deutlich wird. Besonders bleibt aber das einleitende Gespräch mit einer protestierenden Mutter im Gedächtnis. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie trotz aller Gefahren auf die Straße geht, ihr Hass auf Parteien und Institutionen und ein Satz, der einen an die ersten Tage der Proteste im Oktober 2019 erinnert: „Mit der Revolte bin ich aufgeblüht.“

Gemeinsam Krach machen Die Revolte brachte zu Hochzeiten mehrere Millionen Menschen auf Santiagos Straßen (Foto: Real Fiction Filmverleih)

Das Land meiner Träume bleibt ein typischer Guzmán-Film. Im Oktober 2020 sind die Bürgersteige von Santiago abgetragen und zu kleineren und größeren Steinbrocken zerklopft, die Polizei rast mit Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen durch die Stadt, Tausende Menschen üben sich in kreativen Protestformen und klopfen mit allem Möglichen im gemeinsamen Rhythmus an Mauern und Wände. Guzmán gelingt es, diese Atmosphäre filmisch einzufangen: Zuschauer*innen blicken entweder aus nächster Nähe oder aus der Luft auf die Masse der Protestierenden und das Geschehen. Die grundlegenden und radikalen Forderungen der Straßenkämpfer*innen verbindet er mit den ruhigen Einordnungen der Interviewten. Vereinzelt werden Schwarzweißfotos aus dem Alltag in Santiago eingeblendet, auch die Pandemie findet so Einzug in den Film. Dazu gesellt sich die Stimme des Regisseurs, der seine persönlichen Eindrücke verarbeitet.

Die Geschehnisse wecken in Guzmán, der selbst zu Beginn der Diktatur im September 1973 15 Tage lang als politischer Gefangener im Nationalstadion eingesperrt war, die Angst vor staatlicher Repression und dem Ausgang der Ereignisse. Vor allem machen ihm die Revolte, der anschließende verfassunggebende Prozess und der Amtsantritt von Gabriel Boric aber Hoffnung. Nicht nur in seinen Schilderungen werden Parallelen zur Allende-Zeit gezogen: Auf Archivaufnahmen sieht man Allende; die Menschenmassen um ihn genauso wie 2022 um Gabriel Boric; das ehemalige Kongressgebäude, in dem der Verfassungskonvent tagt. So stehen am Ende der Dokumentation die Zeichen wieder auf Veränderung und Aufbau, Guzmán sieht „allmählich ein neues imaginäres Land“ – das Land seiner Träume.

„Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?“, fragt der Regisseur die Verfassungsdelegierte Damaris Abarca. Sie antwortet: „Dass die neue Verfassung abgelehnt wird und die Rechte in der Politik wieder erstarkt“. Wer die Ereignisse in Chile weiter verfolgt hat, weiß, dass dieser schlimmste Fall heute eingetreten ist, und wird Guzmáns neuen Film voller Träume und Hoffnungen daher mit Wehmut ansehen. Angesichts aktueller Entwicklungen scheint statt dem hoffnungsvollen Fazit eine im Film aufgeworfene Frage passender: „Ich sorge mich um den Ausgang dieses Kampfes. Wer wird zu den Verlierern und wer zu Siegern werden?“

Dass der schon vergangenes Jahr fertiggestellte Film erst jetzt in die deutschen Kinos kommt, tut der Tatsache keinen Abbruch, dass Guzmán der Revolte mit Das Land meiner Träume ein sehr gefühlvolles Zeitdokument geschaffen hat. Es bleibt zu hoffen, dass dieses auch hierzulande ein großes Publikum finden und berühren kann. Vielleicht hilft der Film auch dabei, sich auf die ursprüngliche Kraft der Revolte zurückzubesinnen. Denn angesichts des aktuellen Stillstands scheint es unerlässlich, dass der Druck der Straße zurückkommt und die Revolte wieder aufblüht.


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Desde arriba

Für die deutschsprachige Version hier klicken.

(Foto: René Lescornez/Dip. via Flickr , CC BY-NC-ND 2.0)

“Mirar el proceso actual es bastante decepcionante”, dice Lucio Cuenca. Él es un reconocido socio ambientalista y fue asesor ad honoren de Camila Zárate, convencionalista electa al constituyente de 2020 por el Movimiento por las aguas y los territorios (MAT Chile). Cuenca dice que es un proceso que fue cooptado por el sistema político: “El sistema político chileno es parte del problema, es parte de la crisis que estamos viviendo, por lo tanto, el apropiarse e instalar este proceso, tiene en su ADN una cuestión no resuelta, que es sobretodo de legitimidad”. Sobre todo, critica la fuerte recaída en lo institucional. Esto ha llevado a los partidos conservadores, de derecha, pero también a los de la antigua Concertación (centroizquierda), que gobernó el país ininterrumpidamente entre 1990 y 2010, a adoptar el resultado del plebiscito del 4 de septiembre y a establecer ahora un proceso estrictamente limitado.

