Gefahr von oben

Modifizierte Drohnen Sie werden mit Sprengstoff, Nägeln und Pellets bestückt (Foto: Ricardo Gomez Angel, Public Domain)

In den frühen Morgenstunden des 18. Oktober 2023 erlebte Pater José Filiberto Velázquez Florencio einen bewaffneten Angriff, während er mit seinem Auto durch die Stadt El Nuevo Caracol im mexikanischen Bundesstaat Guerrero fuhr. Der Mordversuch an Pater Velázquez Florencio ging von mutmaßlichen Mitgliedern eines Drogen­kartells aus. Zuvor hatte er mehrmals sowohl gegenüber staatlichen Institutionen als auch öffentlich auf die kriminelle Präsenz in seiner Stadt in Guerrero aufmerksam gemacht. Pater Velázquez Florencio ist der Leiter der Organisation Centro de Derechos de las Víctimas de Violencia Minerva Bello (Zentrum für die Rechte von Gewaltopfern Minerva Bello). Diese zivil­gesellschaftliche Organisation setzt sich seit 2018 für die Verteidigung der Rechte von Menschen ein, die im Bundesstaat Guerrero Opfer von Gewalt geworden sind. Dazu zählen beispielsweise die Familienmitglieder von den 43 seit 2014 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa.

Doch die kriminelle Präsenz in der Region ist nicht neu. Vor über einem Jahrzehnt kamen die kanadischen Bergbauunternehmen Torex Gold und Equinox Gold nach Guerrero, um Gold abzubauen. Ihre Ankunft machte die Gegend attraktiv für Drogenkartelle, die sich Einnahmen durch Erpressung der lokalen Bevölkerung erhofften. Die Angriffe durch kriminelle Gruppen haben sich seit November 2022 erheblich vermehrt, als territoriale Streitigkeiten zwischen rivalisierenden Gruppen wie dem Kartell Jalisco Nueva Generación, Los Tlacos und der Familia Michoacana begannen.

Das Neue dabei ist die Art, wie diese Gruppen Chaos und Angst unter der Bevölkerung verbreiten. Seit November 2022 setzen sie modifizierte Drohnen ein, um die Gemeinden anzugreifen. Diese Drohnen werden mit Sprengstoff, Nägeln und Pellets bestückt. Aus der Ferne werden sie dann gesteuert und als Waffe verwendet. Bis jetzt gab es in Guerrero mehrere solche Angriffe und sie führten bisher zu zwei getöteten Personen und Sachschäden. Pater José Filiberto berichtet, dass diese Drohnen aufgrund der bergigen Landschaft von El Nuevo Caracol eingesetzt wurden: „Es handelt sich um eine Region voller Berge und Hügel, in der es durch den sehr breiten Fluss Balsas eine natürliche Barriere gibt. Weil die Bewohner*innen die Straßen gesperrt haben, reagierten die kriminellen Gruppen mit Schüssen von den Hügeln aus sowie mit dem Abfeuern von Bomben durch Drohnen. Durch die vielen Berge und Hügel gibt es nämlich erhebliche Schwierigkeiten, diese Orte mit Bodentruppen und Fahrzeugen zu erreichen.“

Drohnen mit Sprengstoff, Nägeln und Pellets sollen Angst verbreiten

Die Gewalt hat vor allem drei sichtbare Auswirkungen auf die Stadt. Erstens führte sie zur Vertreibung von 600 Personen, die Schutz in benachbarten Städten suchten. Zweitens leben die verbliebenen Bewohner*innen in Angst und unter ständigem Stress. Weil medizinisches Personal und Lehrer*innen flüchteten, kam es drittens zum Mangel an öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit. Als Reaktion auf die anhaltende Gewalt durch die Drogenkartelle haben sich Menschen aus mindestens 30 umliegenden betroffenen Städten in Bürgerwehren organisiert und eine Allianz von 67 Gemeinden gegründet, die von den lokalen und föderalen Behörden Schutz fordern.

Die aktive Zivilgesellschaft wird durch die Politik geschwächt

Die staatliche Reaktion auf die Situation der Unsicherheit in Mexiko wurde von den Bürgerwehren stark kritisiert. Die Regierung hat Ausrüstung zur Konfiszierung von Drohnen und Sprengstoffen erworben und eine rechtliche Initiative zur Erhöhung der Haftstrafen für den Einsatz von Drohnen bei illegalen Aktivitäten vorangetrieben. Trotzdem bleibt Pater José Filiberto skeptisch hinsichtlich der Wirksamkeit dieser Maßnahmen. Er befürchtet, dass die Hauptstadt von Guerrero eine „Zeitbombe“ sei: „Dort finden derzeit Hinrichtungen statt. Gestern haben sie einen zerstückelten Körper vor die Tore der Nationalgarde in Chilpancingo geworfen. Ich denke, es wird weiterhin sehr besorgniserregende Nachrichten über Gewalt in dieser Region geben. Besonders jetzt, da der Wahlkampf für die anstehende Präsidentschafts­wahl näher rückt, werden politische Verbrechen zur Alltäglichkeit.“

Er stellt weiterhin fest, dass die Rolle der zivilgesellschaftlichen Organisationen von der Regierung missachtet und unterbewertet wird: „Wir leben in einer Zeit, in der das Recht, sich selbst zu verteidigen, zu einem politischen Angriff gegen die Machthaber*innen wird. Als Menschen­rechtsorganisationen, Journalist*innen oder aktive Zivilgesellschaft sind wir geschwächt. Der Staat will das Monopol über die Verteidigung der Menschenrechte behalten. Dabei verachtet er die echte Menschenrechtsarbeit, die abseits der politischen Parteien geleistet wird. Das setzt uns Risiken aus. Es macht uns verwundbarer.“

Es ist weder das erste Mal, dass ein Aktivist ins Visier krimineller Gruppen gerät, noch, dass sich die Zivilbevölkerung in einer Bürgerwehr organisiert. Das ist schon früher geschehen, vor allem in Michoacán, ein weiterer Bundesstaat, der von Drogenkartellen bedroht wird. Genau wie in der Vergangenheit war die Reaktion der Regierung unzureichend, um die Bewohner*innen zu schützen und die Macht der Drogenkartelle zu schwächen. Stattdessen ist eine Zusammen­arbeit zwischen den staatlichen Behörden und der Zivilgesellschaft notwendig, um Sicherheit und Frieden zu fördern. Diese zwei Elemente werden in Mexiko dringender denn je benötigt.

Mit dem Rücken zur Wand

„Frieden für Comalapa!“ Hier soll eine dritte Kaserne gebaut werden – Sicherheit wird sie kaum bringen (Foto: Gabriela Sanabria)

„Es gibt keine Aggressionen“, antwortet Ende Juni der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) auf die Frage, wer hinter den jüngsten Attacken gegen die zapatistischen Gemeinden von Moisés y Gandhi im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas stehe. „Generell herrscht Frieden und Ruhe in Chiapas“, beteuert der Präsident. Hin und wieder gebe es Auseinandersetzungen, aber dafür sei die Nationalgarde vor Ort. Außerdem hätten Regierungsprogramme wie Sembrando Vida (dt.: Leben pflanzen) die Armut und Konflikte in der Region verringert.

„Ich weiß nicht von welchem Land AMLO spricht, aber Mexiko ist es nicht“, resümiert kopfschüttelnd Dora Roblero García, Direktorin des Menschenrechtszentrums Fray Bartolomé de Las Casas in Chiapas. Sämtliche Statistiken der mexikanischen Regierung über verschwunden gelassene und ermordete Menschen, sowie die Berichte der vielen Betroffenen bezeugen, dass Chiapas sowie ganz Mexiko aktuell eine neue Welle der Gewalt erlebt. In Mexiko gab es allein im Juni dieses Jahres 2.303 Morde, darunter elf Feminizide pro Tag. Täglich verschwinden 29 Menschen, insgesamt gelten 112.000 Menschen als vermisst. „Das kann auch an AMLO nicht vorbeigegangen sein“, schätzt Roblero die Situation ein. Doch er müsse das sagen, denn die Vorwahlkampagnen für 2024 haben bereits begonnen.

Die Konflikte in Chiapas zeichnen sich durch unterschiedliche Ursachen und Akteure aus. Dort wo sich verschiedene überlagern, ist eine Lösung in weiter Ferne. Die schwersten Auseinandersetzungen zeigen sich an den Orten der seit 2021 öffentlich ausgetragenen Territorialkämpfe von Ablegern zweier mächtiger Kartelle aus den nördlicheren Bundesstaaten Sinaloa und Jalisco. Dabei dreht es sich nicht nur um Drogenschmuggel, wie Fernsehserien suggerieren, sondern gehandelt wird, wofür es einen Markt gibt: Holz, Öl, Edelmetalle, Waffen, Organe, Frauen oder Migrant*innen. Besonders betroffen ist die Grenzregion um Frontera Comalapa, Chicomuselo und La Trinitaria. Hier finden sich ganze Gemeinden und Landstriche, die von den Kartellen dominiert werden. Ein normales Leben, das in dieser heißen Region normalerweise auf der Straße stattfindet, ist hier nicht mehr möglich. Viele Geschäfte schließen, weil sie zum Beispiel kaum an Ware kommen oder das Schutzgeld hoch ist. Andere Läden öffnen aus Sicherheitsgründen nicht mehr regelmäßig. „Da ist ständig die Unsicherheit, dass sie wiederkommen und es erneut Schießereien gibt“, berichtet S., eine Umweltaktivistin aus der Region, die selbst in einem deutschen Medium nicht ihren Namen nennen möchte.

Indessen plant die Regierung eine weitere Militärbasis bei Comalapa. S. fragt sich, „wofür die ganzen Kasernen? Wir haben hier schon drei. Sicherheit haben sie bisher keine gebracht.“ Mit dem Militär kommt oft neue Gewalt in Form von Drogenkonsum und Zwangsprostitution in die Region. „Mein Sohn ist 18, ich habe große Angst, wenn er unterwegs ist. Da ist dieses Gerücht, dass die Kartelle junge Männer zwangsrekrutieren.“ Auch viele Frauen verschwinden. Einige kehren nach einer Entführung traumatisiert zurück, doch es ist ihnen unter Androhung ihres oder des Todes ihrer Familien untersagt zu erzählen, was ihnen angetan wurde. Man spricht von 3.000 geflüchteten Familien, genaue Zahlen gibt es nicht. Dora Roblero beschreibt, warum die Arbeit in diesen zonas de silencio, Regionen des Schweigens, eine ständige Gratwanderung ist: „Als Menschenrechtszentrum dokumentieren wir eigentlich vor Ort die Taten und deren physische und psychische Auswirkungen. Abgesehen davon, dass wir uns selbst in Gefahr bringen und nur unter erhöhtem Sicherheits- und damit Zeitaufwand in die Konfliktgebiete fahren können, gibt es quasi nichts zu dokumentieren. Denn wo die Angst regiert, erzählen die Menschen nicht. Wir oder auch Journalist*innen könnten diese Zeugenberichte auch nicht veröffentlichen, ohne die Menschen erneut in Gefahr zu bringen.“ Selbst juristisches Vorgehen ist problematisch, weil Namen und Adressen in die falschen Hände geraten können.

„Zivilgesellschaftliche Organisation oder Aktivismus sind in diesen Regionen nur noch schwer möglich“, berichtet S. Gemeinsam mit organisierten Gemeinden konnten sie nach vielen Jahren erkämpfen, dass die größte Mine der Region geschlossen wurde und sich der Landkreis Chicomuselo „frei von Minen“ erklärte. Doch solche Erfolge sind dem organisierten Verbrechen gleich. So wurde im Landkreis eine neue Mine zum Abbau von Baryt erschlossen, das unter anderem in der Automobilindustrie, Zementproduktion und für Farbstoffe benötigt wird. Der zuständige Bürgermeister wurde bestochen und die widerständige Dorfversammlung mit Waffen bedroht. Die Menschen riefen die staatliche Umweltschutzbehörde zur Hilfe, doch deren Beamt*innen wurden von bewaffneten Männern des organisierten Verbrechens unter Morddrohungen vertrieben. Während die Lokalpresse regelmäßig berichtet, dass Militär und Nationalgarde von den Kartellen vertrieben wurden, oder für eine der beiden Seiten arbeiteten, ist laut offizieller Erklärung alles unter Kontrolle.

Die Präsenz der großen Kartelle führt zu einer Verschärfung der Gewalt auf vielen Ebenen. Kleinere lokale Gruppen des organisierten Verbrechens, die seit jeher untereinander im Wettstreit um lokale Dominanz stehen, gehen Allianzen mit den großen Kartellen ein. So entwickeln sich lokale Konflikte, wie beispielsweise über die Kontrolle der städtischen Märkte in San Cristóbal de Las Casas. Hier entstehen Orte des Terrors, der die Stadt manchmal für Stunden den Atem anhalten lässt. Bilder wie der Einsatz von Maschinengewehren, Präsenz von sicarios, Auftragskillern in voller Montur an verschiedenen Punkten der Stadt, und Machtdemonstrationen mit Fahrzeugkonvois voller vermummter und bewaffneter junger Männer durch die Innenstadt, sind neu für Chiapas. Mexiko kennt sie jedoch bereits aus den Bundesstaaten des Nordens.

Diese für Chiapas neue violencia generalizada, verallgemeinerte Gewalt, beeinflusst den Alltag und das Sicherheitsempfinden der gesamten Bevölkerung und trifft in diesem Bundesstaat auf diverse historische Konfliktlinien. Allen voran der bis heute ungelöste interne Konflikt aus 1994 durch die vom Staat ins Leben gerufenen Aufstandsbekämpfungsstrategien gegen die zapatistische Bewegung und indigene Gemeinden insgesamt. In den 1990er Jahren kennzeichnete diese Strategie die Gründung von paramilitärischen Gruppen. Vom mexikanischen Militär ausgebildet, bewaffnet und unter dessen Kommando terrorisierten sie ganze Landstriche, ließen Menschen verschwinden. Beispielhaft steht dafür der aktuell vor dem Interamerikanischen Gerichtshof verhandelte Fall des indigenen Aktivisten und Zapatisten Antonio González Méndez, der 1999 gewaltsam verschwand, aber auch verübte Massaker. Bis heute herrscht Strafffreiheit in fast all diesen Fällen.

Auch bei den aktuellen Konflikten wie gegen die zapatistischen Unterstützungsbasen in den Gemeinden von Moisés y Gandhi ist immer wieder von Paramilitärs die Rede, deren Gewalt immer wieder neue Formen annimmt. Seit den 2000er Jahren setzten die Regierungen verstärkt darauf, die Menschen durch finanzielle oder materielle Unterstützungsprogramme an sich zu binden – und somit von den sozialen Bewegungen wie den Zapatistas oder anderen zu fern zu halten. Diese Praxis führte zu einer Spaltung und Zerrüttung sozialer Gefüge in vielen Gemeinden.

AMLOs neues Regierungsprogramm Sembrando Vida treibt diese Problematik auf einen neuen Höhepunkt. Die Zuschüsse bemessen sich an der Fläche von Ackerland, die eine Familie oder Organisation besitzen. Dafür zahlt die Regierung umgerechnet monatlich einen Betrag, der dem städtischen Mindestlohn entspricht. Auf dem Land ist das sehr viel Geld, mehr Land zu haben lohnt sich also. Konflikte um Land sind damit programmiert. Besonders in Chiapas, wo seit 1994 über 100.000 Hektar Land im Zuge des zapatistischen Aufstandes „rückerobert“ wurden. Obwohl diese Ländereien weitgehend staatlich anerkannt sind und die ehemaligen Großgrundbesitzer großzügig vom mexikanischen Staat entschädigt wurden, ist dieses Land dank Sembrando Vida erneut Anlass für Auseinandersetzungen. An zahlreichen Orten besetzen regierungsnahe Gruppen zapatistisches Land, zerstören die dortige Infrastruktur, brechen mit der ökologischen Nutzung, fällen Bäume und versuchen die Bewohner*innen mal mit purer Gewalt, mal durch langwieriges Zermürben, von ihrem Zuhause zu vertreiben. Leisten die Familien Widerstand, besteht die Gefahr, dass jene regierungsnahen Gruppen für Waffen oder Unterstützung Bündnisse mit dem organisierten Verbrechen eingehen. Das verschärft die Sicherheitslage extrem.

