Schmerzhafte Hingabe
Was bleibt von einem Menschen, wenn er sich an nichts mehr erinnern kann? Schon oft haben sich Filmemacher*innen dieser Frage gewidmet und die Antwort war meist ein ernüchterndes: Nicht viel. In fiktionalen Werken wie Memento oder Die Bourne Identität lässt der Erinnerungsverlust Menschen zu getriebenen, empathielosen Kampfmaschinen werden. Wie Angehörige von Alzheimer-Patient*innen wissen, hat das mit der (nicht weniger schwierigen) Realität kaum etwas zu tun. Ein besonders schmerzhaftes Beispiel aus dem echten Leben hat die chilenische Filmemacherin Maite Alberi mit The Eternal Memory jetzt dokumentarisch verarbeitet.

© Micromundo, Fabula
The Eternal Memory folgt dem früheren chilenischen Fernsehjournalisten Augusto Góngora, der heute an Alzheimer leidet und pflegebedürftig ist und seiner Frau Paulina Urrutia, ehemalige Kulturministerin Chiles, die sich liebevoll um ihn kümmert. Das Besondere an Góngora ist – oder vielmehr war -, dass er sein Lebenswerk der Erinnerung gewidmet hat. Einer Erinnerung, die sich während und nach der Diktatur Pinochets mit deren Verbrechen und ihrer Aufarbeitung beschäftigt hat. Tragischerweise verliert gerade dieser Mann, der sein Leben der Erinnerungskultur gewidmet hat, nun nach und nach sein Gedächtnis.
Finanziell geht es dem Paar nicht schlecht, sie wohnen in einem hübschen Häuschen im Grünen, wo sich der Film auch zum großen Teil abspielt – unterbrochen nur von Archivmaterial, das kurze Flashbacks auf Augustos Leben und Arbeit wirft. Sein Zustand, das ist deutlich zu erkennen, verschlechtert sich im Laufe der Dreharbeiten des Films rapide. Herrschen am Beginn noch Lebensfreude und Optimismus vor („Ich möchte nicht sterben!“), schwindet diese im weiteren Verlauf der Dokumentation immer mehr. So liebenswert der alte Mann auch ist, es lässt sich nicht übersehen, dass er Dinge, die Paulina, seine Hauptbezugsperson ihm erzählt, nur noch wiederholt und nicht wirklich weiß, worüber er spricht. Am Bittersten ist, dass irgendwann das Gefühl entsteht, er sage gewisse Dinge nur, um ihr zu gefallen. Denn sie, die ihn nach wie vor sichtbar liebt (und ihn erst kurz vor Ausbruch seiner Krankheit nach 20-jähriger Beziehung geheiratet hat) reibt sich im Kontakt mit ihm völlig auf, versucht verzweifelt, ihm glückliche Tage ins Gedächtnis zu rufen („An was möchtest du dich heute erinnern?“), verliert fast die Fassung, als er sie eines Tages nicht mehr erkennt. Dass Augusto sich manchmal sogar für seinen Zustand entschuldigt, bestärkt noch das Gefühl einer schmerzhaften beiderseitigen Abhängigkeit.
Maite Alberi bleibt in ihrem filmischen Porträt sehr nahe an ihren beiden bekannten Protagonist*innen. Augusto und Paulina sind bis auf die Rückblenden aus Góngoras Leben und einem kurzen Besuch seiner Tochter die einzigen Personen, die im Film zu sehen sind. Dadurch entstehen große Intimität und viele berührende Momente, die angesichts der Privatheit des Gezeigten manchmal aber an der Grenze zum Voyeurismus stehen. Wenn Augusto in einem Anfall von Verzweiflung völlig die Orientierung verliert und bemerkt, er möchte nun nicht mehr lange leben, fragt man sich beim Zusehen, ob er wohl selbst seine Zustimmung dafür gegeben hätte, in so einem Moment potenziell von Millionen von Menschen beobachtet zu werden. Zudem macht die isolierte Fokussierung auf die Zweierbeziehung von Augusto und Paulina die Bewertung des Films zur Geschmackssache. Für die einen kann der Film als bewegendes Dokument von Liebe und Hingabe unabhängig von den Lebensumständen gesehen werden. Für andere könnte wegen des Verzichts auf eine externe Einordnung der Krankheit (beispielsweise durch eine*n medizinische*n Expert*in) am Ende des Films nicht mehr als Schmerz und das Gefühl bleiben, dass der Kampf gegen Alzheimer selbst bei liebevollster Pflege ein hoffnungsloser Kampf gegen Windmühlen ist.
LN-Bewertung: 3/5 Lamas
GABRIEL BORIC UND CHILES NEUE LINKE

Die Erde verteidigen Graffiti in Santiago de Chile gegen Holzraubbau in den Mapuche-Gebieten (Foto: Ute Löhning)
Umweltschutz, Feminismus, soziale Gerechtigkeit: Die Wahlversprechen von Gabriel Boric klangen verheißungsvoll. Nach Jahrzehnten des Neoliberalismus sollte Chile nun endlich die Kehrtwende schaffen. Dies- und jenseits des Atlantiks jubelte die Linke nach seiner Wahl zum Präsidenten im Dezember 2021. Endlich: das Ende der privatisierten Sozialsysteme, der extremen ökonomischen Ungleichheit und des umweltzerstörenden Extraktivismus. Stattdessen: der Anfang einer sozial-, umwelt- und geschlechtergerechten Gesellschaft und die Versöhnung mit den indigenen Bevölkerungsgruppen. So die Hoffnung.
Der jüngste Staatschef der Welt repräsentiert eine neue lateinamerikanische Linke, die mit den AMLOs und Lulas nur wenig und mit den Ortegas und Maduros gar nichts gemein hat. Als ehemaliger Studierendenanführer kommt Boric aus den sozialen Bewegungen. Auch wenn er schon vor einigen Jahren in die institutionelle Politik wechselte, haftet ihm dieses Image noch immer an. Und er macht sich auch wenig Mühe, es abzulegen – im Gegenteil. Statt in den Präsidentenpalast zog er in ein deutlich bescheideneres Haus in einem Mittelschichtsstadtteil Santiagos und auch sein Äußeres ist legerer, als man es sich jemals von einem chilenischen Präsidenten hätte vorstellen können: tätowiert, hemdsärmelig, ungekämmt. Anders als bisherige Präsidenten gibt Boric sich nahbar und sucht den Kontakt mit der Bevölkerung.
Von Anfang an war eine gewisse Enttäuschung jedoch insofern vorprogrammiert, als Borics Regierung sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann: Sein linkes Parteienbündnis Apruebo Dignidad verfügt lediglich über 37 von 155 Abgeordneten sowie über 6 von 50 Senator*innen. Boric sah sich daher genötigt, die Basis seiner Regierung zu verbreitern. Infolge nahm er Mitte-Links-Parteien der ehemaligen Concertación (mit Ausnahme der Christdemokrat*innen) in seine Regierung auf. Als „Socialismo Democrático“ spielen diese Parteien eine zunehmend wichtige Rolle in der Regierung. Doch selbst dieses Bündnis hat keine eigene Parlamentsmehrheit und ist darauf angewiesen, mit anderen Kräften Kompromisse zu finden, im Senat sogar mit den Mitte-Rechts-Parteien.
Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform, die Boric und Finanzminister Mario Marcel bereits im Juli präsentierten. Marcel war zuvor Direktor der chilenischen Zentralbank und an allen Regierungen der Concertación beteiligt. Seine Ernennung brachte Boric reichlich Kritik ein, die Steuerreform mag jedoch manche überraschen. Laut Regierung hätten 97 Prozent der Steuerzahler*innen keine Erhöhungen zu befürchten, diese würden nur die oberen drei Prozent treffen. Das klingt nach wenig, laut dem Weltungleichheitsbericht 2022 verfügt das einkommensstärkste Prozent der Haushalte in Chile jedoch über rund 50 Prozent und die wohlhabendsten zehn Prozent sogar über mehr als 80 Prozent des Reichtums. Zentrale Bestandteile der geplanten Reform sind eine höhere Besteuerung von Vermögen, Kapitaleinkommen und hohen Einkommen, die Bekämpfung von Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die Einführung von Abgaben für den Kupferbergbau.
Im laufenden Gesetzgebungsverfahren könnte außerdem eine Finanztransaktionssteuer hinzukommen. Mittlere Einkommen sollen durch Freibeträge für Mieten oder Pflege entlastet werden. Ein leicht reduzierter Steuersatz für Unternehmen soll Investitionen fördern.
Geplant ist, durch die Reform das Steueraufkommen um rund 12 Millionen US-Dollar (4 Prozent des BIP) zu erhöhen und so gut die Hälfte von Borics Regierungsprogramm zu finanzieren. Das aktuelle Aufkommen von 21 Prozent des BIP sei zu wenig, um die nötigen Sozialausgaben, etwa in den Bereichen Gesundheit und Bildung, zu tätigen, meint auch die OECD. Dort hält man die geplante Reform für „ambitioniert, aber machbar“. Nun wird es darauf ankommen, die nötigen Mehrheiten dafür zu gewinnen.
Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform Eine Ahnung, in welche Richtung die Politik von Gabriel Boric gehen wird, gibt der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr 2023. Geplant sind Mehrausgaben in Höhe von 4,2 Prozent. Ein Schwerpunkt sind Investitionen in die „Infrastruktur für wirtschaftliche Entwicklung“ und in die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ein zweiter Schwerpunkt ist die öffentliche Sicherheit. Der Fokus liegt hier auf zusätzlichen Mitteln für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, unter anderem durch die uniformierte Polizei Carabineros, die wegen Menschenrechtsverbrechen während der Proteste 2019 des estallido social (der „sozialen Explosion“) in der Kritik stehen. Dritter Schwerpunkt ist die soziale Sicherheit mit Mehrausgaben von 8 Prozent, etwa für Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfen. Nach einem durch und durch linken Projekt klingt das zwar nicht, dafür aber nach einem mehrheitsfähigen.
Und Mehrheiten im Kongress sind für Boric überlebenswichtig, das gilt auch für die für seine Regierung zentrale Rentenreform. Nachdem das Gesetzgebungsverfahren auf die Zeit nach dem Verfassungsplebiszit verschoben wurde, kommt nun wieder Bewegung in die Sache: Medienberichten zufolge soll das bisherige System der privaten Rentenfonds (AFP) abgeschafft und durch ein öffentliches System ersetzt werden – eine der Hauptforderungen des estallido social. Die Regierung kündigte an, die Reform noch im Oktober 2022 in den Kongress einzubringen. Aber auch hier ist die Regierung auf Zustimmung aus der Opposition und möglicherweise auf Kompromisse angewiesen.
Auch außenpolitisch gibt sich Boric kompromissbereit. Immer wieder betont er in Interviews die Notwendigkeit einer stärkeren regionalen Integration und des Brückenbauens – ob zum linken Evo Morales in Bolivien oder zum rechten Guillermo Lasso in Ecuador. Gleichzeitig kritisierte er wiederholt entschieden Menschenrechtsverletzungen der autoritären Regime von Daniel Ortega in Nicaragua, Nicolás Maduro in Venezuela und Miguel Diaz-Canel in Kuba. Diese deutliche Beanstandung der Politik anderer linker Regierungen der Region bringt ihm einerseits Kritik ein, verleiht ihm aber auch Glaubwürdigkeit und spricht dafür, dass er nicht in das alte Rechts-Links-Schema passt, sondern einen neuen Typus progressiver Regierung vertritt.
Die privaten Rentenfonds sollen abgeschafft werden
Am Transpazifischen Partnerschaftsabkommen TPP-11 entzündet sich der neueste Konflikt innerhalb der Regierung. Die Parteien von Apruebo Dignidad lehnen es aufgrund seiner umstrittenen Mechanismen zur Konfliktlösung mittels Schiedsgerichten ab, auch Boric stimmte als Abgeordneter einst dagegen. Die Parteien des Socialismo Democrático befürworten jedoch die Ratifizierung. Anstatt eine Ablehnung des Abkommens in seiner Koalition durchzusetzen, versucht Boric nun, in Nebenabreden zum Abkommen die Konfliktlösungsmechanismen abzumildern, um ihm zustimmen zu können – ein weiteres Zeichen seiner Kompromissbereitschaft. Bei dem absehbaren Ringen um Kompromisse hatte die neue Regierung eigentlich auf Rückenwind durch die neue Verfassung gehofft – und dies auch öffentlich erklärt, denn die neoliberale Verfassung von Pinochet steht vielen ihrer politischen Ziele im Wege. Mit der Ablehnung des Verfassungsentwurfs im Plebiszit ist es mit dieser Hoffnung nun vorbei. Zudem ist Boric politisch geschwächt, denn seine Regierung und die Verfassung wurden allgemein als miteinander verbunden wahrgenommen.
Boric war nur wenige Wochen im Amt, da begann eine rechte Kampagne, den Verfassungsentwurf –und damit auch ihn und seine Regierung – erfolgreich und nachhaltig zu diskreditieren. Diese lancierte Falschbehauptungen über künftig angeblich unsichere Renten, enteignete Wohnungen oder kollabierende Krankenhäuser. Gleichzeitig lenkten die rechten Medien den Fokus auf seinen vermeintlichen Schwachpunkt: die Sicherheitspolitik. Meldungen über gestiegene Kriminalität in den Großstädten häuften sich, während die Polizei nach Ermittlungen in Sachen Polizeigewalt Boric misstrauisch gegenüberstand. Die neue Regierung ist somit von Anfang an in der Defensive und muss reagieren, anstatt sich auf eigene politische Projekte konzentrieren zu können. Da nur begrenzt politisches Kapital zur Verfügung steht, muss sie sich überlegen, für welche Anliegen sie dieses am besten einsetzt. Die Befreiung der politischen Gefangenen des estallido social gehörte beispielsweise nicht dazu. Das Innenministerium trat weiterhin als Klägerin gegen Gefangene der Proteste auf, Teile der Regierung halten die Gefangenen nun für normale Straftäter*innen. Und nach dem neuen Haushaltsentwurf wird nun eben sogar jene Polizei finanziell aufgestockt, die für illegale Verhaftungen und die massive Polizeigewalt verantwortlich ist.
Auch in der Causa Mapuche hält Boric nicht sein Wort. Im Wahlkampf hatte er noch angekündigt, den von seinem Vorgägner Piñera verhängten Ausnahmezustand in der Region Araucanía nicht verlängern zu wollen. Angesichts von sich häufenden Meldungen über dortige Zusammenstöße und Straßenblockaden sah er sich aber schließlich doch dazu gezwungen, wenn auch die Rolle des Militärs dabei auf die Sicherung der Straßen begrenzt wurde. Das brachte seiner Regierung den ersten internen Streit ein, da die linken Parteien die Verlängerung eigentlich nicht mittragen wollten. Stattdessen verspricht Boric nun höhere Investitionen in den Plan Buen Vivir für bessere Lebensbedingungen in den südchilenischen, indigen geprägten Regionen – und erweckt damit den Eindruck, die misslungene Politik seiner Vorgänger*innen im Umgang mit den Forderungen der Mapuche fortzuführen.