Los tres órganos del nuevo proceso constituyente tendrán una conformación paritaria. Lo más cuestionado por los sectores de la sociedad civil y movimientos sociales es la Comisión Experta que, con 24 integrantes, será elegida por los partidos con representación en el congreso, es decir, será proporcional a la cantidad de diputados por partido, lo que en Chile se denomina “cuoteo político” o repartición de cargos, sin elección popular, ni concurso público. “Es un eufemismo esto de los expertos, porque finalmente no hay expertos que sean inocuos, son expertos que representan posiciones políticas o corrientes políticas determinadas y a través de ellos, se van a plasmar en la redacción de la nueva constitución”, constata Cuenca. Por lo tanto, el proyecto de la nueva Constitución estará dominado por la opinión del Parlamento actual, pero no por la opinión del pueblo de Chile.

A finales de  enero, el Senado y la Cámara de Representantes  propuso 12 expertos cada uno para la comisión. La Comisión Experta, con representación paritaria, se reunirá por primera vez el 6 de marzo. Su tarea consiste en elaborar un primer borrador de la nueva Constitución, que luego se entregará al Consejo Constitucional, y será elegido en las elecciones fijadas para el domingo 7 de mayo de 2023. El Consejo Constitucional estará integrado por 50 personas, con carácter paritario y con representación supernumeraria de representantes de pueblos indígenas. La ley aprobada por el Congreso Nacional chileno y publicada en el Diario Oficial dice: “El Consejo Constitucional es un órgano que tiene por único objeto discutir y aprobar una propuesta de texto de nueva Constitución”. Lo que significa, que discutirán el anteproyecto producido por la Comisión Experta, en otras palabras, un texto que por su génesis (nace de un órgano acordado por Ley), pondrá los límites de la discusión.

La Comisión Experta, no tiene derecho al voto en el Consejo Constitucional, pero claramente influirá en la discusión que se lleguen a suceder cuando el Consejo Constitucional sesione, puesto que será de su autoría el anteproyecto constitucional. “Adicionalmente, está el otro Comité de Admisibilidad, que va a hacer integrado por 14 abogados, también nombrados por el parlamento, y que finalmente será una especie de contraloría que va a determinar si los artículos que apruebe el consejo elegido (Consejo Constitucional), están o no, dentro del marco de los 12 puntos o principios acordados como límites para la nueva constitución”. Estos límites tienen de base los 12 principios que la Ley considera base en  la nueva carta fundamental, estableciendo, entre otros, que Chile es un Estado unitario, social y de derecho, donde también se consagra los tres poderes autónomos del Estado: Poder Judicial, Legislativo y Ejecutivo. Así, el  concepto de un país plurinacional, con un sistema judicial que se democratiza en su estructura, considerando entre otros elementos, una justicia que dé cuenta  a los pueblos originarios y a su cultura, queda excluido.

Para Lucio Cuenca y otros, los aspectos más críticos de este nuevo proceso, que busca superar la constitución pinochetista, se centra en estos límites establecidos. En su opinión, establecen la mantención de puntos críticos, que reproducen los pilares de la constitución del 80, para esta nueva constitución. Según él, eso es estratégico, “porque aceptar ese nivel de límites, es prácticamente cercenar la posibilidad de tener una constitución efectivamente democrática”.

Muchos de los principios de la anterior propuesta, discutidos democráticamente en la Convención Constituyente, no estarán presentes en la discusión. Por eso también es que la percepción que Cuenca tiene del proceso constitucional fallido es que fue quizá el más democrático que ha tenido Chile en estos procesos de construcción de una nueva constitución. Él evalúa que en el actual momento político se está con menos posibilidad de incidir desde el mundo social y la movilización social. Rescata sí, que las propuestas específicas del mundo socio ambiental, tuvieron importante presencia en el texto propuesto por la Convención Constitucional anterior (2021-2022). Particularmente, de 388 artículos 74 hacían mención a  “temas de la naturaleza y distinta institucionalidad y estaba instalado el tema ecológico desde el artículo Nº 1, cuando se define el carácter del Estado. Para nosotros, lo que se logró en la Convención Constitucional es de alto valor porque allí concurren distintas visiones del mundo socioambiental”.

La derrota sufrida del   ‘Apruebo’ el 4 de septiembre de 2022, ha tenido costos importantes en la legitimidad que puedan adquirir ciertos conceptos y principios que hablaban de un país más democrático, de la política y culturalmente. Poco de esto se reflejará en el nuevo proyecto de Constitución.

Se ha fijado un calendario preciso para el nuevo proceso constitucional: El Consejo Constitucional a partir del 7 de junio tiene un plazo de cinco meses para presentar una nueva propuesta constitucional. El plebiscito de apruebo o rechazo al nuevo texto se realizará el domingo 17 de diciembre de 2023, entonces es una vez más Apruebo (Sí) o Rechazo (No) a la nueva constitución. 