In Moisés y Gandhi erscheint der Konflikt um Land ähnlich. Hier hat die EZLN es mit einer Bäuer*innenorganisation, der ORCAO (Organización Regional de Cafeticultores de Ocosingo), zu tun, welche 1994 an deren Seite kämpfte. Durch Regierungsprogramme korrumpiert haben sie sich von der EZLN entfernt und sich zu einer Art paramilitärischen Gruppe entwickelt, die jedoch ohne Unterstützung des mexikanischen Militärs auskommt – und dennoch zum Vorteil der Regierung agiert. Nicht ohne Grund stellen sie den Vizepräsidenten des Landkreises und werden für ihre nachgewiesenen bewaffneten Attacken gegen Wohnhäuser der Zapatistas, Geiselnahme von Mitgliedern der autonomen zapatistischen Räte, Folter und Mordversuche nicht zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil: AMLO verschleiert die Angriffe als interne Konflikte der EZLN. Das ist brandgefährlich und kann als Freifahrtschein für die ORCAO gelesen werden.

Bei alledem darf man nicht vergessen, dass neben den schwer bewaffneten Akteuren wie dem mexikanischen Militär und dem organisierten Verbrechen auch die EZLN eine bewaffnete Organisation ist. Sollte diese sich nach 30 Jahren Waffenruhe dazu entscheiden, die Verteidigung ihrer Gemeinden wieder selbst in die Hand zu nehmen, ist eine Eskalation wahrscheinlich. So stehen alle Akteure auf verschiedene Weise mit dem Rücken zu Wand.

Dora Roblero wagt keine Vorhersage für die Zukunft: „Irgendetwas wird passieren. Was? Wir werden sehen. Währenddessen sind wir weiterhin präsent und machen unsere Arbeit. Was bleibt uns sonst?“

Wenn die Angst regieren will

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Zwei Personen aus Ecuador warten in Frankfurt auf einen Zug. Als Migrant*innen teilen sie ihre Geschichten miteinander und unterhalten sich über das, was sie an ihrem Heimatland vermissen: bestimme Gerichte, bestimmte Orte. Nach einer Weile wird die Ruhe des Gesprächs von ihren Sorgen gestört. Es scheint unvermeidbar, dass sie sich auch darüber unterhalten. Die Zärtlichkeit ihrer Erinnerungen verschwindet und wird von der Angst verdrängt, die aus dunklen Ecken kriecht. Eine Angst, die durch die Medien verbreitet wird, eine lähmende Angst in Anbetracht der Situation, die ihre Angehörigen in Ecuador aktuell durchleben.

Seit einigen Monaten gehört diese Angst zum täglichen Leben dazu: Der Staat ist abwesend, kriminelle Banden eignen sich gewaltsam Territorien an. Privatpersonen und kleinere Betriebe werden gegen Schutzgelder erpresst. All das soll vermitteln: „Für deine Sicherheit musst du bezahlen.“ Leichen werden an öffentlichen Orten präsentiert, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Auf offener Straße oder in Tankstellen gibt es Attentate, Menschen werden auf grausame Art und Weise ermordet. Die totale Entmenschlichung rückt Gewalt und Tod in den Vordergrund und versucht, sie zum Zentrum des nachbarschaftlichen Lebens zu machen.

In demagogischer Manier kündigte der konservative Präsident Guillermo Lasso vor einigen Wochen den Erlass eines Dekrets an, das es der Bevölkerung erleichtern soll, sich zu bewaffnen. Das Ganze passierte inmitten von Korruptionsvorwürfen gegen den Präsidenten, der durch das Dekret auch versucht, an Beliebtheit zu gewinnen. Diejenigen, die Schusswaffen fordern, handeln aus der Verzweiflung heraus, die sich in einer Gesellschaft ausbreitet, die von Unsicherheit und zunehmender Gewalt geprägt ist. Doch statt das Leben der Bürger*innen sicherer zu machen, werden Schusswaffen im Besitz der Zivilbevölkerung lediglich zu einer weiteren Ursache für die Zunahme der Gewalt.

Mehr Waffen werden das Gewaltproblem nicht lösen

Waffen sind ebensolche Heilmittel, die schlimmer sind als die Krankheit selbst. Als Migrant*innen sind wir überzeugt: Mehr Waffen werden das Problem der Gewalt nicht lösen.

Wir müssen über eine Politik der Entwaffnung sprechen und zwar nicht nur auf der normativen Ebene, sondern im Rahmen praktischer Ansätze und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft. Diese Politik muss eng mit dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und der Abschaffung von Strukturen sozialer Ungleichheit verbunden sein. Denn die kritische Situation, in der wir uns befinden, hat soziale und wirtschaftliche Wurzeln, die nicht mit Waffen zu lösen sind.

Ecuador galt im Vergleich zu seinen Nachbarländern lange als „Insel des Friedens“. Wie konnte es dazu kommen, dass die Gewalt im Land zu einer Art Währung geworden ist? Eine Gruppe ecuadorianischer Migrant*innen begibt sich auf die Suche nach Antworten. In Ecuador, so vermuten sie, regieren die Drogenhändler*innen. Sie sind es, die über Leben und Tod entscheiden. Sie entscheiden auch über die Sicherheit in den Städten und darüber, was in den Gefängnissen und Häfen geschieht.

Aber in Ecuador sind auch die Machthaber*innen in den Drogenhandel verwickelt. Ein Beispiel: Ruben Cherres, der mit der albanischen Mafia in Verbindung steht und in der Vergangenheit wegen Drogenhandels verurteilt wurde, hat direkten Einfluss auf die Ernennung von Staatsminister*innen. Und zwar auf genau diejenigen, die für die territoriale Kontrolle und die Sicherheit der Häfen des Landes zuständig sind. Über einen seiner Freunde, Danilo Carrera, Schwager von Guillermo Lasso, hatte Cherres eine direkte Verbindung zum Präsidenten. Auf mysteriöse Weise wurde Cherres, Zeuge und Schlüsselakteur zwischen der Mafia und der ecuadorianischen Regierung, Anfang April ermordet, kurz bevor Präsident Lasso in der Nationalversammlung wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt wurde. Natürlich gibt es zu viele von diesen „Zufällen”. Ist der Präsident nur ein weiterer Drogenhändler? Wer solche Gedanken abwegig findet, sollte sich folgende Fragen stellen: Wo wird das Narco-Geld gewaschen? Auf welchem Weg kehrt dieses blutbeschmierte Geld in die Wirtschaft zurück? Die Banken sind, so der berechtigte Verdacht, riesige Geldwäschemaschinen. Und noch etwas: Präsident Guillermo Lasso, ist – das sollte so oft wie nötig betont werden – selbst Banker. Seine Bank und die oligarchischen Banken des Landes haben während seiner Amtszeit exorbitante Gewinne gemacht.

In Ecuador will die Angst regieren: Entfesselte Gewalt bestimmt über unsere Körper, reguliert unsere Bewegungsfreiheit. Diese Angst kommt in Gestalt von Personen daher, die die Interessen der Reichsten vertreten. Sie sind es, die die wichtigsten Positionen in der Regierung besetzt halten. Doch die Menschen wehren sich dagegen, dass die Angst regiert. Der tägliche Widerstand findet zum Beispiel im Netzwerk von Nachbar*innen statt, die sich gegenseitig zuhören und aufeinander aufpassen. Außerdem leisten wir Widerstand, indem wir uns nicht von unserer Angst blenden lassen: Wir wissen, dass die Gewalt nicht einfach durch die Aufhebung eines Dekrets verschwinden wird und dass sie auch nach einem Regierungswechsel nicht sofort nachlässt.

Wir müssen Alternativen zum neoliberalen Imperium der Angst finden

Gewalt und Angst sind Teil der wirtschaftlichen Ungleichheit, die durch das kapitalistische System, das Patriarchat und strukturellen Rassismus, die Korruption der politischen Systeme und die vom internationalen Markt aufgezwungene Arbeitsteilung geprägt ist. Uns sowohl hier in der Fremde als auch in unserem Herkunftsland in sozialen Strukturen zu organisieren und unseren Gemeinschaftssinn zu stärken, wird uns dabei helfen, Alternativen zum neoliberalen Imperium der Angst zu finden. Um dies zu erreichen, müssen wir uns die Bedeutung der Politik zurückholen und sie vor den jetzigen politischen Vertreter*innen retten. Wir müssen darüber nachdenken, dass Politik wie eine Pflanze ist, die von unten nach oben wächst, die von den Wurzeln genährt wird und die gefüttert werden muss. Die politische Debatte kann eine großartige Nahrungsquelle sein.

Wir müssen eine nicht moralisierende Debatte darüber anstoßen, was wir unter Sicherheit, (Il)Legalität und sozialer Rehabilitation verstehen und uns dabei nicht nur auf Bestrafung beschränken. Wir müssen anfangen, über Tabuthemen wie Drogen, die damit verbundene Kriminalität und die Produktion im Globalen Süden, den Konsum im Globalen Norden und die außerordentlichen Profite, die diese Waren abwerfen, zu sprechen. Wir müssen unseren gesunden Menschenverstand einsetzen, im Alltäglichen, in Angesicht von Leben und Tod. Und wie könnten wir das besser tun, als uns zu organisieren, ebendort, wo wir wohnen?

ÜBERRASCHUNG IN ZEITEN DER MILITARISIERUNG

„Schwierige Zeiten“ seien es in Chiapas, hört man dort seit Amtsantritt des neuen Präsidenten allenthalben. Während Mitglieder seiner Partei MORENA im Zentrum des Landes hin und wieder Projekte realisieren, welche von der Bevölkerung nicht als ausschließlich negativ aufgefasst werden, sieht sich der Bundesstaat Chiapas noch immer mit dem seit Jahren vorherrschenden Mantra konfrontiert: „Entwicklung“ durch mehr Wirtschaft und Wirtschaft in Form des Dreiklangs Infrastrukturausbau, Extraktivismus und Tourismus. Sinnbildlich für diese Politik stehen nicht nur verstärkte Abholzung, Fracking und 99 Minenkonzessionen, sondern vor allem der Ausbau einer Schnellstraße von der archäologischen Fundstätte Palenque in die touristische Kolonialstadt San Cristóbal de las Casas sowie der umstrittene Bau einer Zuglinie mit dem Namen Tren Maya (Maya-Zug). Diese soll die Halbinsel Yucatán mit der Pyramidenstadt Palenque verbinden. Drei Millionen Tourist*innen sollen dadurch ab 2023 jährlich in den Bundesstaat gelockt werden. Doch Straßen und Schienen eignen sich natürlich auch für den Warentransport. Beides bereitet der lokalen Bevölkerung Sorgen, welche die Probleme des Bundesstaates nicht in einem Mangel an Tourismus und Wirtschaft sieht. Umweltzerstörung und Landraub sind eine Folge dieser auf wirtschaftliches Wachstum ausgelegten Politik, das vermehrte Auftreten der organisierten Kriminalität eine andere. Wo das Interesse an Land und Ressourcen wächst, verbindet sich beides in einer explosiven Mischung. Seit drei Jahren gibt es im Hochland von Chiapas wieder massive und extrem gewaltvolle Vertreibungen der indigenen Bevölkerung (siehe LN 524). Die Konflikte wurzeln im Allgemeinen entweder in Korruption bei der Vergabe von Regierungsgeldern oder in ungeklärten Besitzverhältnissen von Land, ausgelöst durch bundesstaatliche Grenzverschiebungen der Landkreise. Auffallend ist, dass hochbewaffnete Akteur*innen mit Verbindungen zu den lokalen Kartellen dabei häufig mit lokalen Autoritäten kollaborieren.

Präsident Obrador steht den Zapatistas zweispältig gegenüber


Beim Amtsantritt des neuen Präsidenten und des neuen Gouverneurs der regierenden Partei MORENA in Chiapas, Rutilio Escandón Cadenas, waren alle gespannt, wie diese mit den gravierenden Menschenrechtsverletzungen und der Straflosigkeit umgehen würden. Schnell zeigte sich, dass sie eine ähnliche Politik wie ihre Vorgänger verfolgen. Medienwirksam inszenierte Friedensverträge zwischen Lokalpolitiker*innen ohne realen Einfluss bei ausbleibender Strafverfolgung sowie Entwaffnung, wie vom lokalen Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas (Frayba), gefordert, führten bisher nicht zur Lösung der Konflikte. Stattdessen wurde eine Militarisierung durch die neu geschaffene Nationalgarde im Bundesstaat vorangetrieben. Ursprünglich zur Bekämpfung der Kartelle geschaffen, wird sie in Chiapas vorwiegend zur Migrationsabwehr eingesetzt. Einige ihrer Basen sind auffallend nah an den zapatistischen Territorien, was Erinnerungen an die Aufstandsbekämpfungsstrategien der 1990er Jahre aufkommen lässt. Auch die militärischen Straßensperren und -kontrollen jener Zeit sind zurückgekehrt.
Neu ist die Rhetorik. Während Ex-Präsident Enrique Peña Nieto die Existenz der Zapatistas weitgehend ignorierte, schenkt AMLO ihnen zwiespältige Aufmerksamkeit. Hin und wieder twittert er ein Foto auf dem er unter anderem mit dem Subcomandante Galeano zu sehen ist und bekundet Verständnis für Anliegen und Autonomie der Zapatistas. Gleichzeitig verleumdet er sie sowie den Nationalen Indigenen Kongress (CNI) und andere lokale indigene und ländliche Organisationen als „zurückgeblieben“, wenn diese sich gegen gigantische Projekte wie den „tren maya“ oder spezifische Regierungsprogramme wenden. Sie würden nicht anerkennen, dass es sich nun um eine ganz andere Politik handele und wären in alten anti-neoliberalen Argumentationsmustern verfangen. Ähnliches erwiderte er, als die Zapatistas öffentlich die Militarisierung im Bundesstaat kritisierten, welche auch von Frayba dokumentiert wurde, und bezichtigte beide Akteur*innen der Lüge.
Die ersten Monate der MORENA-Regierung beförderten in weiten Teilen von Chiapas somit nicht gerade optimistische Erwartungen für die Zukunft. Die Zapatistas schienen diesen Tenor zu bekräftigen. Zum Jahreswechsel betitelten sie ihr Kommuniqué mit „Wir sind alleine“.
Um so überraschender traf am 17. August die letzte Erklärung einer Serie von Kommuniqués ein. Der Titel ist vielversprechend: „Wir haben die Belagerung durchbrochen“. Zuvor waren auf gewohnt amüsante, gleichzeitig analytische Art die aktuelle Situation, Kritik an der Regierung und deren Projekten sowie mögliche dystopische Szenarien beschrieben worden. Subcomandante Insurgente Moisés, Sprecher der Kommandantur der EZLN, gab schließlich bekannt, dass die Zapatistas trotz allem ihr Territorium massiv ausweiten konnten. Sie erfüllen damit die Grundsatzentscheidung des Nationalen Indigenen Kongress von 2016, in die Offensive zu gehen. Die bisherigen fünf caracoles, zapatistische lokale Verwaltungszentren und Sitz der rotierenden Autoritäten (Räte der Guten Regierung), werden auf insgesamt 12 Lokalregierungen erweitert. Zudem wurden vier neue autonome zapatistische Landkreise zu den bestehenden 27 ausgerufen.
Die Zapatistas haben es damit geschafft ihren Aktionsradius zu erweitern, während viele soziale Organisationen und widerständige Gruppen momentan damit beschäftigt sind, wenigstens bestehende Handlungsspielräume zu erhalten. Besonders wird in der Erklärung die wichtige Rolle der Frauen und jugendlichen Zapatistas hervorgehoben, die den Prozess entscheidend vorangetrieben haben, und all das ganz ohne den Einsatz von Waffen und Gewalt. Angesichts der steigenden Präsenz des Militärs und organisierter Kriminalität in Chiapas wäre alles andere auch ein Himmelfahrtskommando gewesen. Dennoch ist das im Kommuniqué beschriebene kleinteilige Vorgehen mit „tausend Gemeindeversammlungen“ und dem tausendmaligen unbemerkten Passieren der Militärposten auch als Schlappe der staatlichen Strategie zu werten. „Wie ein schmutziger Fleck blieben die Belagerer zurück, eingeschlossen in einem jetzt ausgedehnteren Gebiet, einem Gebiet, das mit Rebellion ansteckt.“ Das ist das Ziel: Den Zugang zu einer „anderen“ Regierung ermöglichen. Schon lange profitieren viele Regionen vom zapatistischen Gesundheits- und Justizsystem. Auch viele Parteianhänger*innen suchen statt staatlicher Einrichtungen wegen ihrer Unbestechlichkeit und Kenntnis der indigenen Sprache und Kultur bei Problemen die zapatistischen Räte auf. Es ist bekannt, dass es in den Gebieten der Zapatistas kaum Frauenmorde, weniger Gewaltverbrechen und weniger Präsenz der organisierten Kriminalität gibt. Ein Erfolg, den das Militär nicht verbuchen kann, ganz im Gegenteil. Somit ist es eine gute Nachricht, dass einige der neuen Zentren in Landkreisen wie Chicomuselo, Tila oder Motocintla sind. Gebiete, in denen sich die Situation aufgrund von bevorstehenden Extraktivismusprojekten und militärischer Migrationsabwehr monatlich zuspitzt.
Dass AMLO, nachdem er die Zapatistas zuletzt als rückständig beschrieben hat, die neuesten Entwicklungen begrüßt, klingt wie ein Eingeständnis, dass die autonome Praxis der Zapatistas mehr zur Sicherheit beträgt, als seine von Militarisierung begleitete Rhetorik um Transformation. Dies ist aber eher im Rahmen der gewohnten Doppelzüngigkeit zu verstehen, die er gegenüber seinen Kritiker*innen an den Tag legt.
Interessanter ist, wie es nun weitergeht: Die Zapatistas laden zu zahlreichen internationalen thematischen Treffen und zur Unterstützung beim Aufbau der neuen Strukturen ein. Die internationale Solidarität ist also in Chiapas, wie immer, herzlich willkommen.

