WARUM LEBEN WIR IM PARADIES?

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Memo war kurz nach deren Gründung im Juni 2009 Kommandant der Guardia Comunal von Ostula. Seitdem ist ihm bewusst geworden, wie wichtig das Land für die Gemeinde ist. Er hat miterlebt, wie mehrere seiner compañeros von der kriminellen Vereinigung Caballeros Templarios gewaltsam verschwunden gelassen wurden.

Die 1531 gegründete Nahua-Gemeinde von Santa María Ostula an der Pazifikküste von Mexiko ist eigentlich eine paradiesische Gegend. Sie liegt in Aquila, einem der größten Kommunalverbände des Bundesstaates Michoacán und wahrscheinlich einem der rohstoffreichsten. Doch genau dies wird ihren Bewohner*innen zum Verhängnis. Seit 1964 kämpft die Gemeinde um die Wiederaneignung von 1.200 Hektar fruchtbarer Ländereien. Landraub, organisierte Kriminalität und politische Parteien verhindern seit Anfang des 20. Jahrhunderts aber immer wieder, dass die Nahua ihr Land nutzen können.

Pedro lebt in Xayacalan. Das gemeinsame Haus hat er zusammen mit seiner Frau Baudelia gebaut. Beide waren eng mit Don Trino befreundet, einem der beharrlichsten Kämpfer gegen die doppelte Macht aus Politik und organisiertem Verbrechen, der 2011 von den Caballeros Templarios ermordet wurde.

Ein Erlass des Präsidenten im Jahr 1964 ermöglichte zwar der Gemeinde, das Land legal zu nutzen. Doch weder die landwirtschaftlichen Gerichte noch irgendeine andere Behörde erkannten dieses Recht an. Stattdessen ließen sie weiteren Landraub zu, entweder durch die Lokalpolitik in Form von Vertreter*innen der langjährigen Regierungspartei PRI oder, wie in jüngster Vergangenheit, durch das organisierte Verbrechen, insbesondere durch die bekannte kriminelle Gruppe Caballeros Templarios (Tempelritter).

Doña Juana schaut skeptisch nach dem Fotografen. Die mexikanische Essayistin Marina Azahua nannte diese Reaktion ein „unfreiwilliges Porträt“. Aber in Doña Juanas Blick ist auch Neugier. Sie hat seit vielen Jahren Widerstand geleistet und um ihr Land gekämpft. In ihrem hohen Alter hat sie von der Geschichte der Gemeinde Ostula viel mitbekommen: Eine Geschichte von Stärke trotz des großen Leids, trotz Angst und Tod.

Bis 2009 hatte die Gemeinde von Ostula für politische Rahmenbedingungen gekämpft, die eine Legalisierung der wiederangeeigneten Landflächen ermöglichen sollten. Seitdem gehen das organisierte Verbrechen und die Politik gewalttätig gegen die Gemeinde vor. Die Bilanz: 34 Ermordete und sechs Verschwundene. Der eiserne Widerstand und die gesammelte Erfahrung im Kampf gegen solche Repressionen bilden heute die grundlegende Basis für den Zusammenhalt der Gemeinde.

Felipa und Rosendo lächeln in die Kamera, die etwas von der Friedlichkeit einzufangen versucht, in der sie leben. Sie bearbeiten Holz und Palmenblätter und bewahren damit eine Tradition: Sie weben equipales, eine Art kleine Korbstuhlbank die zum traditionellen Mobiliar der Gemeinde gehört. Während der Jahre der Gewalt konnten sie diese Arbeit lange nicht ausüben, weil kriminelle Gruppen das verboten.

Nach einer Offensive gegen die organisierte Kriminalität und institutionelle Korruption gelang es Santa María Ostula im Jahr 2014, mit ihrer selbst gegründeten Kommunalwache Guardia Comunal, die Bewohner*innen zu schützen. Sie beruft sich in ihrem autonomen Handeln auf das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), das in Mexiko Anfang der Neunziger ratifiziert und 2011 in die Verfassung aufgenommen wurde. Das Abkommen gesteht indigenen Gemeinden unter anderem das Recht auf Land und eigene Kultur zu.
Bergbau, Straßenbauprojekte und Tourismus sind eine zusätzliche Bedrohung für Ostula, nicht nur durch die drohende Umweltzerstörung. Die naheliegende Mine Las Encinas des italienisch-argentinischen Unternehmens Ternium übt permanent Druck auf die Nahua-Gemeinde aus: Das Unternehmen will den Bergbau ausweiten und um jeden Preis auch die Grundstücke der Nahua-Gemeinde an sich reißen.

Trueno hat viel dafür gekämpft, dass seine Gemeinde die Landflächen behalten kann, ohne sich unter die Kontrolle des organisierten Verbrechens zu stellen. Seit 2009 – dem Jahr, in dem sich die Gemeinde 1.250 Hektar wiederaneignetete – hat Trueno an allen Initiativen von Ostula teilgenommen. Heute wird diese wiederangeeignete Fläche zum Wohnen und für Landwirtschaft genutzt. Auch Trueno hat hier seinen Wohnsitz.

Ein Abkommen zwischen der bundesstaatlichen Regierung von Silvano Aureoles und dem indischen Unternehmer Lakshmi N. Mittal (ArcelorMittal ist der weltgrößte Stahlproduzent, Anmerkung der Redaktion) bildet eine zusätzliche Gefahr für die Biodiversität der gesamten Küsten- und Gebirgsregion von Michoacán. Der Vertrag besiegelt den Ausbau des Hafens Lázaro Cárdenas sowie die Weiterentwicklung von Bergbauaktivitäten an der fast 300 Kilometer langen Küste – eine Bedrohung für die Sicherheit und Stabilität aller dort angesiedelten Gemeinden.

Ariana hält in der Küche ihre kleine Tochter im Arm, während der Morgen sich langsam über der Hitze des Herdes ausbreitet. Zehn Jahre nach der Wiederaneignung des Landes, auf die damals eine Offensive krimineller Banden und der Politik mit 34 Ermordeten und sechs Verschwundenen folgte, hält sich die Gemeinde heute stabil, vereint und stark. Sie erbaut sich wieder einen Alltag.

Lakshmi N. Mittal, einer der hundert reichsten Menschen der Welt, konnte bei dem Abkommen mit der Regierung drei Forderungen durchsetzen: erstens, dass das organisierte Verbrechen verschwindet, zweitens: die juristische Zusicherung, die Landflächen nutzen zu können. Und drittens: die Abwesenheit von jeglicher Opposition, seien es Umweltschützer*innen oder indigene Gemeinden. Allein letzteres bedeutet ein ökologisches, soziales und kulturelles Desaster.

Alle machen mit Mehr und mehr nehmen junge Frauen eine entscheidende politische Rolle innerhalb der Gemeinde ein. Ihre Unterstützung der Familien, die für das Land kämpfen, macht sie zu gesellschaftlich handelnden Subjekten. Das geben sie auch an die nachfolgenden Generationen weiter.

Trotz der komplexen Situation ist die Nahua-Gemeinde von Ostula für viele ein Vorbild im Widerstand gegen das organisierte Verbrechen und Megaprojekte. Sie steht für ein Streben nach einem friedlichen Leben, im völligen Einklang mit der Umwelt.
Aktuell konnte Santa María Ostula die Sicherheit ihrer Grundstücke verbessern und andere benachbarte Gemeinden stärken, sodass die Region ein wenig friedlicher (und produktiver) ist.
Auf den wiederangeeigneten Landstücken hat die Gemeinde von Ostula eine Ortschaft gegründet: Xayacalan. Hier werden Papaya, Hibiskus, Melonen, Tamarindenfrucht und Mais gesät – statt Marihuana und Mohn. Statt der heimlichen Massengräber, wie sie von der organisierten Kriminalität geschaffen werden, entsteht etwas Neues.

 


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¿POR QUÉ VIVIMOS EN EL PARAÍSO?

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Memo fue comandante de la primera época de la Guardia Comunal de Ostula, es decir desde junio de 2009. Desde entonces ha cobrado una conciencia clara de lo importante que es el territorio para la comunidad. Él ha sido testigo de cómo varios de sus compañeros de la Guardia han sido desaparecidos por los Caballeros Templarios.

La comunidad indígena nahua de Santa María Ostula, fundada en 1531, se encuentra en la zona costera de Michoacán, dentro del municipio más grande de la zona, y posiblemente, uno de los más ricos en recursos naturales. Invasores, el crimen organizado y diversos partidos políticos impidieron desde comienzos del siglo XX el uso de estas tierras. Durante muchas décadas –por lo menos desde 1964– ha luchado la comunidad por su restitución (1,200 hectáreas de tierras listas para cultivos diversos).

Pedro vive en Xayacalan, construyó su casa junto con su esposa Baudelia, los dos eran muy buenos amigos de don Trino, uno de los luchadores más tenaces contra el doble poder, aquel que es político y criminal al mismo tiempo.
A partir de una resolución presidencial emitida en 1964, la comunidad encuentra el camino legal para demostrar que tiene la facultad y el derecho de ocupar las tierras en disputa; sin embargo, ni los tribunales agrarios ni las autoridades competentes reconocieron este derecho legitimando la presencia de población invasora. Esta misma ha constituido el poder político local a través del Partido de la Revolución Institucional (PRI) y en fechas recientes el poder del crimen organizado, particularmente a través del grupo conocido como Caballeros Templarios.

Doña Juana mira con desconfianza el hecho fotográfico, lo que la ensayista mexicana Marina Azahua llama retrato involuntario. Pero lo hace también con curiosidad, tal vez preguntando si estas fotografías podrán capturar libremente la historia de su comunidad, la cual es una historia de fortaleza a pesar de lo doloroso que es el miedo y la muerte.

Recién en 2009 logra la comunidad consolidar las condiciones políticas y organizativas necesarias para llevar a cabo la recuperación de sus tierras por la vía de los hechos. Desde entonces, aquellos que codician estas hectáreas (políticos y criminales) desarrollaron una ofensiva violenta contra la comunidad. El resultado fueron 34 asesinados y 6 desaparecidos, además de una férrea resistencia y una experiencia de lucha que hoy es la base fundamental para mantenerse unificados como comunidad.

Felipa y Rosendo sonríen frente a una cámara que trata de retratar la tranquilidad en la que viven, lo mucho que les gusta trabajar la madera y la palma para mantener una tradición: tejer equipales, una suerte de pequeños bancos que son parte del moviliario tradicional de la comunidad. Durante los años violentos este trabajo no se llevó a cabo porque la presencia del crimen organizado prohibió esta actividad.

Tras una ofensiva contra el crimen organizado y contra la corrupción institucional a comienzos de 2014 la comunidad de Santa María Ostula logró organizar a su Guardia Comunal para proteger a las y los habitantes de este lugar. Para ello se basaron en las atribuciones del convenio 169 de la Organización Internacional del Trabajo, el cual fue ratificado por México a comienzos de los años 90 y elevado a nivel constitucional en 2011.
Mineras, proyectos carreteros y turísticos también amenazan con destruir el medio ambiente. La presencia cercana de la minera Las Encinas, del corporativo italo-argentino Ternium, representa una presión constante para la comunidad indígena, ya que la empresa minera intenta en la actualidad ampliar los terrenos de uso y tomar tierras comunales a cualquier costo.

Trueno es un comunero que ha luchado mucho para que su comunidad mantenga su territorio sin la presencia del crimen organizado. Ha participado en todas las iniciativas de la Ostula desde que en 2009 se recuperaron 1,250 hectáreas que ahora son fuente de cultivos y lugar de vivienda, una de ellas la de Trueno.

Por otro lado, el reciente acuerdo entre el gobierno estatal de Silvano Aureoles y el empresario indio Lakshmi N. Mittal, pone en riesgo la seguridad de la biodiversidad de toda la región sierra-costa michoacana y la estabilidad de las comunidades. El trato firmado consiste en el desarrollo del puerto de Lázaro Cárdenas y en el desarrollo minero en los casi 300 km de costa.

Ariana sostiene a su pequeña hija en la plenitud de su cocina y es posible notar que la mañana se instala lentamente al calor del fogón. Diez años después de una recuperación de tierras que trajo consigo una ofensiva criminal, que dejó a 38 personas entre desaparecidas y asesinadas, la comunidad se mantiene firme, unida y fuerte, reconstruyendo la vida cotidiana.

Tres condicionantes le puso el empresario y sexto hombre más rico del mundo al gobierno michoacano: la limpieza del crimen organizado, las certezas jurídicas para el uso de las tierras y la no existencia de oposición, ni indígena ni ambiental. Lo anterior tan sólo es el aviso de un desastre ecológico, social y cultural que se puede atender antes de que ocurra.

Todos participan Poco a poco las mujeres jóvenes van cobrando un papel decisivo en la participación política al interior de la comunidad. Su papel de sostén y de cuidado de las familias que luchan por la defensa del territorio, se ha traducido en una transformación a un sujeto social más activo, una herencia que tienen las nuevas generaciones.

A pesar de esta compleja situación, la comunidad nahua se mantiene como un fuerte punto de referencia en la resistencia, contra el crimen organizado y contra los megaproyectos en la búsqueda de una vida en tranquilidad y en total convivencia con el medio ambiente.
En la actualidad, Santa María Ostula también se encuentra consolidando la seguridad de su territorio y respaldando a otras comunidades vecinas para que la región de la sierra-costa sea productiva y pacífica.
En las hectáreas recuperadas, Ostula fundó la población de Xayacalan, lugar donde ahora se siembra papaya, jamaica, melón, tamarindo y maíz, en lugar de marihuana y amapola, o bien, fosas clandestinas, como hacía el crimen organizado.

 


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EIN TAG OHNE ARBEITER*INNEN

“Keine ist frei, bis wir es alle sind” Der Frauenkampftag am 8. März in Mexiko-Stadt bezieht sich auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie // Foto: Nina Ißbrücker

Mit dem Generalstreik in Indien am 8. und 9. Januar 2019 gegen die gewerkschaftsfeindlichen Gesetzespläne der Regierung Modi fand mutmaßlich der größte Streik der Menschheitsgeschichte statt: 200 Millionen Arbeiter*innen sollen sich beteiligt haben. Nur zwei Tage später, ab dem 11. Januar, begannen vorerst „wilde“, nicht von Gewerkschaften koordinierte Streiks in der Maquiladora-Industrie an der Nordgrenze Mexikos. Dass in Maquiladoras, den lateinamerikanischen „Weltmarktfabriken“, gestreikt wird, ist selten. Kaum ist es möglich, dass sich in den grenznahen Montagefabriken die Arbeiter*innen überhaupt organisieren. Matamoros ist neben den Grenzstädten Ciudad Juárez und Tijuana der mexikanische Hauptstandort der Maquiladoras. Über eine Millionen Arbeiter*innen, überdurchschnittlich viele Frauen, schuften in 3.000 solcher Fabriken meist 12 Stunden am Tag. In Matamoros arbeiten etwa 80.000 Menschen in 122 Maquiladoras. Am 11. Januar 2019 haben dort 2.000 Arbeiter*innen auf einer Generalversammlung einen spontanen, nicht-gewerkschaftlichen Streik beschlossen. Gefordert wurde eine 20-prozentige Lohnerhöhung, eine Einmalzahlung von 32.000 Pesos (knapp 1.400 EUR) und die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche. Die sich ausweitende Streikbewegung ist mittlerweile bekannt als Movimiento 20/32, weil sie 20 Prozent Lohnerhöhung sowie 32.000 Pesos Einmalzahlung fordern. Zu den anfangs bestreikten Unternehmen zählen Inteva, STC, Polytech, Kemet, Tyco, Parker, AFX und Autoliv. Die meisten Maquiladoras in Tamaupilas beliefern die US-amerikanische Autoindustrie, vor allem General Motors, Ford und Fiat-Chrysler. Ende Januar war in fast allen US-amerikanischen Montagewerken von Ford und General Motors die Produktion zurückgefahren, weil es durch den Streik zu Lieferengpässen kam. In mindestens einem Werk, bei Ford in Flat Rock im Bundestaat Michigan, wurde die Produktion ganz eingestellt.