El signo de este acuerdo, expresa que Chile vuelve a los cauces netamente institucionales, donde es prerrogativa de los consejeros trabajar sobre un anteproyecto propuesto por una comisión de expertos nombrada a dedo. En este sentido, en nada se asemeja al proceso que, producto del estallido social, presenciamos desde el año 2019 en adelante. Se vuelve a la democracia “de las alturas”, dejando a la ciudadanía y los movimientos sociales como meros espectadores. 

Lo más grave está en la generación de los Consejeros: quienes quieran proponerse para candidatos/as a consejeros/as constitucionales, deben pertenecer a un partido legalmente inscrito y donde no se admiten candidaturas de independientes o representantes de movimientos sociales. Las elecciones de estos Consejeros, está dado por la norma que elige habitualmente a los senadores, donde el criterio de proporcionalidad propio de las elecciones de diputados/as, no se consideró: Ocurrirá, por ejemplo, que en la zona de la Araucanía, donde el conflicto entre mapuches, el Estado y las empresas forestales está en pleno desarrollo, se elegirán 5 consejeros, igual número que la Región Metropolitana, donde viven 8 millones de personas respecto del casi 1 millón de la Araucanía. Ninguna forma proporcional concurrirá en esa elección, más bien es retornar a las formas del antiguo sistema binominal, que estructuró las elecciones hasta 2013, lo que en la práctica a reponer las formas de alianzas, sobre la cuenta matemática de  quien concentre más votos tendrán mayor opción de elegir consejeros, perdiéndose los criterios de pluralismo y diversidad, donde candidatos con porcentajes menores, pueden optar a un sillón.

Si bien, los que “redacten” la constitución van a ser consejeros cien por ciento electos, la realidad de las cosas es que este consejo constitucional, es una entidad mixta que los chilenos rechazaron en el plebiscito de 2020. “El voto en ese momento fue un voto en contra de la participación del parlamento en el proceso,” dice Cuenca. 

Cabe señalar que la totalidad de los partidos con representación parlamentaria acordaron esta nueva modalidad para superar la constitución heredada de Pinochet. Con la excepción del Partido Republicano, asociado a la extrema derecha y el Partido de la Gente, nuevo conglomerado que se ubica en la centro-derecha populista.Los partidos impulsores del “Acuerdo por Chile” pretenden poner fin al legado de Pinochet con la nueva Constitución. Que esto vaya a tener éxito y que la nueva Constitución haga que Chile sea finalmente más democrático y más justo es algo que se pone en duda, especialmente en los círculos cercanos al movimiento. El “Acuerdo por Chile” es un acuerdo diseñado para que el parlamento redacte la nueva constitución. Y eso nos deja en una situación de mucha precariedad, desde el punto de vista del ejercicio de la soberanía de los pueblos. Es decepcionante las características del modelo y de los actores que ahora están tomando decisiones en este proceso”, concluye Lucio Cuenca.


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Schmerzhafte Hingabe

Was bleibt von einem Menschen, wenn er sich an nichts mehr erinnern kann? Schon oft haben sich  Filmemacher*innen dieser Frage gewidmet und die Antwort war meist ein ernüchterndes: Nicht viel. In fiktionalen Werken wie Memento oder Die Bourne Identität lässt der Erinnerungsverlust Menschen zu getriebenen, empathielosen Kampfmaschinen werden. Wie Angehörige von Alzheimer-Patient*innen wissen, hat das mit der (nicht weniger schwierigen) Realität kaum etwas zu tun. Ein besonders schmerzhaftes Beispiel aus dem echten Leben hat die chilenische Filmemacherin Maite Alberi mit The Eternal Memory jetzt dokumentarisch verarbeitet.

© Micromundo, Fabula

The Eternal Memory folgt dem früheren chilenischen Fernsehjournalisten Augusto Góngora, der heute an Alzheimer leidet und pflegebedürftig ist und seiner Frau Paulina Urrutia, ehemalige Kulturministerin Chiles, die sich liebevoll um ihn kümmert. Das Besondere an Góngora ist – oder vielmehr war -, dass er sein Lebenswerk der Erinnerung gewidmet hat. Einer Erinnerung, die sich während und nach der Diktatur Pinochets mit deren Verbrechen und ihrer Aufarbeitung beschäftigt hat. Tragischerweise verliert gerade dieser Mann, der sein Leben der Erinnerungskultur gewidmet hat, nun nach und nach sein Gedächtnis.