 

WARUM LEBEN WIR IM PARADIES?

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Memo war kurz nach deren Gründung im Juni 2009 Kommandant der Guardia Comunal von Ostula. Seitdem ist ihm bewusst geworden, wie wichtig das Land für die Gemeinde ist. Er hat miterlebt, wie mehrere seiner compañeros von der kriminellen Vereinigung Caballeros Templarios gewaltsam verschwunden gelassen wurden.

Die 1531 gegründete Nahua-Gemeinde von Santa María Ostula an der Pazifikküste von Mexiko ist eigentlich eine paradiesische Gegend. Sie liegt in Aquila, einem der größten Kommunalverbände des Bundesstaates Michoacán und wahrscheinlich einem der rohstoffreichsten. Doch genau dies wird ihren Bewohner*innen zum Verhängnis. Seit 1964 kämpft die Gemeinde um die Wiederaneignung von 1.200 Hektar fruchtbarer Ländereien. Landraub, organisierte Kriminalität und politische Parteien verhindern seit Anfang des 20. Jahrhunderts aber immer wieder, dass die Nahua ihr Land nutzen können.

Pedro lebt in Xayacalan. Das gemeinsame Haus hat er zusammen mit seiner Frau Baudelia gebaut. Beide waren eng mit Don Trino befreundet, einem der beharrlichsten Kämpfer gegen die doppelte Macht aus Politik und organisiertem Verbrechen, der 2011 von den Caballeros Templarios ermordet wurde.

Ein Erlass des Präsidenten im Jahr 1964 ermöglichte zwar der Gemeinde, das Land legal zu nutzen. Doch weder die landwirtschaftlichen Gerichte noch irgendeine andere Behörde erkannten dieses Recht an. Stattdessen ließen sie weiteren Landraub zu, entweder durch die Lokalpolitik in Form von Vertreter*innen der langjährigen Regierungspartei PRI oder, wie in jüngster Vergangenheit, durch das organisierte Verbrechen, insbesondere durch die bekannte kriminelle Gruppe Caballeros Templarios (Tempelritter).

Doña Juana schaut skeptisch nach dem Fotografen. Die mexikanische Essayistin Marina Azahua nannte diese Reaktion ein „unfreiwilliges Porträt“. Aber in Doña Juanas Blick ist auch Neugier. Sie hat seit vielen Jahren Widerstand geleistet und um ihr Land gekämpft. In ihrem hohen Alter hat sie von der Geschichte der Gemeinde Ostula viel mitbekommen: Eine Geschichte von Stärke trotz des großen Leids, trotz Angst und Tod.

Bis 2009 hatte die Gemeinde von Ostula für politische Rahmenbedingungen gekämpft, die eine Legalisierung der wiederangeeigneten Landflächen ermöglichen sollten. Seitdem gehen das organisierte Verbrechen und die Politik gewalttätig gegen die Gemeinde vor. Die Bilanz: 34 Ermordete und sechs Verschwundene. Der eiserne Widerstand und die gesammelte Erfahrung im Kampf gegen solche Repressionen bilden heute die grundlegende Basis für den Zusammenhalt der Gemeinde.

Felipa und Rosendo lächeln in die Kamera, die etwas von der Friedlichkeit einzufangen versucht, in der sie leben. Sie bearbeiten Holz und Palmenblätter und bewahren damit eine Tradition: Sie weben equipales, eine Art kleine Korbstuhlbank die zum traditionellen Mobiliar der Gemeinde gehört. Während der Jahre der Gewalt konnten sie diese Arbeit lange nicht ausüben, weil kriminelle Gruppen das verboten.

Nach einer Offensive gegen die organisierte Kriminalität und institutionelle Korruption gelang es Santa María Ostula im Jahr 2014, mit ihrer selbst gegründeten Kommunalwache Guardia Comunal, die Bewohner*innen zu schützen. Sie beruft sich in ihrem autonomen Handeln auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das in Mexiko Anfang der Neunziger ratifiziert und 2011 in die Verfassung aufgenommen wurde. Das Abkommen gesteht indigenen Gemeinden unter anderem das Recht auf Land und eigene Kultur zu.
Bergbau, Straßenbauprojekte und Tourismus sind eine zusätzliche Bedrohung für Ostula, nicht nur durch die drohende Umweltzerstörung. Die naheliegende Mine Las Encinas des italienisch-argentinischen Unternehmens Ternium übt permanent Druck auf die Nahua-Gemeinde aus: Das Unternehmen will den Bergbau ausweiten und um jeden Preis auch die Grundstücke der Nahua-Gemeinde an sich reißen.

Trueno hat viel dafür gekämpft, dass seine Gemeinde die Landflächen behalten kann, ohne sich unter die Kontrolle des organisierten Verbrechens zu stellen. Seit 2009 – dem Jahr, in dem sich die Gemeinde 1.250 Hektar wiederaneignetete – hat Trueno an allen Initiativen von Ostula teilgenommen. Heute wird diese wiederangeeignete Fläche zum Wohnen und für Landwirtschaft genutzt. Auch Trueno hat hier seinen Wohnsitz.

Ein Abkommen zwischen der bundesstaatlichen Regierung von Silvano Aureoles und dem indischen Unternehmer Lakshmi N. Mittal (ArcelorMittal ist der weltgrößte Stahlproduzent, Anmerkung der Redaktion) bildet eine zusätzliche Gefahr für die Biodiversität der gesamten Küsten- und Gebirgsregion von Michoacán. Der Vertrag besiegelt den Ausbau des Hafens Lázaro Cárdenas sowie die Weiterentwicklung von Bergbauaktivitäten an der fast 300 Kilometer langen Küste – eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität aller dort angesiedelten Gemeinden.

Ariana hält in der Küche ihre kleine Tochter im Arm, während der Morgen sich langsam über der Hitze des Herdes ausbreitet. Zehn Jahre nach der Wiederaneignung des Landes, auf die damals eine Offensive krimineller Banden und der Politik mit 34 Ermordeten und sechs Verschwundenen folgte, hält sich die Gemeinde heute stabil, vereint und stark. Sie erbaut sich wieder einen Alltag.

Lakshmi N. Mittal, einer der hundert reichsten Menschen der Welt, konnte bei dem Abkommen mit der Regierung drei Forderungen durchsetzen: erstens, dass das organisierte Verbrechen verschwindet, zweitens: die juristische Zusicherung, die Landflächen nutzen zu können. Und drittens: die Abwesenheit von jeglicher Opposition, seien es Umweltschützer*innen oder indigene Gemeinden. Allein letzteres bedeutet ein ökologisches, soziales und kulturelles Desaster.

Alle machen mit Mehr und mehr nehmen junge Frauen eine entscheidende politische Rolle innerhalb der Gemeinde ein. Ihre Unterstützung der Familien, die für das Land kämpfen, macht sie zu gesellschaftlich handelnden Subjekten. Das geben sie auch an die nachfolgenden Generationen weiter.

Trotz der komplexen Situation ist die Nahua-Gemeinde von Ostula für viele ein Vorbild im Widerstand gegen das organisierte Verbrechen und Megaprojekte. Sie steht für ein Streben nach einem friedlichen Leben, im völligen Einklang mit der Umwelt.
Aktuell konnte Santa María Ostula die Sicherheit ihrer Grundstücke verbessern und andere benachbarte Gemeinden stärken, sodass die Region ein wenig friedlicher (und produktiver) ist.
Auf den wiederangeeigneten Landstücken hat die Gemeinde von Ostula eine Ortschaft gegründet: Xayacalan. Hier werden Papaya, Hibiskus, Melonen, Tamarindenfrucht und Mais gesät – statt Marihuana und Mohn. Statt der heimlichen Massengräber, wie sie von der organisierten Kriminalität geschaffen werden, entsteht etwas Neues.

 

„FÜR EINEN INDIGENEN DAS SCHLIMMSTE, WAS PASSIEREN KANN“

Illustration: Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

…ich komme aus Miraflores und wuchs dort im indigenen Reservat El Gran Cumbal, in der Nähe von Pasto an der Grenze zu Ecuador auf. Unsere Nachbarn sind die Awá, die dort auch in Reservaten leben. Wir alle leiden unter einem brutalen Konflikt. Unsere Region war lange Zeit unter der Kontrolle der FARC (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens, Anm. d. Red.). Zum Friedensprozess haben einige ihre Waffen abgegeben und andere gründeten Dissidentengruppen wie die Frente Oliver Sinisterra in unserer Region. Diese kämpfte gegen die ELN (Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) um die Vorherrschaft in unserer Region. Auch die Präsenz von Paramilitärs nahm zu. Vor allem die Awá leiden unter ihnen, viele wurden von Paramilitärs ermordet.

Worum geht es bei diesen Kämpfen?
Dabei geht es um Kokain und Gold, vor allem der illegale Bergbau ist ein Problem. Außerdem wird über die Grenze viel geschmuggelt, zum Beispiel Waffen. Es ist bei uns für einen Bauern viel rentabler, Kokain oder Mohn zu kultivieren als Kartoffeln. Doch mit dem Drogenanbau ändert sich auch das Zusammenleben. Deswegen haben wir vom Indigenen Rat immer versucht, die Leute davon abzubringen, Kokain anzubauen. Wir Indigenen wollen keinen dieser bewaffneten Akteure in unserer Region haben. Keine Paramilitärs, keine Guerilla. Die benutzen die Angst, um die Dörfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie töten einen oder zwei Anführer aus dem Dorf und alle folgen ihrer Herrschaft. Darum haben sie auch meine Familienmitglieder umgebracht, zwei Onkel und eine Tante.

Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen.

Waren die auch Oberhäupter der Gemeinde?
Ja. Mein Onkel brachte jeden Tag die Milch vom Land ins Dorf, um sie dort zu verkaufen. Er war wichtig für die Wirtschaft unseres Reservats. Mein Vater war zuständig für die Bildung, er war Lehrer. Mein anderer Onkel wiederum war einer der wichtigsten Bauern und mein Großvater war der politische Anführer. Wie also bringst du ein Dorf unter Kontrolle? Indem du die zentralen Personen umbringst und so Angst säst.

Sie haben von den Anstrengungen der Gemeinde erzählt, die Jugendlichen davon abzubringen, in den Kokainhandel einzusteigen oder sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen. Wie kann das gelingen?
Nach den Morden an meiner Familie 2003 floh ich zunächst nach Cali. Ich sollte aber weiter für den Indigenen Rat mit Jugendlichen arbeiten. Ich versuchte, die Jugendlichen zu motivieren, an die Universität zu gehen. Dann half ich ihnen auch mit den Dokumenten, der Bewerbung. In Cali gründeten wir ein Studentenwohnheim für indigene Studierende und einen Indigenen Rat in der Universität, damit die Jugendlichen, die aus den Dörfern in die Stadt kamen, nicht ihre Traditionen und ihre Wurzeln verlieren. Das war interessant, weil wir Indigene aus verschiedensten Regionen Kolumbiens waren. Wir luden indigene Anführer nach Cali ein, um uns weiterzubilden.

Was haben Sie eigentlich studiert?
Agrarwissenschaften und später dann in Neiva Erdölingenieurswissenschaften. Ich wollte wissen, wie die Erdölgewinnung funktioniert, damit wir uns dann besser gegen die Ölkonzerne verteidigen und ihre Informationen überprüfen können. Ich konnte mein Studium aber nicht beenden, da ich wieder mit dem Tode bedroht wurde.

Wie kam es zu diesen Bedrohungen?
Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen. Nun gibt es in Kolumbien aber ein Gesetz, wonach derjenige, der ein Land zehn Jahre bearbeitet, automatisch zum Landbesitzer wird. Also bemühten wir uns 2013 um die Rückgewinnung unseres verlorenen Landes und ich stellte den Antrag dazu. Die dafür zuständige Person in Nariño war eine Bekannte von mir. Ich dachte also, dass die Chancen gut stünden, unser Land zurückzuerhalten. Weißt du, was sie mir sagte? Dass wir in meiner Region die einzigen Antragsteller gewesen wären und deswegen zunächst alle anderen Regionen bearbeitet würden. Und das kann Jahrzehnte dauern.