„Confort“ ist alle Nach dem Misserfolg des Verfassungsreferendums macht die Pinochet-Verfassung der bekannten Klopapiermarke Confort leider noch keine Konkurrenz (Foto: Ute Löhning)
Um die Verfassung noch zu retten, bewegte Boric die Mitte-Links-Parteien in letzter Minute dazu, für den Fall der Annahme Abschwächungen der Verfassung zuzusagen – ein weiteres Zugeständnis an die Rechte. Es half jedoch nichts, der Ausgang des Referendums zwang ihn zu noch mehr Kompromissbereitschaft. Er ersetzte seinen Weggefährten Giorgio Jackson im Kabinett durch die Bachelet-Vertraute Ana Lya Uriarte und berief mit Carolina Tohá eine Veteranin der Concertación zur Innenministerin, in Chile der wichtigste Kabinettsposten. So setzt sich ein Prozess fort, der schon mit seiner Unterschrift unter die Verfassungsvereinbarung 2019 sichtbar begonnen hatte: Boric ist mit der Zeit immer moderater geworden. Inzwischen erscheint er vielen Linken immer mehr als Wiedergeburtshelfer der Concertación, eine Art Bachelet 2.0.
Auf der einen Seite scheint die Abkehr von linken Positionen innerhalb kürzester Zeit – Boric ist erst ein halbes Jahr im Amt – darauf hinzuweisen, dass die anfänglichen Hoffnungen in seine Regierung womöglich überhöht waren. Eine Rolle dabei mag auch die geringe Regierungserfahrung von Borics Bündnis Apruebo Dignidad, vieler seiner Minister*innen und des Präsidenten selbst spielen, der noch im Jahr 2020 versicherte, sich für die Übernahme des höchsten politischen Amtes nicht bereit zu fühlen. Andererseits befindet er sich bei all seinen politischen Entscheidungen in mehr oder weniger vorhersehbaren Zwangslagen: einerseits die Pandemie, andererseits Wirtschaftskrise und Inflation infolge des kurz vor seiner Amtsübernahme begonnenen Kriegs in der Ukraine. Nicht zuletzt schränken die fehlenden politischen Mehrheiten den Handlungsspielraum der Regierung ein. Der aktuelle Kontext ist geprägt durch eine Sicherheits- und Wirtschaftskrise, mit sinkenden Einkommen und dem Verlust von Arbeitsplätzen, die anhaltende Bedrohung durch Corona, die Unsicherheit im Zusammenhang mit Kriminalität und Drogenhandel etwa durch Gruppen des organisierten Verbrechens wie dem Tren de Aragua, sowie den Herausforderungen durch die hohe Migration, vor allem aus Venezuela. Der Vergleich mit Michelle Bachelet hinkt insofern, als dass die Ex-Präsidentin mit vielen Problemen in diesem Ausmaß nie konfrontiert war und mit ihren Parteienbündnissen Concertación und Nueva Mayoría stets über parlamentarische Mehrheiten verfügte.
Es bleibt also zu hoffen, dass Boric und seine Regierung die immensen Herausforderungen bewältigen, ohne dabei durch ständige Kompromisse völlig die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn besonders in Chile gibt es für Politiker*innen weder lange Schonfristen noch mildernde Umstände.
Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.
MAPUCHE UND INDIGENE AUTONOMIE

Foto: Periódico Resumen via Flickr (CC BY-NC 2.0)
Innerhalb der Mapuche-Gemeinden auf chilenischem Staatsgebiet gibt es verschiedene Konzepte rund um das Thema Autonomie. All diese können jedoch aufgrund der restriktiven chilenischen Gesetzgebung, die jeden Anflug von Autonomie im Rahmen eines zentralistischen Einheitsstaates unterdrückt, in der Praxis nur schwer umgesetzt werden. Da es keine einheitliche Vertretung der Mapuche gibt, gibt es auch keinen Konsens wie Autonomie umgesetzt werden sollte.
Im Rahmen der Verfassungsdebatte wurde auch in der chilenischen Öffentlichkeit über das Konzept der Plurinationalität diskutiert. Diese Debatte war jedoch für viele Mapuche lebensfern und wurde darüber hinaus an den Wahlurnen abgelehnt. Das Konzept stellte lediglich einen institutionellen Ausweg dar, um das Recht der indigenen Bevölkerungen anzuerkennen, ihr Schicksal als „Nation“ zu bestimmen.
Ein weiterer Vorschlag stammt von der Organisation Wallmapuwen, die in der Vergangenheit versucht hat, sich als politische Partei zu etablieren. Wallmapuwen schlägt regionale Autonomien vor, in denen die Mapuche auf der Grundlage von Regionalparlamenten vertreten sein könnten. Der Versuch eine politische Kraft zu werden scheiterte jedoch.
Gänzlich außerhalb staatlicher Institutionen verfolgen Organisationen wie die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM) de-facto-Landrückgewinnungs-Prozesse mittels Besetzungen von angestammten Territorien, die von Unternehmen bewirtschaftet, bzw. von Siedlern bewohnt waren. Dieses Vorgehen bedeutet, über die Ausübung „territorialer Kontrolle“, das Land in einen produktiven Raum zu verwandeln, der auf den Traditionen der Mapuche basiert und somit die „Entwicklung“ des Territoriums neu definiert. Zusammengefasst argumentiert die CAM, dass es ohne Territorium keine echte Autonomie geben kann.
Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.
LYRIK AUS LATEINAMERIKA

Illustration: Sarah Gödde
Habla la roca: No quiero más, dice.
Habla la mano en la pintura escrita.
Habla el metal mujer lo injusto el niño.
Todo habla pero el ojo ya no ve.
Es spricht das Gestein: Ich will nicht mehr, sagt es.
Es spricht die Hand in der geschriebenen Malerei.
Es spricht das Metall Frau das Ungerechte das Kind.
Alles spricht, aber das Auge sieht nicht mehr.
ES GEHT VON VORNE LOS

Es hat nicht gereicht Kundgebung von Verfassungsbefürworter*innen (Foto: Lucas Benavente)
Es war die große Chance, das autoritäre und neoliberale Erbe der Diktatur (1973-1990) abzuschütteln: Nach der breiten Protestbewegung, die Chile ab Oktober 2019 erfasst hatte, stimmten bei einem Referendum im Oktober 2020 rund 78 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Diese sollte die aktuelle, 1980 verfasste und nicht demokratisch legitimierte Verfassung ablösen. Denn darin ist das unter Diktator Augusto Pinochet eingeführte neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell festgeschrieben.
Doch es kam anders als linke Kräfte erwartet hatten. 62 Prozent stimmten für das Rechazo („Ich lehne ab“) und damit gegen die Annahme des Verfassungsentwurfs, nur 38 Prozent für das Apruebo („Ich stimme zu“). In allen 16 Regionen Chiles ergibt sich ein einheitliches Bild, lediglich in acht Kommunen gewann das Apruebo. Denn auch diejenigen, auf die sich die Verfassungsbefürworter*innen gestützt hatten, und die im Dezember 2021 bei der Stichwahl um die Präsidentschaft entscheidend waren für den Sieg Gabriel Borics gegen den extrem rechten José Antonio Kast, stimmten nun überwiegend gegen die neue Verfassung: die unter 33-Jährigen, die Frauen. Bei der Aufschlüsselung nach sozio-ökonomischem Status wird deutlich, dass die schwächsten Sektoren am stärksten für das Rechazo stimmten, mit bis zu 75 Prozent.
Bei dem Referendum herrschte Wahlpflicht. Die Wahlbeteiligung lag bei 86 Prozent, im Gegensatz zu 40 bis maximal 57 Prozent bei den Wahlen 2020 und 2021. Das Wahlverhalten derjenigen, die nie zuvor gewählt hatten, war schwer kalkulierbar. „Wir haben es nicht geschafft, die ärmsten Sektoren der Gesellschaft zu erreichen“, sagt Manuela Royo, Sprecherin der Umweltschutzorganisation MODATIMA. „Dabei hätten sie von den sozialen Rechten profitiert.“
Im Vorfeld des Referendums hatten Umfragen und Prognosen bereits einen Vorsprung des Rechazo vorhergesagt. Jedoch legte das Apruebo-Lager im Wahlkampf einige große Kundgebungen hin, zuletzt kamen am 1. September rund 500.000 Menschen zur Kundgebung auf der Alameda, der zentralen Promenade Santiagos zusammen. Zu zwei Wahlkampfveranstaltungen des Rechazo kamen derweil nur jeweils einige Hundert Personen.
Medienkampagne mit Fake News und ökonomischer Überlegenheit

(Foto: Ute Löhning)
Die mediale Übermacht der Werbekampagne gegen die neue Verfassung war in Printmedien, im Rundfunk und im Internet erdrückend. Dabei traten die führenden Köpfe der rechten Parteien kaum in Erscheinung. Stattdessen warben politisch nicht vorbelastete Personen mit Schlagworten wie Inklusion und Liebe für das Rechazo. Zum Repertoire der Kampagne gehörte aber auch der massive Einsatz von Drohungen gegen meist weibliche Konventsmitglieder und von Fake News. „Fast alle Falschmeldungen über Mitglieder des Verfassungskonvents und über Artikel des Verfassungsentwurfs, die wir gesammelt haben, sind der Rechazo-Kampagne zuzuordnen“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Marcelo Santos von der Universidad Diego Portales in Santiago. „Das Ziel ist es, negative Emotionen hervorzurufen, Verwirrung und Angst zu schaffen“, so Santos. Niemand solle mehr eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus besitzen dürfen, war einer der mächtigsten Mythen des Rechazo. Obwohl Artikel 78 des Verfassungsentwurfs das Recht auf Privateigentum garantierte und Verfassungsbefürworter*innen solchen Falschaussagen entgegentraten, war die Verunsicherung der Bevölkerung nicht mehr einzufangen und die linken Kräfte waren mit Abwehrkämpfen beschäftigt.
Radio- und Fernsehkanäle sind privat finanziert und gehören oft großen Unternehmen. 75 Prozent der Wahlwerbung stammte aus dem Rechazo-Lager, allen voran von Angehörigen der reichsten Familien Chiles. Im Netz kursierten unzählige gut gemachte Videos von rechten Organisationen und Thinktanks. Darunter finden sich auch die von der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung geförderten Instituto Res Publica und Fundación IdeaPaís und die von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützte Fundación para el Progreso, die Thinktanks Horizontal und Libertad y Desarrollo.
Starke Ablehnung rief bei vielen Menschen auch das im Verfassungsentwurf festgeschriebene Konzept der Plurinationalität hervor. Dieses sollte Chile als einheitlichen, unteilbaren Staat definieren, der aber die Rechte der zehn indigenen Gemeinschaften Chiles auf Land, Sprache und Selbstbestimmung garantierte. Auch hierzu gab es ein Set von Falschaussagen, zum Beispiel, dass die nationalen Symbole wie Flagge, Wappen und Hymne verboten werden sollten, und dass Chile in mehrere Einzelstaaten zerfallen würde. Die Rechazo-Kampagne verstärkte nationalistische Gefühle, indem Indigene als Gefahr für die nationale Identität dargestellt wurden, erklärt auch Kommunikationswissenschaftler Santos. Diese mischen sich mit anti-kommunistischen oder allgemein anti-linken Positionen.
Viele können mit Plurinationalität nichts anfangen