Finanziell geht es dem Paar nicht schlecht, sie wohnen in einem hübschen Häuschen im Grünen, wo sich der Film auch zum großen Teil abspielt – unterbrochen nur von Archivmaterial, das kurze Flashbacks auf Augustos Leben und Arbeit wirft. Sein Zustand, das ist deutlich zu erkennen, verschlechtert sich im Laufe der Dreharbeiten des Films rapide. Herrschen am Beginn noch Lebensfreude und Optimismus vor („Ich möchte nicht sterben!“), schwindet diese im weiteren Verlauf der Dokumentation immer mehr. So liebenswert der alte Mann auch ist, es lässt sich nicht übersehen, dass er Dinge, die Paulina, seine Hauptbezugsperson ihm erzählt, nur noch wiederholt und nicht wirklich weiß, worüber er spricht. Am Bittersten ist, dass irgendwann das Gefühl entsteht, er sage gewisse Dinge nur, um ihr zu gefallen. Denn sie, die ihn nach wie vor sichtbar liebt (und ihn erst kurz vor Ausbruch seiner Krankheit nach 20-jähriger Beziehung geheiratet hat) reibt sich im Kontakt mit ihm völlig auf, versucht verzweifelt, ihm glückliche Tage ins Gedächtnis zu rufen („An was möchtest du dich heute erinnern?“), verliert fast die Fassung, als er sie eines Tages nicht mehr erkennt. Dass Augusto sich manchmal sogar für seinen Zustand entschuldigt, bestärkt noch das Gefühl einer schmerzhaften beiderseitigen Abhängigkeit.

Maite Alberi bleibt in ihrem filmischen Porträt sehr nahe an ihren beiden bekannten Protagonist*innen. Augusto und Paulina sind bis auf die Rückblenden aus Góngoras Leben und einem kurzen Besuch seiner Tochter die einzigen Personen, die im Film zu sehen sind. Dadurch entstehen große Intimität und viele berührende Momente, die angesichts der Privatheit des Gezeigten manchmal aber an der Grenze zum Voyeurismus stehen. Wenn Augusto in einem Anfall von Verzweiflung völlig die Orientierung verliert und bemerkt, er möchte nun nicht mehr lange leben, fragt man sich beim Zusehen, ob er wohl selbst seine Zustimmung dafür gegeben hätte, in so einem Moment potenziell von Millionen von Menschen beobachtet zu werden. Zudem macht die isolierte Fokussierung auf die Zweierbeziehung von Augusto und Paulina die Bewertung des Films zur Geschmackssache. Für die einen kann der Film als bewegendes Dokument von Liebe und Hingabe unabhängig von den Lebensumständen gesehen werden. Für andere könnte wegen des Verzichts auf eine externe Einordnung der Krankheit (beispielsweise durch  eine*n medizinische*n Expert*in) am Ende des Films nicht mehr als Schmerz und das Gefühl bleiben, dass der Kampf gegen Alzheimer selbst bei liebevollster Pflege ein hoffnungsloser Kampf gegen Windmühlen ist.

LN-Bewertung: 3/5 Lamas


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SCHOLZ IM ADLERHORST

Es wirkte wie ein Klimatreffen. Am 30. Januar 2023 traf sich Bundeskanzler Olaf Scholz mit chilenischen Unternehmer*innen, darunter die deutsch-chilenische Handelskammer und die chilenische Industriekammer, kurz SOFOFA. In einer langen Rede beschwor der Kanzler gemeinsame demokratische Werte, zirkuläre Wirtschaft, Umweltschutz, den gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel und internationale Solidarität. Nachdem er zuvor von chilenischen Studierenden sprach, die während der Militärdiktatur in Deutschland studieren konnten, meinte er: „Heute teilen wir unsere demokratischen Werte und die Überzeugung, dass individuelle Freiheit und soziale Sicherheit Hand in Hand gehen. […] Und noch etwas teilen wir: Wie viele Gesellschaften sind wir mit dem Ziel verbunden, unsere Wirtschaft neu auszurichten, aus fossilen Brennstoffen auszusteigen und klimaneutral zu produzieren.“

„Von einem SPD-Mitglied hätten wir mehr erwartet“

Zuvor hatte Scholz bereits angekündigt, den Aufbau einer Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad zu unterstützen. Es wirkt wie ein Tapetenwechsel: Wo einst knallharte wirtschaftliche Interessen galten, sind es heute Menschenrechte und Umweltschutz. Doch der Schein trügt. Hinter der Tapete versteckt sich weiterhin das Fundament einer interessengeleiteten Außenpolitik, in deren Zentrum die Familien geflohener Nazis stehen. So war der Besuch von Scholz der große Auftritt für Christoph Schiess − ein Unternehmer, der wenig in die chilenische Öffentlichkeit tritt. Er empfing den Bundeskanzler auf dem neuen, firmeneigenen Gelände in Vitacura. Der Komplex der Firma Tánica, einst Transoceánica, ist der sichtbarste Teil des Imperiums von Schiess, das vor allem im Immobiliensektor tätig ist. Regelmäßig taucht das Unternehmen in Konflikten auf, bei denen sich Anwohner*innen gegen Neubauten durch die Tánica wehren.