Was passiert zur Zeit mit dem Land, das Ihnen gehört hat?
Dort wird Kokain angebaut. Ich habe mehrere Versuche gestartet, das Land mit der Guardia Indigena zurückzuholen. Doch so konnten wir die Leute nicht vertreiben.
Stattdessen erhielt ich Bedrohungen und musste erneut nach Cali fliehen. Als die Bedrohungen nicht aufhörten, ging ich nach Palmira und schließlich nach Neiva. Schließlich wurde mir gesagt, dass ich Kolumbien verlassen müsste. Die ELN hatte einen meiner Schulfreunde umgebracht. Sie zogen ihn um 5 Uhr morgens aus seinem Haus und schossen 16 Mal auf ihn. Am nächsten Tag riefen sie das Dorf zusammen und sagten, dass sie ihn ermordet hätten, weil er ein Informant der Paramilitärs gewesen sei, und dass sie zwei weitere Menschen umbringen würden, von denen einer ich war. Dann erhielt ich eine SMS, in der stand, ich hätte sieben Tage, um zu verschwinden. Ich wandte mich an die Opferschutzbehörde des Staates, doch die sagten, sie bräuchten zwei Wochen, um die Ermittlungen aufzunehmen und über Schutzmaßnahmen für mich zu entscheiden. Später erzählte mir ein Bekannter, der für dieselbe Behörde arbeitet, dass sie kaum Gelder zur Verfügung hätten und sogar die schusssicheren Westen ausgegangen seien.

Die Bedrohungen haben Sie bis in verschiedene Städte weiterverfolgt?
Ja, das funktioniert systematisch. Der Landbesitzer, der mich umbringen lassen möchte, kann verschiedenste Gruppen an unterschiedlichen Orten damit beauftragen. Und diese Bedrohungen werden in vielen Fällen auch wahr gemacht.

Trotz dieser schwierigen Situation gibt es eine starke indigene Bewegung im Südwesten Kolumbiens. Wie erklärt sich diese?
Dafür ist es wichtig, die indigene Gemeinschaft zu verstehen. Unsere Einheit war immer unsere Stärke. Bei uns hat sich die Individualisierung nie so durchgesetzt wie im Rest Kolumbiens. Dazu gehört auch, dass alle unsere Entscheidungen in Versammlungen getroffen werden. Wenn jemand einen Fehler begeht, entscheidet die Gemeinschaft, welche Form der Bestrafung er erhält. Das stärkt die Gemeinschaft. Uns wurde immer beigebracht, dass wir verschwinden, wenn wir nicht stark genug sind. Wenn wir nicht zusammenhalten, verschwinden wir. Es ist also auch ein Schutzmechanismus. Es sind Kämpfe, die notwendig sind, aber auf die wir eigentlich keine Lust haben. Wer will protestieren gehen, Straßen blockieren und sich einer bewaffneten Gruppe entgegenstellen? Aber wir sind dazu gezwungen, weil die Regierung nie die Versprechen uns gegenüber eingehalten hat. Die Minga, unser Protest, hat dieses Jahr viel Aufmerksamkeit erhalten, das ist gut. Aber eigentlich machen wir das jedes Jahr.

Wird auch Ihre Arbeit mit den Jugendlichen vor Ort weitergeführt?
Nein, gerade nicht. Mein Freund Miguel Ángel hatte die Aufgabe übernommen und kümmerte sich um die Jugendlichen des Reservats. Er wurde dieses Jahr am 1. Mai umgebracht. Ich habe nun den Kontakt zum Reservat etwas abgebrochen, seit ich in Deutschland bin. Aus Sicherheitsgründen, meine Familie ist ja noch dort und auch in Gefahr. Dazu kommt, dass für einen Indigenen das Verlassen des Landes das Schlimmste ist, was ihm passieren kann. Das ist, wie wenn dir jemand das Herz bricht. Innerhalb unserer Gemeinschaft bestrafen wir Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben damit, dass sie ihre Dörfer verlassen müssen. Deswegen wollte ich nie das Land verlassen, ich versteckte mich lieber, lebte fern von meiner Familie, wechselte meine Wohnorte. Aber dann gab es keine Alternative mehr. Eines Tages sagte mir die staatliche Menschenrechtsverteidigerin: „Christian, du musst Kolumbien verlassen, es gibt keine andere Möglichkeit.“

Welche Erfahrungen haben Sie bei Ihrem Asylantrag in Deutschland bisher gemacht?
Für mich kam das alles sehr schnell. Die Menschenrechtsverteidigerin sagte, Deutschland sei ein gutes Ziel. Sofort kaufte ich das Ticket und einen Ratgeber „Wie ich mich in Deutschland verhalte“ (lacht). Am Flughafen in Deutschland wurde ich mehrere Stunden festgehalten, bis sie mich schließlich zur Erstaufnahmestelle schickten. Es war 11 Uhr nachts und ich hatte Angst, da man in Kolumbien nachts nicht einfach so rumlaufen kann. Jetzt weiß ich, dass das hier kein Problem ist. Ich habe meinen Antrag gestellt, aber ich habe kaum Informationen darüber, wie genau der Prozess weitergeht. Für mich ist das neu und alles sehr fremd, wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wohne derzeit in einer Geflüchtetenunterkunft und es gibt einfach nichts zu tun. Alles ist verboten für mich – dabei bin ich ein Mensch, der gerne unterwegs ist, arbeitet und Pläne schmiedet. Dafür kann ich ohne Angst leben. Manchmal wache ich nachts auf und denke, dass ich immer noch in Kolumbien bin. Und dann erinnere ich mich wieder daran, dass es hier sehr ruhig und sicher für mich ist.

“DIE MILIZ IST KEINE PARALLELSTRUKTUR – SIE IST DER STAAT!”

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(Foto: Privat)

JOSÉ CLÁUDIO SOUZA ALVES

Soziologe und früherer Konrektor der Staatlichen Ländlichen Universität von Rio de Janeiro (UFRRJ), forscht seit 26 Jahren zu den Milizen. Er ist Autor des Buches „Von den Drogenbaronen zu den Todesschwadronen: Die Geschichte der Gewalt in der Baixada Fluminese“. Im Interview mit dem brasilianischen Online-Medium Agência Pública erklärt er den Ursprung der Milizen und ihre Verflechtungen mit der Politik.


 

Wie entstanden die Milizen in Rio de Janeiro?
Sie haben ihren Ursprung in der brasilianischen Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985. 1967 entstand die Militärpolizei, eine sehr offensive Truppe, die die Militärs unterstützte. Kurz darauf erschienen die Todesschwadronen: Gruppen aus Militärpolizisten und anderen Mitarbeitern von Sicherheitsbehörden, die als Auftragsmörder operierten. Diese Todesschwadronen arbeiteten in den 1970er Jahren mit Hochdruck. Während der achtziger Jahre erhielten die Mordkommandos zivile Leitungen, die gute Verbindungen zu den Vertreter*innen des Staates besaßen. Mit der Wiederherstellung der Demokratie in den 1990er Jahren begannen genau diese Killer, sich in politische Ämter wählen zu lassen.
In den umliegenden Städten von Rio gab es von 1995 bis 2000 einen Prototyp der heutigen Milizen von Rio de Janeiro, deren Anführer*innen aus städtischen Landbesetzungen kamen. Seit den 2000er Jahre sind die Milizionäre so aufgestellt wie heute: Militärpolizisten, Zivilpolizisten, Feuerwehrleute, und Sicherheitsleute, die dort agieren, wo es früher Drogenhandel gab; gleichzeitig schaffen sie sich eine Machtstruktur über die Eintreibung von Gebühren, den Verkauf von öffentlichen Dienstleistungen oder Gütern, wie Trinkwasser, Müllentsorgung oder Grundstücken.

Haben die Milizen Rückhalt in der Bevölkerung?
Die Miliz tritt mit der Begründung auf, dass sie in die Gemeinden komme, um sich dem Drogenhandel entgegenzustellen. Aber mit der Zeit wird der Bevölkerung klar, dass die Miliz sich gegen sie richtet – sie tötet. Außerdem kontrolliert sie nach und nach den lokalen Handel. Das macht der Bevölkerung Angst und sie unterstützt die Miliz weniger.

Was ist die Geschichte von Rio das Pedras, wo das „Verbrechensbüro” aktiv war?
Rio das Pedras ist eine expandierende Gemeinde, wo sehr arme Menschen leben, die aus dem Nordosten des Landes stammen. Es gibt dort nur wenig Grundstücke, die man bebauen kann, viele davon mit ungeregeltem Landbesitz. Die Milizen besetzen und legalisieren sie – manchmal sogar über die Stadtverwaltung, indem sie Steuern für diese Immobilien bezahlen – und verkaufen sie dann.

Gab es in Rio das Pedras die erste Miliz von Rio?
Nein, das kann man so nicht sagen. Meiner Einschätzung nach sind die Milizen an verschiedenen Orten in der Region gleichzeitig entstanden. Noch nicht als Prototyp, sondern mit lokalen Führungsfiguren, die über Gewalt eine autoritäre Form politischer Kontrolle ausübten. In Rio das Pedras passierte aber alles schneller, dort begann die Forderung von Schutzgeldern. Die Gemeinde sah sich einer Gruppe Milizionäre gegenüber, die sie schützen und verhindern sollte, dass der Drogenhandel eindringt. Aber in Wirklichkeit sollten sie die kommerziellen Interessen der Geschäftsinhaber, die sich in Rio das Pedras niederließen und diese Gruppe finanzierten, schützen.

Wie viele Milizen gibt es heute in Rio de Janeiro?
Ich weiß, dass es viele sind. In praktisch jedem Gemeindebezirk in der Region um Rio de Janeiro sind Milizen präsent.

Wie häufig sind Todesschwadrone wie das „Verbrechensbüro”?
Ich habe noch nie von einer Miliz gehört, die keine Hinrichtungen durchführt. Normalerweise hat eine Miliz ein Team für Exekutionen. Wenn etwas nicht mit den Interessen der Miliz übereinstimmt, wird dieser bewaffnete Flügel aktiviert, um zu töten. Was neu bei den Milizen ist, ist die Palette der Dienstleistungen, die sie neben den Hinrichtungen und dem Sicherheitsdienst anbieten. Die Milizen fixieren sich nicht mehr nur auf große Händler oder großen Unternehmen.

In welchen anderen illegalen Geschäftszweigen operieren die Milizen?
Sie erheben Schutzzölle beim Handel. Sie sagen, dass sie für Sicherheit sorgen, aber später kontrollieren sie die Versorgung mit Wasser und Gas, Zigaretten und Getränken in den Gemeinden. Und es gibt Berichte, dass Leute ermordet wurden, die das nicht akzeptiert haben. Motorrad-Taxis zahlen beispielsweise 80 Reais (ca. 20 Euro, Anm. d. Red.) pro Woche, um operieren zu dürfen. Ein Popcornverkäufer zahlt 50 Reais pro Woche. Das ist Wahnsinn!
Sie errichten illegale Müllkippen in der Region und vergraben dort den Müll von jedem, der dafür zahlt. Tausend Reais pro Lastwagen. Wo es herkommt, ist ihnen egal. Das kann Giftmüll, Industriemüll oder Krankenhausabfall sein. Daneben werden auf dem Markt für Exekutionen seit geraumer Zeit Millionen bewegt. Und sie sind auch im Drogenhandel aktiv, arbeiten mit bestimmten Drogenkartellen zusammen. Sie haben die gleiche Beziehung wie die Polizei zum Drogenhandel: Der funktioniert nur dort, wo Bestechungsgelder gezahlt werden.

Die Milizen kontrollieren also auch öffentliche Dienstleistungen wie Müllentsorgung und bemächtigen sich kommunaler Räume, um illegalen Aktivitäten nachzugehen?
Die finanzielle Basis einer Miliz ist die militarisierte Kontrolle geografischer Gebiete. Das ermöglicht es ihr, den städtischen Raum an sich in eine Einkommensquelle zu verwandeln, zum Beispiel durch Immobilienverkauf. Es gibt ein staatliches Programm Minha Casa Minha Vida (Mein Haus Mein Leben), mit dem Sozialwohnungen gebaut werden. Die Miliz übernimmt die militärische Kontrolle des Baugebiets, bestimmt, wer die Wohnungen bekommt, und verlangt Gebühren von den Bewohnern.
Die Region der Baixada und die Stadt Rio de Janeiro sind große Laboratorien der Ungesetzlichen und Illegalen, die sich zusammenschließen, um eine Struktur der politischen, ökonomischen und kulturellen Macht zu stärken, die geografisch verankert ist und auf Gewalt und bewaffneter Kontrolle beruht.

Sind die Milizen in Rio de Janeiro wegen der Abwesenheit des Staates entstanden?
Der Staat war immer da. Die Auftragsmörder und Milizionäre werden ja gewählt. Es ist der Staat, der festlegt, wer die militärische Kontrolle über diese Region ausübt, weil diese ja staatliche Vertreter sind. Es gibt keine Abwesenheit des Staates, das ist die Machtausübung genau dieses Staates. Eines Staates, der illegale Operationen fortsetzt und dadurch mächtiger wird, als er das im legalen Einflussbereich ist. Weil er auf totalitäre Weise über das Leben bestimmt und man sich ihm nicht entgegenstellen kann.


Wer hat den Nachbarn des Präsidenten beauftragt Marielle zu töten? Milizen sind die Hauptverdächtigen (Foto: Mídia Ninja)

Aber auf der anderen Seite ist es doch die Bevölkerung, welche die Politiker aus den Milizen wählt?
Sie meinen doch nicht etwa, die Bürger seien Mitschuldige oder Komplizen des Verbrechens? Ja, diese Menschen haben Flávio Bolsonaro gewählt, der, wie sich jetzt herausstellte, möglicherweise Verbindungen zu diesen Gruppen haben soll. Aber unter welchen Lebensbedingungen haben sie das getan? Es sind Bedingungen des Elends, der Armut und der Gewalt, denen sie sich ausgesetzt sehen. Fünf Jahrzehnte der Todesschwadrone führten zu 70 % Zustimmung für Bolsonaro in den Vorstädten Rios. Drei Amtszeiten der Arbeiterpartei, also 14 Jahre präsidialer Macht, haben nichts an diesen Strukturen verändert. Die PT ging ein Wahlbündnis ein, sie suchte die Unterstützung dieser Gruppen.

Was verbindet den Stab eines Politikers und einen Milizionär, wie dies bei Flavio Bolsonaro und der Mutter und Ehefrau von Adriano Magalhães da Nóbrega der Fall war?
Die Ansichten der Familie Bolsonaro. Sie sind die Erben der Diskurse von Politikern wie dem Abgeordneten Sivuca (José Guilherme Godinho Sivuca Ferreira, 1990 Abgeordneter für die Partei PFL, Anm. d. Red.), der den Slogan „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit!” prägte. Er war einer von der alten Truppe, dem politischen Arm der Todesschwadronen. Dieser Diskurs hat sich fortgesetzt und verfestigt. Es ist logisch, dass die Milizionäre diese Ansichten unterstützen und dadurch stärker werden. Das ist der Plan für öffentliche Sicherheit, den Bolsonaro in seiner Wahlkampagne verteidigt hat. Er sagt, dass die Militärpolizisten die Helden der Nation sind, dass die Militärpolizisten unterstützt werden müssen, dass sie Auszeichnungen bekommen sollten. Ein mögliches unrechtmäßiges Handeln eines Polizisten im Dienst wird von Bolsonaro völlig ausgeblendet. Es gibt Bereiche, die seit der Militärdiktatur immer illegal operiert haben, als Exekutionskommandos. Und jetzt hören sie diesen Diskurs, der ist natürlich Musik in ihren Ohren.