Foto: Ute Löhning
Eine Umfrage des Investigativmediums CIPER unter 120 Bewohner*innen sozio-ökonomisch schwacher Sektoren Santiagos sowie eine Studie des Instituts Feedback zeigen als erste Auswertungen nach der Wahl, dass viele Rechazo-Wähler*innen vor allem Angst hatten, sie würden durch die Annahme der neuen Verfassung ihre Wohnung oder in die privaten Rentenfonds eingezahlte Gelder verlieren, oder Chile als Staat würde geteilt werden.
Doch auch die mangelnde Kommunikation des Verfassungskonvents wird kritisiert. Dieses paritätisch mit Männern und Frauen besetzte Gremium, in dem indigene Gruppen reservierte Sitze hatten und in das soziale Bewegungen über partei-unabhängige Listen Einzug hielten, arbeitete den Entwurf für die neue Verfassung zwischen Juli 2021 und Juli 2022 aus. Die Sitzungen wurden zwar im Internet übertragen, doch es war schwer, den abstrakten Debatten zu folgen.
Die Konventsmitglieder seien zu wenig nach außen gegangen, sagt der Journalist Leonel Yañez Uribe. „Sie haben eine sehr technische Sprache verwendet, wie sie sonst auch von Politikern verwendet wird und sie haben sich auch institutionalisiert.“Die Identifikation mit den in Chile mit großer Skepsis betrachteten politischen Parteien und der Regierung Boric war ein weiterer Faktor für die Ablehnung der Arbeit des Verfassungskonvents. Der von Anfang an festgelegte Wechsel der Präsidentschaft des Konvents nach einem halben Jahr von den eloquenten und integrativen Elisa Loncón (Präsidentin) und Jaime Bassa (Vizepräsident) an die weniger erfahrenen María Elisa Quinteros und Gaspar Domínguez in einer holprigen Wahl mit sieben Wahlgängen Anfang 2022 habe der Vermittlung nicht gutgetan, erklärt Yañez. Zur Delegitimierung des Gremiums trugen auch Skandale bei, wie die Wahl des Konventsmitglieds Rodrigo Rojas Vade, der zur spendenbasierten Finanzierung seines Wahlkampfs eine Krebserkrankung vortäuschte und später sein Amt niederlegen musste.
Neben der politischen Rechten bezog auch die Gruppierung Los Amarillos („Die Gelben“) Position gegen den aktuellen Verfassungsentwurf. Sie speiste sich aus Teilen der Christdemokratie und aus anderen im Zentrum zu verortenden Parteien. Sie lehnen eine neue Verfassung nicht grundsätzlich ab und warben mit dem Slogan „Esa no“ („Diese nicht“).
Nach der Ablehnung des aktuellen Verfassungsentwurfs will die Regierung Boric einen neuen verfassunggebenden Prozess anstoßen und beruft sich auf das überwältigende Votum jener 78 Prozent, die vor zwei Jahren dafür gestimmt hatten, eine neue Verfassung zu schreiben. Voraussichtlich wird ein neuer Verfassungskonvent aus den Reihen der Abgeordneten gebildet, diesmal ohne die Beteiligung von partei-unabhängigen Personen aus den sozialen Bewegungen.
„Bald werden wir wieder aufstehen“
Am 6. September kam es zu einer lange erwarteten Umbildung der Regierung, mit der diese sich durch weitere Kompromisse mit dem Mitte-inks-Spektrum der ehemaligen Concertación stabilisieren will. Wichtigster Punkt: Carolina Tohá, früher Ministerin unter Präsidentin Michelle Bachelet, löst Izkia Siches als Innenministerin ab. Giorgio Jackson, bisher Leiter des Präsidialamtes, wird Sozialminister. Seinen früheren Posten übernimmt eine enge Vertraute Bachelets: Ana Lya Uriarte.
Währenddessen protestieren Schüler*innen in der Woche nach dem Referendum täglich im Zentrum Santiagos: für gute und kostenlose Bildung und für die Freilassung der politischen Gefangenen der Revolte. Die Polizei ging mit Tränengas gegen sie vor und verhaftete bereits mehrere Personen, darunter auch Minderjährige. Inzwischen rufen auch die Studierendenvereinigungen zu Demos auf. Das Bündnis sozialer Bewegungen für die neue Verfassung erklärte schon am Abend nach dem verlorenen Referendum, es gehe dabei um eine Wahlniederlage, aber nicht um die Niederlage eines in die Zukunft gerichteten Projekts: „Bald werden wir wieder aufstehen. Denn kein Bedürfnis, keine Notwendigkeit, kein soziales Problem, das zu diesem politischen Prozess geführt haben, wurde mit der heutigen Entscheidung gelöst.“
,,FUE UNA PELEA DURÍSIMA”

Manuela Royo (Foto: privado)
Durante todo este año trabajó en la nueva constitución, ¿cómo evalúa este proceso?
Creo que logramos avanzar harto. Además de escribir una constitución, también se transformó a la Convención en una plataforma de expresión política de debate. Porque nosotras no llegamos a la convención para disputar el poder con ellos, con la derecha o con los varones, bueno quizás algunas sí. Nosotras llegamos para que Chile sea más justo, para vivir en una sociedad mejor, y en ese camino sí tenemos que asumir responsabilidad, pero no es desde los liderazgos personales.
¿Y estos valores también se pudieron transferir al trabajo en la Convención?
Las constituciones finalmente establecen bienes jurídicos constitucionales, como el orden público y la seguridad, temas que políticamente han sido super relevantes. Poner la soberanía alimentaria, las semillas y los ríos al mismo nivel que otras cosas que históricamente han sido centrales, es también una pelea que estamos levantando. Es también poner los cuidados en el mismo plano como algo que sale de la casa y que se sitúa por un lado en la no-violencia y en el respeto. En este plano logramos generar conciencia a muchas personas.
¿Han podido convencer a otres constituyentes de estas perspectivas en las negociaciones?
Fue un camino difícil. Pero de a poco hablando, convenciendo, negociando también logramos que se aprobaran normas. Por ejemplo, una idea más tradicional de la izquierda es que la única forma de financiar los derechos sociales es a partir de la explotación de los recursos naturales, y nosotros ni siquiera hablamos de recursos naturales. En la Comisión de Medio Ambiente primero nos rechazaron todo. Los diarios se rieron de nosotros ridiculizando las ideas como post-extractivistas o de decrecimiento, como si fuésemos puros hippies.
Y ahí peleamos por dos lados: por un lado, con la derecha conservadora, con este negacionismo respecto al cambio climático. Pero, por otro lado, y eso fue lo más triste, nos tocó pelear con gente de izquierda que consideraba que esto era producto de creencias místicas, pachamámicas, a las cuales había que decirles que esto es un hecho científico y no un acto de fe. Que se esté acabando el agua no es un invento de nadie, es real. Y eso fue una pelea durísima. Obviamente hubo traiciones, deslealtad y todo, fue difícil. Pero finalmente se logró y yo siento que se logró una legitimidad dentro del proceso.
El medio ambiente fue el enfoque de su trabajo en la convención. ¿Qué importancia tiene la naturaleza en la nueva constitución?
Es super importante. Desde el artículo primero de la constitución establecimos que el Estado de Chile es un Estado ecológico que dentro de sus valores fundamentales reconoce el respeto por los derechos de la naturaleza y la interdependencia. Ese concepto plantea que la naturaleza no es un recurso natural respecto al cual podemos obtener un provecho económico para el crecimiento del país, sino que tiene derechos que deben ser respetados y garantizados por el Estado y por las personas. Nosotros somos parte de la naturaleza y no podemos vivir sin ella. Por lo tanto, cosas tan sencillas como la alimentación y el agua son tan importantes como la estabilidad económica. Eso fue una lucha super relevante que dimos. Y al final, es verdad, cuando uno dice que es la primera constitución escrita en cambio climático.
Luego se establecen principios ambientales y estatutos constitucionales sobre bienes comunes naturales que hacen una distinción entre bienes comunes apropiables e inapropiables. Los inapropiables son el agua y el aire. Entre los apropiables se encuentran el bosque nativo y los humedales entre otros, y respecto a estos el Estado tiene un deber de tutela. Es decir, yo puedo ser dueña de un bosque, puedo comprar un terreno que tenga bosque nativo, pero yo no puedo llegar y talarlo porque eso afecta a la naturaleza.
¿Cómo se plasman estos principios en lo concreto?
Hay normas que nos hablan de la protección de los humedales, de los bosques nativos, del ciclo hidrológico, de la conectividad hídrica, y que protegen los glaciares que son las fuentes desde donde nace el agua, excluyendo la actividad minera desde ahí.
También se lograron normas sobre ordenamiento territorial. La mayoría de los usos del suelo son destinadas a la actividad extractiva como minería, forestales y energía. La redistribución de los usos del suelo es muy importante porque va a permitir la recuperación de los ecosistemas y la recuperación de los ríos y de la naturaleza.
Pero también asumimos esa crítica hacia la constitución del Ecuador o de Bolivia: Pese a que en Ecuador se consagran los derechos de la naturaleza, en la práctica el Amazonas está lleno de pozos petroleros. En Bolivia se reconocieron los derechos de la Pachamama, no obstante lo primero que pasó fue la Guerra del Agua. Lo importante, por un lado, es una institucionalidad que orgánicamente proteja a la naturaleza y también no quedarnos en lo declarativo, porque eso también puede ser muy peligroso. No sólo consagrar derechos y principios, sino también una bajada práctica, reglas concretas.
¿Cómo se plantea esa institucionalidad en la constitución?
Por un lado, planteamos la justicia ambiental, que hace una bajada constitucional a la participación ambiental, a la democracia ambiental y la toma de decisiones y la participación en estas materias. Junto con ello se crean tribunales ambientales en todas las regiones, porque en Chile solamente existían tres. Si te contaminan el río, el agua para beber, para vivir, para poder litigar en estos tribunales hasta ahora uno no tenía derecho a tener una asistencia jurídica gratuita y eso vulnera muchos derechos.
Queremos que eso no dependa de la voluntad de una ONG o de un abogado en particular, sino que sea el Estado quien, tal como evalúa y acepta proyectos, también defienda la naturaleza y las comunidades. Por eso se crea la defensoría de la naturaleza, una institución autónoma pública encargada de representar judicial y extrajudicialmente de forma gratuita a quienes vean vulnerado sus derechos. Esta institución también puede representar a la naturaleza en el evento de que sea necesario judicializar las vulneraciones a sus derechos.
¿Qué rol tiene en la constitución el agua en particular?
El agua es donde más trabajamos. Consagramos un estatuto constitucional del agua en el cual se establece que el agua es incomerciable y que respecto de ella van a existir derechos de uso que tienen que cumplir una función social y una ecológica. Allí se garantiza el derecho humano al agua y la protección de los ecosistemas.
Desarrollamos una institucionalidad que se va a hacer cargo de la distribución de los usos de agua en base a estos principios y se crean consejos de cuencas como instancias comunitarias y participativas respecto a la toma de decisiones sobre el agua. Además, se protege el agua potable rural. En Chile la mayoría de las comunidades rurales no tienen agua y no hay alcantarillados. Entonces se crean cooperativas de agua rurales que se distribuyen comunitariamente en el sector del campesino.
Incluso con la derecha teníamos el mismo diagnóstico con respecto al agua, pero con enfoques distintos. Nosotros venimos mucho más desde la ecología, y ellos desde la política más tradicional, de infraestructura. Es una disputa super importante que tenemos que dar desde la izquierda. Porque el medio ambiente puede ser capitalismo verde, no? Bueno, en Europa saben lo que es (se ríe)… o puede significar pensar en la redistribución desde una perspectiva mucho más socialista, de cómo nos vinculamos con la naturaleza, superando esa lógica de apropiarse de todo.
¿En qué condiciones trabajaron en la Convención?
Fue un proceso rápido y autogestionado, porque de verdad el gobierno (de Sebastián Piñera, nota de redacción) a nosotros no nos dio nada, ni un lápiz, ni un escritorio. Por ejemplo, teníamos una sala de unos tres por cuatro metros para doce equipos, sin aire acondicionado, ni calefacción. Los constituyentes no tenían ningún lugar donde sentarse, hacer reuniones, ni trabajar. Había algunas salas comunes que se pudieron reservar, pero estaban más lejos y en otro edificio. Se habló mucho en un comienzo de que ojalá pueda ser un proceso que toma en cuenta los cuidados, que pueda haber una guardería para niños y niñas… no había nada.
Resulta que este proceso tenía unos costos personales gigantescos. Mucha gente contó que los hijos estaban mal, deprimidos, que no veían nunca a sus madres y padres, hasta hubo intentos de suicidio entre los hijos e hijas. Todo eso con una presión mediática encima, la presión de los poderes políticos, trabajando hasta las dos de la mañana todos los días. Pasamos de la pandemia a la Convención, entre el nivel de trabajo y la precariedad que teníamos, poco apoyo, mucho estrés, mucha violencia.
¿Violencia?
Sí. Durante el proceso constituyente me tocó vivir mucha violencia. Me amenazaban por las redes sociales que me iban a matar, que iban a ir a mi casa. Por ejemplo por twitter suben nombres de personas izquierdistas y entonces tú puedes recibir 300 mensajes diarios, gente que te da miedo. Hace un par de meses recibí una amenaza de muerte. Fue horrible porque se hacía referencia a que me iban a violar y descuartizar y mandaron fotos de mujeres violadas y descuartizadas.
Siempre he presentado denuncias y una vez presenté una querella, pero la fiscalía no hace nada. Aún cuando identifiqué a la persona, un pinochetista. Al final lo que buscan es que uno se quede callado. Pero yo no, al revés. Salí a los medios de comunicación, publiqué el nombre del tipo. Hacer público lo que se vive es una forma también de defenderse. Esto te da un resguardo.
¿Qué estrategias utiliza la derecha ahora mismo para impedir que se apruebe la nueva constitución?
Hay gente que está haciendo campaña generando desconfianza, como antes hicieron contra las vacunas. Uno pasea por las calles y ve propaganda escrita con noticias falsas sobre la Convención. En las calles de Santiago hay afiches en las paredes que dicen cosas como “La constitución es una mentira.” Lo peor es que la derecha sabe que mentir le sale más barato. Por ejemplo, el senador Felipe Kast del partido Evópoli (un partido de derecha, nota de redacción) dijo en la radio que la constitución va a permitir el aborto hasta los nueve meses. Está mintiendo descaradamente. Y así es todos los días. Es una guerra psicológica.
¿Cuál es su perspectiva hacia el plebiscito? ¿Qué es lo que esperan?
Nuestra apuesta es movilizar a las bases. Esperamos que en estos dos meses que quedan haya una gran movilización social. La gente que ha estado tradicionalmente organizada, los sindicatos, Modatima, las verdaderas redes sociales, que existen, no las que están inventando ahora. Era difícil hacer campaña antes de que el texto estuviera listo. No podíamos decir “si, está todo bien” si nos faltaban cosas por votar. La derecha empezó desde antes a decir que estaba todo mal.
Ahora hay un proceso donde hay que informar a la gente, hay que ir a las calles y a los territorios. Para la campaña, las zonas más importantes son las comunas más populares de Santiago donde se concentra la mayor cantidad de votos. Yo vivo en la Araucanía, pero ahora estoy en Santiago. Por la campaña voy a estar en los dos lugares. Para llegar a las zonas rurales, lo más certero es por la radio.
¿Créen que se va a aprobar la nueva constitución?
En Chile hay mucha gente de derecha, pero en verdad la votación histórica, el plebiscito de salida de Pinochet, fue aproximadamente un 60 por ciento para la izquierda y un 40 por ciento para la derecha, y ahora con Boric fue la misma proporción. La apuesta es movilizar a esta gente. Hay un gran centro de indecisos que todavía no sabe qué va a votar y nosotros creemos que cuando vean el contenido de la constitución esas personas van a darnos su aporte. Pero nos queda muy poco tiempo y tenemos poca plata.
WARTEN AUF DIE FREIHEIT