Es geht um mehr als einen Tarifstreit

Die prekären Bedingungen in den grenznahen Betrieben waren ein Schlüsselelement in den Neuverhandlungen des Handelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen Mexiko und der Regierung Trump. Ein festgelegter Teil der Zulieferproduktion muss seit dem neuen Handelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada (USMCA) zu Stundenlöhnen von mindestens 16 US-Dollar erfolgen (siehe LN 533), auch um die Migration in die USA einzudämmen. Am 1. Januar 2019 wurde in Mexiko der Mindestlohn um 16 Prozent angehoben und liegt damit erstmals seit 30 Jahren über der Armutsgrenze.Im US-Grenzgebiet, in dem seit der Einführung von NAFTA im Jahr 1994 die Lebenshaltungskosten weit über dem Landesdurchschnitt liegen, wurde der Mindestlohn verdoppelt. Die Freien Produktionszonen (FPZ), in denen die Maquiladoras liegen, bleiben jedoch ausgenommen. Gleichzeitig wurde für die Maquila-Unternehmen die Umsatzsteuer auf 20 Prozent reduziert und weitere Anreize für Gesundheitsfürsorge, Bildung und Verkehrsausbau geschaffen.
Auslöser der Streikbewegung war die ausbleibende Erhöhung der Löhne in der Maquila-Industrie, „die außerhalb unserer Wettbewerbsmöglichkeiten liegen“, wie der Präsident des Nationalen Rats der Maquila-Industrie (INDEX), Luis Alegre Lang, gegenüber der Tageszeitung Vanguardia sagte. Gleichzeitig geht es um die weitere Zahlung von Zusatzleistungen, die über den Mindestlohn hinausgehen. „Der Grundlohn in den meisten Maquiladoras liegt zwischen 90 und 100 Pesos. Aber die Arbeiter erhalten auch verschiedene Boni – für Produktivität, Anwesenheit, Transport und anderes. Als die Arbeiter eine Verdoppelung des Grundlohns forderten, wie es die Regierung versprochen habe, sagten die Unternehmen, sie würden die Bonuszahlungen streichen und im Ergebnis würden die Löhne nicht erhöht“ erläutert Julia Quiñonez vom Kommitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion (Comité Fronterizo de Obreras) gegenüber dem US-Journalisten David Bacon.

Die Streikbewegung weitet sich aus


Die Rolle der Gewerkschaften in dem Streik ist zwiespältig. Ähnlich wie in den USA sind Gewerkschaften in Mexiko einem komplexen Anerkennungsverfahren unterworfen und fungieren dann als Betriebsgewerkschaften – davon gibt es in Mexiko etwa 16.000. Die meisten Gewerkschaften sind nach wie vor in den historisch der ehemaligen Staatspartei PRI nahestehenden korporatistischen Dachverbänden CROM, CROC und CTM organisiert, darüber hinaus gibt es neue unabhängige Gewerkschaften und sogenannte „gelbe“ unternehmerfreundliche Gewerkschaften. Die jeweilige Zugehörigkeit erlaubt oft noch kein Urteil über den Charakter der Einzelgewerkschaft.
Der Streik richtete sich anfangs sogar explizit gegen die Gewerkschaft der Tagelöhner und Industriearbeiter und der Maquiladora-Industrie (SJOIIM, Mitgliedsgewerkschaft der CTM), die Überbezahlung von deren Funktionär*innen, die Höhe der Gewerkschaftsbeiträge und der Korruption beziehungsweise der Position der Gewerkschaft auf Unternehmensseite. Als am 18. Januar die Streikenden zu den Gewerkschaftsbüros mobilisiert hatten, ließ der lokale Vorsitzende des Dachverbands CTM, Juan Villafuerte Morales, diese sogar schließen. Unter Druck geraten, rief die SJOIIM am 24. Januar dennoch offiziell zum Streik auf, versuchte aber gleichzeitig, gemeinsam mit Politiker*innen von Morena und der Regierung, den Streik herunter zu kochen.
Ende Januar wies die mexikanische Regierung die Bundesstaatsregierung von Tamaupilas an, den Streik zu beenden. Mit der Erklärung der inexistencia (Nicht-Existenz) eines Streiks nach mexikanischem Arbeitsrecht gilt dieser als illegal und kann den Entzug der Gewerkschaftsrechte und Entlassungen zur Folge haben. Streikposten waren von diesem Zeitpunkt an mit Marine und bewaffneter Polizei konfrontiert, Gewalt ging auch von privaten Sicherheitsunternehmen aus, etwa bei der Entfernung von Streikposten. Die Unternehmen drohten als Reaktion auf die Streiks mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Strafanzeigen gegen „Agitatoren“. In den ersten zehn Tagen der „wilden“ Streiks hatten die Fabriken laut der Matamoros Maquila Association 100 Millionen US-Dollar verloren. 1.000 Streikende seien entlassen worden, meldete labournet.de am 25. Februar. INDEX-Präsident Lang betonte auch noch nach den Verhandlungsergebnissen, dass 15 Unternehmen planen würden Tamaupilas in den nächsten sechs bis neun Monaten zu verlassen.

Einige Unternehmen haben die Forderungen vollumfänglich akzeptiert

Die Streiks stellen in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit dar: Erstens begannen sie als sogenannte „wilde“ Streiks, also ohne Aufruf einer Gewerkschaft. Das ist auch deswegen entscheidend, weil die Tendenzen zur Selbstorganisation in Form von Räten, unabhängigen Gewerkschaften oder Komitees neue Perspektiven für die mexikanische und die gesamtamerikanische Arbeiterbewegung bieten. Zweitens beziehen sie sich auf die Politik von Staatspräsident López Obrador (oft AMLO genannt) und seine Partei Morena, sind also durchaus als politische Streiks zu betrachten, denn sie fordern die Einhaltung des Gesetzes zum Mindestlohn, es geht also um mehr als um einen klassischen Tarifstreit. Drittens haben sie mehrere Ausweitungen erfahren, sind tendenziell grenzüberschreitend und haben damit, wenn auch teilweise indirekt, Globalisierung, Freihandel und Migration zum Thema. Und viertens war die spontane Bewegung erfolgreich. Die Zahlen schwanken, aber mindestens 40, laut einer AP-Meldung sogar 44, der bestreikten Unternehmen haben die Forderungen der Streikenden nach Lohnerhöhung und Einmalzahlung Anfang Februar 2019 vollumfänglich akzeptiert. Dies ist der wesentlichen Hintergrund für die Ausweitung der Streikwelle. Anfang Februar dieses Jahres begannen Supermärkte und Unternehmen der Textilindustrie in Tamaupilas, sich die gleichen Forderungen auf die schwarz-roten Streik-Fahnen zu schreiben. Am 29. Januar schlossen sich 700 Arbeiter*innen der lokalen Coca Cola-Abfüllanlage ARCA Continental Planta Noreste an, etwa gleichzeitig traten 400 Arbeiter*innen aus drei lokalen Stahlwerken in den Streik sowie Matamoros’ Haupt-Milchlieferant Leche Vaquita und die Müllabfuhr der Stadt. Etwa 90 Kilometer von Matamoros entfernt, in der Grenzstadt Reynosa, begannen Anfang Februar 8.000 Arbeiter*innen in 45 Fabriken einen Streik, auch Angestellte in der Hauptstadt des Bundesstaates Tamaupilas, Ciudad Victoria, drohten mit Ausstand. Landesweit wollten sich Walmart-Angestellte der Bewegung anschließen. Der zuständige Gewerkschaftssektor CROC, der 90.000 dieser Arbeiter*innen organisiert, gab am 20. März eine entsprechende Streikankündigung heraus. Der Streik wurde durch die Schlichtungsverhandlungen verhindert. „Arbeiter […] von Tijuana bis Ciudad Juarez schauen auf die mutigen Aktionen der Arbeiter aus Matamoros. Die Arbeiter denken darüber nach, ihrem Beispiel zu folgen, und natürlich befürchten die Unternehmer genau das.“ sagt Julia Quiñonez vom Komitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion.
Rosa Luxemburg argumentiert in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ (1906), dass ökonomische Streiks eine Eigendynamik aufweisen, die aus sich selbst heraus zu einer Politisierung führen. Die Streiks an der nordmexikanischen Grenze bestätigen das. Sie haben eine Dynamik entwickelt, die weit über die geforderte Lohnerhöhung hinaus weist. Gerade an der mexikanischen Nordgrenze ist ein solches Streikgeschehen notwendigerweise mit den Themen Migration und Geschlechterverhältnisse verknüpft.
Die von den nordmexikanischen Arbeiter*innen am Generalstreiktag ausgegebene Parole „Ein Tag ohne Arbeiter“ erinnert nicht von ungefähr an die Parolen des globalen Frauen*streiks am 8. März diesen Jahres. Am „Tag ohne Arbeiter“ zogen die Streikenden über die Grenze nach Brownsville in den USA (der Zwillingsstadt Matamoros‘), um Solidarität von den US-amerikanischen Arbeiter*innen einzufordern, aber auch, um gegen jüngste rassistische und antimexikanische Äußerungen von Trump bei einer Rede in Brownsville zu protestieren.
Die argentinische Sozialwissenschaftlerin Verónica Gago und die mexikanische Philosophin Raquel Gutiérrez Aguilar beziehen die globale Streikbewegung vom 8. März auf die Bewegung gegen die Frauenmorde (Feminicidios) in Ciudad Juarez und damit auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie. Der Streik in Matamoros weist darauf hin, dass sich die Debatten und Organisierungsbemühungen der letzten zehn Jahre langsam in kollektiven sozialen Widerstand übersetzen. Aus der neuen Kraft des Feminismus und den neuen Entwicklungen der Arbeiterbewegung entsteht in der Liaison eine neue Form von Streik: der soziale Streik, der über die Welt der Lohnarbeit hinaus geht, gleichzeitig aber auch mehr ist als ein politischer Streik.


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HUNDERT JAHRE BLUTVERGIESSEN

„Die Eckpfeiler und Leitprinzipien der Ideologie des freien Marktes decken sich im Grunde mit der Ideologie von Verbrechersyndikaten“. Auf dieser zu Anfang des Buches dargelegten Prämisse baut die Argumentationsstruktur von ¡Es reicht! auf. Sie ist der rote Faden, der sich durch die Beschreibung einer der blutigsten und verworrensten Geschichten des 20. Jahrhunderts auf dem amerikanischen Kontinent zieht. Und obgleich keine unbekannte These, ist ihre so deutliche Formulierung doch provokant, denn sie sucht die Schuld vor allem bei der prohibitionistischen und neoliberalen Logik der US-amerikanischen und mexikanischen Regierungen.

Carmen Boullosa ist Autorin von Romanen, Theaterstücken und Gedichten, in denen sie immer wieder sozialhistorische Themen aufgreift. Ihr Partner Mike Wallace wurde für seine historische Stadtbiographie New Yorks mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Bezeichnend ist, dass das Buch trotz der Prominenz der beiden Autor*innen im Original auf Englisch und bisher überhaupt nicht auf Spanisch erschienen ist. Boullosa, in Mexiko eigentlich eine anerkannte Schriftstellerin und Literaturpreisträgerin, wurde diesbezüglich praktisch totgeschwiegen. In den USA hingegen schlug ¡Es reicht! 2015 große Wellen. Die Los Angeles Times bezeichnete den Text als wichtigen Beitrag zur Aufklärung derjenigen US-Amerikaner*innen, deren unbändiger Appetit auf illegale Drogen immer gravierendere Konsequenzen im Nachbarstaat mit sich zieht – hinzu kommt die Lethargie im Angesicht des endlos südwärts fließenden Waffenstroms

Obwohl ¡Es reicht! Anklage gegen diesen Teil der US-amerikanischen Zivilgesellschaft und die Regierungen der letzten Jahrzehnte erhebt, ist dies nicht der Fokus des Buches. Am Härtesten wird mit den Dogmen der mexikanischen rechtskonservativen Partei der Nationalen Aktion (PAN) und insbesondere der ehemaligen Staatspartei Revolutionäre Institutionale Partei (PRI) abgerechnet. Sie haben es nicht geschafft, den Blutrausch der Kartelle zu stoppen und sehen sich nun im 21. Jahrhundert mit einem Land konfrontiert, über das sie die Kontrolle längst verloren haben. Ein Land, das die Politik maßlos überfordert und vice versa.

Am meisten Kritik muss PAN-Politiker Felipe Calderón einstecken, der zwischen 2006 und 2012 Präsident Mexikos war und dessen Legislaturperiode etwa ein Drittel des Gesamttextes gewidmet wird. Laut den beiden Autor*innen habe dieser in Bezug auf den Kampf gegen die Kartelle keine einzige richtige Entscheidung getroffen. Seine Vorgehensweisen im sogenannten Krieg gegen die Drogen werden eine nach der anderen als desaströs entlarvt. Das mag für viele nichts Neues sein, krass ist es dennoch, diese als Zeitleiste des Totalversagens so präzise gebündelt präsentiert zu bekommen.

Doch auch das Freihandelsabkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko (NAFTA), die US-amerikanische Waffenlobby-Organisation National Rifle Association und die Rolle der US-amerikanischen Unternehmen, die in den maquiladoras insbesondere seit Beginn der Neunziger Jahre vor allem Frauen ausbeuten, bekommen ihr Fett weg. All diesen Akteuren wird eine Teilverantwortung in dem immer blutiger werdenden Krieg zwischen den schwer zu umreißenden Fronten zugeschrieben. Insgesamt wird die Politik als opportunistischer Spielball der Kartelle präsentiert: Von den Zerwürfnissen und Bündnissen zwischen den mächtigsten Syndikaten seien seit Beginn des 20. Jahrhunderts Krieg und Frieden in Mexiko abhängig gewesen. Die Politik habe dabei nur eine zweitrangige, sehr passive Rolle (mit der negativen Ausnahme der Präsidentschaft Calderóns) gespielt, was sich laut den Autor*innen auch nicht ändern werde, so lange die Prohibition Bestand habe. So habe beispielsweise das Friedensabkommen zwischen dem Golfkartell und dem damaligen Zusammenschluss des Sinaloa- und Juárez-Kartells den Krieg im Jahr 2008 erst wieder richtig aufflammen lassen, da sich ihnen verschiedenste zuvor verfeindete Splittergruppen nun gemeinsam in den Weg stellten.

¡Es reicht! liest sich wie eine chronologisch aufgezogene Netzwerkanalyse des staatlichen Scheiterns. Alle Beteiligten sowohl auf politischer als auch Kartell-Ebene – Grenzen unklar – dachten dabei scheinbar nur daran, ihr eigenes Image zu verbessern, Macht zu demonstrieren und sich auf Kosten von wem auch immer, ob Freund*in oder Feind*in, maßlos zu bereichern.

Boullosa und Wallace haben es geschafft, ein sehr komplexes und schwer einzugrenzendes Thema auf weniger als 250 Seiten verständlich und präzise auf den Punkt zu bringen. Sowohl die mexikanischen als auch die US-amerikanischen Verwicklungen werden durch das Autor*innenteam vielseitig beleuchtet. Auf der anderen Seite wird auch der Rolle einzelner Widerstandskämpfer*innen wie die des Dichters Javier Sicilia, der autodefensas in Michoacán, oder die der Eltern der Verschwunden von Ayotzinapa Rechnung getragen, die es zumindest für einen gewissen Zeitraum geschafft haben, eine breite Öffentlichkeit zu mobilisieren. Diese Mobilisierung ist es auch, die für die Autor*innen eine Schlüsselrolle in der Zukunft einnehmen muss. Die diesbezügliche Analyse ist umso wertvoller, da die Rolle der Zivilgesellschaft in einem so korrupten Staat wie Mexiko niemals unterschätzt werden darf.

Noch schöner wäre es allerdings gewesen, wenn die Autor*innen auch ihren auf politischer Ebene angesiedelten Lösungsvorschlägen mehr Platz eingeräumt hätten. Auf wenigen Seiten wird am Ende des Buches zusammengefasst, was laut Boullosa und Wallace von institutioneller Seite aus getan werden müsste, um das Blutvergießen zu beenden. Genannt werden die Schaffung einer mexikanischen Wahrheitskommission, wie sie bereits in anderen lateinamerikanischen Ländern existiert, die Implementierung eines möglichst autonomen Antikorruptionsprogramms und vor allem das Ende der Prohibitionspolitik. Konkretisiert werden diese Vorschläge leider nicht. Doch vielleicht ist dies auch nicht die Aufgabe von ¡Es reicht!. Einiges ist bereits damit getan, die Geschichte der Drogen aufzuarbeiten und Verantwortliche aufzuzeigen – ein erster Schritt, der in Mexiko bisher nur unter Lebensgefahr getan werden konnte. Umso wichtiger ist es, das Buch auch einem spanischsprachigen Publikum zugänglich zu machen.

 


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“FRAUENRECHTE SIND MENSCHENRECHTE”

Die Nachrichten, die uns aus Mexiko erreichen, drehen sich um Verschwundene, um Femizide und den Drogenhandel. Wie ist es, in einem solchen Klima zu arbeiten?
Es gibt kein anderes Gegengewicht zur Regierung als die Zivilgesellschaft und diese ist akut bedroht. Korruption und Straflosigkeit betreffen auch das Gesundheitssystem. In manchen Dörfern gehen die Medikamente aus, weil sie geklaut werden. Es ist wichtig zu zeigen, dass Korruption und Straflosigkeit die tödliche Mischung in allen Bereichen ist. Am meisten leiden darunter die Frauen, die, weit entfernt von den Städten, kaum finanzielle Mittel haben. Es ist schwierig zu arbeiten, während das Land in Stücke zerfällt. Wir kooperieren viel mit Menschenrechtsorganisationen. Zum Beispiel machen wir jetzt ein Projekt zum Thema Straflosigkeit, das zeigen soll, dass es egal ist, an welchem Thema du arbeitest. Ob es um Migration, Mord, Verschwindenlassen oder Abtreibung geht – die Mechanismen der Straflosigkeit sind die gleichen.