Sehen Sie auch eine finanzielle Verbindung von Milizionären und Politikern?
Es gibt Operationen der Milizionäre innerhalb des offiziellen politischen Systems. In Duque de Caxias existiert ein Zentralregister der staatlichen Liegenschaften. Es gibt Milizionäre, die im Grundbuch der Stadtverwaltung die Immobilien ermitteln, für die lange keine Grundsteuer gezahlt wurde. So ein Milizionär beginnt dann, die Grundsteuer zu bezahlen, verhandelt die Altschuld, und bittet dann darum, diese Immobilie auf seinen Namen zu überschreiben. Die Stadtverwaltung trägt ihn als Besitzer ein. Das ist ein ganz einfacher Vorgang. Und der eigentliche Eigentümer wird später niemals den Mut aufbringen, diese Immobilie zurückzuverlangen, weil sie jetzt mit Waffengewalt kontrolliert wird. Ohne diese direkte Verbindung zur staatlichen Struktur gäbe es die Milizen nicht in der Form, wie es sie heute gibt. Deshalb sage ich, das ist keine Parallelmacht – das ist der Staat.
Und es gibt Politiker, die mit dem so verdienten Geld gewählt werden. Das Geld der Milizen finanziert die Macht eines Politikers wie Flávio Bolsonaro und die Macht von Flávio Bolsonaro fördert die Einkünfte der Milizionäre. Es ist entscheidend, dass diese Struktur so funktioniert. Sie kann nur weiter bestehen, weil sie genau so ist.

Sind Fälle wie die der Mutter und Ehefrau von Adriano Magalhães de Nóbrega, die als Beraterinnen im Stab von Flávio Bolsonaro angestellt waren, üblich?
Ja, das ist ganz normal. Zwischen diesen Personen wird eine Macht- und Geldbeziehung aufgebaut. Der Milizionär stellt einen direkten persönlichen und familiären Kontakt mit Flávio Bolsonaro her. Dieser Kontakt gibt ihm in seiner Gemeinde Macht. Er wird dort bekannt als jemand, der Einfluss auf den Abgeordneten hat und den man ansprechen kann, wenn irgendetwas geregelt werden muss. So entsteht eine familiäre Machtstruktur. Und das ist genau das, wofür sich die Bolsonaros einsetzen: familiäre Strukturen. Und religiöse. Evangelikale Kirchen sind mit diesen Strukturen verbunden. Eine perfekte Verbindung: traditionell, konservativ, religiös, ein Diskurs mit hoher Glaubwürdigkeit.
Das zeigt, wie diese Menschen agieren. Adriano Nóbrega, Flávio Bolsonaro, Bolsonaro selbst, die Auftragsmörder dieser Region. In Brasilien agieren diese Gruppen, die mit Gewalt, Hinrichtungen, organisiertem Verbrechen zu tun haben, nicht im Verborgenen, sondern vor aller Augen. Sie sprechen ganz offen darüber, was sie machen, zu wem sie Verbindungen haben, welche Ämter sie besetzen, wen sie kennen. Damit allen klar ist, mit wem es jemand, der sich ihnen vielleicht widersetzen möchte, zu tun bekommt. All das basiert komplett auf Einschüchterung. Und es sind nicht nur leere Drohungen, sie machen sie auch wahr.

Was ihre politischen Möglichkeiten angeht: Haben sie sogar die Macht, bei Wahlen die Stimmen der Bevölkerung zu manipulieren?
Die Milizen verkaufen Stimmen ganzer Gemeinden in der Region im Paket. Sie haben eine genaue Übersicht der Wahlberechtigten, der Wahllokale der einzelnen Wähler und wissen, wie viele Stimmen dort jeweils abgegeben werden. Sie sind in der Lage festzustellen, wer nicht für ihren Kandidaten gestimmt hat.

Gibt es denn keine Maßnahmen, diese Strukturen zu zerschlagen?
Die Operation „Unberührbare” könnte eine Operation historischen Ausmaßes sein. Aber ich bin sehr kritisch, was solche Einsätze betrifft. Weil die Miliz ein sehr großes Netzwerk ist, kommen für jeden Verhafteten 100 Neue nach. Denn wenn man die ökonomische Struktur aufrechterhält, wird sie auch politisch weiter bestehen.
Niemand legt sich mit diesen Gruppen an. Normalerweise geht man nur den Drogenhandel an, was nicht der gefährlichste Teil ist. Die Milizen sind mächtiger als die Drogenhändler. Die Milizen werden gewählt, Drogenhändler lassen sich nicht wählen. Ich bin sicher, dass die Milizionäre zu einer anderen Klasse als die Drogenhändler gehören. Nicht so arm. Nicht so schwarz. Nicht so marginalisiert.

Der Fall Marielle Franco ist zurück ins Scheinwerferlicht gerückt, weil die verhafteten Milizionäre Mitglieder des „Verbrechensbüros” waren, das des Mordes an der Stadträtin verdächtigt wird. Letztes Jahr hat der Beauftragte für öffentliche Sicherheit in Rio gesagt, der Mord stünde im Zusammenhang mit Grundbuchfälschungen. Glauben Sie, dass sie ermordet wurde, weil sie die Geschäfte der Milizen störte?
Da gibt es zwei Aspekte. Marielle Franco hatte die Macht, den Milizen zu schaden, eine Untersuchung zu beantragen, die die Aufmerksamkeit des Staates und der Medien auf sie gelenkt hätte. Sie hatte eine unabhängige, integre politische Basis, die sie stützte. Sie war also eine Figur, die gefährlich werden konnte.
Der zweite Faktor ist, dass sie eine Frau mit einem ziemlich beeindruckenden Auftreten war, authentisch und nicht einzuschüchtern, die herausforderte und sich nicht unterordnete. Die Milizionäre ertragen solche Frauen nicht und wollen sie eliminieren. Das war der Fall bei Marielle, wie bei Patricia Acioli (Richterin, die für die Gefängnisstrafen von mindestens 60 Milizionären verantwortlich war, ermordet 2011, Anm. d. Red.). Da gibt es einen totalen Frauenhass: Sie akzeptieren nicht, dass eine Frau sie so behandelt.

 

IM SUMPF VON KORRUPTION UND MAFIA

Clan im Blick Flavio Bolsonaro (links im Bild) und sein Vater Jair Bolsonaro (ganz weit rechts), (Foto: Jeso Carneiro/Flickr (CC BY-NC 2.0)

Jair Bolsonaro kam vor allem mit dem – für viele heuchlerischen – Versprechen an die Macht, dass er die Korruption bekämpfen werde. Weniger als einen Monat an der Regierung wird gegen seinen Sohn wegen verdächtiger Bankgeschäfte ermittelt. Außerdem wird eine Verbindung zu dem Tod der linken Stadträtin Marielle Franco vermutet, die im März 2018 erschossen wurde. Der Skandal begann mit Veröffentlichungen in den brasilianischen Medien, dass auf dem Konto von Flávio Bolsonaro, Abgeordneter des Bundesstaates Rio de Janeiro und designierter Senator, ungewöhnliche Geldeinzahlungen verzeichnet wurden. Dieser erhielt in nur einem Monat – zwischen Juni und Juli 2017 – innerhalb von fünf Tagen 48 Bareinzahlungen, immer über denselben Betrag von 2.000 Reais (umgerechnet 460 Euro). Laut eines Berichts der Staatlichen Behörde für die Kontrolle von Finanzaktivitäten (COAF), die dem brasilianischen Wirtschaftsministerium untersteht, konnten die Urheber der Einzahlungen nicht identifiziert werden. Allerdings vermutet die COAF aufgrund der Merkmale der Einzahlungen, dass Bolsonaros Sohn versucht haben könnte, den Ursprung von 96.000 Reais (umgerechnet 22.240 Euro) zu verschleiern.

Die Informationen wurden am 18. Januar in der landesweiten Hauptnachrichtensendung Jornal Nacional veröffentlicht und führten zu einer Krise, die die kürzlich gewählte Regierung erschütterte. Es besteht der Verdacht, dass Beamte aus den Abgeordnetenbüros der Gesetzgebenden Versammlung von Rio de Janeiro einen Teil ihrer Gehälter zurückgezahlt haben, eine Praxis, die als illegal angesehen wird. Eine weitere Vermutung ist, dass Fabrício Queiroz, Militärpolizist und ehemaliger Berater von Flávio Bolsonaro, für das Eintreiben eines Teils der Gehälter anderer Berater aus dem Abgeordnetenbüro von Flávio Bolsonaro verantwortlich war.  Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit etwa sechs Monaten gegen Queiroz wegen Geldwäsche. Im Oktober 2018 wurde er aus dem Büro von Flávio Bolsonaro entlassen. Im Rahmen der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Rio de Janeiro wurde Queiroz für eine ungewöhnliche Finanztransaktion von 1,2 Millionen Reais zwischen 2016 und 2017 verantwortlich gemacht. Eine der Transaktionen betrifft Schecks in Höhe von 24.000 Reais (5.560 Euro), die an die neue First Lady, Michelle Bolsonaro, gingen. Flávio Bolsonaro muss sich als neu gewählter Senator jedoch keinem Gerichtsverfahren unterziehen. Seine Rolle wird in einer internen Untersuchung der Staatsanwaltschaft Rios – dem so genannten Kriminalermittlungsverfahren (PIC) zur Untersuchung möglicher Rechtsverstöße – geklärt.

Laut Untersuchungen der Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro war der ehemalige Polizeibeamte Adriano Magalhães da Nóbrega das mögliche Bindeglied zwischen der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco und Flávio Bolsonaro. Das Büro des Abgeordneten Bolsonaro beschäftigte bis November 2018 die Mutter und die Frau von Nóbrega, den die Staatsanwaltschaft Rio als Kopf der Miliz „Escritório do Crime“ betrachtet, die des Mordes an Marielle Franco verdächtigt wird. Laut der Tageszeitung Jornal o Globo ist Nóbrega ein Freund des ehemaligen Beraters von Flávio Bolsonaro, Fabrício Queiroz. Die Mutter von Nóbrega, Raimunda Veras Magalhães, sei eine der Mitarbeiterinnen, die das Geld an Queiroz weitergegeben habe. An dem Skandal, der die brasilianischen Presse im ersten Monat der Regierung von Bolsonaro dominiert, ist auch das Oberste Bundesgericht Brasiliens (STF) beteiligt. Am 16. Januar setzte der Minister des STF, Luiz Fux, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Queiroz aus, nachdem Flávio Bolsonaro eine gerichtlichen Anfrage dazu gestellt hatte. Der Sohn des Präsidenten argumentierte, dass die Untersuchungen vom STF und nicht von der Staatsanwaltschaft Rio de Janeiros durchgeführt werden sollten. Ein Anliegen, das für viele den Versuch darstellt, allgemeines Recht zu umgehen, denn am 1. Februar tritt Flávio Bolsonaro sein Mandat im Senat an, so dass er politische Immunität erhält und zudem berechtigt ist, ausschließlich Verfahren vor höheren Gerichten zu erhalten. In den sozialen Netzwerken mangelt es angesichts der Ermittlungen nicht an Kritik am gewählten Präsidenten Jair Bolsonaro. Während seines Wahlkampfes erschien er in einem Video neben seinem Sohn und erklärte, er wolle „diesen Mist der politischen Immunität“ nicht. Sein Sohn Flavio beantragt nun die Aussetzung der Ermittlungen gegen Queiroz am STF, um seine politische Immunität zu nutzen.

 

SOUVERÄNE KORRUPTION

Unterstützung für die CICIG: 2018 auf einer Kundgebung in Guatemala-Stadt (Foto: Nis Melbye)

Die Unbeliebtheit der Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit (CICIG) bei Guatemalas Regierung und Eliten kommt nicht von ungefähr. Nach eigenen Angaben hat die CICIG bereits 60 kriminelle Netzwerke aufgelöst und war an Verfahren gegen rund 680 Personen beteiligt, von denen bisher 310 verurteilt wurden. Die Gründung der CICIG war eine Reaktion auf die Politik der sozialen Säuberungen, die darin bestand, dass die Kriminalpolizei nicht mehr selbst ermittelte, sondern auf der Grundlage von Untersuchungen des militärischen Geheimdienstes unmittelbar vollstreckte. Viele vermeintliche Kriminelle wurden nicht vor Gericht gestellt, sondern gefoltert und anschließend getötet. Den extralegalen Hinrichtungen fielen im Februar 2007 sogar Abgeordnete des Parlaments aus El Salvador zum Opfer, während sie sich für einen Arbeitsaufenthalt in Guatemala befanden. Bei den Abgeordneten der rechten Partei ARENA hatten die Beamten Drogen oder Drogengeld vermutet.

Die internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) nahm 2007 als Institution der Vereinten Nationen (VN) ihre Arbeit auf und arbeitet in erster Linie zur Aufdeckung illegaler Sicherheitsapparate innerhalb staatlicher Strukturen, die Ermittlungen decken vielfach Verstrickungen zwischen den politischen Eliten und der organisierten Kriminalität auf. Die CICIG unterstützt seitdem die Arbeit der FECI, einer Abteilung der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Straflosigkeit. Die FECI führt gemeinsam mit der CICIG die Ermittlungen und Vertritt vor Gericht die Anklage.

Demonstration in Berlin im Januar 2019: Deutschland gehört zu den Geberländern für die die CICIG (Foto: Andrea Ruíz)

Als derzeitiger Leiter der CICIG wurde Iván Vélasquez in Guatemala zu einem Symbol für die Bekämpfung der Korruption (Interview in der LN 529/530). Unter keinem ihrer bisherigen Chefs war die CICIG so erfolgreich wie unter dem Kolumbianer. Vélasquez hatte bereits zuvor in seinem Heimatland als Staatsanwalt ein Netzwerk von Kongressabgeordneten und Paramilitärs, auch bekannt als „Parapolítica“, aufgedeckt. Er war also bestens vorbereitet auf die in Guatemala anzutreffenden kriminellen Strukturen.

Eines der vielen Verfahren richtet sich gegen den Amtsvorgänger des gegenwärtigen Präsidenten Guatemalas, der ein Netzwerk zur systematischen Veruntreuung von Zolleinnahmen betrieben haben soll. Angeklagte sind Otto Pérez Molina und dessen ehemalige Vizepräsidentin Roxana Baldetti in dem „La Línea“ genannten Fall. Seit Molina 2015 nach anhaltenden Protesten als Präsident zurücktrat, befindet er sich in Untersuchungshaft.
Das Mandat der CICIG wurde bisher alle zwei Jahre erneuert. Noch zu Beginn seiner Amtszeit hatte der frisch gewählte Präsident Morales geäußert, dass die CICIG einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Korruption leiste und die Regierung das Mandat um zwei weitere Jahre bis September 2019 verlängert.

Morales änderte seine Einstellung gegenüber der CICIG als im August 2017 bekannt wurde, dass die CICIG und die FECI ein Verfahren gegen ihn wegen illegaler Wahlkampffinanzierung eingeleitet hatten und nun die Aufhebung der Immunität des Präsidenten beantragten.

Zudem wurden Verfahren gegen dessen Sohn und Bruder eingeleitet, weil sie und 20 weitere Beschuldigte mittels Scheinbeschäftigungen und falscher Rechnungen, sich an den Kassen des Grundbuchamtes bereichert haben sollen.

Viele Abgeordnete wechseln nach Wahlen die Partei

Morales reagierte prompt und erklärte Vélasquez zur „persona non grata“. Eine Ausweisung des Leiters der CICIG wurde jedoch durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts verhindert.

Nachdem der guatemaltekische Kongress gegen die Aufhebung der Immunität des Präsidenten stimmte, versuchte dieser mit der Hilfe seiner Amtskontakte, von der Presse „Pakt der Korrupten“ genannt, Änderungen an Gesetzen vorzunehmen und seinem Strafverfahren wegen illegaler Wahlkampffinanzierung und weiterer Korruptionsdelikte den Boden zu entziehen. Auf internationalen Druck und nach vielen Protesten konnten die Gesetzesänderungen jedoch abgewendet werden (siehe LN 525). Mittlerweile bestätigten guatemaltekische Unternehmer*innen öffentlich, dass sie den Wahlkampf von Morales heimlich finanziert hatten.