Foto: Vanessa Rubilar
Verónica Verdugo ist erschöpft. Eigentlich ist sie eine energische Frau, aber ihr Körper drückt Trauer und Enttäuschung aus. Seit mehr als zwei Jahren kämpft sie für die Freilassung jener, die während der Massenproteste, die im Oktober 2019 anfingen, gefangen genommen worden sind, unter anderem auch ihr Sohn. Der Aufstand sollte der Anfang einer neuen Geschichtsschreibung in Chile sein. Teil dieser neuen Ära ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, über die am 4. September abgestimmt wird. Außerdem setzte sich bei den Wahlen im Dezember eine linksreformistische Regierung durch, die von den ehemaligen Sprecher*innen der Studierenden Giorgio Jackson, Camila Vallejo und dem heutigen Präsidenten Gabriel Boric geführt wird. Alle versprachen, dass mit ihnen der Neoliberalismus in Chile begraben werde und die Menschenrechtsverletzungen der vorherigen Regierung ein Ende finden würden. Aber vier Monate nach Amtsantritt ist die Stimmung getrübt. Es fehlen konkrete Reformen, mehr als 200 Menschen sind im Zuge der Massenproteste noch immer inhaftiert, und auch die Gewalt konnte im Land noch nicht gestoppt werden.
Es sind vor allem Frauen, die sich im Zentralgebäude der chilenischen Industriegewerkschaft in Santiago an einem Abend Ende Mai treffen. Sie planen die nächsten Schritte, um die Gefangenen freizubekommen. Aber ihre Stimmung ist getrübt, denn noch immer klagen sie über viele Dutzende, die bis heute im Gefängnis sitzen, ein Großteil in Präventivhaft. Meistens wird ihnen Brandstiftung oder Plünderung vorgeworfen, oft ohne schwerwiegende Beweise. Familienangehörige beschuldigen die Staatsanwaltschaft, die Präventivhaft als Mittel der politischen Repression einzusetzen. Da solche Prozesse sich in Chile über Jahre hinziehen, sprach Verónica Verdugo sich im vergangenen Jahr zusammen mit Parlamentarier*innen der heutigen Regierung für ein Amnestiegesetz aus.
Damals hoffte Verdugo, dass das Gesetz bis Ende 2021 verabschiedet werden würde. Doch auf dem Weg veränderten Parlamentarier*innen der Mitte-Parteien die Vorlage so stark, dass kaum eine Person aus dem Gefängnis entlassen worden wäre. Auch ihr 21-jähriger Sohn Nicolas Rios nicht. Er saß über ein halbes Jahr in U-Haft, danach mehr als ein Jahr in Hausarrest und wurde im Februar schließlich entlassen. Das Verfahren gegen ihn – er soll angeblich Molotowcocktails geworfen haben – dauert noch immer an. Die Beweislage gegen ihn ist dünn. Es gibt einzig Aussagen von Polizist*innen.
Seit Nicolas Rios ins Gefängnis kam, drehte sich das Leben seiner Mutter nur noch um seine Freilassung. Einst glaubte sie, die Tortur habe mit der neuen Regierung ein Ende. Doch dem ist nicht so. „Die Regierung hat uns verraten“, meint sie. „Als wir im Sommer einen Hungerstreik durchführten, hat uns Giorgio Jackson besucht und versprochen, die neue Regierung würde nicht mehr als Klägerin auftreten. Aber das stimmt nicht.“

Enttäuscht von der Regierung Der Rechtsanwalt Oscar Castro vor dem obersten Gerichtshof in Santiago de Chile (Foto: Vanessa Rubilar)
Auch der Rechtsanwalt Oscar Castro ist von der neuen Regierung enttäuscht. Er hat mehrere Gefangene der Massenproteste verteidigt und ist gleichzeitig Mitkläger wegen Menschenrechtsverletzungen gegen den ehemaligen rechten Präsidenten Sebastián Piñera. Castro ist davon überzeugt, dass in Chile politische Haft angewandt werde und es der neuen Regierung am Willen fehle, diese anhaltende Ungerechtigkeit zu stoppen.
Er erzählt, dass er mehrere Personen verteidigt habe, die eine U-Bahnstation angezündet haben sollen. „Videoaufnahmen zeigten eindeutig, wie meine Klienten gegen die Drehkreuze der Station treten, aber diese nicht in Brand stecken. Auf den gleichen Aufnahmen ist eine dritte Person zu sehen, die, ohne vermummt zu sein, Feuer zündet.“ Die Staatsanwaltschaft habe sich aber nie um diese dritte Person gekümmert. In Castros Fall, der noch unter Piñera verhandelt wurde, traten sowohl die staatliche U-Bahn als auch das Innenministerium als Klägerin auf. Nach mehr als 18 Monaten in U-Haft sprach das Gericht die Angeklagten frei. „Niemand wird diesen Aufenthalt im Gefängnis entschädigen“, sagt Castro. „Die Personen haben unheimlich viele Probleme, ihr Leben wieder aufzubauen.“
Neben Anklagen gegen Protestierende seien Verfahren gegen brutale Polizist*innen und Militärs kaum vorangebracht worden, kritisiert der Anwalt zudem. Auch mit der neuen Regierung habe es keine Veränderung gegeben. „Die neue Regierung hätte vom ersten Tag an die Staatsanwaltschaft anweisen können, ihre Praxis zu ändern oder gar die Führungspersonen aus Zeiten der Regierung Piñera auszuwechseln“, kritisiert er. Stattdessen agiere das Innenministerium weiterhin als Klägerin gegen Gefangene der Proteste und obwohl während der Wahlkampagne von politischen Gefangenen gesprochen wurde, hält nun ein Großteil der Koalition die Gefangenen für normale Straftäter*innen.

Die Stimmung ist getrübt Seit den Massenprotesten sind noch immer mehr als 200 Menschen inhaftiert (Foto: Vanessa Rubilar)
Nach knapp drei Monaten Amtszeit hält Castro viele Amtshandlungen für längst überfällig. Neben dem Auswechseln wichtiger Führungspersonen hätte ein Dekret aus Zeiten der Diktatur aufgehoben werden können, das Demonstrationen nur mit Bewilligung der militarisierten Polizei, Carabineros de Chile, zulässt. Castro sagt, dass einer Institution, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, noch immer diese Aufgabe überlassen werde, sei beschämend. Auch fehlen bis heute konkrete Zusagen für eine Wiedergutmachung nach unrechtmäßigen Haftstrafen, ebenso wie Gefolterte und die mehr als 400 Personen, die durch Polizei und Militärschüsse blind wurden, auf eine Entschädigung warten.
Der Kritik ist sich die neue Regierung durchaus bewusst. Sie kündigte am 25. Mai eine „Agenda für Menschenrechte“ an. Gemeinsam mit der Staatssekretärin für Menschenrechte, Haydee Oberreuter, erklärte der Präsident, es gehe ihm um „Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen“ während der Massenproteste. Mit Oberreuter hat die Regierung eine langjährige Aktivistin ins Amt geholt. Sie wurde während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet festgenommen und gefoltert, wobei sie ihr ungeborenes Kind verlor. Seitdem kämpft die Aktivistin für eine rechtliche Verfolgung der Verantwortlichen.
Noch fällt diese Agenda der Regierung denkbar unkonkret aus. Zwar zeigt sie sich gewillt, die rechtliche Verfolgung voranzutreiben und will auch zwei Kommissionen gründen: Eine zur Wiedergutmachung und eine zweite, um Maßnahmen zur Verhinderung erneuter Menschenrechtsverletzungen vorzubereiten. Für Castro ist das aber zu wenig. „Noch hat die Regierung nichts gemacht“, meint er. „Sie liebt das Symbolische, und darin ist sie gut. Boric und seine Leute glauben, dass Sprache eine neue Realität schaffen würden. Doch so ist es eben nicht.“
Denn längst gibt es neue Gewalttaten. „Wir erleben derzeit eine Kollaboration zwischen kriminellen Banden und der Polizei“, sagt Castro und spricht damit die Vorfälle vom 1. Mai an. Als es bei der Demonstration zum Arbeiter*innen-Kampftag zu Ausschreitungen kam, griffen bewaffnete Straßenhändler*innen die Demonstrierenden und die anwesende Presse mit Schlagstöcken, Messern und Schusswaffen an. Eine Fotografin wurde dabei erschossen. Verheerend sei gewesen, dass die Polizei nicht eingegriffen und sich zudem mit den kriminellen Banden verständigt habe, meint Castro. „Hierbei handelt es sich um Menschenrechtsverletzungen, bei denen externe Gruppen beauftragt werden, Gewalt durchzuführen“, ist sich der Anwalt sicher. Die Regierung verurteilte daraufhin zwar die Gewalt und bedauerte den Tod der Journalistin. Doch sie kritisierte mit keinem Wort das Handeln der Polizei. Eine angeordnete interne Untersuchung blieb folgenlos. Auch organisierte Schüler*innen beklagen, dass es bei ihren Demonstrationen zu ähnlichen Vorfällen gekommen sei.
Gerne hätten wir die Meinung der Subsekretärin für Menschenrechte zu diesem Thema eingeholt. Ein bereits zugesagtes Interview wurde allerdings drei Stunden vor dem Treffen abgesagt. Man habe vergessen, beim Außenministerium um Erlaubnis zu bitten, lautete die Begründung. Diese Praxis ist bei Interviews mit der ausländischen Presse durchaus üblich. Die Pressesprecherin lehnte es daraufhin ab, einen neuen Interviewtermin zu finden. Bei Fragen rund um Menschenrechtsverletzungen schweigt sich die aktuelle Regierung derzeit aus. Es bleiben nur offizielle, beschwichtigende Statements.
Im Haus der Gewerkschaft treffen sich Familienangehörige der Gefangenen mit dem kommunistischen Abgeordneten Borris Barrera, der Verständnis für das Verhalten der Regierung zeigt. „Sie ist sich bewusst, dass sie nicht nur für diese Initiative, sondern für alle Reformprojekte keine Mehrheiten in den beiden Parlamentskammern hat.“ Die ursprüngliche Regierungskoalition Apruebo Dignidad besitzt in der unteren Kammer lediglich ein Drittel der Sitze und in der Oberen gerade einmal sechs von 50 Sitzen. Genau deshalb musste sie schon zu Beginn der Regierung Parteien der ehemaligen Mitte-Links Koalition Concertación in ihr eigenes Bündnis aufnehmen. Doch noch immer fehlt eine Mehrheit in den Kammern, so dass die christdemokratische Partei das Zünglein auf der Waage ist. Deren Vertreter*innen sind zum Teil mächtige Unternehmer*innen und schwanken politisch zwischen linken und rechten Positionen. Barrera sagt, man plane eine tiefgreifende Rentenreform, ein neues universelles Gesundheitssystem und eine Steuerreform. Für diese Reformen müsse man den Oppositionsparteien positive Signale senden, um sie davon zu überzeugen, zumindest für einen Teil der Projekte zu stimmen. Bei der Freilassung der Gefangenen klappe das aber nicht. Zu sehr sind sie mittlerweile durch die Medien als Verbrecher*innen gebrandmarkt.
Barrera gibt sich solidarisch mit den Familienangehörigen. „Ich gehöre jenem Sektor innerhalb der Regierungskoalition an, der überzeugt von der Freilassung ist und weiterhin Druck ausüben wird.“ Schließlich seien diese Menschen in einem Kontext gefangenen genommen worden, der die heutigen Reformen überhaupt erst ermöglicht habe. Der politische Kampf sei richtig gewesen, meint er. Unabhängig von den damit im Zusammenhang gebrachten Straftaten.
Teil des gesellschaftlichen Wandels in Chile soll eine neue Verfassung sein, die mittlerweile ausgearbeitet ist. Im Gegensatz zu den Parlamentskammern hatte die Regierungskoalition im Verfassungskonvent eine deutliche Mehrheit. In ihr sind viele der Reformen verankert, welche die Regierung durchsetzen will. Doch auch hier ist Barrera skeptisch. „Und wer setzt die Verfassungsartikel um?“, fragt er rhetorisch. „Das sind die Parlamentskammern, und hier fehlt uns erneut die Mehrheit.“
Mittlerweile ist aber selbst der Beschluss der Verfassung gefährdet. Umfragen sprechen von einer knappen Mehrheit für jene, die bei der endgültigen Abstimmung am 4. September die neue Verfassung ablehnen. Verónica Verdugo betrübt diese Aussicht: „Man muss jetzt dafür kämpfen, dass zumindest sie angenommen wird.“ Der Abgeordnete Barrea glaubt, die Entscheidung über die neue Verfassung sei für die Regierung ohnehin eine Frage über Leben und Tod. Ohne sie sei gar kein Wandel möglich, die Regierung würde scheitern, und für die nächste Amtsperiode würde das nichts Gutes bedeuten. Angesichts dieses Szenarios ist die Freilassung der Gefangenen nicht mehr das größte Problem in Chile.
„ES WAR EIN HARTER KAMPF“