Wie sieht Ihre Arbeit in der Praxis aus?
GIRE hat einen Bereich für Rechtsstreitigkeiten eröffnet. Wir nehmen Fälle an, begleiten, dokumentieren sie und führen Gerichtsprozesse. Dadurch sind wir in engem Kontakt mit den Frauen. Die Fälle sind fast nie in Mexiko-Stadt, sodass wir viel durch das ganze Land reisen. Wenn es einen Fall gibt, betreuen wir ihn. Ein Grund einen Fall nicht anzunehmen wäre höchstens, wenn die Frau genug Geld hat, selbst einen Anwalt zu bezahlen. Schwierig ist auch, wenn die Taten sehr lange zurückliegen, dann kann man rechtlich oft nichts mehr machen. Auch kämpfen wir für Gesetzesänderungen im Kongress und organisieren Kampagnen, denn der öffentliche Druck hilft bei der rechtlichen Aufarbeitung schon sehr. Wir machen öffentlich, dass es um Muster, nicht um Einzelfälle geht. Der klassische Fall ist der der indigenen, armen Frau, die stirbt, schlecht behandelt oder der die Abtreibung verweigert wird.

Wie können diese Missstände behoben werden?
Ein wichtiger Schritt ist, dass während der medizinischen Schwangerschaftsbegleitung über Gewalt gesprochen wird. Die Frauen und die Ärzte sollen wissen, dass es nicht normal ist, dass Frauen der Zugang zu Kliniken verwehrt wird, sie mit niemandem in ihrer Sprache sprechen können. Viele erleiden schreckliche Grausamkeiten, von Überdosierung von Medikamenten, Demütigung, Schläge. Und das in einem Moment größter körperlicher und psychischer Verwundbarkeit. Es muss öffentlich gemacht werden, was in den Krankenhäusern passiert. Es ist die schlimmste Art von Machismus, weil sich die Frau in diesem Moment nicht verteidigen kann.

Was verbindet die meisten Fälle, die Sie begleiten?
In fast allen Fällen geht es um Vergewaltigung. Manchmal sind es junge Mädchen, die von Verwandten oder Nachbarn vergewaltigt wurden und schwanger sind. Sie bitten um legale Abtreibung. Wir übernehmen ihre Verteidigung, verklagen die örtliche Verwaltung wegen Vorenthaltung medizinischer Grundversorgung. Wir haben Klagen gegen Bundesstaaten eingereicht. Diese Fälle haben wir nicht gewonnen. Die Richter sagen, dass die Frau die Schwangerschaft fortsetzen müsse, um den Fall zu gewinnen. Immerhin haben wir erreicht, dass Frauen ihren Vergewaltiger – manchmal den eigenen Vater – nicht mehr anzeigen müssen und Minderjährige nicht mehr das Einverständnis ihrer Eltern benötigen, um abtreiben zu dürfen. Die politische Rechte hat Einspruch eingelegt, die Entscheidung liegt jetzt beim Obersten Gericht. Das Schlimme ist, dass so viele Mädchen dazu gezwungen werden, sehr jung Mütter zu werden, das Risiko einer frühen Geburt zu tragen und die Schule abzubrechen.

Warum stellt sich die Politik so gegen die Legalisierung von Abtreibung?
Ich glaube, es ist ideologisch motiviert. Viele können nicht tolerieren, dass eine Frau nicht Mutter sein will. Es gibt diese Wahrnehmung, dass die Mutterschaft ein Geschenk Gottes ist, über das man sich freuen muss. Es gibt viel Druck von Seiten verschiedener Kirchen und Konservativer, die glauben, dass du das Leben ab Empfängnis respektieren musst. Der politische Wille von oben fehlt, zu sagen, dass Mexiko ein laizistischer Staat ist und es die Option geben muss, auf legale und sichere Weise abzutreiben.

Haben Sie schon konkrete Angriffe auf Ihre Organisation erlebt?
Unsere Internetseite wurde angegriffen, wir haben Briefe bekommen, dass wir Kindermörder*innen seien, solche Sachen, aber mehr zum Glück noch nicht. Schwierig ist, dass die Frauen, die wir verteidigen, manchmal bedroht werden. Ich weiß nicht, wie ihre Identität bekannt wird, wahrscheinlich durch die lokalen Behörden selbst. Jemand bietet ihnen Geld an für ein Video, in dem sie behaupten sollen, dass GIRE sie gezwungen habe abzutreiben. Das ist besorgniserregend. Deshalb müssen wir sehr eng mit den Familien zusammenarbeiten, Vertrauen aufbauen. Wir haben auch ein Sicherheitsprotokoll für alles. Zum Beispiel reisen wir nicht mehr nach Michoacán, Tamaulipas und Sinaloa. Es ist schrecklich, einer Frau zu sagen, dass wir sie nicht begleiten können. Wir suchen dann nach anderen Wegen, um ihnen in ihren Bundesstaaten zu helfen.

Wie schätzen Sie die aktuelle politische Situation ein?
Ich bin besorgt darüber, was im nächsten Jahr bei den Wahlen passieren wird. Die PRI (Partei der institutionellen Revolution, Anm. d. Red.) ist absolut korrupt. Andrés Manuel López Obrador von Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung, Anm. d. Red.) ist auch nicht unser Freund. Zwar will niemand die PRI. Aber die Alternative ist für Frauen auch nicht überzeugend. Neulich wurde López Obrador in einem Interview gefragt, ob er Feminist sei und hat geantwortet, dass die Frauen „den Himmel verdienen“. Es ist traurig.

Was müsste passieren, damit sich die Situation für die Frauen verbessert?
Legalisierung von Abtreibung. Gute medizinische Versorgung. Die Möglichkeit, Armut nicht dein Leben bestimmen zu lassen. Vor allem die Entnormalisierung von Gewalt gegen Frauen. Nicht mehr ständig in der Defensive sein zu müssen, alltägliche Entscheidungen frei von Angst treffen zu können. Es ist im internationalen Kontext wichtig, Solidarität zu zeigen. Das gibt den Organisationen in Mexiko Kraft. Ein Gegengewicht zur offiziellen Version muss her. Für uns war dieser Preis sehr wichtig. Normalerweise bekommt das Thema Frauenrechte nicht viel Aufmerksamkeit.

 


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// NOTORISCHE VERSAGER

Es war ein Versagen mit Ansage. Die wenigsten Mexikaner*innen dürften überrascht gewesen sein, welch schwache Figur ihre politische Führung im Umgang mit den schweren Erbeben abgab. Diese ereigneten sich am 7. und 19. September im südlichen und zentralen Mexiko, erschütterten neben der Hauptstadt und angrenzenden Bundesstaaten weite Teile Oaxacas und Chiapas‘. In beiden Fällen war es die selbstorganisierte Bevölkerung, die schneller und effizienter Hilfe leistete. So aktivierte Präsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) am 19. September erst mit deutlicher Verzögerung den Katastrophennotfallplan „Plan MX“. Dieser sieht vor, das Militär in die betroffenen Gebiete zur Hilfe zu schicken. In der Zwischenzeit zogen Zivilpersonen Menschen mit bloßen Händen aus den Trümmern (siehe Titelfoto) und leisteten auf der Straße Notversorgung für Verletzte. Ohne die aufopferungsvolle Solidarität der zahllosen freiwilligen Helfer*innen, die tage- und nächtelang pausenlos arbeiteten, wären weit mehr Menschen gestorben.

Die Regierungen auf Landes- und Bundesebene hingegen simulierten oftmals nur Hilfe oder versuchten die Situation für sich politisch auszunutzen. So raubte die Regierung des Bundesstaats Morelos Spendengüter aus der Hauptstadt, um diese mit ihren Aufklebern zu versehen und als eigene Spenden zu deklarieren. Menschen aus den südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca berichteten, dass Hilfspakte oftmals nur an Anhänger*innen der Regierungsparteien übergeben wurden. Ebenso gibt es Aussagen von Augenzeug*innen, die berichten, wie ein LKW mit Hilfspaketen beladen vor einem zerstörten Haus hielt, Fotos machte – und die Pakete anschließend wieder mitnahm. Präsident Peña Nieto persönlich wollte in der Öffentlichkeit bella figura machen, indem er vor geladenen Fotograf*innen bei der Verladung der staatlichen Hilfspakete mit anpackte. Dumm nur, dass eine Videoaufnahme offenlegt, wie er vor der Aktion herumfeixt und in der organisierten Inszenierung die Kisten leer sind. Das Video ist ein Hit in den sozialen Medien.

Überhaupt kein Hit war dagegen die staatliche Krisenprävention. Seit Jahrzehnten bestehen strenge Bauvorschriften, die nach dem Erbeben 1985, das große Teile der Hauptstadt zerstörte, nochmals verstärkt wurden. Ebenso sind regelmäßige Überprüfungen der Bausubstanz vorgesehen. Wie kann es also sein, dass sogar neuere Gebäude jetzt einstürzten? Und wie kann es sein, dass ausgerechnet derjenige Ingenieur Schulgebäude nach dem Beben überprüfen soll, welcher der eben erst eingestürzten Schule Enrique Rébsamen im Jahr 2014 das Prädikat „perfekter Zustand“ verlieh? Ein Kollektiv aus Anwält*innen, Aktivist*innen und Akademiker*innen hat bei der Justizverwaltung von Mexiko-Stadt Klage gegen verschiedene städtische Autoritäten als auch private Bau- und Immobilienfirmen eingereicht. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.

Das staatliche Versagen bei dem Erbeben im Jahr 1985 war Initiationspunkt für das Entstehen einer sich selbst organisierenden Zivilgesellschaft, die das autoritäre korporatistische Herrschaftsmodell der PRI bekämpfte und demokratische Rechte einforderte. Echte Oppositionsparteien entstanden, unter anderem die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die seit 1997 in Mexiko-Stadt regiert. Das Machtmonopol der PRI zerbrach. Das staatliche Versagen bei den Beben im Jahr 2017 ist jedoch das aktuellste Beispiel dafür, dass sich zwar bisweilen das Parteibuch, nicht jedoch die Verantwortungslosigkeit und systematische Korruptheit der politischen Eliten geändert hat. Damals wie heute kann sich die Bevölkerung im Wesentlichen nur auf sich selbst verlassen. Trotz der Abwärtsspirale aus entgrenzter (staatlicher) Gewalt sowie weitgehender gesellschaftlicher Verrohung und Apathie, in der sich das Land seit einem guten Jahrzehnt befindet, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Mexikaner*innen nun ihre Solidarität untereinander wiedergefunden haben, ein Hoffnungsschimmer.


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MEXIKANISCHER KREUZWEG

In kaum einem Land der Welt dürfte dem Amtsantritt Donald Trumps ähnlich entgegen- gezittert worden sein wie in Mexiko. Die Ankündigung des neuen US-Präsidenten, Millionen illegalisierte Mexikaner*innen aus den USA abzuschieben und eine durchgehende Grenzmauer zu errichten, erhitzt die Gemüter. Ebenso die Ungewissheit, wie sich Trumps protektionistische Pläne auf die mexikanische Wirtschaft auswirken, die aufgrund ihrer strukturellen Abhängigkeit ungemein anfällig ist für Turbulenzen im Nachbarland. Das mexikanische Boulevardblatt El Gráfico titelte am Tag nach der Wahl Trumps mit fetten gelben Buchstaben: „FUUUCK!“. Und als dieser Ende Februar Anspielungen auf eine vermeintliche Sicherheitskrise in Schweden machte, fragte die überregionale Tageszeitung La Prensa auf ihrer Titelseite: „Was hat der denn geraucht?“.

Die bilateralen Beziehungen erreichten bereits kurz nach Trumps Amtsantritt einen neuen Tiefpunkt.

Es war nicht der erste Selbstmord, als sich am Morgen des 21. Februar ein 40-jähriger Mexikaner, der aus den USA abgeschoben worden war, von einer Brücke in der Grenzstadt Tijuana in den Tod stürzte. Doch die Verzweiflungstat steht symptomatisch für die aktuelle Situation. Ebenso die neu aufkommende Unsicherheit des indigenen Stammes der Tohono O’odham darüber, wie sie mit einer Mauer umzugehen haben, die ihr Territorium durchschneidet.

Die bilateralen Beziehungen erreichten bereits kurz nach Trumps Amtsantritt einen neuen Tiefpunkt. Geleakte Ausschnitte aus einem vertraulichen Telefongespräch zwischen dem mexikanischen Staatspräsidenten Enrique Peña Nieto und seinem neuen Amtskollegen offenbarten, dass der Nachbar damit drohte – ob im Scherz oder im Ernst ist unklar – die eigene Armee auf mexikanisches Territorium zu schicken, falls Mexiko mit dem Gewalt- und Drogenproblem der organisierten Kriminalität nicht eigenständig zurecht kommen werde: „Ich glaube, Ihre Armee hat Angst. Unsere nicht; ich könnte sie dorthin schicken, damit sie sich [um die ‘bad hombres’] kümmert“, soll Trump gesagt haben.
Diese Äußerungen lassen schlimmste nationale Ohnmachtsgefühle aufleben. Während des Kriegs 1846-1848 besetzen US-Truppen das Land, Mexiko kapitulierte und musste mehr als die Hälfte seines Gebietes an die USA abtreten.

Nur wenige Tage nach dem Telefonat folgte eine Militäroperation der mexikanischen Marine, die seit einigen Jahren im Inneren des Landes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität eingesetzt wird. Mit einem Black-Hawk-Hubschrauber – der normalerweise in Kriegsgebieten wie Irak oder Afghanistan eingesetzt wird – wurde der Anführer des Beltrán-Leyva-Kartells zusammen mit sieben weiteren Männern regelrecht niedergemäht. Mit der Aktion, auf die weitere folgten, sollte dem nördlichen Nachbarn signalisiert werden, dass man sehr wohl in der Lage sei, die eigenen Problemen zu lösen.

Mitte März wurde die bisher größte Anzahl an geheimen Massengräbern entdeckt.

Das Gelingen darf bezweifelt werden. Seit 2006 die extrem konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) das Militär in den Kampf gegen die Drogenkartelle schickte, versinkt das Land immer weiter in der Gewalt. Die 2012 gewählte Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) – der Inbegriff einer korrupten, skrupellosen Partei – führte das Gleiche fort. Medienwirksam kam es immer wieder zu Verhaftungen oder Tötungen von Kartellbossen. Geändert hat sich wenig, viel zu tief ist die Verstrickung der politischen Eliten und deren Handlanger bei Polizei und Armee in die illegalen Milliardengeschäfte. Dass sich unter den geschätzten 200.000 Toten – verlässliche offizielle Zahlen gibt es nicht – „nur“ 489 Soldat*innen befinden, lässt außerdem Rückschlüsse auf Dynamiken und Strategien der Regierungspolitik zu. Die allgemeine Bevölkerung gilt per se als Zielscheibe, ungestraft darf auf sie geschossen werden. Und selbst in den Fällen, bei denen es sich um Kriminelle handelt: In einem funktionierenden Rechtsstaat hätten auch sie den Anspruch auf ein faires juristisches Verfahren.

Aktuellster Beleg für die tiefe Krise Mexikos ist die Entdeckung der bisher größten Anzahl an geheimen Gräbern mit menschlichen Überresten Mitte März im Bundesstaat Veracruz. Verantwortlich für die Funde ist die Organisation Colectivo Solecito, gegründet von Müttern, die nach verschwundenen Angehörigen forschen. Die gemeinsame Suche mit der Staatsanwaltschaft begann bereits im August vergangenen Jahres, nach einem Tipp aus der Organisierten Kriminalität: Auf einem Blatt Papier waren mit Kreuzen am Hafen von Veracruz, rund um die Wohnsiedlung Colinas de Santa Fe, über 120 geheime Gräber eingezeichnet worden. Mehr als 250 menschliche Schädel und über zehntausend Knochenreste wurden gefunden. Die Anzahl an menschlichen Überresten lässt darauf schließen, dass die Zahl der Opfer viel höher als 250 ist. Unter den bisher nur sehr wenigen identifizierten Überresten befinden sich die eines Staatsanwalts und dessen Sekretärin, die 2013 von korrumpierten Polizisten entführt worden waren. Der international bekannte und mit Menschenrechtspreisen ausgezeichnete katholische Priester Solalinde kommentierte den Fall so: „Das ist nichts im Vergleich zu dem, was noch kommt.“

Hoffnungsvoll sieht ein Teil der mexikanischen Linken die Präsidentschaftswahlen im Juni 2018. Die 2014 gegründete Mitte-Links-Partei MORENA (Bewegung der Nationalen Erneuerung) hat Chancen, das Rennen für sich zu entscheiden, und damit auch, wenigstens offiziell, den Krieg im Land zu beenden. Erstmals zugelassen zur Wahl sind auch unabhängige Kandidat*innen. Am interessantesten scheint eine indigene Präsidentschaftskandidatin zu sein, die noch aus den Reihen des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI) bestimmt wird, mit dem Ziel zivilgesellschaftliche Mobilisierung zu stärken und politischen Wandel anzuregen (siehe LN 512). Der CNI agiert unabhängig, wurde aber 1996 von der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) gegründet.