Morales fürchtete damals um sein Image als politisch unverbrauchter Außenseiter, falls bekannt würde, dass sein Wahlkampf von den alten Eliten bezahlt wird. Schließlich war Morales demonstrativ mit dem Slogan „Weder korrupt, noch ein Dieb“ zu den Präsidentschaftswahlen angetreten. Da Morales für die Partei FNC kandidierte, eine dem guatemaltekischen Militär nahestehende und von Ex-Militärs gegründete Partei, lag jedoch schon damals die Vermutung nahe, dass der ehemalige Fernsehkomiker alles andere als ein Garant für Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung ist.

Im August 2017 begann die Regierung unter Morales Druck auf die VN und die Staaten, welche die Arbeit der CICIG finanzieren, auszuüben, um das Mandat zu beenden.

Diese Bemühungen wurden seit Anfang 2018, zunächst anlässlich eines Besuchs von Morales bei Trump im Februar und einer anschließenden Rede vor den VN, intensiviert.

Gegen Morales wird wegen illegaler Wahlkampffinanzierung ermittelt

Kurz darauf versuchte er auch den schwedischen Botschafter des Landes zu verweisen, dessen Regierung zuvor eine weitere Unterstützung der CICIG in Höhe von 9 Millionen US-Dollar zugesagt hatte.

Anschließend wurden erst Polizist*innen, welche die CICIG bei ihren Ermittlungen unterstützten, wenig später auch 20 der insgesamt 45 zur Bewachung der CICIG eingesetzten Beamten abgezogen. Zur Begründung hieß es, die Beamt*innen würden an anderer Stelle dringender benötigt.
Ende August 2018 kündigte Morales an, er werde das Mandat der CICIG nicht verlängern und diese nur noch bis September 2019 dulden. Zeitgleich fuhren Militär-Pickups vor die CICIG, die Büros verschiedener Menschenrechtsorganisationen und die Häuser bekannter Menschenrechtler*innen. Wie so häufig, wenn es für ihn eng wurde, sucht Morales demonstrativ die Nähe zum guatemaltekischen Militär.

Jimmy Morales: Präsident Guatemalas (Foto: Flickr (CC0 1.0))

Der Einsatz des Militärs an diesem Tag spricht eine eindeutige Sprache. Demonstrant*innen stehen nun erstmals seit langem wieder schwer bewaffneten Soldaten gegenüber, zudem verbreiten sich Gerüchte über einen möglichen Putsch. Dass ein Putsch, jedenfalls außenpolitisch, kaum Konsequenzen nach sich ziehen würde, kann Morales bereits seit 2009 im Nachbarland Honduras mitverfolgen.

Kurz bevor im September 2018 das Visum des CICIG-Leiters Velásquez ausläuft, bricht dieser zu einer Dienstreise in die USA auf. Unmittelbar nach dessen Ausreise erklärt die guatemaltekische Regierung, sie werde Velásquez kein neues Visum ausstellen und fordert die VN auf, einen neuen Leiter zu ernennen. Zwar verfügt das Verfassungsgericht in einer Entscheidung, dass die Regierung verpflichtet ist, Velásquez einreisen zu lassen. Doch Morales hatte bereits zuvor angekündigt, Entscheidungen des Verfassungsgerichts zugunsten der CICIG nicht mehr zu respektieren und kündigt damit einen offenen Verfassungsbruch an. Die CICIG wird seitdem von Velásquez aus dem Ausland geleitet.

Ende September tritt Morales erneut vor die VN und fordert die Beendigung des Mandats der CICIG. Diese sei eine Bedrohung für die nationale Sicherheit, weil sie guatemaltekisches Recht verletze und unschuldige Bürger verfolge.

An Intensität gewinnt der Konflikt nochmals, als der ehemalige Innenminister Carlos Vielman (2004–2008) verhaftet wird. Er gehört zur guatemaltekischen Elite und wird für die während seiner Amtszeit praktizierte Politik der „sozialen Säuberungen“ verantwortlich gemacht. Er soll mehrere extralegale Hinrichtungen, etwa an geflohenen Häftlingen im Jahr 2005, zu verantworten haben. Er floh zunächst nach Spanien, wo er in drei Mordfällen angeklagt und anschließend freigesprochen wurde. Nach seiner Rückkehr wurde er in Guatemala wegen der Tötung weiterer Menschen verhaftet. Morales und seine Verbündeten sehen in diesem Verfahren einen Fall politisch motivierter Verfolgung Unschuldiger durch die CICIG und die FECI.

Die CICIG wird von Velásquez aus dem Ausland geleitet

Als auch die Visa weiterer Mitarbeiter der CICIG nicht verlängert werden, landet der kolumbianische CICIG-Ermittler Yilen Osorio Anfang Januar 2019 in Guatemala-Stadt. Dort angekommen, wird ihm die Einreise verweigert und er wird vorübergehend festgenommen. Es folgen chaotische Stunden am Flughafen. Auch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts mit der die Freilassung des Ermittlers angeordnet wird, wird zunächst nicht umgesetzt. Unterdessen sammeln sich Protestierende am Flughafen und fordern die Freilassung des Ermittlers. Erst als die Generalstaatsanwältin Consuelo Porras androht, gegen das Personal der Einwanderungsbehörde wegen Freiheitsentziehung vorzugehen, wird diesem die Einreise letztlich gestattet.
Am Tag darauf trifft sich die Außenministerin Sandra Jovel mit dem Generalsekretär der VN, António Guterres, und gibt anschließend im Rahmen einer Pressekonferenz bekannt, dass die guatemaltekische Regierung das Mandat der CICIG bereits jetzt beendet. Innerhalb von 24 Stunden müsse das Abkommen beendet werden und die Mitarbeiter der CICIG das Land verlassen.

Am Abend folgt eine Ansprache des Präsidenten Morales an die Nation. In Begleitung seines Kabinetts und vermeintlicher Opfer der CICIG wie dem ehemaligen Minister Vielman, verteidigt Morales das Handeln seiner Regierung. Die CICIG sei eine Gefahr für die nationale und internationale Sicherheit, zudem habe die CICIG die Menschenrechte vieler Guatemaltek*innen und sogar die von Ausländer*innen verletzt, indem sie Unschuldige verfolge und in Untersuchungshaft gebracht habe. Er unterstellt der CICIG, sie verfolge lediglich ihre politischen Gegner*innen, die jedoch keine Straftaten begangen hätten.

Als das Verfassungsgericht das Vorgehen der Regierung für verfassungswidrig erklärt, haben die Ermittler der CICIG bereits das Land verlassen. Es ist die insgesamt sechste Entscheidung des Verfassungsgerichts zugunsten der CICIG, seit Morales deren Leiter zur „persona non grata“ erklärte.
Mit diesen Entscheidungen ist auch das Verfassungsgericht in den Fokus der Kritik geraten.

Morales, der Unternehmerverband CACIF und rechte Gruppen fordern nun die Abschaffung des Verfassungsgerichts, da dieses angeblich selbst gegen die Verfassung verstoße, weil es sich in Angelegenheiten der Außenpolitik einmische, welche von Verfassungs wegen nur der Regierung oblägen.

Es folgten Strafanzeigen gegen die für die Entscheidung verantwortlichen Richter*innen des Verfassungsgerichts, welchen der Oberste Gerichtshof den Weg frei machte, indem es die Aufhebung der Immunität der Richter*innen veranlasste.

Die Geberländer für die CICIG, unter ihnen Deutschland und die USA, drückten in einer gemeinsamen Presseerklärung ihre Besorgnis hinsichtlich der jüngsten Geschehnisse aus, bekräftigten die Wichtigkeit der Verfassungsordnung und forderten den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu respektieren.

Die Reaktion der guatemaltekischen Außenministerin Sandra Jovel hierzu fiel recht kurz aus. Es handle sich um eine souveräne Entscheidung des guatemaltekischen Staates, welche die Geberländer respektieren sollten.

Morales ging bei dessen Rede im guatemaltekischen Kongress weiter und geißelte die Einmischung der Geberländer und die Forderung nach einer Bekämpfung der Korruption als eine neue Form des Kolonialismus. Die Welt solle die natürliche Form der guatemaltekischen Politik respektieren. Dass es ausgerechnet die Nachfahren der spanischen Kolonialherren sind, die in Guatemala die Wirtschaft und Politik dominieren, scheint ihn dabei nicht zu irritieren.

Auch in Honduras stößt die Korruptionsbekämpfung auf Widerstand

Die im vergangenen Mai von Morales ernannte Generalstaatsanwältin Consuela Porras zeichnete sich bisher durch ihre Abwesenheit im Konflikt zwischen der Regierung und der CICIG aus. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Thelma Aldana, welche den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Korruptionsbekämpfung legte und dafür – wie Velásquez – 2018 den Alternativen Nobelpreises erhielt.

Doch nicht nur in Guatemala stößt die Korruptionsbekämpfung auf Widerstand. Auch in Honduras trifft die Unterstützungskommission gegen Korruption und Straflosigkeit (MACCIH) der VN auf einen Kongress, der sich gegenseitig die Aufrechterhaltung der Immunität sichert. Honduras, in dem die organisierte Zivilgesellschaft ohnehin unter Druck steht und die Repression gegen diese bereits auf einem deutlich höheren Niveau als in Guatemala erfolgt, könnte nun dem Beispiel Guatemalas folgen, wenn sich abzeichnet, dass eine Aufkündigung des Abkommens folgenlos bleibt.
In El Salvador hingegen, wo insbesondere die USA auf einen Ausbau der nationalen Strafverfolgungsorgane setzen, gelang im vergangenen Jahr die Verurteilung des Ex-Präsident Antonio Saca zu zehn Jahren Haft wegen Korruption.

CODECA: Die Landarbeiterorganisation gründet die neue Partei MLP (Foto: Nis Melbye)

Seit Anfang 2018 verzeichnen Menschenrechtsorganisationen in Guatemala wieder einen Anstieg der gezielten Morde an Menschenrechtsverteidiger*innen und Gewerkschafter*innen. Mindestens 23 Morde sollen es im Jahr 2018 gewesen sein. Der Ausblick für das Wahljahr 2019 verspricht keine Wendung zum Besseren. Vor den Wahlen im September ist vielmehr damit zu rechnen, dass sich die Konflikte noch verschärfen. Zumal die FECI nach dem Verweis der CICIG ohne deren Unterstützung zurückbleibt. Ob die FECI ohne diese Unterstützung dem politischen Druck standhalten kann, ist fraglich.

Die etablierten Parteien bieten jedenfalls keinen Anlass zur Hoffnung, dass es es bei der Wahl eine*n Kandidat*in geben wird, welche*r sich der Korruption im Land entgegen stellt.

In Guatemala, wo etwa 60 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, die Bildung gerade in den ländlichen Regionen auf das Nötigste beschränkt ist und der Wahlkampf der Abgeordneten zum großen Teil darin besteht, Saatgut oder Pestizide im Gegenzug für Stimmen zu verteilen, gibt es selten positive Überraschungen. Auch wechselt üblicherweise ein nicht geringer Teil der Abgeordneten unmittelbar nach der Wahl die Partei, so dass das spätere Kräfteverhältnis im Kongress häufig nicht den Wahlergebnissen entspricht.

Lediglich die Landarbeiterorganisation CODECA mit ihrer neu gegründeten Partei MLP (Befreiung der Völker), welche dieses Jahr zur Wahl antreten will, könnte eine Alternative darstellen. Doch selbst wenn sich die MLP durchsetzen sollte, gibt es keine Garantie, dass die Abgeordneten der bestehenden Korruption etwas entgegensetzen können.

 

„WIR WISSEN NICHT, OB WIR NOCH IM LAND ARBEITEN KÖNNEN.”

Darci Frigo, Gründer undKoordinator der Organisation Terra de Direitos und Vizepräsidentdes brasilianischen Nationalen Rates für Menschenrechte (Foto: Cleia Viana_Câmara dos Deputados)

Ihre Organisation Terra de Direitos leistet juristische Unterstützung in Landkonflikten. Insbesondere ist sie im Bundesstaat Pará aktiv, wo es die meiste Gewalt im ländlichen Raum gibt. Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er die Aktionen der Landlosenbewegung MST wie terroristische Taten behandeln wird. Am Sonntag vor der Wahl hat er erklärt, dass er das Land von linken Aktivist*innen „säubern“ will. Wie bewerten sie die Situation ihrer Organisation, Terra de Direitos, und der Menschen, die sie verteidigen, sollte Bolsonaro gewinnen?
Die Drohungen Bolsonaros gegen alle linken Aktivisten sind sehr ernst zu nehmen. Er hat ja schon einzelne Organisationen benannt, gegen die er vorgehen will. Er will die zivilgesellschaftlichen Kräfte isolieren, um Wirtschaftsprojekten, die gegen die Verfassung und die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verstoßen, Tür und Tor zu öffnen. Insgesamt ist das eine sehr beunruhigende Situation, die alle Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasilianischen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstellbar war. Mit dem Impeachmentverfahren gegen Dilma Rousseff kamen diese Kräfte auf und wurden immer stärker. Durch die Korruptionsskandalen der letzten Jahre haben die traditionellen rechten Politiker ihre Glaubwürdigkeit verloren. Angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerung einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentiert: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet ist eine schreckliche Veränderung: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratischen Institutionen nicht respektiert. Wir in den Menschenrechtsorganisationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisationen.

Gewalt gegen linke Aktivist*innen und in Landkonflikten gab es in Brasilien ja auch in den letzten Jahrzehnten. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?
Seit dem Impeachment von Dilma versucht das Agrobusiness jede Politik, die weitere Territorien von indigenen und andere traditionellen Bevölkerungsgruppen anerkennt, zu verhindern. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hatten die Farmer weniger Hemmungen, um im Landkonflikten Gewalt einzusetzen. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonflikten; also Morde an Aktivisten, Gemeindeanführern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Impeachment hat sich also die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaaten Rondônia, dem Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindustrie expandiert, dort wo es viele ungelöste Landkonflikte gibt und die meisten Rodungen stattfinden.
Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt sehr extrem. Aber Bolsonaro beschimpft die staatlichen Kontrollbehörden wie das Umweltministerium IBAMA als linke Extremisten, die nur die Agrarindustrie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Bolsonaro will der Agrarindustrie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Brasiliens Wirtschaft hängt zu 49 Prozent vom Export von Rohstoffen ab. Hauptsächlich handelt es sich um Erze und Soja: Das sind ja auch die Waren, die Amazonien am meisten bedrohen. Die geplanten Staudämme am Fluss Tapajós sollen ja auch eine Wasserstraße herstellen, um diese Rohstoffe aus dieser Region besser abtransportieren zu können. Ende 2016 wurde ja der Bau des größten dort geplanten Staudamms, São Luiz do Tapajós, durch das Umweltministerium IBAMA und die Indigenenbehörde FUNAI verhindert. Glauben Sie, dass diese Pläne mit Bolsonaro wieder auf den Tisch kommen?
Es reicht schon, wenn das Wirtschaftswachstum in Brasilien wieder anzieht, und diese Pläne kommen erneut auf den Tisch. Dann steigt wieder der Energiebedarf und dann kann das Thema wieder aktuell werden. Derzeit wird ja weiterhin die Fernverkehrsstraße BR-163 asphaltiert, die von den Sojaanbaugebieten in Mato Grosso zum Hafen Miritituba am Río Tapajós im Bundesstaat Pará führt. Von dort können die Rohstoffe aus dem Süden Parás und Mato Grosso über den Hafen Santarém verschifft werden. Man sagt, das sei der beste logistische Knotenpunkt für das Landesinnere, weil man über diese Route besser die Absatzmärkte in Nordamerika, Asien und Europa erreicht, als über die bisherige Route, über den Hafen von Santos in São Paulo. Diese ganzen Pläne fußen aber auf der Vorstellung, dass die brasilianische Wirtschaft Rohstoffe exportieren muss, um sich zu entwickeln, anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Und dieses Entwicklungsmodell führt zu massiver Gewalt bei Landkonflikten und der Zerstörung des Regenwaldes in dieser Region. Insbesondere der Bergbau in dieser Region ist die größte Bedrohung für die ländliche Bevölkerung dort, für Indigene und andere traditionelle Bevölkerungsgruppen. Diese Pläne sehen praktisch vor, die ganze Region in einen einzigen Tagebau zu verwandeln, so viele Projekte liegen bereits vor. Dieser relativ kleine, aber sehr weit verbreitete Bergbau ist meines Erachtens eine größere Gefahr als die großen Wasserkraftwerke, denn er breitet sich auf dem ganzen Territorium aus.