Das erklärte Ziel der deutschen Regierung war es, die wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken. Derzeit will man vor allem Kupfer und Lithium aus Chile importieren, in Zukunft soll Chile „grüne“ Energie in Form von Ammoniak und Wasserstoff nach Deutschland liefern. Chile selbst sieht sich nach eigenem Bekunden als den zukünftig weltweit größten Wasserstoffexporteur, der aufgrund seiner vorteilhaften Lage – viel Sonne und direkt am Meer – den weltweit günstigsten Wasserstoff produzieren kann. Scholz seinerseits bekundete mehrmals, dass die wirtschaftlichen Beziehungen sich ändern müssten: Die Herkunftsländer der Rohstoffe müssten vom erwirtschafteten Reichtum profitieren. Hier witterten die Unternehmer*innen beim Treffen in der Tánica gute Geschäfte. Unter der Moderation von Cristoph Schiess’ Ehefrau, Jeanette von Wolffersdorff, sprach man gemeinsam über eine grüne Zukunft, in der zirkuläre Wirtschaft auf der Tagesordnung stehe. Doch wer steht hinter dem grünen Stelldichein der deutsch-chilenischen Wirtschaft? Es sind zum Teil kleine Unternehmer*innen, die sich im Bereich der Energie- und Minenwirtschaft betätigten. Doch präsidiert werden ihre Organisationen von alten deutschen Familien und deren Freund*innen. Es sind zum großen Teil die Nachfahren von Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor der Justiz der Alliierten flohen, beginnend bei Christoph Schiess. Relativ wenig bekannt ist über den Vater von Christoph und Gründer der Transoceánica: Wilhelm Schiess. Nach eigenen Angaben kam er im Jahr 1948 mit 23 Jahren nach Valparaíso, nachdem er es geschafft hatte, aus der Gefangenschaft der Roten Armee zu fliehen. Neben Schiess steht die Familie von Appen, die derzeit mit dem 55-jährigen Richard von Appen die chilenische Industriekammer präsidiert. Der Vater von Richard, Julio Alberto von Appen, kam als Spion für das NS-Regime erstmals im Jahr 1937 nach Chile. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte er sich in Santiago. Zudem war auch Victor Ide in Vertretung der deutsch-chilenischen Handelskammer anwesend. Ide gilt als enger Bekannter des Unternehmers Horst Paulmann. Paulmann kam als Kind nach Chile, nachdem sein Vater, der unter dem NS-Regime Richter war, nach Lateinamerika geflüchtet war. All diese Nazis gründeten in den 50er Jahren ihre Unternehmen, die vor allem während der Militärdiktatur stark wuchsen, – auch dank der guten Kontakte zum Militär.

Auch heute unterstützen die Unternehmer*innen stramm rechte Positionen. Cristoph Schiess sponsorte während der Wahlperiode die rechtsextreme Constanza Hube vom neoliberalen Thinktank Libertad y Desarrollo (Freiheit und Entwicklung). Paulmann war ein guter Bekannter des verstorbenen Paul Schäfer, des Gründungsvaters der berüchtigten Colonia Dignidad, sagt Winfried Hempel, der in der Colonia Dignidad aufgewachsen ist und derzeit als Anwalt die Opfer der Colonia vertritt. Für ihn ist das Händeschütteln des Kanzlers mit Nazifamilien „ein Affront“, wie er gegenüber LN sagte. Denn obwohl der Besuch von Bundeskanzler Scholz im Museum für Erinnerung und Menschenrechte in Santiago de Chile begann und Menschenrechtsthemen offiziell im Mittelpunkt seiner Reise standen, gab es laut Hempel wenig Konkretes: „Von einem SPD-Mitglied hätten wir mehr erwartet.“ Es fanden weder Treffen mit Opferorganisationen der Colonia Dignidad statt noch waren die entsprechenden staatlichen Stellen zum Staatstreffen eingeladen. Während sich die chilenischen Finanz- und Energieminister mit ihren deutschen Partner*innen trafen, fehlten der Justizminister und die Staatssekretärin für Menschenrechte gänzlich – eine Prioritätensetzung, die für Hempel ein Sinnbild der deutschen Politik ist: „Nach außen gibt sich der deutsche Staat als Paradebeispiel für Menschenrechte, doch in der Realität haben wirtschaftliche Interessen weitaus mehr Priorität.“ Der Anwalt erinnert daran, dass es lange brauchte, bis sich deutsche Staatsvertreter*innen für die Unterstützung der Colonia Dignidad entschuldigten. Es gibt Berichte, wonach das Auswärtige Amt aktiv versuche, Staatsbesuche vor Ort zu verhindern. So etwa als Bodo Ramelow im Oktober 2022, als Präsident des deutschen Bundesrates, einen Besuch in der Colonia Dignidad vornahm. Ramelow hatte anschließend das Verhalten des Auswärtigen Amtes heftig kritisiert, da ihm Informationen vorenthalten worden seien und sich Vertreter*innen des Amtes abschätzig ihm und den Opfervertreter*innen gegenüber verhalten hätten.