Der Präsidentschaftskandidat von MORENA, Andrés Manuel López Obrador, versucht dagegen bereits zum dritten Mal in Folge sein Glück. Ein Unterschied zu den Wahlen von 2006, als er seinem Widersacher Felipe Calderón um 0,5 Prozentpunkte unterlag und bei denen gemeinhin von Wahlbetrug ausgegangen wird, ist vor allem in seiner medial-politischen Strategie zu sehen. Er klingt nicht nur wesentlich moderater in Interviews, sondern sucht bewusst den Schulterschluss mit Prominenten aus dem politischen und wirtschaftlichen Establishment Mexikos, die er in den letzten Wochen nach und nach in sein Team geholt hat.

Sollte es Trump gelingen, den Ausweg USA abzuriegeln, verschärft das die soziale Lage zusätzlich.

Zu ihnen zählt zum Beispiel Esteban Moctezuma Barragán, den López Obrador als Verantwortlichen für den Regierungsbereich Soziale Entwicklung benannte. Barragán hatte das Amt bereits unter dem PRI-Staatspräsidenten Ernesto Zedillo (1994-2000) inne. 1995 war er maßgeblich dafür verantwortlich, den Verrat an den Friedensgesprächen organisiert und der Generalkommandantur der EZLN eine militärische Falle gestellt zu haben. Ebenso wurde Alfonso Romo in AMLOs Schattenkabinett berufen. Der reiche Unternehmer ist unter anderem Gründer des Biotechnologiekonzerns Grupo Pulsar. Dieses war Anfang der 2000er Jahre maßgeblich daran beteiligt die Biodiversität des Urwaldgebiets Selva Lacandona, damals wie heute Stammgebiet der EZLN, zu privatisieren.

Mitte März befand sich López Obrador in den USA, um unter den dort lebenden mexikanischen Migrant*innen auf Stimmenfang zu gehen. Zugleich machte er bei der neuen US-Regierung Eigenwerbung: Mit ihm als Präsidenten sei es weitaus einfacher, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, das seit 1994 in Kraft ist, neu auszuhandeln. Trumps erklärtes Ziel trifft sich hier mit einer alten Forderung der mexikanischen Linken (und Teilen der US-amerikanischen), wenn auch unter anderen Vorzeichen. Von NAFTA profitiert hat auf mexikanischer Seite vor allem die Makroökonomie, der versprochene flächendeckende trickle-down-Effekt hinunter zu den armen Bevölkerungsschichten ist ausgeblieben. Vor allem auf dem Land hat NAFTA die Armut befördert: Mit den subventionierten US-Exporten wie Mais, Weizen und Bohnen konnten die kleinbäuerlichen Produzent*innen nie mithalten, viele mussten aufgeben. Doch auch in den Städten ist die Kehrseite von weltmarktbasierten Preisen auf Grundnahrungsmittel wie Tortillas, die immer wieder starken Schwankungen unterliegen, im Geldbeutel oder Magen spürbar. Als Nebeneffekt steht dem (inter)nationalen Niedriglohnsektor ein Reservoir an völlig mittellosen, meist jungen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung – und ebenfalls den Drogenkartellen. Sollte es Trump tatsächlich gelingen, den Ausweg USA weitgehend abzuriegeln, verschärft das die soziale Situation weiter. Gründe, NAFTA dringend neu zu verhandeln, gibt es genügend. Verhandlungen auf Augenhöhe werden es sicherlich nicht sein.

Zweifellos um endlich einmal das Staatszepter in den Händen halten zu können, begibt sich die institutionalisierte Linke auf wackeliges Terrain. Ein wirklicher Bruch mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik ist angesichts der fragwürdigen Parteipersonalien bei MORENA kaum vorstellbar. Andererseits hat Mexiko nach elf Jahren Abwärtsgang unter den Präsidenten Calderón und Peña Nieto kaum noch etwas zu verlieren. So setzen weite Teile der organisierten Zivilgesellschaft und wichtige Persönlichkeiten auf López Obrador. So auch Pater Solalinde, für den MORENA und Obrador „das letzte Mittel sind, um Mexiko friedlich in Ordnung zu bringen. Wenn er versagt oder er dazu gebracht wird zu versagen, oder verhindert wird, dass er gewinnt, dann wird das, was kommt, schlimmer sein.“ Gottvertrauen klingt anders.


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„ICH BIN ÜBERZEUGT, DAS RICHTIGE ZU TUN“

Die kritische Journalistin Carmen Aristegui im Interview (Foto: Tobias Lambert)

Mexiko gehört für Journalist*innen seit Jahren zu den gefährlichsten Ländern der Welt, wie ist aktuell der Stand der Pressefreiheit?
In bestimmten Regionen des Landes herrscht ein extremes Gewaltniveau. Seit die Regierung Felipe Calderón vor zehn Jahren den sogenannten Krieg gegen Drogen ausgerufen und den Kampf gegen das organisierte Verbrechen militarisiert hat, sind zehntausende Menschen verschwunden und getötet worden. Und diese Fälle sind praktisch alle straflos geblieben. Diese Gewalt hat auch Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit. In manchen Regionen reicht es aus, eine bestimmte Meldung zu veröffentlichen, um ermordet zu werden. Es sind Regionen, in denen Politik und organisiertes Verbrechen miteinander verbündet sind und unabhängiger Journalismus nicht möglich ist.

2012 wurde das Gesetz zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen verabschiedet. Warum greift es nicht?
Es ist so, wie mit vielen Gesetzen in Mexiko. Nicht zuletzt durch Urteile des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat es eine Reihe progressiver Reformen gegeben, doch die große Herausforderung ist die Umsetzung. Es ist schizophren: Wir haben fortschrittliche Gesetze, doch die Gerichte verhalten sich, als wären wir noch immer im vergangenen Jahrhundert. Oder sie haben nicht die nötige Unabhängigkeit für eine Rechtsprechung, die sich an Menschenrechten orientiert.

Sie wurden vor zwei Jahren von MVS-Radio unter einem Vorwand entlassen, nachdem zwei ihrer Mitarbeiter*innen sich mit dem Logo ihrer Sendung an der Enthüllungsplattform Mexicoleaks beteiligt hatten. Was steckte tatsächlich dahinter?
Es macht überhaupt keinen Sinn, dass ein privates Medienunternehmen das Programm abschafft, das die meisten Zuhörer*innen hat, also auch das meiste Geld bringt. Es sei denn, es mischt sich jemand von oben ein. Wir hatten zuvor recherchiert, dass der amtierende Präsident in einem Luxusviertel von Mexiko-Stadt ein Anwesen im Wert von über sieben Millionen US-Dollar besitzt. Wie er soviel Geld aufbringen konnte, ist aber aus seinen Einkünften nicht zu erklären. Die Immobilie war auf den Namen eines befreundeten Unternehmers eingetragen, der von der Zentralregierung und der Regierung des Bundesstaates Mexiko Aufträge erhalten hatte, als Peña Nieto dort Gouverneur war. In einem wirklich demokratischen Land hätte ein solcher Skandal ein Amtsenthebungsverfahren oder zumindest eine unabhängige Untersuchung nach sich gezogen, um die möglichen Interessenskonflikte zu ermitteln. Stattdessen wurde jedoch unser Rechercheteam angefeindet und nach sechs Jahren im Radiosender auf üble Art und Weise entlassen.

Wie ging es mit den Anschuldigungen gegen Peña Nieto anschließend weiter?
Unsere Recherchen konnte niemand widerlegen und der Präsident hat sich für den Skandal sogar öffentlich entschuldigt. Aber trotzdem gehen die Gerichte weiter gegen mich und mein Team vor. Neben Morden, Einschüchterungen und Entlassungen nutzen die Mächtigen auch die Justiz, um kritischen Journalismus zu verhindern. Gegen mich liegen eine Reihe von Anzeigen vor und mittlerweile gab es ein erstes Urteil. Es ging um ein Vorwort, das ich für ein Buch geschrieben habe, in dem es um den Fall von Peña Nietos Anwesen geht. Der zuständige Richter hat mich verurteilt und mir allen Ernstes vorgeworfen, „einen exzessiven Gebrauch der Pressefreiheit“ gemacht zu haben. Doch das ist nicht alles. Ende letzten Jahres sind fünf Personen in unsere Redaktionsräume eingebrochen. Es ging allein darum, uns einzuschüchtern, denn gestohlen wurde kaum etwas.
Welche Auswirkungen hat diese Situation auf Ihr persönliches Leben? Fühlen Sie sich bedroht?
Ich bin überzeugt, das Richtige zu tun, und glaube, dass wir unsere journalistische Arbeit unabhängig, mit Haltung und Freude ausüben müssen. Diese Motivation wiegt schwerer als die Sorge um die körperliche Unversehrtheit. Der größte Schutz, den wir haben, ist die Aufmerksamkeit des Publikums, dass die Leute sich dafür interessieren, was wir machen.

Welche Botschaft geht von Ihrer Entlassung für andere Journalist*innen aus?
Ich hatte dank der öffentlichen Wahrnehmung meiner Person und meiner Popularität einen sehr guten Vertrag ausgehandelt, der mir die alleinige inhaltliche Verantwortung für meine Sendung zugestand. Dieser Vertrag sicherte mir und meinem Team die notwendige Unabhängigkeit zu, die wir für unsere Arbeit brauchten. Dass ein Medienunternehmen solch einen Vertrag im Falle einer bekannten, etablierten Journalistin einfach brechen kann, sendet in einem Land, in dem viele Journalisten prekär arbeiten, ein furchtbares Signal aus. Denn wenn selbst ich einfach so entlassen werden kann, kann es jeden treffen. Doch auch wenn die Behinderung meiner Arbeit schlimm ist, ist sie nichts im Vergleich zu den Bedrohungen, denen viele meiner Kollegen ausgesetzt sind.

Ihre Entlassung hat nicht zuletzt ein Schlaglicht auf den staatlichen Einfluss auf den Journalismus in Mexiko geworfen. War der Sender wegen des Bezugs öffentlicher Werbeeinnahmen erpressbar?
Viele Medien hängen von staatlichen Werbemitteln ab. Es ist ein Werkzeug der Regierung, um Medienunternehmen je nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung zu belohnen oder zu bestrafen. Und das Geld wird diskret und ohne Transparenz verteilt. Wenn nun einzelne Medien ohne staatliche Zuwendungen nicht überleben können, ist klar, dass sie genau das berichten, was die Regierung wünscht. Peña Nieto hat bei seinem Amtsantritt angekündigt, diese Art der Zuwendungen zu regulieren. Bisher ist allerdings nichts passiert und letztlich haben weder die Regierung noch die großen Medienunternehmen ein Interesse daran. Aber der Präsident hat damit ein zentrales Thema angesprochen, da er vielfach dafür kritisiert worden ist, die Wahlen mit Hilfe einer unfassbaren Medienkampagne gewonnen zu haben. Er galt international als „Kandidat des Fernsehens“ und brachte die PRI nach zwölf Jahren zurück an die Macht.

Welche Rolle spielen alternative Medien in der öffentlichen Debatte in Mexiko?
Das hängt davon ab, was man als öffentliche Debatte bezeichnet. Alles deutet darauf hin, dass diese heute nicht mehr im traditionellen Fernsehen mit seiner einseitigen Kommunikation, sondern vor allem im Internet stattfindet. Die Zuschauerzahlen und Einnahmen des mexikanischen Fernsehduopols aus Televisa und TV Azteca gehen deutlich zurück. Ich glaube, das liegt daran, dass die Zuschauer*innen ins Internet abwandern, wo jeder eine Information veröffentlichen und damit eine Wirkung erzielen kann. Das bringt natürlich auch Gefahren mit sich, man denke nur an die Fake News, wie man heute sagt. Wir Journalist*innen müssen die Rolle der Journalist*innen für uns beanspruchen und zwar ebenso in den Zeitungen oder im Radio wie im Internet, wo die Qualitätsstandards genauso hoch sein müssen, wie in jedem anderen Medium. Erst, wenn du Informationen überprüft hast und die Verantwortung dafür übernimmst, bist du Journalist*in.

Seit Anfang des Jahres produzieren Sie Ihre neue Morgensendung selbst und streamen sie im Internet. Wie finanziert sich das Programm?
Bisher ausschließlich über die Werbeeinnahmen, die wir über die Klicks von Youtube beziehungsweise Google erhalten. Das funktioniert, weil wir im Moment eine feste Zuschauer- und Zuhörerschaft haben, die einen hohen Traffic generiert. Aufgrund des Volumens ist es uns möglich, eine Redaktion und die technischen Geräte zu bezahlen, um live als Radio- und Fernsehprogramm zu senden. Wir hoffen, dass das Publikum uns treu bleibt, denn nur so können wir auf Dauer weitermachen. Das heißt aber nicht, dass ich für die Zukunft ausschließe, auch andere Finanzierungsquellen zu nutzen, sofern sie transparent sind und unsere journalistische Unabhängigkeit garantiert ist.

 


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LEICHTES RUCKELN STATT BEBEN

Es war eine Frage der Ehre, mindestens. Eine Massendemonstration sollte es werden, ein eindeutiges Zeichen der Mexikaner*innen gegen den respektlosen Umgang von US-Präsident Donald Trump mit ihrem Land und ihren Landsleuten. Ganz Mexiko auf der Straße gegen dessen Plan einer Grenzmauer, gegen Abschiebungen aus den USA, gegen die pauschale Beschimpfung als „Vergewaltiger und Kriminelle“. Der Initiative #VibraMéxico („Mexiko erbebt“) gelang es schnell, Unterstützung zu finden. Knapp 90 Organisationen aller Couleur, darunter Oxfam und Amnesty International sowie die größten Universitäten des Landes, auch die Autonome Nationale Universität (UNAM), traten dem Bündnis bei.

Protest gegen Trump “ohne Demagogie und Hurrapatriotismus”.

Die Ausrichtung schien massentauglich, pathetisch- patriotische Allgemeinplätze statt politischer Positionierung waren angesagt. „Aus Respekt und Liebe zu Mexiko“ sei die Initiative geboren, „unparteiisch, friedlich und respektvoll“ solle der Marsch am 12. Februar „die Rechte aller verteidigen, eine gute Regierung einfordern und den Stolz feiern, mexikanisch zu sein“, so der Aufruf. Wer konnte da noch ruhigen Gewissens zu Hause bleiben?

„Wir!“, hatten schon etliche studentische Gruppen der UNAM im Vorfeld angekündigt. Sie kritisierten zunächst die Entscheidung des Rektors der UNAM, Enrique Graue, die Aktion im Namen der Universität ohne vorherige Befragung ihrer Mitglieder zu unterstützen. In einem offenen Brief gingen die Studierenden dann auch auf den Protestmarsch direkt ein, den sie als Unterstützung der Regierung unter dem Deckmantel der „nationalen Einheit“ bewerteten. Protest gegen Trump müsse „ohne Demagogie und Hurrapatriotismus“ einhergehen. Auch andere regierungskritische Organisationen und Intellektuelle lehnten eine Beteiligung an dem Protestbündnis ab. Sie kritisierten die Beteiligung von regierungsnahen Organisationen und Politiker*innen. Diese hätten ein Interesse daran, den Unmut über Trump in eine Rückendeckung für die unpopuläre mexikanische Regierung der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) umzumünzen. Diese hat nach der drastischen Erhöhung der Benzinpreise (siehe LN 512) eine Zustimmungsrate von nur noch zwölf Prozent. So äußerte sich der katholische Priester Alejandro Solalinde, Menschenrechtsverteidiger insbesondere für Migrant*innen, besorgt über die unkritische Unterstützung von #VibraMéxico. „Ich bedauere es sehr, dass Personen mit so viel moralischer Anerkennung und Autorität in einem von Televisa, der PRI und der PAN organisierten Marsch mitmachen“, so Solalinde (PAN war Regierungspartei von 2000-2012, Anm. d. Red.).

Pathetisch-patriotische Allgemeinplätze statt politischer Positionierung

Tatsächlich zählen vor allem rechte und regierungsnahe Medien, Wirtschaftsverbände und Organisationen zu den Initiator*innen von #VibraMéxico. Dazu zählt neben dem TV-Giganten Televisa auch die Organisation Mexicanos Primero. Diese steht federführend hinter derneoliberalen Bildungsreform, gegen die sich die Gewerkschaft der Lehrer*innen (CNTE) weiter vehement wehrt (siehe LN 509). Andrés Manuel López Obrador, Chef der Linkspartei MORENA und erneut Präsidentschaftskandidat für 2018, sonst nicht um ein Wort zur Verteidigung mexikanischer Souveränität gegenüber den USA verlegen, vermied es geflissentlich, auch nur ein Wort über #VibraMéxico zu verlieren.