Was denken Sie, wie sieht Brasiliens Zukunft mit Bolsonaro als Präsidenten aus?
Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderungen sind sehr allgemein gehalten. Er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommunismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisiert er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratischen Regierungen geschuldet, die die Verbrechen der Militärdiktatur, die militärische Struktur der Polizei und so weiter aufgearbeitet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokratisierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellschaftlich teilhaben. Die Armen werden als Feinde dargestellt, und man weiß nicht mal, Feinde von was oder wem sie sein sollen. Die Demokratisierung war in Brasilien abgeschlossen. Die Armen wurden der Gnade des organisierten Verbrechens überlassen. Und die Mafias, wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital, drängen immer mehr aus ihren angestammten Gebieten, in Rio de Janeiro und São Paulo, in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerung wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerung wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminellen vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorzugehen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen! Auf Whatsapp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, um nach der Wahl Aktivisten zu terrorisieren.

Wenn er wirklich gegen den Drogenhandel vorgehen wollte, müsste er gegen die Farmer*innen vorgehen…
Da besteht ein eindeutiger Widerspruch bei Bolsonaro. Sein Sohn hat sich mehrfach mit Politikern in Rio de Janeiro getroffen, die mit der Mafia in Zusammenhang stehen. Und auf dem Land ist die Situation schon dramatisch. Viele Farmer haben bereits Milizen, die in Landkonflikten die arme Landbevölkerung terrorisieren. Bolsonaro möchte ihnen den Zugang zu Waffen noch erleichtern und verspricht ihnen, mit totaler Freiheit zu agieren. Keine Polizei der Welt tötet mehr Menschen im Einsatz, als die brasilianische und Bolsonaro will der Polizei noch die Lizenz zum Töten erteilen. Er will die Möglichkeit abschaffen, dass ein Polizist, der im Einsatz jemanden tötet, dafür belangt wird. Das alles zusammen ergibt eine explosive Mischung für Brasilien.

Wenn man das alles berücksichtigt, wie bewerten Sie die Möglichkeit für einen effektiven Widerstand gegen Bolsonaro? Und wie können wir hier in Deutschland Solidarität leisten?
Wir haben sehr wenig Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Wir können nicht bis Januar abwarten, wenn Bolsonaro das Amt übernimmt. Alles weist darauf hin, dass die zu erwartende Explosion der Gewalt früher beginnt. Die jetzige Regierung ist sehr schwach. In Wirklichkeit wird sie von General Sergio Etchegoyen aufrecht erhalten.
Wir haben sehr wenig Zeit, um zu überlegen, wie wir Menschenrechtsverteidiger schützen können. In den letzten Tagen haben wir den Führungspersönlichkeiten von sozialen Bewegungen mitgeteilt, dass sie nicht mehr alleine herumlaufen sollen, dass sie darauf acht geben müssen, welche Informationen sie von sich preisgeben und so weiter. Der ganze zivilgesellschaftliche Aktivismus ist gefährdet. Am Sonntag vor der Wahl hatte Bolsonaro in einer Rede ja angekündigt, „mit dem Aktivismus Schluss zu machen“. Die Zivilgesellschaft in Brasilien mobilisiert schon den Widerstand dagegen, aber die Gefahr für einzelne Personen ist groß. Wir haben bereits die UNO und die Organisation Amerikanischer Staaten über die besorgniserregende Situation informiert. Es besteht die Gefahr, dass wir wieder in die Militärdiktatur zurückfallen. Wir werden auf jeden Fall sehr viel internationale Solidarität brauchen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen müssen Komitees für Nothilfe gründen, um Menschen zu unterstützen, die Angriffen ausgesetzt sind. Die Drohung Bolsonaros, alle auszuweisen, die anderer politischer Ansicht sind als er, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Es ist eine reale Bedrohung. Sie könnte sogar schlimmer werden, als in der Rhetorik. Es droht die physische Auslöschung der Aktivisten. Deshalb bin ich ja gerade in Berlin, um die hiesigen Hilfsorganisationen über diese Bedrohung zu informieren, damit diese Nothilfemaßnahmen einrichten.

AN DER FRONT

Der Fotograf Emmanuel Guillén Lozano reiste mit seiner Kamera vom Norden Mexikos bis zur Südküste. Im Blick Orte, die das Verbrechen zeigen. Dort wo die organisierte Kriminalität herrscht und sich Bürger*innen selbst organisieren und zur Wehr setzen, weil die örtliche Polizei Teil des Problems ist (siehe LN 504). Manchmal scheinen seine Fotos unwirklich, die bittere Realität wird zu einem Ausschnitt aus einer Szene mexikanischen Alltags, der schwer zu fassen ist. Lozano bildet gesichts­lose Auftragskiller in einer Umgebung ab, die zu Folter und Verschwindenlassen benutzt wird.

2017 wird das gewaltsamste Jahr in der Geschichte Mexikos, bis September registrierte das Innenministerium 18.505 Morde, 866 gemeldete Entführungen und 4.315 Erpressungen. Die Lateinamerika Nachrichten zeigen eine Auswahl des Fotografen.

Weitere Bilder: www.emmanuelguillen.com

HÜGEL IM KREUZFEUER

Foto: Fernando Frazão/ Agência Brasil (CC BY 2.0)

Rocinha ist auch über die Grenzen von Rio de Janeiro bekannt. Mit rund 70.000 Einwohner*innen ist Rocinha, laut dem Zensus des Statistikinstituts IBGE, die größte Favela von Rio de Janeiro. Die Gemeinde, wie die Bewohner*innen ihr Viertel nennen, liegt im Stadtteil São Conrado zwischen der schicken Südzone und dem westlich gelegenen Bezirk Barra da Tijuca. Aufgrund seiner strategischen Lage ist Rocinha einer der Hauptumschlagplätze für Drogen in der cidade maravilhosa („Wunderbare Stadt“). Lange war es ruhig in Rocinha. Die Gemeinde galt es eine der sichersten Favelas der ganzen Stadt. Die bunten Häuser und steilen Gassen wurden sogar zu einer Tourist*innenattraktion. Seit Mitte September liefern sich jedoch Drogenhändler*innen heftige Kämpfe um die Kontrolle von Rocinha. Es herrschte für mehrere Tage Ausnahmezustand. Es kam zu heftigen Gefechten, bei denen mehrere Menschen starben. An einen Alltag war nicht zu denken: Schulen blieben geschlossen, Straßen leer, Bewohner*innen in Angst. Nach erbitterten Kämpfen rückten am 22. September Polizei und Militär in die Gemeinde vor. Die Bilder des martialischen Militäreinsatzes gingen um die Welt. Aber wie konnte eine der sichersten Gemeinden der Stadt ins Chaos stürzen?

Persönliche Streits als auch Konflikte zwischen verfeindeten Drogengangs sind Auslöser der aktuellen Krise. Die Auseinandersetzungen gehen auf das Jahr 2011 zurück. In diesem Jahr wurde Antônio Francisco Bonfim Lopes, besser bekannt als Nem von Rocinha, verhaftet. Nems ehemalige rechte Hand und Ex-Leibwächter, Rogério Avelino da Silva, auch Rogério 157 genannt, übernahm die Kontrolle über Rocinha. Nem missfiel die Übernahme seines ehemaligen Untergebenen. So übte Nem weiterhin die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha aus – obwohl er in einem Hochsicherheitsgefängnis in Porto Velho im nordwestlichen Bundesstaat Rondônia sitzt. Die Bundespolizei fand heraus, dass Nem im Jahr 2014 den Befehl gab Rogério 157 aus Rocinha zu vertreiben – allerdings ohne Erfolg. So wuchsen in den folgenden Jahren die Spannungen zwischen den beiden Männern. Im Jahr 2015 lieferten sich Verbündete von Nem und Rogério 157 nach einem Missverständnis einen Schusswechsel. Vier „Krieger“ von Nem wurden angeschossen und mussten im Krankenhaus be-handelt werden. Eine Person spielt eine bes-ondere Rolle in dem Konflikt: Danúbia de Souza Rangel, die Frau von Nem. Sie führte lange Zeit Befehle aus, die ihr Mann ihr bei Gefängnisbesuchen übermittelte. Sie engagierte eigene Leibwächter und strahlte immer mehr Autorität in Rocinha aus. Bald war sie als „Sherif von Rocinha“ bekannt. Laut dem britischen Journalisten und Experten für organisierte Kriminalität Misha Glenny, der die Biographie von Nem schrieb, wurde Rangel eine der zentralen Protagonist*innen des Machtkampfes: „Es gab interne Konflikte. Danúbia wollte mehr Macht und die Gemeinde war gespalten zwischen ihr und Rogério“. Allerdings vertrieb Rogério 157 Rangel aus Rocinha im Zuge der jüngsten Auseiandersetzungen. Die 33-Jährige floh in eine Favela in den Norden der Stadt, wurde dort aber am 10. Oktober von der Polizei verhaftet. Gegen Rangel lief ein Haftbefehl wegen Drogenhandel, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Korruption.

Rogério 157 büßte in jüngster Zeit immer mehr an Popularität ein. Der Grund: Er erhob Steuern auf Dienstleistungen wie Motorradtaxis und die Gasverteilung. Allein mit den Steuern auf die Motorradtaxis machte er einen monatlichen Umsatz von umgerechnet rund 27.000 Euro. Im Interview mit der Nachrichtenseite UOL erklärt der Carlos Eduardo Thome, Polizist bei der Drogenbekämpfungseinheit DER: „Die Daten zeigen, dass Nem sehr unzufrieden mit Rogérios Steuereintreibungen von Bewohnern und Motorradtaxis war. Wenn ein Motorradtaxifahrer nicht die fälligen Steuern zahlte, ließ er die Motorräder zerstören. Er hat die Menschen der Gemeinde erpresst“.

Die Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Drogenbanden, die in der ganzen Stadt toben, haben auch längst Rocinha erfasst.

Die Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Drogenbanden, die in der ganzen Stadt toben, haben auch längst Rocinha erfasst. Auch interne Konflikte im Kartell der Amigos dos Amigos (ADA; Freunde der Freunde), dem sowohl Nem als auch Rogério 157 angehörten, haben zu der Eskalation beigetragen. Laut Presseberichten hatte Rogério 157 bereits im Jahr 2014 versucht, sich vom ADA loszusagen und sich erfolglos dem Terceiro Comando Puro (Pures Drittes Kommando; TCP) anzunähern.

Im Jahr 2016 zerbrach die historische Allianz zwischen dem Primeiro Comando da Capital (PCC; Erstes Hauptstadtkommando) aus São Paulo und dem Comando Vermelho (CV; Rotes Kommando) aus Rio de Janeiro. Nach dem Ende dieser Zweckehe verbündete sich die ADA, Erzfeind des CV, mit dem PCC. Dies führte zum Zerwürfnis in Rocinha: Während Nem und andere Führer des ADA die Allianz mit dem mächtigen Kartell aus São Paulo befürworteten, versuchte Rogério 157, sich mit einem der ADA-Chefs zusammenzuschließen, der gegen das Bündnis war. Ziel war es, die Kontrolle über Rocinha zu erhalten – ohne Nem.

Am 13. August wurden drei Verbündete von Nem tot in einem Auto aufgefunden. Die Vermutung: Rogério 157 hatte zum Präventivschlag ausgeholt, um seine Entmachtung abzuwenden. Nun ging der Konflikt erst richtig los. Ende August stellte Nem seinem Widersacher Rogério 157 ein Ultimatum. Die Forderung: Rogério 157 habe Rochinha zu verlassen. Dieser weigerte sich und ging sogar noch weiter. Die Männer von Rogério 157 vertrieben mehrere Verbündete von Nem aus der Gemeinde. Daraufhin beschloss die Führung der ADA, eine Aktion vorzubereiten, um endgültig die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha zurückzugewinnen. Im BBC-Interview sagt der Experte Glenny, dass es gut möglich sei, dass Nem nicht direkt hinter dieser Entscheidung stehe. Der 17. September wurde als Tag für die Invasion gewählt. 60 Personen aus den Favelas São Carlos im Zentrum und Vila Vintém im Osten stürmten schwer bewaffnet den Hügel. Allein am ersten Tag starben drei Personen, drei weitere wurden verletzt. Ein schwarzer Tag für Rocinha.

In der Presse kursierten Gerüchte darüber, dass Rogério 157 sich mittlerweile dem CV angeschlossen habe. Grund für die Spekulationen: Nach der Polizeioperation flohen 200 seiner Gefolgsleute in den Tijuca-Wald und von dort in sechs Gemeinden, in denen die CV regiert. Die Bundespolizei bestätigte, dass Rogério 157 mit der ADA gebrochen hat. Mittlerweile belegen auch abgehörte Aufzeichnungen den Wechsel von Rogério 157 zur CV.
Der Gouverneur von Rio de Janeiro, Luiz Fernando Pezão von der Mitte-Rechts-Partei PMDB, äußerte sich erstmals am 17. September zu den Ereignissen in Rocinha. Er forderte, dass vorerst weder Polizei noch Militär, die sich bereits seit August im Alarmzustand befanden, intervenieren sollten. Zivile Opfer und Probleme bei Ablauf des weltbekannten „Rock in Rio“-Festivals müssten auf jeden Fall verhindert werden, so Pezão. „Ich wurde von Wolney (Dias, Kommandant der Militärpolizei) und (Roberto) Sá (Sicherheitssekretär) informiert und habe um große Vorsicht gebeten. Ich kenne Rocinha gut. Am Sonntag sind immer die meisten Menschen auf der Straße. Wenn wir reagieren, bedeutet das Krieg, in dem viele Unschuldige sterben. Man muss den richtigen Moment abwarten. Sollte das wirklich zur Zeit von ,Rock in Rio` sein?“.

Ab dem 22. September eskalierte die Lage völlig.

Ab dem 22. September eskalierte die Lage völlig. Die Militärpolizei führte Haftbefehle gegen mehrere Kriminelle aus. Am Samstag wurden neun Personen festgenommen und 18 Gewehre beschlagnahmt. Drei Verdächtige wurden getötet, ein junger Mann verletzt. Am gleichen Tag erklärte Verteidigungsminister Raul Jungmann, 950 Soldat*innen nach Rocinha zu schicken, um den Verkehr rund um Rocinha zu sichern. Zudem wurde die Gemeinde großräumig von Soldat*innen umstellt, um Kriminelle daran zu hindern zu fliehen. Trotzdem ist es mehreren Verdächtigen gelungen, in den nahegelegenen Tijuca-Wald zu türmen – in eine Fläche von 4.000 Hektar zwischen dem Süd- und Nordteil der Stadt. So hat sich das Problem in auch andere Teile der Stadt verlagert.

