Chile | Nummer 589/590 - Juli/August 2023

Die Verfassungskrise verschärft sich

Rechte haben bei der neuen Verfassung für Chile freie Hand

Die Arbeit des Verfassungsrates in Chile ist im vollen Gang, den Ton geben dabei vor allem die Delegierten der ultrarechten Republikanischen Partei an. Auch der Anfang Juni von der sogenannten Expert*innenkommission vorgelegte Entwurf für eine neue Verfassung lässt nichts Gutes erahnen. Kein Wunder, dass viele Chilen*innen vor allem Desinteresse am Verfassungsprozess zeigen – oder aber die neue Verfassung schon jetzt ablehnen.

Von Susanne Brust

Die alte Verfassung kann weg Aber wird der neue Entwurf besser als Pinochets Verfassung? (Foto: simenon simenon via wikimedia commons , CC BY-SA 2.0)

Bloß keine Experimente – so ließe sich der Entwurf der sogenannten Expert*innenkommission für eine neue Verfassung für Chile vielleicht am besten beschreiben. Denn es ist ein schlichtes Dokument mit 134 Seiten, das die 24 vom Parlament ernannten „Expert*innen“ Anfang Juni nach dreimonatiger Arbeit vorgelegt haben. In 14 Kapiteln samt Übergangsregelungen werden grundlegende Themen wie Rechtsstaat, politisches System und Justizsystem abgehandelt.

Neben der Definition Chiles als „sozialer und demokratischer Rechtsstaat“ wird im Entwurf eine Sammlung sozialer Rechte festgeschrieben. So etwa das Recht auf Gesundheit, Bildung, angemessene Arbeit, Freiheit der Gewerkschaften, soziale Absicherung, angemessene Wohnung, Wasser und Eigentum. Die Wahrung und Förderung dieser Rechte soll jedoch durch „staatliche und private Institutionen“ sichergestellt werden – eine Formulierung, die aktuelle neoliberale Strukturen wie etwa die privatisierte Gesundheits- und Rentenversorgung auch in der neuen Verfassung absichern könnte.

Was im Entwurf nicht vorkommt, sind Worte wie Plurinationalität, reservierte Sitze für Indigene im Parlament, Geschlechterparität in politischen Institutionen oder die Rechte der Natur. Stattdessen endet der Entwurf mit einem nüchternen Kapitel über Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Entwicklung mit der Betonung darauf, dass Umweltschutz immer mit Rücksicht auf nationalen Fortschritt und Entwicklung stattfinden müsse. Als besonders fortschrittlich lässt sich dieser Entwurf, vor allem im Vergleich zum im September abgelehnten Verfassungstext, also nicht beschreiben. Tatsächlich blieben manche Inhalte aus der aktuell gültigen Verfassung von 1980 einfach erhalten, wie das Observatorio Ciudadano, eine Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Fokus auf indigene Rechte, in einer Erklärung feststellt: Der Entwurf zeige aus Menschenrechtsperspektive ebenso wie Pinochets Verfassung „ernste Defizite“, heißt es dort.

Das Menschenrecht auf Wasser wird nicht festgeschrieben, das Recht auf Wassernutzung dagegen sehr wohl

Ein Beispiel dafür, dass der neue Verfassungsentwurf nicht mit dem neoliberalen System bricht, ist das Thema Wasser, wie Manuela Royo gegenüber LN erläutert. Sie ist Anwältin und saß 2021 und 2022 für die Wasser- und Umweltbewegung MODATIMA im Verfassungskonvent. Bei einem ersten Blick auf den Entwurf ließe sich annehmen, dass die Expert*innenkommission das Wasser erhalten und schützen wolle. „Besonderes Augenmerk wird auf die Sicherstellung des Menschenrechts auf Wasser für heutige und zukünftige Generationen gelegt, ebenso auf seine Verfasstheit als ‚nationales Gut öffentlicher Nutzung‘. Bei einer tieferen Analyse treten jedoch Widersprüchlichkeiten auf“, erklärt Royo. Erstens werde das Menschenrecht auf Wasser nicht als solches festgeschrieben, Wassernutzungsrechte aber als grundlegende Rechte aufgefasst. „Dieses Verständnis kann dazu führen, dass die Wahrung des Rechts auf Wasser mit der Wahrung des Rechts auf Wassernutzung kollidiert, so wie wir es schon heute bei hunderten Rechtsstreitigkeiten erleben.“ Ebenso fehle es an Ansätzen zum Umgang mit der Wasserknappheit in weiten Regionen des Landes. Ihre Bewegung MODATIMA komme daher zu dem Fazit, „dass der Vorschlag einen Rückschritt bedeutet und dem Schutz des Menschenrechts auf Wasser zuwiderläuft“, so Royo.