Das Beben blieb am Tag der Wahrheit aus. Nach Angaben der Initiative folgten 40.000 Menschen in 21 Städten dem Aufruf, davon 20.000 in Mexiko-Stadt – eher bescheiden angesichts der Vielzahl an potenten Unterstützungsorganisationen und ihres Anspruchs, das ganze Land auf die Straße zu holen. Gerade für die Verhältnisse der demonstrationserprobten Hauptstadt war es alles andere als die erhoffte Massendemonstration. Zum Vergleich: Die LGBTIQ*-Parade im letzten Jahr hatte das Zehnfache an Menschen auf die Straßen von Mexiko-Stadt gelockt. Und es kamen auch deutlich weniger Teilnehmer*innen als bei den Januar-Protesten gegen die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto anlässlich des Anstiegs der Benzinpreise, dem gasolinazo. Allein in Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos, waren am 22. Januar 40.000 Menschen auf die Straße gegangen.

Das Beben blieb am Tag der Wahrheit aus.

Und während die Gasolinazo-Demonstrationen tatsächlich sozial sehr heterogen zusammengesetzt waren, war am 12. Februar vor allem die obere Mittelschicht präsent, um gegen Trump zu protestieren. Was auf Plakaten und Schildern zu sehen war, entsprach weitestgehend den Wünschen der Organisator*innen: Gegen Trump – gern als Hitler oder Anti-Christ dargestellt –, die Mauer und Abschiebungen sowie Einforderung von Respekt; beliebteste Accessoires waren bei weitem die mexikanische Fahne und Luftballons in den Nationalfarben. Reden gab es keine, die häufig intonierte Nationalhymne musste ausreichen. Bestimmte bei den vorherigen Protesten die regierungsfeindliche Parole „Peña raus!“ den Ton, dominierten nun patriotische „¡Mé-xi-co, Mé-xi-co!“-Sprechchöre – auch, um aufkommende Anti-Peña-Rufe zu übertönen. Dennoch nutzten einige Menschen die Gelegenheit, ihren Unmut gegenüber der eigenen Regierung auf Plakaten auszudrücken: „Das größte Problem Mexikos ist die Korruption“ oder „Ob mit oder ohne Mauer – zu Hause werden wir ausgeraubt“ lauteten einige Slogans. Keinen Erfolg hatten aber jene, die in größerem Stil protestieren wollten. Eine Gruppe mit Musikwagen und Plakaten gegen den mexikanischen Präsidenten wurde sofort von der Polizei eingeschlossen. Die dahinter folgende Gruppe von Akademiker*innen der UNAM musste dadurch eine ungewollte Pause einlegen. Ein paar der wenigen anwesenden Studierenden nahmen dies zum Anlass, ihren Rektor Graue direkt zu fragen: „Wo war die Universitätsbürokratie, als wir wegen Ayotzinapa (Bezug auf die verschwundenen 43 Studenten, siehe LN 507/508, Anm. d. Red.) auf die Straße gegangen sind?“ Als Graue dann auch noch ein Foto mit den Initiator*innen der Demonstration machte, fragte ein Journalist der Tageszeitung La Jornada: „Wann werden Sie ein Foto mit den Eltern von Ayotzinapa machen?“ Graue musste auch in den folgenden Tagen noch einige Kritik für die institutionelle Unterstützung seiner Universität an #VibraMéxico einstecken.

Die Initiator*innen hinter #VibraMéxico haben ihr Mobilisierungspotential trotz der weit verbreiteten Wut gegen Trump überschätzt. Es macht jedoch Hoffnung, wenn sich diese Wut angesichts der tiefen Krise des Landes nicht massenhaft gegen einen äußeren „gemeinsamen“ Feind kanalisiert – zumindest noch nicht. Erste Boykottaufrufe gegen US-Produkte hatten wenig Erfolg. Im Gegenteil, viele progressive Stimmen wenden sich dezidiert gegen die Burgfrieden- Absichten der regierungsnahen oder staatsaffirmativen Organisationen. Denn Anlass für Massenproteste gegen die Verhältnisse im eigenen Land gibt es zuhauf.


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„Der Fall der 43 Studenten eint die sozialen Kämpfe“

Bei den Demonstrationen am 20. November und am 1. Dezember wurden in Mexiko-Stadt mehrere Demonstrierende willkürlich verhaftet. Hat die Regierung in ihrem Bundesstaat Oaxaca ähnlich auf die derzeitigen Proteste reagiert?
Es gibt viel Protest seitens der Bevölkerung und der Nichtregierungsorganisationen in Oaxaca. Der Gouverneur (von der Partei Movimiento Ciudadano, Anm. d. Red.) möchte sich von der Vorgängerregierung der PRI abheben, die die sozialen Bewegungen unterdrückt hat. Deswegen gibt die Regierung des Bundesstaates vor, für einen Dialog mit der Zivilgesellschaft offen zu sein. Aber die Repression sozialer Bewegungen findet weiterhin statt, nur subtiler als früher. Die aktuelle Mobilisierung hat die bundesstaatliche Regierung aus dem gleichen Grund bislang nicht unterdrückt – zumindest nicht deutlich sichtbar. Zunächst schien es sogar so, als gäbe es einen gewissen Respekt gegenüber den derzeitigen Protesten. Aber Abgeordnete und Unternehmer in Oaxaca fordern nun, dass die Proteste ebenso eingeschränkt werden können, wie es in anderen Fällen bereits gemacht wurde. Das haben sie schon nach dem Gedenkmarsch für die 1968 ermordeten Studierenden am 2. Oktober getan. Es wird also schwer werden, die Proteste aufrecht zu erhalten.

Ist Ihrer Einschätzung nach die Repression gegenüber Aktivist*innen in der Regierungsperiode von Enrique Peña Nieto angestiegen?
Ja, sicher. Es ist natürlich nicht so, als habe es in den Vorgängerregierungen keine Repression gegeben, aber die Vorgehensweise war anders. Die vorherigen Regierungen haben den Weg dafür geebnet, dass heute die großen Strukturreformen umgesetzt werden können: allen voran die Bildungsreform, gefolgt von den Reformen im Energie- und Telekommunikationsbereich und der Landreform. Und die Umsetzung dieser Reformen geht damit einher, dass ihre Kritiker verfolgt werden. Das Thema politischer Gefangener hat in Mexiko immer dann an Brisanz gewonnen, wenn es um die Entwicklung des Landes ging und die Regierung wirtschaftliche Reformen durchsetzen will. Im Augenblick ist das auch so. Dabei ist die Bekämpfung der Oppositionellen aus dem Ruder gelaufen. Jetzt weiß die Regierung nicht, wie sie das wieder in den Griff bekommen kann und sucht nach Möglichkeiten, künftig noch repressiver vorgehen zu können.

Welche Mittel wendet die Regierung an?
Es geht darum, die Mobilisierung zu bremsen. Bei der Demonstration am 20. November in Mexiko-Stadt wurden elf Studenten festgenommen. Ihnen wurden schwere Straftaten wie terroristische Aktivitäten und Mordversuch vorgeworfen – das zeigt den Exzess der Bundesregierung. Am 1. Dezember nahm die Polizei erneut Leute fest. Dieses Mal lastetet sie ihnen zwar Straftaten an, bei denen Freilassung gegen eine Kaution möglich ist. Aber die Kautionen sind so hoch, dass sie in der Praxis nicht gezahlt werden können. Auf diese Weise wird der Bevölkerung klargemacht, womit sie rechnen kann, wenn sie solidarisch ist und protestiert. In Mexiko-Stadt haben wir gesehen, dass Leute, die nichts mit der Gewaltanwendung bei den Demos zu tun haben, eingeschüchtert und geschlagen werden. Außerdem gibt es Beweise dafür, dass es sich bei den gewalttätigen Demonstrationsteilnehmern um Infiltrierte handelt – nicht um Menschen, die mit der aktuellen Bewegung solidarisch sind. Auch Militärs haben an den Märschen teilgenommen und sich als Zivilisten ausgegeben. Mit dem neuen Gesetz zur Mobilität wird die Repression noch schlimmer. Ich denke, dass die Regierung außerdem darauf setzt, dass die Bevölkerung ermüdet. Das ist nämlich eine weitere Strategie: gar nicht reagieren, bis die Leute aufhören auf die Straße zu gehen.

Sie haben die Verfassungsänderungen zur „Sozialen Mobilität“ erwähnt, die Anfang Dezember im Abgeordnetenhaus verabschiedet wurden (siehe Infokasten unten). Worum geht es dabei?
Dieses Gesetz wurde schon vor einiger Zeit angestoßen. Es ist auffällig, dass es nun verabschiedet wird, da es die stärkste Mobilisierung seit langem gibt. Ursprünglich waren es Änderungen, die das Recht auf Mobilität garantieren sollten. Momentan spielt die Regierung das Demonstrationsrecht gegen das Recht auf Mobilität aus. Aber auch die Demonstranten nehmen ihr Recht auf Mobilität wahr und eigentlich sollte es keine Diskussion darüber geben. Und in solch einem traurigen Fall wie dem der verschleppten Studenten noch weniger! Es ist auch nicht das erste Mal, dass ein Gesetz verabschiedet wird, das Proteste eindämmt. In Puebla gab es das sogenannte Ley Bala (Kugel-Gesetz, Anm. d. Red.), das Schusswaffengebrauch gegen Demonstranten erlaubte. Ein 13-jähriger Junge starb dort im Juli, weil er durch eine Gaspatrone am Kopf getroffen wurde.

Denken Sie, dass die derzeitigen Proteste einen politischen Wandel anstoßen können?
Ich habe den Eindruck, dass der Fall der 43 Lehramtsstudenten mehr Geschlossenheit in der Bevölkerung bewirkt. Die Gesellschaft ist den ganzen Rechtsverletzungen überdrüssig. Die sozialen Kämpfe waren bislang fragmentiert: da war die Gewerkschaft der Elektriker, der Protest gegen den Wahlbetrug 2006, die Mobilisierungen der Studenten vor den Wahlen 2012 oder die Lehrergewerkschaft. Wenn die bedauerliche Situation einen politischen Nutzen hat, dann besteht er darin, dass verschiedene Sektoren der Gesellschaft zusammenfinden. So haben sich beispielsweise in Oaxaca verschiedene Nichtregierungsorganisationen, Menschenrechtszentren und Gewerkschaften zusammengeschlossen, um den Empfang der Karawane für die verschwundenen Studenten zu planen. Das hätte früher nicht unbedingt funktioniert. Genau das beunruhigt die Regierung wahrscheinlich – dass dieser Fall den ganzen Überdruss der Gesellschaft bündelt.

Wie erklären Sie sich, dass der Protest dieses Mal landesweit anhält – und die Repressionsstrategie der Regierung nicht aufzugehen scheint?
Wir haben schon so viel erlitten: erzwungenes Verschwindenlassen, Morde, aber auch Marginalisierung und Armut. Wir sind es leid. Dass sie gegen junge Menschen auf so grausame Weise vorgehen, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Scheinbar ist nun der Punkt erreicht, an dem den Leuten klar geworden ist, was wir schon alles erlebt haben und wie oft die Regierung die Dinge heruntergespielt und ihre Verantwortung geleugnet hat. Die Menschen sind empört, wütend, stocksauer. In anderen Fällen ist es gelungen, die Wut durch die Verbreitung von Angst zu verhindern. Aber jetzt haben es die Leute auch satt, sich diese Angst auferlegen zu lassen. Stattdessen sind sie wütend, weil auch ihre friedlichen Proteste unterdrückt werden.

Die Regierung ist also überfordert.
Für die Regierung gerät das Ganze außer Kontrolle. Denn normalerweise verlaufen Mobilisierungen in Mexiko anders. Früher hat die Beteiligung nachgelassen, jetzt scheint sie sogar anzusteigen. Das ist keine Kleinigkeit! Hinzu kommt, dass sich auch im Ausland sehr viele Menschen solidarisieren. Das erzeugt viel Druck auf die Regierung. Das Bild eines sicheren und demokratischen Staates erweist sich nun als falsch. Und es geht natürlich um viel mehr als um ein Image. Es geht auch darum, dass ausländische Investoren sich im Land niederlassen.

Wie kann es in diesem Szenario gelingen, aus der Situation von Unsicherheit und Gewalt herauszukommen?
Manchmal scheint es unmöglich, etwas bekämpfen zu können, das sich so festgesetzt hat. Noch mehr, weil die politische Klasse mit ihren wirtschaftlichen Interessen bislang nicht die Absicht gezeigt hat, etwas gegen Gewalt und Straflosigkeit zu unternehmen. Ein politischer Wandel erfordert es, grundlegende Fragen anzugehen. Ich weiß nicht, ob die derzeitige Mobilisierung ausreicht, um solch grundlegende Veränderungen zu erreichen.

Wer könnte das angehen?
Ich sehe keine politische Linke, die ein solches Projekt anführen und die Probleme herausfordern kann. Vor kurzem haben mich Abgeordnete des Europaparlamentes auch gefragt, ob es denn keine Partei gebe, auf die man dabei setzen kann. Ich denke nicht. Auch außerhalb der parteipolitischen Klasse gibt es keine Führungsfigur. Jede Bewegung hat ihre führenden Köpfe. Bislang gibt es niemanden, der alle repräsentiert; vielleicht ergibt sich das zu einem späteren Zeitpunkt. Wobei es ja auch schwer ist, die ganze Hoffnung in eine Gruppe zu setzen. Vielleicht gelingt es, aus der Zivilgesellschaft heraus etwas Neues zu gestalten und nach und nach kleine Veränderungen zu bewirken. Hoffen wir darauf, dass der Fall der Lehramtsstudenten nicht ein Fall unter vielen bleibt, an den wir uns in ein paar Jahren einfach nur erinnern.