Manuela Royo (Foto: privat)
Das vergangene Jahr über haben Sie an der neuen Verfassung gearbeitet. Wie bewerten Sie diese Arbeit heute?
Wir haben viel geschafft, finde ich! Wir haben nicht nur eine neue Verfassung geschrieben, sondern den Konvent auch zu einer Plattform der politischen Debatte gemacht. Denn wir wurden nicht gewählt, um uns um Machtpositionen zu streiten. Es ging nicht ums Regieren wollen, im Gegenteil: Wir wollen ein gerechteres Chile und in einer besseren Gesellschaft leben.
Und wie setzt man das in einer Verfassung um?
In einer Verfassung geht es letztendlich darum, juristische Güter festzuschreiben. Dazu gehören Konzepte wie die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die in der Vergangenheit politisch sehr relevant waren. Uns ging es darum, weiteren Dingen den gleichen Rang einzuräumen: der Ernährungssouveränität, dem Saatgut, den Flüssen. Dazu gehört auch die Sorge füreinander. Auf dieser Ebene konnten wir bei den Menschen viel Bewusstsein schaffen.
Konnten Sie auch andere Konventsmitglieder von diesen Ansichten überzeugen?
In Gesprächen und Verhandlungen haben wir es geschafft, Überzeugungsarbeit zu leisten und wichtige Punkte durchzubringen. Da ging es zum Beispiel um das traditionelle Verständnis vieler Linker, dass man soziale Rechte nur durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen finanzieren könne. Wir aber sprechen nicht einmal von natürlichen Ressourcen, sondern von Gemeingütern.
In der Umweltkommission haben sie erst einmal alle unsere Vorschläge abgelehnt. In den Zeitungen wurde sich über uns und unsere post-extraktivistischen Ideen lustig gemacht. Wir seien doch nur Hippies. Wir haben also gleich an zwei Fronten gekämpft: einerseits mit Klimawandelleugnern aus der konservativen Rechten. Andererseits, und das war traurig, mit Linken, die der Meinung waren, unsere Auffassung sei doch nur Mystik. Dabei sind es wissenschaftliche Fakten: Dass uns das Wasser ausgeht, hat sich doch niemand ausgedacht. Es war ein harter Kampf, aber am Ende kamen viele unserer Vorschläge knapp durch. Insgesamt fühle ich aber, dass in dem Prozess Legitimität erreicht wurde.
Umweltaspekte waren eines Ihrer wichtigsten Themen. Welchen Wert hat die Umwelt nun in der neuen Verfassung?
Einen sehr großen. Schon im ersten Artikel der Verfassung steht, dass Chile ein ökologischer Staat ist, zu dessen wichtigsten Werten der Respekt vor den Rechten der Natur und unserer Abhängigkeit von ihr zählen. Damit ist gemeint, dass die Natur keine Ressource ist, aus der wir unbegrenzten wirtschaftlichen Vorteil für Wachstum ziehen können. Stattdessen ist es wichtig, zu betonen, dass die Natur Rechte hat, die der Staat und die Menschen respektieren und gewährleisten müssen. Wir sind Teil der Natur und können ohne sie nicht leben. Deshalb haben Themen wie Ernährung und Wasser genauso große Bedeutung wie die wirtschaftliche Stabilität. Und schließlich ist es die erste Verfassung, die vor dem Hintergrund des Klimawandels geschrieben wurde.
Außerdem wurden unterschiedliche Arten natürlicher Gemeingüter festgelegt. Zum Beispiel jene, die sich Menschen aneignen können, wie Urwälder und Feuchtgebiete. Diese werden unter der neuen Verfassung jedoch unter dem Schutz des Staates stehen. Man kann beispielsweise ein Stück Land mit Urwald kaufen, diesen jedoch nicht einfach abholzen, denn das schadet der Natur. Und dann gibt es noch jene Gemeingüter, die sich niemand aneignen kann: Wasser und Luft.
Wie sollen diese Prinzipien konkret umgesetzt werden?
Es gibt Richtlinien, um beispielsweise Feuchtgebiete und Urwälder zu schützen oder generell Wasserkreisläufe und Gletscher als Wasserquellen. Deshalb würden Bergbauaktivitäten in diesen Regionen verboten werden. Außerdem ist eine Flächennutzungsplanung vorgesehen, die eine wichtige Neuorganisation der Bodennutzung zur Erholung der Ökosysteme vorsieht. Denn die meisten Flächen werden derzeit für Abbautätigkeiten genutzt, darunter Bergbau, Forstwirtschaft und Energie.
Wir haben jedoch auch aus Erfahrungen mit den neuen Verfassungen in Ecuador und Bolivien gelernt. Denn in Ecuador sind zwar die Rechte der Natur in der Verfassung verankert, im Amazonasgebiet wird aber überall nach Erdöl gebohrt. Und in Bolivien, wo die Rechte der Pachamama anerkannt wurden, kam mit der neuen Verfassung der Wasserkrieg.
Deshalb ist es einerseits wichtig, konkrete Institutionen zu schaffen. Andererseits muss es möglich sein, die zugesicherten Rechte auch einzufordern. Bei reinen Zusicherungen zu bleiben, ist sehr gefährlich. Es braucht auch eine praktische Ebene und konkrete Regeln.
Sind denn im Verfassungsentwurf konkrete Institutionen vorgesehen?
Wir haben durchgebracht, dass es Umweltgerichte in allen Regionen des Landes geben wird. Bisher gab es nur drei. Allerdings war es bisher so: Wenn jemand deinen Fluss verseucht, hast du keinen Anspruch auf kostenlosen Rechtsbeistand, wenn du juristisch gegen die Verschmutzung vorgehen willst. Wir fanden, das verletzt viele Rechte. Außerdem wollen wir nicht, dass es von einer NGO abhängt, wer vor Gericht gehen kann, sondern dass der Staat dafür zuständig ist, die Natur und die Gemeinschaften zu verteidigen. Deswegen haben wir die öffentliche Ombudsstelle für Natur geschaffen, die diese rechtliche Vertretung gerichtlich und außergerichtlich kostenlos übernehmen wird.
Welche Bestimmungen enthält die Verfassung zum Thema Wasser?
Um das Thema Wasser haben wir uns besonders gekümmert. Wir haben ein Wasserstatut in der Verfassung verankert, in dem festgelegt ist, dass mit Wasser nicht gehandelt werden kann. Außerdem wird es Nutzungsrechte geben, die sowohl eine soziale als auch eine ökologische Funktion erfüllen müssen. Wir haben einen institutionellen Rahmen entwickelt, der für die Vergabe der Wassernutzungsrechte auf der Grundlage dieser Prinzipien verantwortlich sein wird. Dieser Rahmen sieht auch die Einrichtung von Räten für Wassereinzugsgebiete vor, bei denen es sich um gemeinschaftliche und partizipative Gremien handelt, die Entscheidungen über Wasser treffen. Außerdem wird das Trinkwasser in ländlichen Gebieten geschützt. Dort haben bisher die meisten Gemeinden kein fließendes Wasser und keine Abwassersysteme. Die neue Verfassung sieht hier die Gründung von Wassergenossenschaften vor.
Unter welchen Bedingungen haben Sie im Konvent an der Verfassung gearbeitet?
Es war ein schneller und selbstverwalteter Prozess, denn die Regierung hat uns keine Ausstattung zur Verfügung gestellt, nicht einmal einen Stift oder einen Schreibtisch. Wir hatten zum Beispiel einen Raum von etwa zwölf Quadratmetern für zwölf Teams, ohne Klimaanlage und Heizung. Die Delegierten konnten nirgendwo sitzen, keine Treffen abhalten. Es gab einige Gemeinschaftsräume, die reserviert werden konnten, aber die befanden sich weiter weg.
Am Anfang war viel davon die Rede, dass es eine Kinderbetreuung geben könnte. Daraus wurde aber nichts. Am Ende hat dieser Prozess gigantische persönliche Belastungen verursacht. Viele Delegierte erzählten, dass ihre Kinder an Depressionen leiden, weil sie ihre Mütter und Väter nie sahen – bis hin zu Suizidversuchen. Hinzu kam noch der Druck aus Medien und Politik und die fast tägliche Arbeit bis zwei Uhr morgens. Und wir sind direkt von der Pandemie in den Konvent gekommen: mit hoher Arbeitslast und der wenigen Unterstützung, die wir hatten. Das bedeutete viel Stress und viel Gewalt.
Gewalt?
Ja, während des Verfassungsprozesses habe ich viel Gewalt erlebt. In den sozialen Netzwerken bekam ich teilweise 300 Nachrichten am Tag, die mir Angst machen sollten. Vor ein paar Monaten erhielt ich eine schreckliche Morddrohung. Letztlich wollen sie, dass wir schweigen. Aber das tue ich nicht, im Gegenteil: Ich habe alles öffentlich gemacht.
Welche Strategien wendet der rechte Flügel derzeit an, um die Verabschiedung der neuen Verfassung zu verhindern?
Sie schüren überall Misstrauen und verbreiten Fake News. In den Straßen von Santiago hängen Plakate mit Slogans wie: „Die Verfassung ist eine Lüge“. Gestern hat der Senator Felipe Kast im Radio die schamlose Lüge verbreitet, dass die Verfassung eine Abtreibung bis zum neunten Monat erlauben wird. Das geht jeden Tag so. Es ist psychologische Kriegsführung.
Wie bereiten Sie sich auf das Referendum vor?
Wir setzen darauf, die Basis zu mobilisieren. Da wir in Lateinamerika die Dinge immer in letzter Minute erledigen (lacht), hoffen wir, dass es in den verbleibenden zwei Monaten eine große soziale Mobilisierung geben wird. Dabei zählen wir auf die bestehenden Netzwerke: die Bewegungen, Gewerkschaften und so weiter.
Es war schwierig, Wahlkampf zu machen, bevor der Verfassungstext fertig war. Wir konnten schlecht sagen: „Ja, es ist alles gut“, solange noch Abstimmungen ausstanden. Die Rechten dagegen sagen schon immer, dass alles an der neuen Verfassung schlecht ist. Und jetzt müssen wir auf die Straße gehen. Am wichtigsten ist natürlich Santiago, dort konzentrieren sich die meisten Stimmen. Ich lebe eigentlich in der ländlicheren Araucanía im Süden, aber während der Kampagne werde ich an beiden Orten sein. Um die ländlichen Gebiete zu erreichen, ist das Radio der beste Weg.
Glauben Sie, dass das Apruebo, also das „Ja“ zur Verfassung, gewinnen wird?
In Chile gibt es viele Menschen, die rechts sind. Historisch betrachtet lag das Wahlergebnis aber meist bei 60 zu 40 für die Linke. So war es beim Referendum über die Absetzung Pinochets und auch jetzt bei Borics Wahl. Wir setzen darauf, diese Menschen zu mobilisieren. Es gibt noch eine große Zahl von Unentschlossenen, und wir glauben, dass sie für die Verfassung stimmen werden, sobald sie wirklich wissen, was in ihr steht. Aber wir haben nur noch sehr wenig Zeit und wenig Geld.
VERGEBEN, VERSCHWEIGEN, VERGESSEN?
Vor über 60 Jahren, im Jahr 1961, gründete der deutsche Laienprediger Paul Schäfer mit etwa 300 Anhänger*innen im Süden Chiles die sektenartige Gemeinschaft der Colonia Dignidad. Diese auslandsdeutsche Siedlung, die drei Jahrzehnte lang einen Status der Gemeinnützigkeit innehatte, war repressiv nach innen und kriminell nach außen. Der Alltag der Bewohner*innen war von unentlohnter Zwangsarbeit, sexualisierter Gewalt, Trennung von Frauen, Männern und Kindern sowie von Freiheitsentzug, Prügel und Erniedrigungen jedweder Art geprägt. Während der Diktatur (1973 bis 1990) richtete der Geheimdienst DINA ein Gefangenenlager in der deutschen Siedlung ein. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, Dutzende ermordet oder zu Verschwundenen gemacht. Ihr Schicksal ist bis heute nicht aufgeklärt. Ihre Leichen wurden verscharrt, viele später wieder ausgegraben, verbrannt, ihre Asche im Fluss Perquilauquén verstreut.