Nazis gründeten in den 1950ern Unternehmen, die vor allem während der Militärdiktatur stark wuchsen

Die nun angekündigte Gedenkstätte sei keineswegs neu, meint Hempel, „das Konzept steht seit mehr als acht Jahren.“ Es sei gut, dass nun auch von oberster staatlicher Stelle das Projekt unterstützt werde, doch „wenn Kanzler Scholz das Projekt würde vorantreiben wollen, hätte er während seines Besuchs den ersten Stein legen können.“ So blieb es nur eine weitere Ankündigung. Andere Projekte laufen deutlich schneller: Bei dem Besuch wurden zwei Wirtschaftsverträge unterzeichnet: einer mit dem chilenischen Bergbauministerium über eine deutsch-chilenische Partnerschaft für Bergbau, Rohstoffe und Kreislaufwirtschaft, ein zweiter zur Kooperation der Hamburger Kupferraffinerie Aurubis mit der chilenischen staatlichen Kupfermine Codelco. Außerdem haben Porsche und Siemens bereits in die Testproduktion von synthetischen E-Fuel-Kraftstoffen in Chile investiert.


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GABRIEL BORIC UND CHILES NEUE LINKE

Die Erde verteidigen Graffiti in Santiago de Chile gegen Holzraubbau in den Mapuche-Gebieten (Foto: Ute Löhning)

Umweltschutz, Feminismus, soziale Gerechtigkeit: Die Wahlversprechen von Gabriel Boric klangen verheißungsvoll. Nach Jahrzehnten des Neoliberalismus sollte Chile nun endlich die Kehrtwende schaffen. Dies- und jenseits des Atlantiks jubelte die Linke nach seiner Wahl zum Präsidenten im Dezember 2021. Endlich: das Ende der privatisierten Sozialsysteme, der extremen ökonomischen Ungleichheit und des umweltzerstörenden Extraktivismus. Stattdessen: der Anfang einer sozial-, umwelt- und geschlechtergerechten Gesellschaft und die Versöhnung mit den indigenen Bevölkerungsgruppen. So die Hoffnung.

Der jüngste Staatschef der Welt repräsentiert eine neue lateinamerikanische Linke, die mit den AMLOs und Lulas nur wenig und mit den Ortegas und Maduros gar nichts gemein hat. Als ehemaliger Studierendenanführer kommt Boric aus den sozialen Bewegungen. Auch wenn er schon vor einigen Jahren in die institutionelle Politik wechselte, haftet ihm dieses Image noch immer an. Und er macht sich auch wenig Mühe, es abzulegen – im Gegenteil. Statt in den Präsidentenpalast zog er in ein deutlich bescheideneres Haus in einem Mittelschichtsstadtteil Santiagos und auch sein Äußeres ist legerer, als man es sich jemals von einem chilenischen Präsidenten hätte vorstellen können: tätowiert, hemdsärmelig, ungekämmt. Anders als bisherige Präsidenten gibt Boric sich nahbar und sucht den Kontakt mit der Bevölkerung.

Von Anfang an war eine gewisse Enttäuschung jedoch insofern vorprogrammiert, als Borics Regierung sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann: Sein linkes Parteienbündnis Apruebo Dignidad verfügt lediglich über 37 von 155 Abgeordneten sowie über 6 von 50 Senator*innen. Boric sah sich daher genötigt, die Basis seiner Regierung zu verbreitern. Infolge nahm er Mitte-Links-Parteien der ehemaligen Concertación (mit Ausnahme der Christdemokrat*innen) in seine Regierung auf. Als „Socialismo Democrático“ spielen diese Parteien eine zunehmend wichtige Rolle in der Regierung. Doch selbst dieses Bündnis hat keine eigene Parlamentsmehrheit und ist darauf angewiesen, mit anderen Kräften Kompromisse zu finden, im Senat sogar mit den Mitte-Rechts-Parteien.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform, die Boric und Finanzminister Mario Marcel bereits im Juli präsentierten. Marcel war zuvor Direktor der chilenischen Zentralbank und an allen Regierungen der Concertación beteiligt. Seine Ernennung brachte Boric reichlich Kritik ein, die Steuerreform mag jedoch manche überraschen. Laut Regierung hätten 97 Prozent der Steuerzahler*innen keine Erhöhungen zu befürchten, diese würden nur die oberen drei Prozent treffen. Das klingt nach wenig, laut dem Weltungleichheitsbericht 2022 verfügt das einkommensstärkste Prozent der Haushalte in Chile jedoch über rund 50 Prozent und die wohlhabendsten zehn Prozent sogar über mehr als 80 Prozent des Reichtums. Zentrale Bestandteile der geplanten Reform sind eine höhere Besteuerung von Vermögen, Kapitaleinkommen und hohen Einkommen, die Bekämpfung von Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die Einführung von Abgaben für den Kupferbergbau.

Im laufenden Gesetzgebungsverfahren könnte außerdem eine Finanztransaktionssteuer hinzukommen. Mittlere Einkommen sollen durch Freibeträge für Mieten oder Pflege entlastet werden. Ein leicht reduzierter Steuersatz für Unternehmen soll Investitionen fördern.