Die Dominanz des Drogenhandels und die jüngsten Konflikte stehen symbolisch für das Scheitern des Sicherheitsmodells von Rio de Janeiro. Im Jahr 2008 begann die Regierung damit, in verschiedenen Favelas Stationen der Befriedigungspolizei UPP einzurichten – so auch in Rocinha. Ursprüngliche Idee des UPP-Modells war es, eine bürgernahe Polizei zu schaffen und freundschaftliche Beziehungen zu den Bewohner*innen aufzubauen. Wie in anderen Teilen von Rio de Janeiro war die Freundschaft auch in Rocinha schnell vorbei. Dies habe der UPP nachhaltig geschadet, analysiert Ignacio Cano, Mitglied des Forschungsinstituts zu Gewalt der Bundesstaatlichen Universität von Rio de Janeiro (Uerj). Im Jahr 2013 sorgte ein Fall in Rocinha für weltweite Schlagzeichen: Der Maurer-gehilfe Amarildo de Souza verschwand, nachdem er von UPP-Polizisten festgenommen wurde. Der Fall wurde zum Symbol für die grassierende Polizeigewalt und löste weltweit Proteste aus. Im November wurden 70 Polizist*innen der UPP ausgetauscht. Das angeschlagene Image der Truppe sollte verbessert werden.

Die Probleme der Polizei werden durch die derzeitige schwere Wirtschaftskrise verschärft. Rio de Janeiro hat ein Haushaltsdefizit von umgerechnet rund 5,6 Milliarden Euro. Boni für Polizist*innen wurden abgeschafft und die Regierung hat es versäumt, die freiwerdenden Stellen neu zu besetzen. Dies hat zu einem Rückgang von 3.000 Polizist*innen in fünf Jahren geführt. Auch Überstunden wurden seit langer Zeit nicht mehr bezahlt. Im August 2017 wurden die Mittel für die UPP um 30 Prozent gekürzt. Laut der Analyse des Wissenschaftlers Cano habe die wirtschaftliche Flaute auch zu einer Schwächung des Staates geführt. Dies führe wiederum dazu, dass immer mehr Menschen ihre Wege auf dem illegalen Markt suchen. Die Überfall- und Mordrate hat in letzter Zeit stark zugenommen, auch von Polizist*innen. Die erbitterten Territorialkämpfe sind eine Folge davon – die Gewalt in Rocinha ist die blutige Spitze des Eisbergs.

Ende Juli unterzeichnete Präsident Michel Temer ein Dekret, dass den Einsatz von bewaffneten Streitkräften in Rio de Janeiro erlaubt. Angehörige der Armee, Marine und Luftwaffe übernehmen im Bundesstaat von Rio de Janeiro nun zum Teil die Aufgaben der Polizei. Laut dem Dekret kann die Armee bis zum 31. Dezember auf den Straßen von Rio de Janeiro bleiben. Der Präsident ließ allerdings durchblicken, dass der Einsatz bis Ende 2018 verlängert werden könnte. Insgesamt wurden 8.500 Soldat*innen der Armee, sowie 620 Männer des Bundesheeres und der Bundesstraßenpolizei im ganzen Bundesstaat Rio de Janeiro mobilisiert. Der Fokus dieses Einsatzes liegt in der Metropolregion Rio de Janeiro. Teile dieses Heeres waren auch an der Besetzung von Rocinha beteiligt.

Diese Mobilisierung kostet umgerechnet rund 186 Millionen Euro bis zum Ende von 2017. Ein Gefühl von Sicherheit soll vermittelt werden. Auch will die Regierung zeigen, dass sie handelt. Die Gewalt in Rio de Janeiro wird so allerdings nicht gelöst. „Auf lange Sicht wird die Präsenz der Militärs nicht die Probleme lösen“, sagt Cano. Auch die Anthropologin Jacqueline Muniz vom Department für Öffentliche Sicherheit an der Bundesstaatlichen Universität von Fluminense meint: „Alle Regierungen, von Fernando Henrique, Lula oder Dilma, haben in einem Moment ihrer Amtszeiten das Militär mobilisiert. Dies dient dazu, Legitimität zu erreichen und von anderen Problemen abzulenken.“ Die Konflikte in Rio de Janeiro geschehen in politisch stürmischen Zeiten: Gegen Gouverneur Pezão laufen Ermittlungen, die in seinen Job kosten könnten. Präsident Temer hat mit nur fünf Prozent Zustimmung die schlechtesten Umfragewerte in der Geschichte Brasiliens. Gegen den 77-Jährigen laufen mehrere Verfahren.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der brasilianischen Onlinezeitung Nexo.

FREIHEIT UND KONTROLLE


YURI HERRERA wurde 1970 im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Er studierte Politikwissenschaften in Mexiko Stadt, 2009 promovierte er in Lateinamerikanischer Literatur an der Universität von Berkley (Kalifornien). Er hatte Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten in Mexiko und den USA. Neben seiner journalistischer Arbeit hat er bislang fünf belletristische Bücher veröffentlicht, gleich sein erster Roman Abgesang auf den König sorgte für Furore in der Literaturwelt. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch der Erzählband Der König, die Sonne und der Tod. Eine mexikanische Triologie erschienen. Ende 2016 erhielt er den internationalen Preis der Anna-Seghers-Stiftung. (Foto: Universität Köln)


Herr Herrera, Sie sagten einmal, ihre größte Muse sei die Scham, nicht produktiv zu sein. Wie geht es Ihrer Muse zurzeit?
Aktiv wie immer. Ich arbeite an mehreren Sachen gleichzeitig, aber ich habe immer das Gefühl, dass es nicht genug ist. Es ist wie der Kaffee am Morgen.

Im November 2016 haben Sie den Anna- Seghers-Preis erhalten. Gibt es einen Aspekt aus dem Werk von Anna Seghers, der Ihnen besonders wichtig ist?
Mich interessiert vor allem ihr Blick auf ihre eigene Zeit, wie sie die Geduld hat, zu verstehen, und diese mit einer Art empathischer Hoffnungslosigkeit verbindet. So kann sie das Drama der Menschen aus dieser Zeit kommunizieren.

Ihr wiederkehrendes Thema ist die Verbindung zwischen der Kunst und der Macht. Warum?
Es ist eine Spannung, die in allen Gesellschaften existiert: Zwischen denen, die bewahren und kontriollieren wollen, und denen, die nach neuen Formen suchen, auf die Welt zu sehen. In Mexiko drückt sich das seit einigen Dekaden institutionell aus. Es bleibt also ein Thema, das nicht zu Ende geht, und weiter reflektiert werden
muss.

Sie sagen, dass eine permanente und sehr tiefe Beziehung zwischen der mexikanischen Literatur und der Politik bestehe. Diese gehe so weit, dass der Staat die Schriftsteller finanziere, „eine sehr verdächtige Verbundenheit“ nannten Sie das mal. Können Sie das erklären?
Obwohl ich glaube, dass die Kulturpolitik des mexikanischen Staates sehr gute Momente hatte – zum Beispiel erfolgreiche Alphabetisierungskampagnen, Veröffentlichungen junger Autoren aus verschiedenen Landesteilen – hat sie auch eine Funktion der Kontrolle eingenommen. Oder sie sollte als solche benutzt werden: die Arbeit der Künstler zu subventionieren, im Austausch für ihre Verschwiegenheit. Zum Glück ist das literarische Feld in Mexiko weitaus vitaler und resistenter, als es diese Kulturdezernenten begreifen können.

Sie sprechen auch über die Schwierigkeit, die kulturelle Freiheit nicht zu verlieren und es sich gleichzeitig nicht mit den Eliten der Macht zu verscherzen. Wie funktioniert das?
Das passiert nicht nur in Mexiko. Schriftsteller sehen sich auf der ganzen Welt verschiedenen Typen von Grenzen ausgesetzt. Manchmal handelt es sich um staatliche Zensur, manchmal um Druck aus der Branche wie Literaturagenten, Verlage, Kritiker und manchmal um den Druck des Marktes. In jeder Epoche und an jedem Ort
müssen Schriftsteller die Art und Weise finden, sich diesem Druck nicht zu beugen und ihre eigene
Stimme zu finden.

Politiker*innen und Anführer*innen der organisierten Kriminalität in Mexiko fühlen sich unantastbar. Sie umgeben sich mit Leuten, die sagen, was sie hören wollen. Wann hat das angefangen?
Das ist kein mexikanisches Problem. Mexiko ist kein Land, in dem die Grausamkeiten großartig anders sind als in Deutschland, der Schweiz, England oder den USA. Mexiko ist das Land, das die Toten zu einem Geschäft macht, das bei anderen aus Nachfrage, Waffen und Regeln besteht. Erinnern wir daran, dass die Gruppe, die die Studenten von Ayotzinapa attackierte, deutsche Waffen hatte. Natürlich haben wir spezifische Verantwortungen, ein veraltetes politisches System bestimmt durch Korruption, einen jahrzehntelangen Rassismus, den sich viele weigern zu sehen, eine systematische Straflosigkeit, aber die Gewalt in Mexiko entspringt auch aus den Ländern, die sich für zivilisiert halten, aus der Ferne betrachtet.

Sie sagten, es sei nicht wahr, dass keiner etwas gegen die Gewalt und die Stille tue. Können Sie einige Medien oder Aktionen nennen, die nach der „Wahrheit“ suchen?
Es gibt viele Leute, die daran arbeiten, die Meinungsfreiheit zu bewahren: Da ist die Organisation Articulo 19, kleine Medien aus Veracruz, aus Sinaloa und aus Mexiko-Stadt, die elektronischen Magazine Sin Embargo und
Lado B, Gemeinderadios im Süden und Südosten des Landes und viele andere.

Sie haben auch mal eine Gewerkschaft von Haushaltshilfen erwähnt…
Das ist noch eine kleine Gewerkschaft, aber sie zeigt, dass es immer noch elende Formen der Ausbeutung aus der Kolonialzeit gibt. Sie ist bemerkenswert, weil es sich um eine Gruppe Frauen handelt, die sich entschieden hat, für ihre fundamentalen Rechte zu kämpfen. Das könnte sich als kultureller Wandel herausstellen.

Um den Prozess zu erklären, wie Sie die adäquate Sprache in Ihren Büchern finden, benutzen Sie das Bild des Malers mit seiner Farbpalette und den verschiedenen Farben. Aber nicht immer gibt es „Farben“ für die Gewalt. Gibt es Dinge, die Sie persönlich schockieren und sprachlos lassen?
Natürlich, ständig gibt es Situationen, für die man nicht sofort Worte findet. Aber genau das ist die Arbeit der Kunst, die Worte zu kreieren, sie nicht einfach aus dem Wörterbuch zu entnehmen. Manchmal geht es darum, alte Wörter zu erneuern, manchmal darum, für sie eine andere Konnotation zu finden, manchmal darum, sie zu transformieren. Es gibt nicht den einen Weg.

Stört Sie der Begriff narco poesia (“Drogenhändlerpoesie” als Titel einer Rezension eines Ihrer Bücher?
Nein, wenn man ein Buch veröffentlicht, kann man keine Kontrolle mehr über die Art und Weise haben, wie es gelesen wird. Das ist okay. Persönlich denke ich, dass diese Etiketten die Literatur nicht bereichern, aber in manchen Bereichen haben sie eine Funktion für analytische Zwecke. Letztendlich können die Lektoren mit dem Text machen, was sie wollen.

Sie sind weit weg von der US-Grenze im zentralmexikanischen Hidalgo geboren. Woher stammt Ihr Interesse für den Norden Mexikos und die Grenze zu den USA?
Ich habe zwischen 2000 und 2003 an der Grenze zwischen El Paso und Ciudad Juárez gelebt, aber das war nicht mein erster Kontakt. In Mexiko hat fast jeder Familienmitglieder, die mal in die Vereinigten Staaten immigriert sind, ob sie nun zurückgekehrt oder auf der anderen Seite geblieben sind.

Vor einigen Wochen hat eine deutsche Wochenzeitung Monterrey und Indianapolis miteinander verglichen. Ein Unternehmen aus Indianapolis hat letzten Februar 1.000 Arbeitsplätze nach Mexiko umgesiedelt, wie auch
andere. Mondelez produziert seine Oreos nicht mehr in Chicago, sondern in Monterrey. Er liebe Oreos, aber er werde sie nie wieder essen, sagte Donald Trump. Glauben Sie, dass der neue US-Präsident das Thema der Arbeitsplätze, die ins Ausland gehen, wirklich verändern wird? Wird er seine Rhetorik beibehalten?
Das werden wir sehen. Ich bezweifle stark, dass er die Beschäftigungen, die die Malereibetriebe in vielen Orten Mexikos geschaffen haben, zurückholen will. Zum Beispiel: Unglaublich schlecht bezahlte Arbeiten, zu viele Stunden, wenig oder gar kein Rechtsschutz, wenig oder gar keine medizinische Versorgung. Sicher wird Trump einige weitere spektakuläre Mittel ergreifen, einige Unternehmen unter Druck setzen, damit sie ihre Investitionen zurücknehmen. Aber um die wirtschaftliche Dynamik zwischen den zwei Ländern zu verändern, bedarf es weit mehr als einen Ausstoß von Testosteron. Ich habe den Eindruck, dass das Geschrei rund um das Freihandelsabkommen Nafta eher den hysterischen Versprechen des Wahlkampfs entspricht als einer Bewertung dessen, wie Nafta funktioniert hat. Es wird ohne Zweifel Veränderungen geben, aber nicht in der Schnelligkeit, die er versprochen hat.

Hat Sie das Tempo überrascht, mit dem Trump die ersten, spektakulären Entscheidungen getroffen hat?
Nein, aber viele dieser Entscheidungen entstammen eher seinem Versuch, entschlossen zu wirken als einem konkreten Plan. Viele davon werden nicht einmal realisiert werden. Trump wird herausfinden, dass es deutlich
mehr braucht, als Papiere zu unterschreiben, damit die Dinge in Bewegung kommen. Aber vielleicht kommt es ihm darauf nicht an, seine Sache ist das Spektakel.

Ist es möglich, die Problematik um die Migration zu verschlimmern, anstatt sie zu lösen?
Wenn man die Migration ausschließlich als ein Problem betrachtet und nicht als ein Phänomen, das die Gesellschaften bereichert, ist es natürlich möglich. In Europa ist das passiert, und wir können bereits sehen, dass der mit dem Aufstieg Trumps entstandene Hass die Situation der Migranten verschlimmert, die in den Obama-Jahren schon ziemlich schlecht war.

Was denken Sie über die Rolle der mexikanischen Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Migrant*innen aus Zentralamerika?
Das ist eine passive Komplizenschaft. Es hätte eine viel größere Reaktion auf den Missbrauch geben müssen, den die Migranten aus Zentralamerika auf ihrem Weg durch Mexiko und bei ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten erleiden mussten.

Die Reaktion der Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung auf Präsident Peña Nietos Ablehnung von Trumps Ideen und seiner Absage des geplanten Staatsbesuchs in Washington – war das ein kurzer Moment von Einigkeit in Mexiko?
Einigkeit kommt nicht auf magische Weise zustande. Ja, es gibt eine Einheit in der Ablehnung von Trump. Diese darf aber nicht als unbegrenzte Unterstützung des Präsidenten verstanden werden, mehr noch: Wenn diese ganze Episode etwas bewiesen hat, ist es die Unfähigkeit Peña Nietos eine Vision des Staates aufzuzeigen.

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