Die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Meike Dreckmann-Nielen präsentiert nun ihre Forschung zu Dynamiken im (B)Innenleben der Gruppe von Personen, die teils bis heute in der deutschen Siedlung leben, die sich inzwischen Villa Baviera (Bayerisches Dorf) nennt und von Tourismus und Landwirtschaft lebt. Im Jahr 2019 hielt sie sich mehrere Wochen dort auf und interviewte fast 20 Bewohner*innen. Außerhalb der Siedlung führte sie einzelne Gespräche mit Folterüberlebenden, Angehörigen von Verschwundenen oder Menschenrechtsgruppen, einer Psychologin und einem Psychiater. Auf Basis dieser Arbeit konnte Dreckmann-Nielen prägende Narrative und „innergemeinschaftliche Vereinbarungen“ unter den heutigen Bewohner*innen identifizieren. Im besonders lesenswerten und auch für Nicht-Wissenschaftler*innen gut verständlichen fünften Kapitel zu erinnerungskulturellen Dynamiken beleuchtet sie psychologische Aspekte und religiöse Einflüsse, die in dieser zusammenhängenden Form bisher nicht beschrieben wurden. Sehr treffend entwickelt die Autorin eine „Denkfigur“, die einen sich selbst reproduzierenden Kreislauf interner Dynamiken skizziert. Diese basieren auf der Erinnerungskultur der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft, also dem bewussten Erinnern an historische Ereignisse, Persönlichkeiten oder Prozesse.
Religiöse „Vergebensmaxime“
Alltägliche Konflikte und auch schwere Verbrechen könnten demnach „nur innerhalb der Glaubensgemeinde“ geklärt werden, „weltliche Gerichte“ würden nicht akzeptiert. Eine „Spirale des Schweigens“ sei die Folge. Dass ehemalige Bewohner*innen kaum bereit sind, über die Strukturen der Siedlung und die dort begangenen Verbrechen zu sprechen, wird von Angehörigen der Verschwundenen als Affront empfunden. Die Historikerin zeichnet nach, dass das nicht nur die Straflosigkeit von Verbrechen der Diktatur fördert, sondern auch die historische Aufarbeitung und auch den Dialog zwischen Siedler*innen und Menschenrechtsgruppen blockiert.
Die Colonia Dignidad als „sich selbst verstärkender Resonanzraum“
Verfestigte historische Feindbilder, Konkurrenzgefühle zwischen verschiedenen Opfergruppen, Abgrenzung von „den anderen“ und Rückzug in die jeweils eigene Gruppe verstärken nach Dreckmann-Nielens Analyse das in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft bestehende Gefüge einschließlich der Vergebungsmaxime. Die Gruppe werde, so die Autorin, „zu einem sich stetig selbst verstärkenden Resonanzraum“. Allerdings sei dieser nicht statisch. Juristische, politische, monetäre Einflüsse von außen sowie psychosoziale Interventionen wirkten nach Dreckmann-Nielens Einschätzung auf die Aushandlung von Konflikten und damit auf den gesamten Kreislauf ein.
An aufklärerischen politischen und juristischen Einflüssen mangelt es allerdings. So hat die chilenische Justiz zwar einzelne Prozesse geführt und Urteile gefällt. Die deutsche Justiz hat jedoch bis heute keine einzige Anklage wegen Verbrechen der Colonia Dignidad erhoben. Die politische Aufarbeitung geht in Chile indes noch langsamer voran als in Deutschland. Dabei sind Verbindungen von Führungspersonen der Colonia Dignidad zur chilenischen Diktatur offensichtlich und sogar in einem von Siedler*innen selbst angelegten Geheimarchiv abzulesen.
Geheimarchiv mit 45.000 Karteikarten
45.000 Karteikarten umfasst dieses Archiv, das vor allem Gerd Seewald, 2014 verstorbener Angehöriger der Führungsriege der Colonia Dignidad, ab 1974 bis 1990 akribisch führte. Viele mit Tarnkürzeln bezeichnete Informantinnen lieferten teils sehr intime Details über Zivilist*innen und Militärs. Die chilenische Polizei fand und beschlagnahmte das Archiv im Jahr 2005 in der ehemaligen Colonia Dignidad.
Seit 2014 haben Dieter Maier, der mehrere Bücher über die deutsche Sektensiedlung veröffentlicht hat, und der chilenische Journalist Luis Narváez die inzwischen digitalisierten Karteikarten in eine Datenbank eingepflegt. Sie haben die einzelnen Karteikarten verschlagwortet, mit den darauf erwähnten Quellen, Personen, Parteien und anderen Metadaten angereichert und online zur Verfügung gestellt.
„Repressionsallianz“
In Kartei des Terrors verweisen Maier und Narváez immer wieder auf diese Datenbank. Gemeinsam mit dem Buch stellt sie ein besonderes Nachschlagewerk zur Recherche konkreter Fälle zur Verfügung. „Ein Ziel der Recherche für dieses Buch war, zu rekonstruieren, wie und wo die Gefangenen verschwanden. Eine direkte Antwort gibt das Karteikartenarchiv nicht“, schreiben die Autoren. Aber sie präsentieren exemplarisch Karteikarten, die Aufschluss über Verhöre einzelner Gefangener, über Interna der Diktatur und der Struktur ihrer Repressionsorgane geben. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Zusammenarbeit zwischen der Colonia Dignidad, der Geheimpolizei DINA, dem Geheimdienst des Heeres SIM sowie Polizisten der Carabineros und Militärs aus Linares und Concepción zu. Die Autoren bezeichnen diese Kooperation, die für Entführungen, Folter, Mord und Verschwindenlassen von Oppositionellen im südlichen Chile verantwortlich war, als „Repressionsallianz“.

Mitunter ist die Fülle von Personen und politischen Gruppierungen sowie Abkürzungen und nicht immer klar zuzuordnenden Tarnkürzeln schwer nachzuvollziehen. Erklärungen zu Kürzeln und Decknamen finden sich über das Buch verstreut. Ein zusammenhängendes Verzeichnis sowie eine klarere Struktur der verschiedenen Kapitel wären beim Lesen sicherlich hilfreich. Aber es gelingt den Autoren sehr gut, die Geschichten einzelner Personen zu rekonstruieren. Ein Beispiel ist der 1933 in Mazedonien geborene und 2020 in Chile verstorbene Mile Mavrovski. Fernab der realen Situation wurde er aufgrund anti-slawischer Ressentiments als besonders gefährlicher „Russe“ mit Umsturzplänen stilisiert und 1974 elf Monate lang in der Colonia Dignidad festgehalten und gefoltert. In dieser Zeit galt er als „verschwunden“. Konkrete Geschichten wie diese zeichnen ein eindrückliches Bild verschiedener Dimensionen der Allianz zwischen der chilenischen Diktatur und der Colonia Dignidad.
So tragen beide Bücher aus ihren sehr unterschiedlichen Blickwinkeln wichtige Erkenntnisse zur Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad bei und sind als Appell an Regierungen und Justiz in Deutschland und Chile zu lesen, endlich konsequent und engagiert zu handeln. Jüngst hat die chilenische Regierung unter Gabriel Boric einen Aktionsplan zur Suche nach den Verschwundenen angekündigt, deren Angehörige seit fast 50 Jahren nach ihren Verwandten suchen. Auch Juan Rojas Vásquez, dessen Vater und älterer Bruder bis heute verschwunden sind, nachdem sie 1973 mutmaßlich in die Colonia Dignidad verschleppt wurden, fordert: „Wir haben ein Recht darauf zu wissen, wo und wann mein Vater und mein Bruder erschossen wurden und wo ihre Leichen sind.“ Es ist höchste Zeit.
BANALISIERUNG DES BÖSEN
Bestia erzählt die Geschichte von Ingrid Olderöck Benhard, einer Polizistin, Agentin der chilenischen Geheimpolizei DINA, die wie ihre deutsche Eltern der Nazi-Ideologie anhing. Sie misshandelte während der Militärdiktatur im Folterzentrum Venda Sexy (siehe LN 545) vor allem Mitglieder der oppositionellen Gruppe Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR). Ihre spezielle Foltermethode war die Vergewaltigung von Gefangenen durch einen von ihr dressierten Hund. Im Jahr 1981 wurde ihr von Mitgliedern des MIR in den Kopf geschossen. Sie überlebte den Anschlag, wurde aber aufgrund der Nachwirkungen vorzeitig aus dem Dienst entlassen. Sie leugnete bis zu ihrem Tod ihre Verbrechen und wurde niemals vor Gericht gestellt.
Die animierte Geschichte zeigt die eigentliche Folter nur verschwindend kurz, stattdessen nehmen Momente aus Olderöcks Alltag viel Raum ein, insbesondere die erdachte Beziehung zu dem von ihr dressierten Hund: Sie spielt mit dem Hund auf einer Wiese. Sie fahren gemeinsam mit dem Bus, kommen in dem Haus an, in dem sie arbeitet, und gehen dort in den Keller. In einer Szene, die mit einigen Nuancen mehrmals wiederholt wird, sieht man sie in der Küche ihres Hauses beim Essen, während ihr Hund am Tisch sitzt. Immer wieder vermischen sich solche Szenen mit Albträumen oder Halluzinationen der Protagonistin, etwa wenn sie ihrem Hund beim Spielen den Kopf abschlägt. Da es keinen Dialog gibt, kommt der von dunklen Cellotönen getragenen Musik eine wesentliche Rolle zu.
Handwerklich und ästhetisch überzeugt der Film, entsprechend hat Bestia fast 30 Preise auf verschiedenen Festivals gewonnen und war auch für einen Oscar nominiert. Der Film wurde jedoch von Überlebenden politischer und sexualisierter Folter kritisiert, die der Meinung sind, dass er den systematischen Charakter der Unterdrückung in seinem historischen Kontext ausblendet, die Verantwortung des Staates für die Ereignisse verschweigt und sich stattdessen zu sehr auf die Figur einer geistig gestörten Bösewichtin konzentriert (siehe Interview im Anschluß).
„EIN VORBILDHAFTES EXPERIMENT FEMINISTISCHER POLITIK“