Die ultrarechte Republikanische Partei hat ein Vetorecht im Verfassungsrat

Doch nicht nur inhaltlich, auch auf organisatorischer Ebene kritisiert die Anwältin den Verlauf des neuen Verfassungsprozesses. Indem Kandidat*innen bei den Wahlen für den Verfassungsrat am 7. Mai dieses Jahres nur auf Parteilisten kandidieren konnten, seien die sozialen Bewegungen „absichtlich ausgeschlossen“ worden. „Unserer Meinung nach war das eine sehr undemokratische Entscheidung“, sagt sie. Dass die etablierten Parteien großen Einfluss auf den Verfassungsprozess haben und nun wieder „Politik von oben“ gemacht werde, sei besorgniserregend: „Das verschärft eine politische Krise, die unter anderem zum Aufstieg der Ultrarechten geführt hat, wie wir sie in der Zusammensetzung des aktuellen Verfassungsrats beobachten können“, meint Royo. Tatsächlich haben rechte Parteien im Verfassungsrat, der nun über den Entwurf der Expert*innenkommission berät, eine deutliche Mehrheit. Allein die ultrarechte Republikanische Partei unter José Antonio Kast kommt mit 22 Delegierten auf über zwei Fünftel der 50 Sitze und hat damit ein Vetorecht. Drei Fünftel der Stimmen sind notwendig, um die Verfassungsnormen der Expert*innenkommission anzunehmen, zu ändern, abzulehnen oder zu ergänzen. Die Partei stellt mit Beatriz Hevia, die schon mehrmals wegen relativierender Aussagen über die Pinochet-Diktatur auffiel, außerdem die Präsidentin des Verfassungsrats.

Die vier thematischen Kommissionen des Rats haben inzwischen ihre Arbeit am Verfassungsvorschlag aufgenommen, alle unter Vorsitz von Politiker*innen der rechten Opposition. In der Kommission „Politisches System“ gehört es zu den Vorhaben der Vertreter*innen der Republikanischen Partei, dem chilenischen Militär ein eigenes Kapitel und damit höheren Verfassungsrang zu verschaffen. Zu den Inhalten der Kommission „Rechtssystem“ gibt es im Verfassungsvorschlag der Expert*innen am wenigsten Änderungen gegenüber der aktuell gültigen Verfassung. Wichtiger sind dagegen die Kommissionen zu Verfassungsprinzipien und zu sozialen Rechten, darunter Gesundheit, Renten und Sozialversicherung. Da der Vorschlag der Expert*innen nur wenige Absätze zu letzteren enthält, werden diese Themen im Verfassungsrat am längsten diskutiert werden.

In der Bevölkerung trifft der laufende Verfassungsprozess bislang vor allem auf Desinteresse und Ablehnung. So veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Cadem am 9. Juli eine Umfrage, laut der eine Mehrheit von 55 Prozent der Befragten die neue Verfassung ablehnen würde. In einer Umfrage von Pulso Ciudadano von Ende Juni gaben über zwei Drittel der Befragten an, sich gar nicht, wenig oder nur halb für den Prozess zu interessieren. Die Gründe für dieses Desinteresse sieht Manuela Royo „in der Glaubwürdigkeitskrise der traditionellen Politik.“ Außerdem fehle es der Regierung an Rückhalt an der Basis der Gesellschaft. Das Desinteresse am Verfassungsprozess überrascht nicht, ist dieser doch „weit davon entfernt, repräsentativ zu sein“, wie das Observatorio Ciudadano bemängelt − „insbesondere wegen der Einschränkung des Rechts auf Partizipation in den verfassunggebenden Organen. Das erschwert die Inklusion der unterschiedlichen Gemeinschaften, Völker und Bereiche, die zum Land gehören.“