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Die Wut der Straße

„1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17… ”. Die nicht enden wollende Zahlenreihe schallt über den abendlichen Zócalo in Mexiko-Stadt, mit jeder Nummer stimmen mehr Menschen in den Sprechchor ein. Zehntausende drängen sich auf dem riesigen Platz zwischen der Kathedrale, dem Nationalpalast und dem Rathaus, Hunderttausende in den umliegenden Straßen. „18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28. 29, 30, 31…“. Papierne Himmelslaternen steigen auf und erhellen für kurze Zeit die Umstehenden, vor dem Nationalpalast explodieren Böller und Raketen, zwischen improvisierten Konzerten, Theaterperformances, und spontanen Sit-ins ergießt der schier endlose Demonstrationszug sich weiter über den Platz. „32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43… ¡Justicia! ¡Justicia! ¡Justicia!“
Jede dieser Zahlen steht für einen der 43 von mexikanischen Polizisten und Mafiamitgliedern entführten Studenten der pädagogischen Fachhochschule Ayotzinapa, für den die Menge Gerechtigkeit fordert. Am 26. September wurde eine Gruppe von Lehramtsstudenten in der im Bundesstaat Guerrero gelegenen Stadt Iguala brutal attackiert. Bei dem Angriff und darauf folgenden Tötungsaktionen starben sechs Menschen, dem 22-jährigen Studenten und Familienvater Julio César Mondragón wurde vor seiner Hinrichtung die Gesichtshaut abgezogen (LN 485 und 486). Die Überlebenden wurden verschleppt, ihr Schicksal hat seitdem Woche für Woche mehr Menschen dazu bewegt, auf die Straße zu gehen. In den ersten Wochen waren diese Proteste zumindest in Mexiko-Stadt und anderen großen Städten noch stark studentisch geprägt. Den Eltern und Mitschülern der Verschwundenen sowie den Studierenden der großen Universitäten ist es zu verdanken, dass der mexikanische Staat dieses Verbrechen nicht, wie andere zuvor, hat vertuschen können. Auf den bisher größten Demonstrationen am 20. November, bei denen allein in der Hauptstadt etwa eine halbe Millionen Teilnehmer*innen marschierten, trat jedoch offen zu Tage, dass die Proteste mittlerweile von ganz verschiedenen Sektoren getragen werden.
Gewerkschafter*innen und LGBT-Aktivist*innen, progressive Katholik*innen neben Künstlerkollektiven und Studierenden, Unterstützungsgruppen der Zapatistas und eine nicht eben kleine Vereinigung von weißgekleideten Kundalini-Yoga-Anhänger*innen, dazwischen Tausende, die alleine, mit ihrer Familie oder anderen Menschen aus ihrem engsten Umfeld gekommen sind: Insbesondere in Mexiko, wo politische Mobilisierung traditionell zumeist über bestehende zivilgesellschaftliche oder parteipolitische Strukturen funktioniert, ist diese Zusammensetzung der Proteste ein Novum. Zum einen zeugt sie davon, dass sich eine häufig als sehr persönlich wahrgenommene Betroffenheit und Unzufriedenheit ihren Weg in den kollektiven öffentlichen Raum gebahnt hat: die Angst, die Wut, aber auch etwaige Lösungsansätze, die bislang systematisch individualisiert wurden, werden von mehr und mehr Menschen als gesellschaftliche, politische Probleme verstanden. Zum anderen stellt die Heterogenität der Bewegung, die bisher kein Akteur für sich in Beschlag nehmen konnte, sowohl ihre große Stärke dar, als auch eine ihrer größten Schwierigkeiten.
Jahrzehnte neoliberaler Umstrukturierung und polizeilich-militärischer Repression haben die mexikanische Gesellschaft in vieler Hinsicht fragmentiert. Es ist kein Zufall, dass die Antworten auf die andauernde, vom mexikanischen Staat und den Kartellen ausgehende Gewalt stets lokaler oder regionaler Natur waren – von der „Bewegung für den Frieden mit Gerechtigkeit und Würde“ um den Dichter Javier Sicilia einmal abgesehen. Die Forderung „Wir wollen sie lebend zurück!“ hat nun über Monate hinweg eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner hergestellt. Über diesen konnten sich sehr verschiedene politische Projekte zumindest punktuell artikulieren. An der Frage, wie es weiter gehen soll, entzweien sich jedoch schnell die Geister – und das nicht zuletzt, weil es im Allgemeinen ein klares Bekenntnis zur Pluralität der Bewegung und zur Notwendigkeit des Dialogs zwischen Verschiedenen gibt. Selten hat der zapatistische Traum einer „Welt, in die viele Welten passen“ einen so konkreten Ausdruck bis in die gesellschaftliche Mitte hinein gefunden.
Auch in anderer Hinsicht fühlt man sich an die Hochzeiten der zapatistischen Bewegung erinnert: die Institutionen und Repräsentant*innen des Staates nämlich werden von diesem Dialog bisher radikal ausgeschlossen. Das ist nicht nur eine Lehre aus dem Scheitern der Bewegung von Javier Sicilia, der sich völlig überstürzt auf Verhandlungen mit den Vertreter*innen des Staates einließ und so rasch seine Legitimität verspielte. Vielmehr leben die derzeitigen Mobilisierungen von der kollektiv erstellten Diagnose, dass Mexikos politisches System als solches von Grund auf verfault ist, weswegen Appelle an die Herrschenden oder Verhandlungen mit ihnen keine politische Option sind. Diese Einsicht kommt in den zentralen Slogans wie „Fue el Estado“ („Es war der Staat“, bezogen auf das Verbrechen an den Studenten) oder „Que se vayan todos“ („Sie – die Politiker*innen – sollen sich alle zum Teufel scheren“) überdeutlich zum Ausdruck.
Das Verbrechen an den Studenten aus Ayotzinapa wird nunmehr als ein weiterer, wenn auch besonders abscheulicher Moment in einer langen Serie von Staatsverbrechen, staatlichem Versagen und Korruption wahrgenommen. Immer wieder wird auf den Demonstrationen an die vom Staat oder parastaatlichen Akteuren verübten Massaker erinnert: am 2. Oktober 1968 erschoss das mexikanische Militär Hunderte Student*innen; im Juni 1995 ermordeten Polizisten in Guerrero 17 Bauern; 1997, zwei Tage vor Weihnachten, eröffneten Paramilitärs in Acteal das Feuer auf Mitglieder der indigenen Organisation Las Abejas und töteten 45 Menschen; und gerade einmal zweieinhalb Monate vor den Vorkommnissen in Iguala massakrierte das Militär 22 junge Menschen im Bundesstaat Mexiko, ohne dass dieses Ereignis nennenswerte Aufmerksamkeit erhalten hätte.
Auch die parallel zu den großen, zentralen Demonstrationen stattfindenden Kämpfe im Bundesstaat Guerrero stellen eine Antwort auf die Gewalt und die hermetische Abgeschlossenheit des mexikanischen Staates gegenüber der Bevölkerungsmehrheit dar. Die politische Analystin Raquel Gutiérrez erklärt, dass die dortigen, vor allem von Lehrergewerkschaften vorangetriebenen Mobilisierungen „gewisse Charakteristika der historischen Bauernkämpfe Mexikos aufweisen: In etwa 20 Munizipien rund um Ayotzinapa, im Bergland Guerreros, und bis zur Region der Costa Chica, die am Pazifik endet, wurden die politischen Autoritäten entmachtet und damit begonnen, andere Regierungsstrukturen aufzubauen. Es geht dabei darum, autonome politische Entscheidungen treffen zu können. Also um den Aufbau von politischen Mechanismen, die nicht der perversen Logik des Neoliberalismus mexikanischer Prägung unterworfen sind“. Für Aufsehen auf nationaler Ebene sorgten bisher aber vor allem die zentralen Proteste in Acapulco oder Chilpancingo, während derer die Demonstrant*innen unter anderem den Kongress von Guerrero, die Büros der Staatsanwaltschaft sowie diverser politischen Parteien attackierten und niederbrannten.
Im Zentrum der derzeitigen Krise stehen allerdings fraglos die Repräsentanten der Bundesregierung. Nachdem die Pressekonferenz, auf der der Bundesstaatsanwalt Murillo Karam die Ergebnisse seiner bisherigen Ermittlungsarbeit vorstellte, zu massiven Protesten geführt hatte (siehe LN 486), gewann seine Version in den letzten Tagen an Aufwind. Karam hatte behauptet, die Studenten seien von Polizisten an die Mafiagruppe „Guerreros Unidos“ übergeben worden, welche sie dann ermordet, verbrannt und ihre Asche schließlich in einen Fluss geschüttet hätte. Die mit der Untersuchung der im Fluss gefundenen Reste beauftragte Medizinische Universität Innsbruck hat nun bekannt gegeben, dass sie Knochenteile sowie einen Backenzahn eines der verschwundenen Studenten, Alexander Mora, identifizieren konnte. Allerdings stellten die argentinischen Forensiker*innen, welche das Vertrauen der Familien der Verschwundenen genießen, klar, dass sie beim Fund der Reste nicht anwesend waren. Die Familien unterstreichen außerdem, dass die Identifizierung von Alexander Mora nicht bedeutet, dass Murillos Version der Wahrheit entspricht.
Die Reaktionen auf die Verlautbarungen der Regierungsmitglieder sind, ebenso wie die Attacken auf öffentliche Gebäude, Anzeichen einer allgemeinen Diskreditierung der politischen Klasse die, zumindest unter den Protestierenden, total ist: Als sich Cuahtémoc Cárdenas, Gründervater, dreimaliger Präsidentschaftskandidat und „moralische Autorität“ der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) auf einer der ersten Demonstrationen blicken ließ wurde er von einer aufgebrachten Menge unsanft davon gejagt. Noch bis 2006, als sie erstmals mit Andrés Manuel López Obrador als Präsidentschaftskandidaten antrat, galt die als linksliberal gehandelte Partei vielen als Hoffnungsträger. Nach Jahren des Verfalls scheint die PRD, der sowohl der mittlerweile abgetretene Gouverneur von Guerrero als auch der als Hauptverantwortliche für das Verbrechen an den Studenten geltende Bürgermeister von Iguala und seine Ehefrau angehören, endgültig am Ende zu sein. Auf nationaler Ebene verspielte sie ihre Glaubwürdigkeit unter anderem damit, Teil des parteiübergreifenden „Paktes für Mexiko“ zu werden. Mit dessen Hilfe verwirklichte der Präsident Enrique Peña Nieto sein heftig kritisiertes Reformpaket, das auch die Teilprivatisierung der Erdölindustrie umfasst. Die Rolle der PRD in Guerrero zeigt zudem in aller Deutlichkeit, dass die Partei, genau so wie ihre Konkurrentinnen, auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene vor allem ein Instrument in der Hand von antidemokratischen Akteuren darstellt, mit dem diese Positionen im Staatsapparat besetzen – je näher sie den Drogenkartellen dabei stehen, desto besser. In den letzten Novembertagen zog Cárdenas die persönliche Notbremse und gab seinen Austritt aus der Partei bekannt. Selbst hochrangige PRD-Mitglieder erklärten die Partei daraufhin für moribund und dachten laut darüber nach, es ihm gleich zu tun.
Auf parteipolitischer Ebene könnte damit einzig die vom aus der PRD geschassten López Obrador gegründete Bewegung der Nationalen Erneuerung (MORENA) Kapital aus den Protesten schlagen. Doch entgegen den abenteuerlichen Beteuerungen aus dem Dunstkreis der regierenden Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), dass ihr Erzfeind López Obrador für die Demonstrationen verantwortlich sei, hält MORENA sich auf den großen Demonstrationen auffällig im Hintergrund – wohl nicht zuletzt, weil mit dem ehemaligen Gesundheitsminister von Guerrero auch einer der ihren aufgrund der Kontakte zu den Hauptverdächtigen zurücktreten musste. Eine Kanalisierung des kollektiven Unmuts in bestehenden Parteistrukturen ist zu diesem Zeitpunkt also nicht absehbar. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein: bemüht, die Schuld an der allgemeinen Misere auf ihre jeweiligen politischen Gegner abzuwälzen, scheint es oft so, als ob Mexikos Politiker*innenkaste sich ihr eigenes Grab schaufele. Denn die andauernde Diskreditierung der anderen Parteien, die parteipolitisch betrachtet eventuell Sinn ergibt, höhlt gleichzeitig die Legitimität des Parteiensystems als solches zunehmend aus.
Präsident Enrique Peña Nieto sah sich ob der nicht abreißenden Proteste und Rücktrittsforderungen schließlich genötigt, eine politische Antwort auf den öffentlichen Druck zu geben. Mit einem Ende November vorgestellten 10-Punkte-Plan versucht die Regierung der PRI nun, wieder die Oberhand über die politische Agenda zu gewinnen. Der Plan sieht unter anderem vor, die lokalen und häufig von kriminellen Gruppen kontrollierten Polizeieinheiten aufzulösen und sie durch zentrale bundesstaatliche Einheiten zu ersetzen. Außerdem sollen die Autoritäten in vom Zentralstaat als korrumpiert geltende Munizipien entmachtet und die Institutionen der direkten Kontrolle des Staates unterstellt werden können. Hinzu kommt eine Klärung der häufig widersprüchlichen Kompetenzen der verschiedenen staatlichen Ebenen in Fragen der öffentlichen Sicherheit, sowie die Schaffung von speziellen Entwicklungszonen in den Bundesstaaten Oaxaca, Guerrero und Chiapas. Schließlich kündigte der Präsident zudem die Entsendung von 10.000 Bundespolizisten in die als Tierra Caliente („Heißes Land“) bekannten Regionen in Michoacán und Guerrero an.
Wie so oft in den letzten Monaten reagierte die Öffentlichkeit, bis hinein ins rechtsliberale Spektrum, auch auf diese Regierungsinitiative ablehnend. Dem Präsidenten wird nicht nur vorgeworfen, an seiner bisherigen Politik festzuhalten und keine konkreten Schritte zur Verbesserung der Situation anzubieten; die Kritiker*innen bemängeln am Programm Peña Nietos vor allem, dass es nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass die Verstrickungen mit der organisierten Kriminalität bis weit in die bundes- und zentralstaatlichen Institutionen hinein reichen. Ein weiterer Vorstoß der PRI stieß jedoch auf noch stärkere Ablehnung: um wieder Herr der Lage auf den Straßen des Landes zu werden zauberten Abgeordnete der Regierungspartei gemeinsam mit ihren Kolleg*innen der Partei der Nationalen Aktion (PAN) ein Projekt zur Reformierung des Mobilitätsgesetzes aus der Schublade. Die Gesetzesvorlage, welche eine staatliche Durchsetzung des Rechts auf „freie Beweglichkeit“ vorsieht, stammt vom April 2014, und wurde schon damals für seine etwaigen Auswirkungen auf das Demonstrationsrecht gerügt (siehe Infokasten S. 12). Dass das Projekt nun inmitten der größten Proteste, die Mexiko seit Jahrzehnten erlebt hat, wieder aufgelegt wird, ist ein weiteres Anzeichen für die Fortsetzung der autoritären Politik des mexikanischen Staates.
Trotz der Versuche der staatlichen Akteure, die Proteste irgendwie in den bestehenden Strukturen zu kanalisieren: derzeit sind es die Protestierenden, welche die Zeiten und die Agenda der mexikanischen Politik bestimmen. Ob es ihnen gelingen wird, das derzeitige Aufbäumen in stabilere zivilgesellschaftliche Mechanismen und Organisationszusammenhänge zu übersetzen und so Mexikos kriminellem Staat das Wasser abzugraben, entscheidet sich aber höchstwahrscheinlich nicht in einem heroischen Moment gesellschaftlicher Katharsis, sondern in mühsamer politischer Arbeit an vielen verschiedenen Stellen. Die derzeitigen Proteste stellen damit eher einen Moment des Sich-Gewahr-Werdens der von staatlicher und parastaatlicher Gewalt durchzogenen mexikanischen Gesellschaft dar – und das ist, fraglos, die notwendige Basis für die tiefgreifenden Transformationen, die Mexiko nötig hat.


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„Deutschland trägt seinen Teil zur Militarisierung bei“

Nach dem Verschwinden der Studenten hat eure Gruppe in Berlin viele Protest- und Informationsveranstaltungen organisiert. Was ist eure zentrale Motivation?
Unsere Erfahrung ist, dass die Menschen in Mexiko demonstrieren können, wie sie wollen, letztendlich reagiert die mexikanische Regierung nur auf Druck aus dem Ausland. Wir widersprechen hier der Behauptung der Regierung und der mexikanischen Botschaft, dass es eine Trennung zwischen Staat und der organisierten Kriminalität gebe. Wir sind zwar eine autonome Gruppe, aber wir fühlen uns in diesem Fall auch stark den Familien der verschwundenen Studenten verbunden.

Welche Verantwortung hat das Ausland, speziell Deutschland, bezüglich der Situation in Mexiko?
Deutschland gehört für Mexiko zu den wichtigsten Partnern; innerhalb Europas ist es sogar der wichtigste. Man muss auch die Verantwortung der deutschen Regierung für die Außenpolitik der gesamten Europäischen Union bedenken. Es ist kein Zufall, dass die frühere Außenministerin Patricia Espinosa jetzt erneut Botschafterin in Deutschland ist. Zudem kommt Deutschlands Verantwortung für Waffenlieferungen nach Mexiko. Und schließlich – dies ist auch eines der Hauptanliegen unserer Gruppe – hat die Situation in Mexiko auch eine transnationale Dimension, die sich aus der ökonomischen Abhängigkeit der Peripherie gegenüber dem Zentrum ergibt.

Was haltet ihr von dem sogenannten Sicherheitsabkommen zur Kooperation deutscher und mexikanischer Polizei, das kurz vor dem Abschluss steht?
Wir sind aus zwei Gründen dagegen. Es gibt überhaupt keine Beweise, dass solche Abkommen helfen, den Zustand der mexikanischen Polizei zu verbessern, im Gegenteil. Zum anderen gibt es in Mexiko keinen Unterschied zwischen Polizei und Militär. Das heißt, wenn die mexikanische Polizei trainiert wird, wird auch das Militär trainiert. Ein militärisches Training erlauben eigentlich aber weder die mexikanischen noch die deutschen Gesetze. Doch so trägt Deutschland seinen Teil zur Militarisierung Mexikos bei.

Wie kam es überhaupt zu dem Abkommen?
Der damalige Bundespräsident Wulff war 2011 in Mexiko und hat sich für dieses von Mexiko vorgeschlagene Abkommen eingesetzt. Deutschland sagt zwar, es sei nur ein Abkommen zur Kooperation und zum Informationsaustausch der Polizeikräfte. Das ist aber nicht wahr, denn solche Abkommen existieren bereits. Vielmehr öffnet es einen institutionellen Rahmen, um drei Dinge zu erleichtern: Den Waffenexport, den Technologietransfer und das Training der mexikanischen Polizeikräfte. Begünstigt wird dabei vor allem die Privatwirtschaft, das ist das Entscheidende. Und zwar die Unternehmen, die zum sogenannten militärisch-industriellen Komplex gehören, also den Verkauf von Waffen und anderen sicherheitsrelevanten Waren und Dienstleistungen betreiben. In beiden Ländern haben diese Unternehmen enorme Lobbyarbeit betrieben, damit das Abkommen zustandekommt. Gerade der deutschen Regierung scheint der Verkauf von Sicherheitstechnologie sehr wichtig zu sein.

Man könnte denken, Mexiko erhält im Rahmen der sogenannten Initiative Mérida aus den USA ausreichend Waffen. Warum ist die Regierung dennoch an deutscher Technologie und Kooperation interessiert?
Zum einen geht es der mexikanischen Regierung um Legitimitätsgewinn im Ausland. Durch solche Abkommen akzeptieren ausländische Regierungen den Diskurs, dass der sogenannte Krieg gegen die Drogen notwendig sei und die Regierung ihre Verantwortung ernst nehme. Zum anderen will Mexiko seine Abhängigkeit von den USA lockern und sucht daher verstärkt die Zusammenarbeit mit anderen Ländern.

Was können Aktivist_innen aus dem Ausland tun, um die Proteste gegen die Komplizenschaft der mexikanischen Regierung zu unterstützen?
Man darf jetzt nicht den alten Fehler machen, sich zwei bis drei Wochen lang zu organisieren und zu demonstrieren, und dann ist es vorbei. Es kommt darauf an, kontinuierlich Aktivismus mit Theoriebildung und Forschung zu verbinden, so wie wir es in unserem Verein machen. Uns ist aufgrund der abhängigen Beziehungen vor allem die transnationale Ebene wichtig, also den Blick sowohl auf Mexiko als auch auf Deutschland zu richten. Alle Leute sind eingeladen, bei uns mitzumachen. Ein Ziel von uns ist auch, dass wir als Muster dienen, nach dem sich andere Gruppen bilden, die sich mit den Abhängigkeiten zwischen Zentrum und Peripherie auseinandersetzen und Verbindungen herstellen wollen; also zum Beispiel Gruppen wie Mexiko via Paris, aber auch Eritrea via Berlin.

