Als die Zapatist*innen in den 80er Jahren im lakandonischen Urwald Südmexikos ankommen und der dortigen Bevölkerung in Chiapas begegnen, stellen sie schnell fest: Sie sind nicht diejenigen, die den seit Jahrhunderten Widerstand leistenden Maya-Gemeinden etwas über Würde und Revolution beibringen müssen. Doch mit Respekt, der nötigen Bescheidenheit und viel Zuhören können beide Seiten voneinander lernen.
In einem Moment, in dem die Zapatistas sich gerade im Aufbau befinden und noch ausschließlich im Untergrund existieren, lernt der akademisch-marxistisch geprägte Guerrillakämpfer Marcos, der später als Subcomandante Insurgente Marcos und Kommunikationsorgan der EZLN (Zapatistische Armee für die Nationale Befreiung) bekannt wird, den Alten Antonio kennen. „Ich begann ihm von der Geschichte Mexikos zu erzählen, vom Zapatismus, und er antwortete mir mit der Geschichte von Votán und Ik´al“, erzählt er später über ihre erste Begegnung 1985.
Im 30. Jubiläumsjahr des Aufstands der Zapatistas veröffentlicht das solidarische Netz der Rebellion eine neue, übersetzte Sammlung von 26 Geschichten des Alten Antonio. Dieser fungierte in ihrer Anfangsphase als Bindeglied zwischen der noch jungen EZLN und der Maya-Bevölkerung in Chiapas. Als Gesprächspartner von Antonio und Autor des Buches erzählt Subcomandante Marcos die Geschichten mit dem ihm eigenen Humor nach und nimmt die Leser*innen mit in den Alltag und die Gedankenwelt der Rebellion in Südmexiko. In einem collagenartigen, teilweise surreal anmutenden Stil werden die Geschichten von den fantasievollen Illustrationen von Lioba Adam und Juni Zabot umrahmt.
Mit seinen Geschichten bringt der Alte Antonio mehr Menschlichkeit in die teilweise verkopften, harten Theorien der jungen Kämpfer*innen. Er schlägt Brücken zwischen Mythen und Geschichten der indigenen Bevölkerung der Region und den Ideen der Zapatistas und wird zu einer zentralen Symbolfigur ihres Kampfes. Brücken schlagen ist seit Beginn Teil der Haltung der EZLN – nicht nur innerhalb ihres Territoriums, sondern auch darüber hinaus. Die Geschichten des Alten Antonio wurden meist über die zapatistischen Kommuniqués bekannt, die stellvertretend von Sub Marcos (später Sub Galeano und heute El Capitán) unterzeichnet wurden. Die Kommuniqués haben seit dem Aufstand von 1994 bis heute die Funktion, die politischen Positionierungen sowie Informationen zu kommenden Vorhaben der EZLN auf oft metaphorische und indirekte Art und Weise zu erläutern.
Die Fabeln und Mythen des alten Bewohners von Chiapas, die von den Maya-Gottheiten, den ersten Menschen oder den Tieren des Urwaldes erzählen, sind jedoch auch darüber hinaus inspirierend und vermitteln bildhaft die Weisheiten der widerständigen, chiapanekischen Bevölkerung. Es geht um Respekt, Verbundenheit und den Umgang mit Differenzen zwischen Menschen, die kollektive Entscheidungsfindung und verschiedene Rollen in politischen Organisationen; darum, mit Neugier und fragend durch die Welt zu gehen und um ein würdevolles, kämpferisches Leben. Es sind Themen, die Personen, die für Veränderung kämpfen, auf der ganzen Welt beschäftigen und berühren.
Die ruhigen Gespräche im verregneten Wald zwischen den beiden Männern, der eine immer mit einer selbst gedrehten Zigarette, der andere mit der Pfeife im Mund, sind jedoch „keine Spielanleitung zur Revolution“, wie die Veröffentlicher*innen klar machen. Sie lassen sich nicht unbedingt eins zu eins übertragen, sie dienen jedoch als poetische Denkanstöße, die die Leser*innen dazu ermutigen, weiter Fragen zu stellen, um nicht stehen zu bleiben. Antonios Geschichten können auch hier Menschen „links und unten“ – wie die Zapatistas sagen – dabei helfen, „stolpernd und tanzend“ zu mehr Verständnis zu gelangen und sprechen in vielerlei Weise die emotionale Ebene des politischen Kampfs an, die uns manchmal verloren geht.