Javiera Manzi (Foto: privat)
Javiera, wo befinden wir uns gerade auf dem Weg zu einer feministischen Verfassung für Chile?
Wir stehen kurz vor der Abstimmung der einzelnen Artikel in den verschiedenen Kommissionen des Verfassungskonvents. Wir kommen also der Festschreibung einer feministischen Agenda in der Verfassung immer näher. Der breiten feministischen Bewegung ist es gelungen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Verfassungskonvents politische Allianzen gegen die zunehmende Prekarisierung des Lebens zu bilden. Innerhalb des Verfassungskonvents wird die feministische Bewegung durch Politiker*innen, indigene Feminist*innen sowie durch Aktivist*innen repräsentiert, die gemeinsam eine paritätische, plurinationale Demokratie für dieses neue Chile aufbauen.
Ausgangspunkt dieses neuen politischen Systems ist die Idee einer paritätischen Demokratie, die nicht nur die Sichtbarkeit von Frauen sondern auch von trans und nicht-binären Personen garantiert. Damit haben wir eine transformatorische Alternative zu den klassischen Strukturen politischer Repräsentation geschaffen. Dass es nie wieder einen Kongress geben wird, der nur zu 23 Prozent aus Frauen besteht, ist dem feministischen Engagement im Verfassungsprozess zu verdanken.
Welche Forderungen der Bewegung fließen in den Verfassungskonvent ein?
Wir haben zentrale Forderungen der feministischen Bewegung umsetzen können, angefangen bei der Anerkennung der sexuellen und reproduktiven Rechte. Dies wird die erste Verfassung weltweit sein, in der das Recht auf freiwilligen Schwangerschaftsabbruch verankert ist. Außerdem soll die neue Verfassung die Anerkennung von Fürsorgearbeit, das Recht auf ein Leben frei von sexualisierter Gewalt und das Grundrecht auf Wasser garantieren.
Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie die feministische Bewegung die historischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte hinsichtlich demokratischer Rechte von Frauen und Minderheiten zu beheben sucht und gleichzeitig neue Räume des politischen Handelns schafft.
Wie beurteilst du die diesjährige Mobilisierung für den 8. März? Inwiefern beeinflusst sie den verfassunggebenden Prozess?
Mit der Coordinadora 8M, die aus einer Serie feministischer Proteste weltweit hervor ging, haben wir es geschafft, am 8. März 2019 für die größte Demonstration seit Ende der Diktatur in Chile zu mobilisieren. Diese Mobilisierung stellt für uns einen Meilenstein dar, weil sie großen Einfluss auf die im Oktober 2019 einsetzende Revolte hatte. Die feministische Bewegung war von Beginn an die treibende Kraft im Kampf gegen das undemokratische neoliberale System.
Wir vertreten einen Feminismus, der sich nicht nur für Frauen einsetzt, sondern der die kapitalistischen, patriarchalen, rassistischen und kolonialen Strukturen aus einer intersektionalen Perspektive hinterfragt.
Am vergangenen 8. März ging es darum, ein letztes Mal vor Ende der Amtszeit Piñeras ein Zeichen gegen die Straflosigkeit des Regimes und die systematischen Menschenrechtsverletzungen zu setzen und deutlich zu machen: Die feministische Bewegung macht sich für eine neue gemeinsame Zukunft stark, um der Pinochet-Verfassung ein Ende zu setzen. Auch die baldige Abstimmung über die neue Verfassung war ein wichtiges Thema der Mobilisierung für den 8. März dieses Jahres. Denn wir wissen, dass es vor allem die Frauen und Minderheiten sind, die diese neue demokratische Verfassung tragen.
Ziel der feministischen Bewegung ist es, den verfassunggebenden Prozess aktiv zu gestalten. Wie würdest du diese Erfahrung aus Perspektive der sozialen Bewegung beschreiben?
Wir haben bewusst einen radikal-aktivistischen Standpunkt innerhalb der Bewegung eingenommen. Und dabei erkennen wir neben dem politischen Aktivismus innerhalb der Parteien auch das Engagement innerhalb der Kollektive und der verschiedenen sozialen Gruppen an. Von dieser gemeinschaftlichen Perspektive ausgehend wollen wir Netzwerke knüpfen, die unsere gesamte Diversität abbilden. Unser Feminismus ist eine Politik der Allianzen verschiedener Feministinnen mit unterschiedlichen politischen Schwerpunkten. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, die autoritären neoliberalen Strukturen abzubauen und stattdessen eine nachhaltige Demokratisierung der Politik zu erzeugen. Die stärkste politische Mobilisierung in Chile geht heute von den feministischen Gruppen aus. Wir sehen uns als Teil einer weltweiten Bewegung und glauben, dass der verfassunggebende Prozess in Chile ein bedeutendes und vorbildhaftes Experiment feministischer Politik ist.
Inwiefern bringen die sozialen Bewegungen die Vielfalt der feministischen Forderungen in den Verfassungskonvent ein?
Wir spüren noch immer die Folgen der Pandemie. Sie hat es uns unmöglich gemacht, auf die Straße zu gehen und im öffentlichen Raum zu agieren, wie wir es die Jahre zuvor getan haben; vor allem bei der sozialen Revolte 2019. Für uns ist es von großer Bedeutung, dass die Fortschritte des Verfassungskonvents von einer permanenten politischen Mobilisierung begleitet werden, was nicht leicht ist, denn viele umweltpolitische und gewerkschaftliche Gruppen sind derzeit geschwächt. Die neue chilenische Verfassung muss dem extremen Neoliberalismus und der extraktivistischen Gewalt, die ganze Gemeinschaften und Gebiete zerstört hat, Einhalt gebieten. In diesen ökologischen Themen überschneiden sich die Ökofeministinnen mit den Vertreter*innen anderer politischer Gruppen. Es ist unbedingt notwendig, dass der verfassungsgebende Prozess von dieser Art politischen Drucks begleitet wird.
Wie könnte sich die Rolle der feministischen Bewegungen mit der neuen Regierung unter der Präsidentschaft von Gabriel Boric verändern?
Die feministische Mobilisierung spielte während der Kampagne für die Stichwahl eine wichtige Rolle. Denn uns allen war klar, dass die neue Regierung die Bedingungen für den Aufbau der neuen chilenischen Verfassung gestalten würde. Unsere Kampagne trug Früchte: Es waren vor allem die Stimmen von jungen Frauen, die Boric zum Sieg verhalfen. Aber trotz dieses Erfolgs werden wir sehr genau beobachten, ob die neue Regierung ihre Versprechen umsetzt und wir werden nicht aufhören, auf die Straße zu gehen. Die sozialen Bewegungen müssen ihre Autonomie bewahren und sich weiterhin jenseits der politischen Institutionen engagieren, ohne dabei den historischen politischen Transformationsprozess, der Antwort auf die Krise der sozialen Reproduktion ist, aus den Augen zu verlieren.
„FÜR DAS LEBEN, DAS SIE UNS SCHULDEN“
„Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester“ Der 8M-Demonstrationszug auf der Alameda (Foto: Josefa Jiménez)
«Manchmal reicht ein einziger Tag oder ein einziges Symbol aus
um zu verstehen, dass alles politisch ist; dass alles
äußerst politisch für die Frauen ist. Und dann werden wir
uns vielleicht eines Tages alle wieder treffen und lernen,
wie wir unsere künftigen Alleen füllen.»
Julieta Kirkwood (chilenische Soziologin und
feministische Aktivistin, 1936-1985)
Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie, am 8. März 2022, versammelten wir uns wieder: Tausende von Frauen protestierten in den Straßen Lateinamerikas und füllten die Alleen. In Chile steht dieser 8. März im feministischen Kontext der vergangenen Jahre. Dazu gehört nicht nur die Pandemie, sondern auch die im Oktober 2019 von Schüler*innen begonnene Revolte und der feministische Mai im Jahr 2018, als Studierende ein Ende der sexuellen Belästigung von Frauen und der Vertuschung dieser in den Bildungseinrichtungen forderten (siehe LN 528).
Der März ist in Chile immer ein wichtiger Monat für die Politik und die sozialen Bewegungen, weil nach der Sommerpause Arbeits- und Schulalltag wieder anlaufen. In diesem Jahr begannen gleichzeitig die letzten Tage von Präsident Sebastián Piñera im Amt. Er gilt als der schlechteste Präsident Chiles seit der Rückkehr zur Demokratie.
Die systematischen Menschenrechtsverletzungen, vor allem die Gewalt gegen Studierende, Professor*innen und Arbeiter*innen während der Revolte (siehe LN 547), haben gezeigt, wie unfähig Piñera war, zu regieren. Sie haben außerdem klar gemacht, dass er ökonomische Interessen über das Leben, die Gesundheit, Arbeit, Bildung und Würde stellt. Genau deshalb lautet das Motto, das wir Feministinnen für diesen 8. März gewählt haben: Vamos por la vida que nos deben („Setzen wir uns für das Leben ein, das sie uns schulden“). In diesem Rahmen haben wir unseren Nicht-Präsidenten Piñera am 7. März mit der Aufführung der Performance „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ des chilenischen Kollektivs LasTesis vor dem Präsidentenpalast La Moneda verabschiedet.
Am Nachmittag des 8. März stehe ich auf der Alameda, der zentralen Verkehrsader von Santiago de Chile. Die Demonstration soll um 17.30 Uhr losgehen und vier Kilometer von der Plaza Dignidad bis zur Straße Echaurren ziehen. Schon um 16 Uhr sind in dieser Gegend der Stadt Hunderte Frauen verschiedener Generationen auf den Straßen. Zuvor haben einige von ihnen vor Frauengefängnissen demonstriert, darunter auch Fabiola von der Frauenkooperative Manos Libres. Sie erzählt: „Am 6. März haben wir mit unterschiedlichsten feministischen Organisationen zum dritten Mal zu einer Kundgebung vor dem Frauengefängnis von San Joaquín aufgerufen. Es ging uns auch um eine dringende basisfeministische Positionierung gegen den Kapitalismus, die Gewalt des Staates und die politische Verfolgung aller, die kämpfen. Denn das Gefängnissystem ist ein patriarchales System und der Kampf hört erst dann auf, wenn wir alle frei sind“. Andere Frauen, die sich für das Recht auf ein Wohnen in Würde einsetzen, haben Straßen blockiert. Feministische Gruppen verteilen Zeitungen und Infomaterial über den 8. März und geschlechtsspezifische Gewalt. Unterschiedlichste Frauen demonstrieren an diesem Tag gemeinsam für ein Ende der sexualisierten patriarchalen Gewalt.
„Wir sind als Frauen und Arbeiterinnen zu dieser 8. März-Demo gekommen“, erzählt Verónica González. Sie ist Teil der Versammlung selbstorganisierter Arbeiterinnen des chilenischen Statistikinstituts INE. „Wir alle erleben die Ungerechtigkeiten, die es in unserem Land, in unserer Gesellschaft gibt. Dazu gehören zum Beispiel die ungleich verteilte Care-Arbeit und die daraus folgende doppelte Arbeitsbelastung für Frauen. Wir als Angestellte des Statistikinstituts wissen, welche Bedeutung eine geschlechtsspezifische Perspektive auf unsere Arbeit hat: Wir selbst erstellen Statistiken über Prekarisierung und die Feminisierung bestimmter Arten von Arbeit.“
Die wichtigsten Forderungen, die von den Universitätsbesetzungen im feministischen Mai 2018 und von der Revolte 2019 ausgingen, werden auch an diesem 8. März auf die Straßen getragen. Sie lauten: „Abtreibung ja, Abtreibung nein, das entscheide ich“, „Wir brauchen dringend eine feministische und queere Erziehung“, „Nein heißt Nein (No es No)! Welchen Teil hast du nicht verstanden, das N oder das O?“ und „Piñera soll sterben, nicht meine Freundin“.
Feministischer Druck auf die Institutionen – von innen und außen
Gleichzeitig musste die feministische Bewegung im vergangenen Jahr bereits gewonnene Rechte verteidigen. José Antonio Kast, ein patriarchaler, frauenhassender und machistischer Politiker, hat versucht, uns diese Rechte im Laufe des Wahlkampfes um die Präsidentschaft abzusprechen. Zum Beispiel wollte er das Ministerium für Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter abschaffen. Um zu verhindern, dass Kast Präsident wird, setzten wir uns zusammen mit anderen sozialen Bewegungen für den Kandidaten Gabriel Boric ein, der nun am 11. März das Präsidentenamt angetreten hat. Mit ihm ist Antonia Orellana als Frauenministerin in die Regierung eingezogen. Sie ist aktive Feministin und war lange im chilenischen Netzwerk gegen Gewalt gegen Frauen (siehe LN 549) aktiv.
Der feministische Wandel entrinnt uns, wenn er nicht in der neuen Verfassung verankert wird
Doch als feministische Bewegung heißt es, wachsam zu bleiben. „Zum 8. März gab es eine breite Mobilisierung. Das freut uns, denn es ist eine Art, zu zeigen, dass unsere Erfahrungen ernst genommen werden. So erreichen wir auch die neue Regierung, die sich selbst feministisch nennt“, meint auch Verónica González. Trotz allem: Auf der Straße, in den Haushalten, in Schulen und auf der Arbeit erfahren Frauen weiterhin Gewalt. Sie werden objektifiziert, für häusliche Arbeiten nicht bezahlt, man überlässt ihnen allein die Verantwortung für die Kinder und die Alten, während man weiterhin willkürlich über die Freiheit ihrer Körper entscheidet. Alle unsere zukünftigen institutionellen Erfolge sind also nur Schritte eines tiefgründigen feministischen Wandels. Und der droht uns durch die Finger zu entrinnen, wenn er nicht in der neuen Verfassung verankert wird.
Die Demonstration zum 8. März kommt in der Straße Echaurren zu ihrem Höhepunkt. Frauen und Queers gestalten zusammen mit vielen Künstler*innen die Abschlusskundgebung mit Reden, Performances und Musik. Camila Astorga von der feministischen Gruppe La Rebelión del Cuerpo ist zufrieden: „Seit der riesigen Demo im Jahr 2020, also noch vor Beginn der Pandemie, haben wir es nicht mehr geschafft, so viele Menschen, so viele Frauen zum 8. März auf die Straße zu bringen. Das war sehr gut, wunderschön und kraftvoll.“ Sie bemängelt nur, dass nach der Demo Frauen angegangen wurden: „Für die nächsten Demos sollten wir daher mit anderen Kollektiven sprechen und eine Art Sicherheitsgruppe organisieren, um uns zu schützen und auf Aggressionen reagieren zu können“, so die Aktivistin.
Die Zeit vergeht, der 8. März bleibt zurück, aber der feministische Kampf geht weiter und wir schreiben unsere Geschichte fort. Schon eine Woche später, am 15. März, entscheidet der chilenische Verfassungskonvent, freie, legale und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche als grundlegendes Recht in der Verfassung zu verankern. Chile könnte damit das erste Land weltweit werden, das dieses Recht explizit in der Verfassung festhält. Die Chilen*innen müssen den Verfassungstext noch im Plebiszit annehmen. Aber wir haben Vertrauen. Vertrauen in uns, in die Veränderungen und darin, uns erneut auf den Straßen zu versammeln, wie wir es die letzten Jahre jeden 8. März getan haben und weiterhin tun werden – für das Leben, das sie uns schulden.
HÖRBUCH MIT DIASHOW