Treten wir einen Schritt zurück: Als die Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) im Jahr 2000 erstmalig die Regierungsmacht verlor, war viel die Rede von demokratischer Transformation und viele Menschen hatten Hoffnung auf einen Wandel. Wie konnte sich die Situation in Mexiko so dramatisch verschlechtern?
Es gab keinen Schritt in Richtung Demokratie, die Eliten von früher sind geblieben. Andererseits ist die informelle Macht der PRI verlorengegangen, die in ihrer Hegemonialität auch eine befriedende Wirkung hatte. Geblieben ist nur die institutionelle Hülle. Zum dritten kam die Verschlechterung durch strukturelle Probleme, die tiefe soziale Ungleichheit und Armut, die sich durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA und andere Freihandelsabkommen verstärkt hat. Diese haben Mexiko zu einem Pulverfass gemacht – alles ist jederzeit möglich.

Also dass aufgrund der Verarmung mehr Leute bereit waren, für die Drogenkartelle zu arbeiten oder mit Gewalt an Geld zu kommen?
Nicht nur das, NAFTA hat auch viele andere Konsequenzen mit sich gebracht. Besonders sichtbar war der Wandel in den Grenzstädten zu den USA, wo sich die maquiladoras (Montagebetriebe, Anm. d. Red.) angesiedelt haben. Plötzlich explodierte die Bevölkerungszahl, ohne dass es dafür eine Infrastruktur gab, zum Beispiel genügend Schulen. Was es gab, war viel Polizei und Militär. Man sieht hier die Radikalisierung des Bestrafungsstaats: Einerseits werden Unsummen in Polizei und Militär gesteckt und Jugendliche reihenweise ins Gefängnis gesteckt. Andererseits gibt es kein Geld mehr für Mikrokredite oder irgendeine Unterstützung für Kleinbauern.

Wie lässt sich die Gewalt in Mexiko wieder eindämmen?
Diese Frage enthält viele Ebenen. Unsere Hauptforderung ist die Beendigung der Militarisierung. Damit meinen wir nicht nur die Präsenz auf den Straßen, sondern auch die indirekte Form, indem die Polizei militärische Logiken und Vorgehensweisen übernimmt. Zudem müssen wir die Eliten verändern. Das Gewaltproblem ist vor allem ein politisches und ökonomisches Problem. Wenn es eine so extreme ökonomische Ungleichheit gibt und die Eliten ökonomisch so dominant sind, gibt es keine andere Lösung. Das gesamte wirtschaftliche System muss in Frage gestellt werden.

Der zurückgetretene Gouverneur Guerreros sowie der festgenommene Bürgermeister Igualas gehören der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) an. Noch bei den Wahlen 2012 galt die PRD vielen Linken durchaus als Partei, die Mexiko verändern könnte. Ist Mexiko überhaupt über Parteien reformierbar?
Das muss man weiterhin versuchen. Wir glauben schon noch an einen institutionellen Weg, aber sicherlich nicht mehr mit der PRD. Der große Sieg der PRI ist ja, dass sie sich der PRD wieder bemächtigt hat (die Vorgängerorganisation der PRD hatte sich 1988 von der PRI abgespalten; Anm. d. Red). Es gibt Alternativen, bei den sozialen Bewegungen, aber auch bei den Parteien – MORENA (Partei der Nationalen Erneuerung, die sich 2012 von der PRD abgespalten hat; Anm. d. Red.) ist momentan eine Möglichkeit, natürlich nicht ohne Fehler. Es gibt keinen Weg außer dem demokratischen. Er darf allerdings kein rein parteidemokratischer sein, sondern muss in der Koalition von sozialen Bewegungen und linken Parteien gegangen werden.

In Mexiko wird derzeit über die Notwendigkeit von parteifernen Institutionen diskutiert, die die Einhaltung demokratischer Regeln durch staatliche Stellen überwachen sollen. Diesen Versuch gab es ja bereits in den 90er Jahren mit der Reformierung des Bundeswahlinstituts IFE, das heute beim Großteil der Bevölkerung diskreditiert ist. Was muss dieses Mal anders laufen?
Da gehe ich mit Poulantzas (Nicos Poulantzas, griechisch-französischer Philosoph und politischer Soziologe, Anm. d. Red.) und sehe den Staat als Verdichtung von widerstreitenden Kräften. Wir – die Bürger – müssen die eigentlich autonomen Institutionen des Staates zurückgewinnen, das INE (das IFE wurde 2014 umbenannt; Anm. d. Red.), die Nationale Menschenrechtskommission, die Schulen und Universitäten. Sie gehören uns, der Staat gehört uns. Es ist ein Kampf, den wir außerhalb, aber eben auch innerhalb der staatlichen Institutionen führen müssen. Dazu gibt es keine Alternative. Wir müssen jeden Zentimeter in den Institutionen zurückerobern, auch in den Parteien, dem INE, dem Obersten Gericht und dem Parlament. Es reicht nicht, sich regional zu beschränken, wie die Autodefensas, verschiedene Kollektive oder die EZLN (Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung; Anm. d. Red.) das machen. Mexiko muss von Grund auf neu aufgebaut werden.

Die derzeitigen Massenproteste in Mexiko haben einen sehr heterogenen Charakter. Ist für dich schon ein gemeinsames politisches Projekt erkennbar?
Wir glauben nicht an gemeinsame Projekte, unseres soll ein klar linkes sein. Bei aller Offenheit gegen andere Gruppen darf das nicht in Frage stehen. Die neue soziale Bewegung muss eine klare Vorstellung davon haben, was in Mexiko falsch läuft und was konkret zu ändern ist. Das war der große Fehler der Linken Anfang 2000: Zu glauben, mit einer neuen Partei an der Regierung gebe es einen Wandel zum Besseren. Dabei hat Vicente Fox (Präsident 2000-2006; Anm. d. Red.) die Situation sogar noch schlimmer gemacht. Wir dürfen nicht Koalitionen aller Art eingehen, sondern nur solche, die das wirtschaftliche und politische System in Frage stellen. Es ist zu wenig zu sagen, ich bin für Frieden und gegen Gewalt. Sonst gibt es vielleicht ein paar kleine Korrekturen, aber das reicht nicht für ein Land wie Mexiko.


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Umkämpftes Haus

Buntes Campleben herrscht vor dem Haus mit der Adresse Academia 9 mitten im Historischen Zentrum von Mexiko-Stadt. Seit dem 17. Juli sind hier rund um die Uhr Frauen anwesend, die den indigenen Gruppen der Mazahua, Zapoteco oder Mixteco angehören. Sie kochen, plaudern und verkaufen die auf dem Gehweg unter Planen aufgestellten Textilwaren. Aber vor allem bewachen sie das Haus vor Eindringlingen, die sich gewaltsam Zugang zum Gebäude verschaffen und es in Beschlag nehmen könnten. Mittendrin steht Cristina López Lavrian. Seit 29 Jahren ist sie in dem Wohnprojekt aktiv, um für das Eigentumsrecht der Bewohner_innen und gegen eine polizeiliche Räumung zu kämpfen. „Wir haben nicht dafür gekämpft, um Millionäre zu werden. Wir haben für die würdige Zukunft unserer Kinder gekämpft“, sagt die 53-Jährige in selbstbewussten Ton.
Das betroffene Gebäude ist gleichermaßen ökonomisch als auch architektonisch und historisch ein Schmuckstück. Im 17. Jahrhundert erbaut, haben die Turbulenzen der mexikanischen Geschichte zwar Spuren hinterlassen, dennoch ist es relativ gut erhalten. Heute sogar unter Denkmalschutz. Mit seiner Lage nur eine Straßenecke vom präsidentiellen Nationalpalast entfernt, strahlt das Objekt eine besondere Anziehungskraft für viele Interessierte aus.
Angefangen hat alles im Jahr 1985, erzählt Cristina López. Damals, kurz nach dem großen Erdbeben, welches viele Teile der Stadt verwüstete und abertausende Menschenleben gekostet hat, entschieden sich die Bewohner_innen der Academia 9 den willkürlichen Mieterhöhungen des Verwalters nicht mehr nachzugeben und fortan kein Geld mehr zu zahlen. Unterstützung fanden sie dabei bei der Asamblea de Barrios (Stadtviertel-Versammlung), die sich in den Tagen der Tragödie konstituierte. Diese war als organisierte Gegenantwort der Zivilgesellschaft und vor allem der ärmeren Klassen auf die Unfähigkeit der damaligen mexikanischen Regierung auf die Katastrophe angemessen zu reagieren. Die Menschen der Asamblea boten den Bewohner_innen des Wohnprojekts nicht nur technische und juristische Beratung, sondern beteiligten sich auch am gemeinsamen Wacheschieben vor dem Gebäude, um eventuellen Räumungsversuchen entgegentreten zu können.
Malena, eine Compañera von Cristina López, die in einem nördlichen Teil der Hauptstadt verschiedene Wohnprojekte betreut, erinnert sich an die Zeit. Ihre damals 23-jährige politische Weggefährtin beherrschte damals die spanische Sprache nur mäßig, einer gemeinsamen politischen Koordinierung stand dies jedoch nicht im Wege. Cristina ist eine Mazahua-Indigene, die Schule besuchte sie nur zwei Jahre lang. Nach ihrer Ankunft in der Megastadt lernte sie nach und nach Spanisch sprechen und ihre Angst abzulegen: „Frau zu sein und dazu noch eine indigene ist sehr schwierig. Es hat mich sehr viel Kraft gekostet“, resümiert sie. Heute strahlt sie vielmehr das komplette Gegenteil aus.
Danach begannen die Auseinandersetzungen mit den mexikanischen Behörden. Die Bewohner_innen strebten die gesetzliche Enteignung des Grundstückes an, um legal dauerhaft bleiben zu können. Erst viele Jahre später, am 26. Dezember 2002, entschied ein Gericht schließlich auf Enteignung und sprach das Haus dem Institut für Wohnungswesen von Mexiko-Stadt (INVI) zu, um so den sozialen Wohnungsbau zu fördern. Doch Cristina López, die als Sprecherin des Wohnprojektes fungiert, traf in ihren Auseinandersetzungen nicht nur auf bürokratische Hürden. Ihre Geschichte könnte ohne Probleme als Blaupause für ein umfangreiches Repressionsrepertoire herhalten: 1994 wurde ihr Pick-up geklaut und sie wurde Opfer einer mehrstündigen Entführung. Dahinter steckte, so ihre Vermutung, der ehemalige Eigentümer, da gefordert wurde, das Wohnbauprojekt auf Eis zu legen. Bis heute versucht dieser das Haus wieder in seinen Besitz zu bringen, was rechtlich nicht ausgeschlossen ist. Die folgenden Jahre sollten nicht anders werden. Von unbekannten Männern wurde sie verprügelt, erhielt Morddrohungen. Ihre Kinder standen plötzlich im Zielkreuz der Aggressoren und kurz darauf wurde ein Cousin von ihr ermordet aufgefunden. „Dreimal haben sie mir Geld angeboten: ‚Ich gebe dir die Millionen, die du willst‘ haben sie zu mir gesagt, ohne aber ihre Identität zu enthüllen“, berichtet sie. Aber, so López mit aufflammendem Blick, „das gab mir nur noch mehr Kraft. Sie haben mich noch wütender gemacht, um meine Rechte und die meiner Compañeras für ein würdiges Wohnen zu verteidigen.“
Die Antwort auf die Frage, warum es zu all dieser Gewalt kam, liegt in der Besonderheit des Historischen Zentrums begründet. Von der UNCESO im Jahr 1987 zum Weltkulturerbe deklariert, ist jenes seit geraumer Zeit Schauplatz umfassender Restrukturierungs- und Privatisierungsprozesse. Viele Straßen, die Richtung Zócalo führen, dem zentralen Platz der Stadt, sind heute lukrative Einkaufsstraßen. Die Kommerzialisierung des Historischen Zentrums befördert auch die Segmentierung des öffentlichen Stadtbildes: die in Mexiko-Stadt regierende Partei der Demokratischen Revolution PRD hat es in den letzten Jahren durch breit angelegte Polizeioperationen immer mehr geschafft, den informellen Handel zu unterbinden und zurückzudrängen, der vormals die Straßen um den Zócalo prägte. Die Adresse Academia 9 könnte daher für Kapitalinteressen nicht besser liegen. Das Gebäude ist buchstäblich „Gold wert“, wie López feststellt, und weckt Begehrlichkeiten: „ Die Leute sagen, diese Indianerin verdient das Haus nicht; aber ja, ich verdiene es, ich bin eine Indigene, ich bin Mexiko, ich bin die Mutter Erde, ihr
Schweine.“
Nach der Enteignung musste fast ein weiteres Dutzend Jahre verstreichen, bis der nächste Schritt erfolgte. Das INVI forderte die Bewohner_innen auf, das Haus zu verlassen und drohte mit Räumung, da es dringend saniert werden müsse. Doch den Bewohner_innen gelang es einen Deal auszuhandeln. Das INVI hat 12 Monate Zeit, das Haus umfassend zu restaurieren – im Gegenzug verlassen die Bewohner_innen das Haus freiwillig und erhalten es anschließend zu dauerhaften Nutzung. Doch offenbar traute das INVI dem Frieden nicht, denn zu einer großangelegten Räumung kam es trotzdem. Im Morgengrauen des 17. Juli dieses Jahres wurden an die 1000 Polizist_innen angekarrt. Durch das Haupttor verschafften sie sich Zugang in den Innenhof; über die naheliegenden Dächer und durch das Abseilen aus Helikoptern stiegen sie von oben ein. Fast konnte der Verdacht aufkommen, es handelte sich hierbei um eine groß angelegte Razzia gegen das organisierte Verbrechen. 500 von der Polizei angeheuerte Helfer_innen brachen die Wohnungen und Lager derjenigen Familien auf, die zum Zeitpunkt nicht anwesend waren. Deren Waren und persönlichen Gegenstände wurden allesamt auf einen Haufen in den Innenhof geworfen und dann abtransportiert. Die eigentlichen Besitzer_innen haben von ihren Habseligkeiten seitdem nie wieder etwas gehört; böse Stimmen munkeln, dass sie die Polizei verkauft haben soll.
Eine gewaltsame Räumung war es dennoch nicht gewesen, es gab ja auch das Abkommen: „Wir wollten keine Gewalt; es gab Kinder und Familien“, fügt Cristina López hinzu, lässt aber im gleichen Atemzug verlauten, dass es schon zweimal einen Versuch der gewaltsamen Räumung gab. Beide Male jedoch ohne richterlichen Beschluss. Polizist_innen und Regierungsfunktionär_innen waren angerückt um das Grundstück in Beschlag zu nehmen. Vermutlich, so die Aktivistin, vom ehemaligen Eigentümer beauftragt und bezahlt. Doch es wurde Widerstand geleistet und die Räumungen konnten verhindert werden.
Die neueste Entwicklung wird von Cristina, Malena und vielen anderen als Erfolg gewertet, wenn auch nicht alle 65 Familien die ursprünglich in der Academia 9 wohnten bzw. ihr Geschäft dort hatten, auch dorthin zurückkehren dürfen. Dies ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass sich nicht alle zuvor als Bewohner_innen des Gebäudes im Institut für Wohnungswesen gemeldet hatten. Andererseits schaffte es der ehemalige Besitzer, das Wohnprojekt in sich zu spalten und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen. Ein Gespräch mit einer Sprecherin eines anderen Wohnprojektes eine Ecke weiter zeigt darüber hinaus, dass die verschiedenen politischen Organisationen untereinander zerstritten sind und es deren Funktionär_innen oftmals darum geht, eigene Pfründe zu sichern – sehr zum Leidwesen und zum großen Nachteil der für Wohnraum kämpfenden Menschen. Doch ohne Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation oder Partei geht in Mexiko-Stadt wenig. Auch Cristina López ist zerknirscht deswegen. Sie an der Basis haben im Laufe der Jahre schließlich schon so manches politisches Spielfeld gewechselt: Anfangs noch bei der alten Institutionellen Revolutionären Partei (PRI), waren sie nach der Geburt der PRD zu der neuen linken Alternative gewechselt. Doch auch dieser kehrten sie schließlich nach jahrelangen Enttäuschungen den Rücken und schlossen sich der Sexta an. Die Sexta, die Sechste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald, ist das bisher letzte große und umfassende politische Statement der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN), um das sich ein loser Zusammenschluss politischer Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen zusammen gefunden hat.
Cristina ist keine Frau, die ein Blatt vor den Mund nimmt. Im Gegenteil, die Erfahrung mit der Regierung lehrt sie, dass die Auseinandersetzungen noch nicht vorbei sein könnten, das INVI könnte plötzlich verlauten lassen, dass es keine finanziellen Mittel mehr gäbe und damit kein Rückkehrrecht. Sie schimpft: „Scheiß Regierung, die will nur schauen ob wir einen beschissenen Fehler machen, um das Projekt zu stoppen.“ Doch dann lacht sie wieder, und ihr schelmisch-sympathisches Lachen ist gepaart mit einer Ausdauer und einer Gewissheit, die nur bei solchen Menschen anzutreffen ist, die die Welt von unten verändern: „Manchmal haben wir nicht mal Geld fürs Essen oder den Transport, aber wir sind begeistert vom Kampf.“


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Televisa geht shoppen

Die Verfassungsreform, die 2013 im Telekommunikationsbereich verabschiedet wurde, ist von vielen Aktivist_innen, auch von Ihnen, positiv bewertet worden. Sie schien das Fernsehduopol von Televisa und TV Azteca zu schwächen. Wie kann man erklären, dass die Ausführungsgesetze eine völlig andere Stoßrichtung haben?
Im Wesentlichen sind zwei Dinge passiert: Die Verfassungsreform aus dem Jahr 2013 war ein sehr wichtiger Fortschritt und hat die Grundlage für einen Wandel des Mediensystems geschaffen. Aber im Anschluss daran ist die Vereinbarung „Pakt für Mexiko“ auseinandergebrochen. Im Dezember 2012 hatten sich im Rahmen des Paktes die politische Linke und Rechte zusammengeschlossen, um Reformen wie die Telekommunikationsreform zu verabschieden. Die Partei der Demokratischen Revolution (PRD) hat den Pakt im April 2014 wegen der geplanten Reformen im Energiebereich verlassen. Nachdem der Pakt auseinanderbrach, wurden die alten Vereinbarungen zwischen der Regierung und dem Fernsehsender Televisa wiederhergestellt. Die Partei der Nationalen Aktion (PAN) hat die Durchsetzung einer Telekommunikationsreform, die der Verfassungsreform entspricht, aufgegeben, um bei der geplanten Energiereform ihre Position durchzubringen. Und während sich die politische Rechte für die Energiereform verkauft hat, haben die Regierung und Televisa ihre historisch gewachsene Beziehung wieder gestärkt. Das Ergebnis besteht in Ausführungsgesetzen, die eindeutig Televisa begünstigen.