Geplant ist, durch die Reform das Steueraufkommen um rund 12 Millionen US-Dollar (4 Prozent des BIP) zu erhöhen und so gut die Hälfte von Borics Regierungsprogramm zu finanzieren. Das aktuelle Aufkommen von 21 Prozent des BIP sei zu wenig, um die nötigen Sozialausgaben, etwa in den Bereichen Gesundheit und Bildung, zu tätigen, meint auch die OECD. Dort hält man die geplante Reform für „ambitioniert, aber machbar“. Nun wird es darauf ankommen, die nötigen Mehrheiten dafür zu gewinnen.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform Eine Ahnung, in welche Richtung die Politik von Gabriel Boric gehen wird, gibt der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr 2023. Geplant sind Mehrausgaben in Höhe von 4,2 Prozent. Ein Schwerpunkt sind Investitionen in die „Infrastruktur für wirtschaftliche Entwicklung“ und in die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ein zweiter Schwerpunkt ist die öffentliche Sicherheit. Der Fokus liegt hier auf zusätzlichen Mitteln für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, unter anderem durch die uniformierte Polizei Carabineros, die wegen Menschenrechtsverbrechen während der Proteste 2019 des estallido social (der „sozialen Explosion“) in der Kritik stehen. Dritter Schwerpunkt ist die soziale Sicherheit mit Mehrausgaben von 8 Prozent, etwa für Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfen. Nach einem durch und durch linken Projekt klingt das zwar nicht, dafür aber nach einem mehrheitsfähigen.

Und Mehrheiten im Kongress sind für Boric überlebenswichtig, das gilt auch für die für seine Regierung zentrale Rentenreform. Nachdem das Gesetzgebungsverfahren auf die Zeit nach dem Verfassungsplebiszit verschoben wurde, kommt nun wieder Bewegung in die Sache: Medienberichten zufolge soll das bisherige System der privaten Rentenfonds (AFP) abgeschafft und durch ein öffentliches System ersetzt werden – eine der Hauptforderungen des estallido social. Die Regierung kündigte an, die Reform noch im Oktober 2022 in den Kongress einzubringen. Aber auch hier ist die Regierung auf Zustimmung aus der Opposition und möglicherweise auf Kompromisse angewiesen.

Auch außenpolitisch gibt sich Boric kompromissbereit. Immer wieder betont er in Interviews die Notwendigkeit einer stärkeren regionalen Integration und des Brückenbauens – ob zum linken Evo Morales in Bolivien oder zum rechten Guillermo Lasso in Ecuador. Gleichzeitig kritisierte er wiederholt entschieden Menschenrechtsverletzungen der autoritären Regime von Daniel Ortega in Nicaragua, Nicolás Maduro in Venezuela und Miguel Diaz-Canel in Kuba. Diese deutliche Beanstandung der Politik anderer linker Regierungen der Region bringt ihm einerseits Kritik ein, verleiht ihm aber auch Glaubwürdigkeit und spricht dafür, dass er nicht in das alte Rechts-Links-Schema passt, sondern einen neuen Typus progressiver Regierung vertritt.

Die privaten Rentenfonds sollen abgeschafft werden

Am Transpazifischen Partnerschaftsabkommen TPP-11 entzündet sich der neueste Konflikt innerhalb der Regierung. Die Parteien von Apruebo Dignidad lehnen es aufgrund seiner umstrittenen Mechanismen zur Konfliktlösung mittels Schiedsgerichten ab, auch Boric stimmte als Abgeordneter einst dagegen. Die Parteien des Socialismo Democrático befürworten jedoch die Ratifizierung. Anstatt eine Ablehnung des Abkommens in seiner Koalition durchzusetzen, versucht Boric nun, in Nebenabreden zum Abkommen die Konfliktlösungsmechanismen abzumildern, um ihm zustimmen zu können – ein weiteres Zeichen seiner Kompromissbereitschaft. Bei dem absehbaren Ringen um Kompromisse hatte die neue Regierung eigentlich auf Rückenwind durch die neue Verfassung gehofft – und dies auch öffentlich erklärt, denn die neoliberale Verfassung von Pinochet steht vielen ihrer politischen Ziele im Wege. Mit der Ablehnung des Verfassungsentwurfs im Plebiszit ist es mit dieser Hoffnung nun vorbei. Zudem ist Boric politisch geschwächt, denn seine Regierung und die Verfassung wurden allgemein als miteinander verbunden wahrgenommen.