Allein die Kräfteverteilung im Verfassungsrat lässt Böses erwarten

Als eine der zentralen Möglichkeiten zur Teilhabe der Bürger*innen am verfassunggebenden Prozess ist Anfang Juli die Unterschriftensammlung für sogenannte Volksinitiativen für Verfassungsnormen (inicativas populares de norma) zu Ende gegangen. Eingereicht haben diese jedoch zum größten Teil Männer, Menschen im Alter zwischen 45 und 55 Jahren und aus der Metropolregion Santiago. 31 Initiativen haben die 10.000 Unterschriften erreicht, die es braucht, damit der jeweilige Vorschlag im Verfassungsrat diskutiert wird. Dazu gehören mehrere Entwürfe zum Thema Renten und Sozialversicherung, eine Initiative sogenannter Lebensschützer*innen gegen das Recht auf Abtreibung, feministische Initiativen für das Recht auf Sorge, sexuelle und reproduktive Rechte sowie – mit den meisten Unterschriften – eine Initiative zum Schutz von Haustieren. Auch ein Vorschlag von MODATIMA zur Festschreibung des Rechts auf Wasser und Definition des Wassers als natürliches Gemeinschaftsgut gehört zu den prominentesten Initiativen. „Als Bewegung haben wir entschieden, dass wir keinen Vorschlag, der die Privatisierung und Ausbeutung des Wassers erhalten würde, still hinnehmen können“, begründet Manuela Royo. Hoffnungen mache man sich aber nicht: „Auch wenn wir wissen, dass unser Vorschlag höchstwahrscheinlich abgelehnt wird, müssen wir weiterhin überall Einfluss nehmen.“

So haben sich manche soziale Bewegungen dafür entschieden, sich über die Volksinitiativen am verfassunggebenden Prozess zu beteiligen, andere nicht. Laut dem Verfassungsdelegierten Fernando Viveros, der für die Kommunistische Partei (PC) im Verfassungsrat sitzt, sei jedoch gerade diese Partizipationsphase entscheidend. Die Volksinitiativen seien „die einzige Möglichkeit, die wir heute haben, um die Themen auf die Tagesordnung zu bringen – selbst, wenn sie abgelehnt werden können. Es geht darum, dem Land eine gesellschaftliche Diskussion ermöglichen zu können“, so Viveros im Onlineportal Emol. Würde diese Beteiligung fehlen, sieht er große Risiken: „Das ist ein Text, den wir verbessern können. Aber wenn die Rechten, die Republikaner, ihn in die Hände bekommen und die gesellschaftliche Ungleichheit weiter vertiefen, ist ein positiver Ausgang dieses Verfassungsrates in Gefahr.“

Allein die Kräfteverteilung im Verfassungsrat lässt Böses erwarten. So wird der Verfassungstext, der hier bis Anfang November entsteht, höchstens in Ansätzen fortschrittlicher werden als Pinochets Verfassung – oder aber schlimmer. Nicht erst beim Plebiszit am 17. Dezember, sondern bereits jetzt stellt sich daher vielen Chilen*innen die Frage, ob man für diese Verfassung stimmen und sie damit demokratisch legitimieren sollte. Aktuellen Umfragen zufolge würde sich eine Mehrheit dagegen entscheiden. Es wäre eine indirekte Wahl dafür, die Verfassung aus Diktaturzeiten weiterhin zu erhalten. Diese Entscheidung könnte der Glaubwürdigkeit der politischen Institutionen weiter schaden.

Gesamtgesellschaftlich nimmt statt der Verfassungsdebatte das Thema Sicherheit weiterhin großen Raum ein. Außerdem hat das Näherkommen des Jahrestags des Putsches gegen Allende eine öffentliche Debatte um Erinnerungspolitik und den Umgang mit den Verbrechen der Militärdiktatur entfacht. Mit den Verfassungsdelegierten der Republikanischen Partei haben Fans der Diktatur den Stift für den neuen Verfassungstext in der Hand – weitgehend ungestört und ausgerechnet 50 Jahre nach Pinochets blutigem Putsch.

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