Foto: © Jeronimo Rodriguez
Bewertung: 3/5
Dieser Film, es lässt sich nicht anders sagen, ist ein ziemlich harter Brocken. Nach den ersten Aufnahmen von Hauseingängen und Reklametafeln, zu denen im chilenischen Film El Veterano (Der Veteran) der Beginn einer Geschichte erzählt wird, mag man noch an ein Stilmittel zum Einstieg denken. Doch schon bald wird klar: Viel anderes als unbelebte Gebäude- und Häuserfassaden, menschenleere Plätze und Straßen sowie weitgehend unbewegte Natur wird den Augen in den nächsten anderthalb Stunden auf der Leinwand nicht geboten. Umso wichtiger ist es, mit den Ohren aufmerksam dabeizubleiben. Denn die fiktive Geschichte, die Regisseur Jerónimo Rodríguez im Hintergrund dazu einspricht, ist durchaus interessant.
El Veterano erzählt – im wahrsten Sinne des Wortes – als essayistischer Dokumentarfilm von den beiden Filmemachern Gabriel und Julio. Diese machen sich auf die Suche nach Spuren von Thomas Maney, einem ehemaligen Soldaten der US-Armee, der im Süden Chiles als Priester einer evangelischen Glaubensgemeinschaft tätig war. Gerüchteweise soll er im zweiten Weltkrieg der Pilot des Flugzeugs gewesen sein, das die Atombombe über Hiroshima abgeworfen hat. Es entwickelt sich, allerdings weitgehend nur vor dem geistigen Auge, eine Schnitzeljagd zwischen verschiedenen Schauplätzen in Chile und den Vereinigten Staaten, die nicht nur einiges an Informationen über den mysteriösen Priester, sondern auch über das Verhältnis der beiden Filmemacher ans Licht bringt. Darüber hinaus erfahren die Zuhörer*innen Wissenswertes über die chilenische Geschichte und erhalten philosophische Denkanstöße. Zum Schluss schlägt die Erzählung noch einen Bogen zu den Protesten von 2019 gegen die chilenische Regierung. Die Schauplätze dazu liefert Rodríguez visuell, alles andere muss auf Basis des Gehörten in der Vorstellung stattfinden. Ein Hörbuch mit Diashow, wenn man so will.
Vermutlich werden nicht alle Menschen für eine solch spezielle Art des Filmemachens Verständnis aufbringen. Der cineastische Wert ist tatsächlich überschaubar: Ohne Ton würde wohl niemand das Geschehen freiwillig länger als zehn Minuten verfolgen. Trotzdem kann es sich lohnen, sich auf El Veterano einzulassen, denn die Idee dahinter funktioniert. Die eingesprochene Geschichte hat durchaus literarische Qualität und es erfordert Konzentration, beim Zuhören den Faden nicht zu verlieren. Zu hektische Bewegung auf der Leinwand wäre dabei kontraproduktiv. Und die Reflexionen von Jerónimo Rodríguez, der den Film als One-Man-Show selbst produziert hat (Regie, Drehbuch, Produktion, Kamera, Schnitt – alles aus einer Hand), würden bei der Darstellung durch Schauspieler*innen verloren gehen. Die Bilder von karger Landschaft, prachtvollen und schlichten Hauseingängen oder kleinen Läden und Universitätsgebäuden sind dagegen hilfreich zur Unterstützung der Vorstellungskraft. Insofern ist El Veterano kein Film für das durchschnittliche Kinoerlebnis. Wer aber akzeptiert, für eine gute Erzählung nur visuelle Anregungen statt einer kompletten Darstellung der Ereignisse zu bekommen, wird das Kino trotzdem nicht unzufrieden verlassen.
„DE FACTO EINE GROSSE KOALITION“
Hier soll sich bald einiges ändern Chiles neuer Präsident Boric bei seinem Vorgänger Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma)
Bei dieser Stichwahl habe Chile den pinochetismo zum zweiten Mal abgewählt, meint die chilenische Politologin Marta Lagos. „Es passierte zweimal in der Geschichte: am 5. Oktober 1988 und am 19. Dezember 2021“, so Lagos in einem Interview mit dem argentinischen Sender AM 750. Der Wahlsieg des Linkskandidaten Boric habe also das „Nein“ zu Pinochet von 1988 bestätigt. Denn Borics Kontrahent José Antonio Kast, ein bekennender Anhänger der Pinochet-Diktatur, war bei der Wahl im Dezember fast zwölf Prozentpunkte hinter Borics Ergebnis von 56 Prozent der Stimmen zurückgeblieben.
Mitte Januar hat der gewählte Präsident Boric das Kabinett vorgestellt, mit dem er am 11. März sein Amt antreten will. Bei der Vorstellung im Nationalmuseum für Naturgeschichte beschrieb er die Vielfältigkeit des Regierungsteams: Es handele sich um eine Gruppe „mit politischer Pluralität, unterschiedlichen Standpunkten und einer starken Präsenz von Unabhängigen und Aktivisten politischer Parteien“. Vielfalt gebe es auch unter den vertretenen Regionen und Generationen.
Nach Ansicht der Politologin Lagos war Boric bei der Benennung des künftigen Kabinetts mutig. „Was er getan hat, war vor einem Monat noch undenkbar“, so die Gründerin der Nichtregierungsorganisation Latinobarometro. Borics Team habe stets argumentiert, dass eine Erneuerung erforderlich wäre, um die Fehler der traditionellen Mitte-Links-Koalition Concertación auszubügeln. Denn seit seiner Zeit als führender Aktivist der Studierendenbewegung galt Boric als Kritiker der Concertación, die die Jahrzehnte nach der Pinochet-Diktatur politisch geprägt hatte. Doch nun bezieht er Vertreter*innen der Seite ein, die er zuvor angegriffen hatte. Mit der Entscheidung habe Boric „de facto eine große Koalition gebildet – so, wie parlamentarische Regierungen eben gemacht werden“, erklärt die Analystin Lagos.
Da Boric mit dem Wahlversprechen angetreten ist, das während der Diktatur eingeführte neoliberale Modell abzulösen, wird er bei der Umsetzung von Strukturreformen sehr wahrscheinlich viel Gegenwind erhalten. Seine Regierungsziele beinhalten die Einführung eines öffentlichen Rentensystems und einer universellen Kranken- versicherung, eine Reform des Streikrechts, eine Steuerreform zur Finanzierung sozialer Projekte, mehr Anerkennung für Care-Arbeit und eine Strukturreform der Militärpolizei Carabineros: „Wir werden Schritt für Schritt alle von uns vorgeschlagenen Änderungen vornehmen, weil wir davon überzeugt sind, dass die große Mehrheit der Chilenen strukturelle Änderungen fordert“, sagte er am Tag des Wahlsiegs.
Zehn Jahre nach den Protesten von Studierenden sitzen mehrere Aktivist*innen in der Regierung
Tatsache ist, dass Boric Allianzen mit dem traditionellen Mitte-links-Lager benötigt, um Mehrheiten in den zwei Kammern des Nationalkongresses zu erreichen. Borics Wahlbündnis Apruebo Dignidad hat in der Abgeordnetenkammer nur 37 von 155 Sitzen und im Senat fünf von 50 Sitzen. Durch die Berufung parteiunabhängiger Minister*innen und Vertreter*innen von Parteien außerhalb des Bündnisses erweitert der künftige Präsident nun seine Koalition. Dazu gehören die Sozialistische Partei (PS), die Partei für Demokratie (PPD), Radikale Partei (PR) und Liberale Partei (PL).
„Die Zusammensetzung dieses Kabinetts ist in mehrfacher Hinsicht etwas Außergewöhnliches“, meint die chilenische Psychoanalytikerin Constanza Michelson. Es gehe vor allem darum, „das Ende einer Phase von Kämpfen zu besiegeln, in der der Feminismus am Rande der Macht stand, um nun an die Macht zu kommen“, so Michelson in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página 12. Mehrere Schlüsselressorts werden künftig Frauen übernehmen: Die Außenpolitik leitet ab März die parteiunabhängige Rechtsanwältin Antonia Urrejola. Verteidigungsministerin wird, fast 50 Jahre nach dem Militärputsch von 1973, die Allende-Enkelin Maya Fernández, die für die Sozialistische Partei in der Hauptstadtregion in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde. Von Ministerinnen geführt werden außerdem die Ressorts für Arbeit und Soziales sowie Gesundheit und auch Bergbau: Die designierte Ministerin Marcela Hernando Pérez (PR) soll zwei wichtige Vorhaben in Bezug auf die Bergbaupolitik umsetzen, wie das chilenische Onlinemedium El Ciudadano berichtete. Zum einen die Einführung einer Steuer im Kupferbergbau, die Zusatzeinnahmen im Umfang von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts einbringen soll. Zum anderen die Gründung eines staatlichen chilenischen Lithiumunternehmens, bei dem die Interessen betroffener Gemeinden im Mittelpunkt stehen.
Mit der Benennung der parteiunabhängigen Klimatologin und Mitautorin des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats, Maisa Rojas, hat Boric eine Expertin in Sachen Klimawandel für das Amt der Umweltministerin benannt. Rojas‘ Nominierung deutet an, dass der Kampf gegen die Klimakrise – wie schon im Wahlkampf angekündigt – künftig einen hohen Stellenwert haben könnte. Im Interview mit The Guardian kündigte die Klimawissenschaftlerin, die die chilenische Regierung bereits bei der COP25 beraten hat, grundlegende Veränderungen an: „Wir müssen uns mit den strukturellen Elementen unserer Gesellschaft befassen, was auch bedeutet, dass wir unseren Pfad der Entwicklung ändern müssen.“
Auch drei der fünf Positionen im comité político (innerer Entscheidungszirkel im Kabinett, Anm. d. Red.) – Inneres, Finanzen, Frauen, Regierungssprecher*in und Generalsekretariat der Präsidentschaft – werden ab dem 11. März Frauen leiten. Als wichtigster Kabinettsposten gilt in Chile das Innenministerium. Diese Rolle fällt nun zum ersten Mal einer Frau zu, der künftigen Innen- und Sicherheitsministerin Izkia Siches. Sie leitete Borics Wahlkampagne und war von 2017 bis 2021 Vorsitzende des Berufsverbands der Ärzt*innen. Die künftige Ministerin für Frauen und Geschlechtergleichheit ist die Feministin und Journalistin Antonia Orellana von der Convergencia Social (CS), Gabirel Borics Partei. Karina Nohales, Vertreterin der feministischen Dachorganisation Coordinadora Feminista 8M, begrüßte ihre Benennung auf Twitter: „Sie ist eine engagierte Feministin, die sich für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, für das Recht auf legale, freie und sichere Abtreibung und würdevolle Arbeitsbedingungen einsetzt.“
59 Prozent sind laut Umfragen mit dem Kabinett Boric zufrieden
Doch auch zwei bekannte Gesichter aus der Studierendenbewegung hat Boric ins Kabinett geholt. Regierungssprecherin wird Camila Vallejo (Kommunistische Partei), Präsidentschaftssekretär wird Giorgio Jackson von der Partei Revolución Democrática, neben der CS die führende Partei im Parteienbündnis Frente Amplio. Beide Personen führten mit Boric die studentischen Proteste von 2011 und 2012 an, die bis dahin größten Demonstrationen in Chile seit Ende der Diktatur. Ihre nun zehn Jahre alten Forderungen nach bezahlbarem Studium für alle und ihre Kritik am privatisierten Bildungssystem sind noch heute aktuell. Als Mitglieder der neuen Regierung haben die drei ehemaligen Aktivist*innen nun die Möglichkeit, sie in die Tat umzusetzen.
Die künftigen Minister für Wohnen und Urbanistik (Carlos Montes), Verkehr und Telekommunikation (Juan Carlos Muñoz) sowie für Öffentliche Baumaßnahmen (Juan Carlos García) gelten alle als Experten auf ihrem Gebiet. Laut dem Magazin The Clinic seien die Erwartungen an diese Minister daher besonders hoch. García fordert etwa, das Zugnetz zu erweitern und die verschiedenen Verkehrsträger besser zu koppeln.
Mit Borics Wahlsieg und Kasts Niederlage erhält außerdem der aktuelle verfassunggebende Prozess Rückenwind. Für das Regierungsmandat Borics wird die Unterstützung des Verfassungskonvents eine wichtige Etappe zu Beginn der Amtszeit sein. Seine Präsidentschaft könnte den verfassunggebenden Prozess stützen. Bis Juli 2022 soll im Verfassungskonvent eine progressive, neue Verfassung erarbeitet werden. Wenn die Mehrheit der chilenischen Wähler*innen dafür stimmt, wird die alte Verfassung, ein Erbe aus Diktaturzeiten, nach vier Jahrzehnten abgelöst. Boric hat angekündigt, die Unabhängigkeit der Arbeit des Verfassungskonvents zu sichern und besuchte seine Mitglieder bereits kurz nach der Wahl, um ihnen seine Unterstützung auszusprechen.
Mit der Wahl Borics hat die Mehrheit der Chilen*innen gezeigt, dass sie sich entschlossen gegen den pinochetismo stellen. Eine Woche, nachdem der gewählte Präsident sein Regierungskabinett vorgestellt hatte, veröffentlichte das private chilenische Meinungsforschungsinstitut Cadem aktuelle Umfrageergebnisse. Demnach bewerteten 59 Prozent der Befragten die Personalauswahl als positiv. Es sind sieben Punkte mehr als beim vergangenen Kabinett Piñera (2018) und sogar 30 Punkte mehr als beim Kabinett Bachelet II (2014). Die Hoffnung der Bevölkerung auf einen Wandel scheint also da zu sein. Ob das Regierungsteam es schaffen wird, politische Mehrheiten zu erhalten und gleichzeitig seiner Linie, mit den Relikten der Vergangenheit aufzuräumen, treu zu bleiben? Die nächsten vier Jahre werden das zeigen.
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