Boric war nur wenige Wochen im Amt, da begann eine rechte Kampagne, den Verfassungsentwurf –und damit auch ihn und seine Regierung – erfolgreich und nachhaltig zu diskreditieren. Diese lancierte Falschbehauptungen über künftig angeblich unsichere Renten, enteignete Wohnungen oder kollabierende Krankenhäuser. Gleichzeitig lenkten die rechten Medien den Fokus auf seinen vermeintlichen Schwachpunkt: die Sicherheitspolitik. Meldungen über gestiegene Kriminalität in den Großstädten häuften sich, während die Polizei nach Ermittlungen in Sachen Polizeigewalt Boric misstrauisch gegenüberstand. Die neue Regierung ist somit von Anfang an in der Defensive und muss reagieren, anstatt sich auf eigene politische Projekte konzentrieren zu können. Da nur begrenzt politisches Kapital zur Verfügung steht, muss sie sich überlegen, für welche Anliegen sie dieses am besten einsetzt. Die Befreiung der politischen Gefangenen des estallido social gehörte beispielsweise nicht dazu. Das Innenministerium trat weiterhin als Klägerin gegen Gefangene der Proteste auf, Teile der Regierung halten die Gefangenen nun für normale Straftäter*innen. Und nach dem neuen Haushaltsentwurf wird nun eben sogar jene Polizei finanziell aufgestockt, die für illegale Verhaftungen und die massive Polizeigewalt verantwortlich ist.

Auch in der Causa Mapuche hält Boric nicht sein Wort. Im Wahlkampf hatte er noch angekündigt, den von seinem Vorgägner Piñera verhängten Ausnahmezustand in der Region Araucanía nicht verlängern zu wollen. Angesichts von sich häufenden Meldungen über dortige Zusammenstöße und Straßenblockaden sah er sich aber schließlich doch dazu gezwungen, wenn auch die Rolle des Militärs dabei auf die Sicherung der Straßen begrenzt wurde. Das brachte seiner Regierung den ersten internen Streit ein, da die linken Parteien die Verlängerung eigentlich nicht mittragen wollten. Stattdessen verspricht Boric nun höhere Investitionen in den Plan Buen Vivir für bessere Lebensbedingungen in den südchilenischen, indigen geprägten Regionen – und erweckt damit den Eindruck, die misslungene Politik seiner Vorgänger*innen im Umgang mit den Forderungen der Mapuche fortzuführen.

“Confort” ist alle Nach dem Misserfolg des Verfassungsreferendums macht die Pinochet-Verfassung der bekannten Klopapiermarke Confort leider noch keine Konkurrenz (Foto: Ute Löhning)

Um die Verfassung noch zu retten, bewegte Boric die Mitte-Links-Parteien in letzter Minute dazu, für den Fall der Annahme Abschwächungen der Verfassung zuzusagen – ein weiteres Zugeständnis an die Rechte. Es half jedoch nichts, der Ausgang des Referendums zwang ihn zu noch mehr Kompromissbereitschaft. Er ersetzte seinen Weggefährten Giorgio Jackson im Kabinett durch die Bachelet-Vertraute Ana Lya Uriarte und berief mit Carolina Tohá eine Veteranin der Concertación zur Innenministerin, in Chile der wichtigste Kabinettsposten. So setzt sich ein Prozess fort, der schon mit seiner Unterschrift unter die Verfassungsvereinbarung 2019 sichtbar begonnen hatte: Boric ist mit der Zeit immer moderater geworden. Inzwischen erscheint er vielen Linken immer mehr als Wiedergeburtshelfer der Concertación, eine Art Bachelet 2.0.

Auf der einen Seite scheint die Abkehr von linken Positionen innerhalb kürzester Zeit – Boric ist erst ein halbes Jahr im Amt – darauf hinzuweisen, dass die anfänglichen Hoffnungen in seine Regierung womöglich überhöht waren. Eine Rolle dabei mag auch die geringe Regierungserfahrung von Borics Bündnis Apruebo Dignidad, vieler seiner Minister*innen und des Präsidenten selbst spielen, der noch im Jahr 2020 versicherte, sich für die Übernahme des höchsten politischen Amtes nicht bereit zu fühlen. Andererseits befindet er sich bei all seinen politischen Entscheidungen in mehr oder weniger vorhersehbaren Zwangslagen: einerseits die Pandemie, andererseits Wirtschaftskrise und Inflation infolge des kurz vor seiner Amtsübernahme begonnenen Kriegs in der Ukraine. Nicht zuletzt schränken die fehlenden politischen Mehrheiten den Handlungsspielraum der Regierung ein. Der aktuelle Kontext ist geprägt durch eine Sicherheits- und Wirtschaftskrise, mit sinkenden Einkommen und dem Verlust von Arbeitsplätzen, die anhaltende Bedrohung durch Corona, die Unsicherheit im Zusammenhang mit Kriminalität und Drogenhandel etwa durch Gruppen des organisierten Verbrechens wie dem Tren de Aragua, sowie den Herausforderungen durch die hohe Migration, vor allem aus Venezuela. Der Vergleich mit Michelle Bachelet hinkt insofern, als dass die Ex-Präsidentin mit vielen Problemen in diesem Ausmaß nie konfrontiert war und mit ihren Parteienbündnissen Concertación und Nueva Mayoría stets über parlamentarische Mehrheiten verfügte.

Es bleibt also zu hoffen, dass Boric und seine Regierung die immensen Herausforderungen bewältigen, ohne dabei durch ständige Kompromisse völlig die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn besonders in Chile gibt es für Politiker*innen weder lange Schonfristen noch mildernde Umstände.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.


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