Welche Inhalte der Gesetze schützen die Interessen von Televisa besonders?
Sie schränken beispielsweise die Befugnisse des Föderalen Telekommunikationsinstituts (IFT) erheblich ein. Diese Institution wurde 2012 gegründet. Ihre Aufgabe ist vor allem die Regulierung und Überwachung der Radio- und Telekommunikationsmärkte, um eine Marktkonzentration zu verhindern. Die Übergangsregelung 9 ermöglicht es Unternehmen im Radio- und Telekommunikationssektor nun aber zu fusionieren und Zukäufe zu tätigen, ohne dass die Regulierungsbehörde zustimmen muss. Zumindest, wenn es sich nicht um ein Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Position handelt. Damit wird der Behörde eine ihrer wichtigsten Kompetenzen entzogen. Nur einen Tag nach Inkrafttreten der Gesetze hat Televisa den Kauf von Cablecom, einem der größten Kabelfernsehanbieter des Landes, angekündigt. Die entsprechende Regelung im Gesetz nennen wir mittlerweile Cablecom-Klausel, weil sie ganz offensichtlich für Televisa eingeführt wurde. Damit kontrolliert Televisa nun 63 Prozent des Pay-TV-Marktes in Mexiko. Und das Unternehmen kann weitere Kabelanbieter aufkaufen. Im Augenblick befindet es sich auf einer Shoppingtour. Und die Behörde kann nichts dagegen unternehmen, weil die Gesetze es unmöglich machen.

Aber Televisa hat doch eine marktbeherrschende Position und sollte dementsprechend reguliert werden können…
Die sogenannte marktbeherrschende Position wird innerhalb eines Sektors bestimmt. Das bedeutet, dass es im gesamten Telekommunikationssektor per Definition nur einen Anbieter mit marktbeherrschender Position geben kann. Dabei ist es offensichtlich, dass es auch auf Teilmärkten Unternehmen mit einer solchen Position gibt. Im mexikanischen Telekommunikationssektor sollten eigentlich zwei anerkannt sein: im Bereich der Telefonanbieter die Unternehmen von Carlos Slim (Telmex und América Móvil, Anm. d. Red.). und im Bereich des Fernsehens Televisa. Televisa beherrscht 50 Prozent des mexikanischen Fernsehmarktes, in bestimmten Stadtteilen der Hauptstadt sind es sogar 70 Prozent. Da Televisa jedoch in der Folge des Gesetzes nicht als marktbeherrschend gilt, können keine regulierenden Maßnahmen ergriffen werden.

Im März hatte die Regierung eine erste Gesetzesinitiative eingebracht, die breite Proteste hervorgerufen hat. Stellen die Ausführungsgesetze vom 9. Juli eine Verbesserung dar?
Nein, in vielen Punkten gab es gravierende Rückschritte. Neben den bereits genannten Aspekten gab es Verschlechterungen, die die Medieninhalte und den Schutz der Zuschauer betreffen. Es gibt bestimmte normative Maßgaben, die Medien erfüllen müssen. Im Gesetzestext sind die Vorgaben sehr knapp gehalten und es wird auf die Ethikcodes der jeweiligen Medien verwiesen, die damit die Rechte der Zuschauer zu einem Großteil selbst festlegen können. Das Gesetz kann Zuschauerrechte auch aus einem anderen Grund nicht effektiv schützen: Jedes elektronische Medium ist verpflichtet, einen Verteidiger von Zuschauerrechten einzusetzen. Wenn ein Medium die Rechte der Zuschauer verletzt, wird dieser Verteidiger sanktioniert, nicht der Lizenzinhaber oder die jeweilige Sendeanstalt. Das ist absurd – der Überbringer einer schlechten Nachricht wird verantwortlich gemacht. Und wenn der Betreiber nichts ändern möchte, wird auch nicht passieren – denn er kann ja nicht bestraft werden.
Ein weiterer Punkt ist, dass die Gesetze weiterhin die Überwachung von Telefongesprächen ermöglichen, ohne dass es dafür rechtliche Kontrollinstrumente oder Transparenzmechanismen gibt. Die Tatsache, dass Sicherheitsbeamte Telefongespräche abhören, Personen orten und die Daten zwei Jahre speichern können, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, öffnet einer massiven Überwachung Tür und Tor.

Die Möglichkeit, gegen zivilgesellschaftliche Akteur_innen mit Zensur vorzugehen, war einer der großen Kritikpunkte an der Gesetzesinitiative im März. Welche Veränderungen gibt es in diesem Bereich?
Die Gesetzesinitiative sah es vor, Internetverbindungen und -seiten im Falle der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu sperren. Das ist mit den verabschiedeten Gesetzen nicht mehr möglich. So gibt es zwar keine direkte Möglichkeit mehr, sozialen Protest mit Zensur zu bekämpfen. Aber Journalisten, Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger können auf Grundlage der Artikel 189 und 190 überwacht werden, wie ich gerade erklärt habe.
Sehr bedenklich ist, dass gegen diese Artikel kein Einspruch wegen Verfassungswidrigkeit erhoben wurde. Weder im Senat noch im Abgeordnetenhaus konnten bis zum Ablauf der Frist 33 Prozent der Unterschriften gesammelt werden, die dafür notwendig sind. Auch das Bundesinstitut für den Zugang zu Information und Datenschutz IFAI, das eigentlich für den Schutz von personenbezogenen Daten und der Privatsphäre zuständig ist, hat keinen Einspruch erhoben. Also sind die Bürger der Überwachung schutzlos ausgesetzt.

Sie setzen sich seit vielen Jahren für die Stärkung kommunitärer Radios ein. Welche Folgen hat die Reform in diesem Bereich?
Die Gesetze beinhalten eine Reihe technischer und finanzieller Restriktionen, die kommunitäre Radios erheblich diskriminieren. Auch hier kam es zu Verschlechterungen im Vergleich zur Gesetzesinitiative. Kommunitäre Radios sind erstens dadurch im Nachteil, dass ihnen die Frequenzen zugeteilt werden, die niemand haben möchte. Dadurch haben sie keinerlei Vermarktungsmöglichkeiten und sind von Werbung der Regierung abhängig. Zweitens beschränken die Gesetze die Werbeeinnahmen erheblich – lediglich ein Prozent der Werbeausgaben der Bundesregierung darf an kommunitäre Radios fließen. Regierungen von Bundesstaaten und Kommunen sind zu Werbeausgaben an kommunitäre Radios nicht verpflichtet. Der entsprechende Etat muss zudem zwischen allen Stationen in gleichen Anteilen aufgeteilt werden. Je mehr kommunitäre Radiosender es gibt, desto weniger finanzielle Ressourcen stehen ihnen also zu.

Was kann unternommen werden, um der Reform etwas entgegenzusetzen?
Die Zivilgesellschaft hat große Anstrengungen unternommen. Sie hat sowohl die Abgeordneten als auch das IFAI unter Druck gesetzt, damit sie Einspruch wegen Verfassungswidrigkeit erheben. Gemeinsam mit anderen Medienexperten habe ich im August das IFT aufgefordert, eine sogenannte controversia constitucional einzuleiten. In diesem Fall muss die Institution beim Obersten Gerichtshof beantragen, dass er überprüft, ob das Gesetz ihre verfassungsrechtlich festgelegten Kompetenzen verletzt. Das IFT hat sich geweigert. Uns bleiben nur noch Verfassungsbeschwerden von Personen, die durch das Gesetz betroffen sind. Dass keine der Institutionen etwas unternommen hat, ist gravierend. Es zeigt, dass es kein Gegengewicht zur Regierung gibt. Diese kontrolliert ihre Kontrollinstanzen wie etwa den Kongress oder das IFAI. Es ist unfassbar, wie die Revolutionäre Institutionelle Partei (PRI) die Kontrolle nach ihrer Wiederwahl wiedererlangt hat. Wie kann es unter diesen Bedingungen gelingen, die demokratische Qualität zu verbessern und Debatten anzustoßen? Die Situation ist komplizierter für uns geworden – die PRI ist zurückgekehrt.

Infokasten

Aleida Calleja
ist Kommunikationswissenschaftlerin, Autorin und politische Aktivistin. Sie ist Expertin im Bereich Medienanalyse und Medienpolitik. Derzeit arbeitet sie als Advocacy-Koordinatorin für das Observatorio Latinoamericano de Regulación, Medios y Convergencia (OBSERVACOM), das die gesetzlichen Rahmenbedingungen und öffentlichen Politiken im Medienbereich Lateinamerikas analysiert. Von 2011 bis 2013 war sie Präsidentin der Mexikanischen Vereinigung für das Recht auf Kommunikation AMEDI. Zuvor war sie unter anderem Vizepräsidentin der Weltweiten Vereinigung kommunitärer Radios (AMARC) sowie Direktorin des Programms „Gesetzgebung und Recht auf Kommunikation“ der Sektion Lateinamerika und Karibik von AMARC. Aleida Calleja wurde 2009 für den Nationalen Journalist_innenpreis in Mexiko nominiert. Sie ist Mitherausgeberin zahlreicher Bücher im Bereich kommunitäre Medien und Recht auf Kommunikation


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„Die Nischen ausfindig machen!“

Ihre Tour hat Sie auch nach Berlin geführt. Waren Sie mit dem Konzert zufrieden?
Ja, auf jeden Fall. Von Anfang an waren viele Leute da, die die Gruppe seit vielen Jahren begleiten. Es ist sehr schön, zu merken, dass die Leute weiterhin kommen. Wir haben viele Freunde, die wir aus anderen Zusammenhängen kennen, wieder getroffen. Außerdem war der Veranstaltungsort angenehm – und die Stimmung beim Konzert hat uns eine wunderbare Nacht beschert.

Vom Publikum gab es also positive Reaktionen?
Ja, das Publikum war sehr lebhaft, hat viel mit uns interagiert. So eine Reaktion ist immer die schönste Rückmeldung für uns.

Wie würden Sie Ihr neues Album Mariachi Beat beschreiben?
Es ist eine Annäherung an und eine tiefgründige Kombination von traditioneller mexikanischer Musik. Mit dem vorherigen Album haben wir ein ähnliches Ziel verfolgt. Aber ich denke, dass Mariachi Beat vielschichtiger geworden ist und die Ursprünge mexikanischer Musik zeigt, wie wir sie sehen.

Elemente entnehmen Sie dabei dem Son Jarocho und der Música Oaxaqueña…
Auf dem Album ist Música Oaxaqueña vertreten, ebenso wie Son de Guerrero. Es gibt auch ein Stück, das ein richtiger Mariachi ist und mit „Mujer guerrera“ einen Merengue… das Wichtige an Mariachi Beat ist, dass es ein sehr spontanes Album ist. Es ging alles sehr schnell, wir haben nicht viel Zeit für die Aufnahme gebraucht und das macht das Album so frisch.
Wie ist das Album bislang angekommen?
Es war interessant, mit den Leuten hier in Europa zu reden, die die Band schon vorher kannten. Sie sagten mir, dass unsere vorherigen Alben sehr schnell, geradezu explosiv waren. Ein Kommentar zum neuen Album, der mir besonders in Erinnerung geblieben ist, ist der, dass sich das neue Album musikalischer anhöre, weil es nicht wie sonst so punkig, rockig, laut, sondern sogar das genaue Gegenteil davon sei. Das gefällt den Leuten. Außerdem ist dieses Album das Ergebnis einer kollektiven Arbeit und auch das macht das Album so frisch und spontan.

Sie definieren sich über die politischen Inhalte Ihrer Lieder. Warum stehen die Texte dieses Mal nicht im Booklet des Albums?
Das war eine Frage der künstlerischen Gestaltung. Im Oktober wird unser Video auf Viva erscheinen. Dabei werden wir mit deutschen Musikern zusammenarbeiten – wir sind im Gespräch mit Peter Fox, Miss Platnum und Moop Mama. Die Texte sollen ebenfalls im Oktober auf der Webseite veröffentlicht und auch ins Deutsche übersetzt werden. Das ist interessant, denn die Texte sind teils sehr direkt, sehr heftig. Ich denke, dass das neue Album das bisher politischste der Band ist. Wir haben Angst davor, was mit den Songs in Mexiko passieren könnte.

Das ist interessant. Beim Hören des Albums hatten wir den Eindruck, dass die neuen Texte im Gegensatz zu den früheren Alben kaum politische Aussagen enthalten.
Es gibt verschiedene politische Liedtexte. Zum Beispiel einen mit Namen „Turn Off“. Der Text ist eine direkte Systemkritik. Denn die Zeile „Du brauchst Medizin“ spielt darauf an, dass den Menschen Glauben gemacht wird, sie seien krank. Und dann kann ihnen Medizin verkauft werden. Das Stück „Down Town“ ist eine direkte Kritik an der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI). In das Lied sind Reden der ehemaligen Präsidenten López Portillo, Vicente Fox sowie des amtierenden Präsidenten Peña Nieto eingebunden. Dann ist da „Mujer guerrera“, das letzte Stück auf der CD. Darin erhebt die Frau Anspruch auf ihre Rechte. Geschrieben hat es unsere Sängerin Tania. Eigentlich gibt es auf dem Album nicht viele Liebeslieder. Nur „Ya me voy“, das als Son Jarocho konzipiert ist. Meiner Meinung nach ist das politische Gefühl des Albums eindeutig. Wir haben es Leuten in Mexiko vorgespielt und die Reaktion war: „Donnerwetter, ich denke, dass sie es zensieren werden!“

Haben Sie damit in Mexiko schon einmal Probleme gehabt?
Auf jeden Fall. Los de Abajo werden im Fernsehen zensiert. Gerade beobachten wir eine kleine Öffnung, aber im Unterschied zu Panteón Rococo werden wir zensiert. Wir können nicht einfach im Fernsehen gezeigt werden, das ist verboten.

Sie haben eine starke Verbindung mit der zapatistischen Bewegung. Wie beurteilen Sie das Ableben der Figur Subcomandante Marcos? Und wie geht es mit dem Zapatismus nach 20 Jahren weiter?
Ich denke, dass das Verschwinden von Marcos richtig war, weil Marcos allein nicht der Zapatismus ist. Außerdem denke ich, dass sich momentan ein Generationenwechsel in der zapatistischen Bewegung vollzieht. Die Neuen, die Jungen, sind diejenigen, die die Bewegung gerade vorantreiben und sich im Kern der Organisation befinden.

Momentan sind sie andauernden Angriffen ausgesetzt…
Ja, natürlich. Die Zapatisten sind vor kurzem stark angegriffen worden. Peña Nieto versucht, in alle Richtungen zu schlagen.
Es ist zu bedenken, dass der Zapatismus eine alternative Lebensart ist. Wenn wir gefragt werden, wie es in der Welt weitergehen wird, lautet unsere Antwort, dass der Zapatismus der Weg sein wird. Was ist die nächste Stufe von Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus? Zapatismus ist wirklich ein gutes Beispiel dafür, wie eine Selbstverwaltung funktionieren kann.

Und welche Verbindung haben Sie noch zum Zapatismus?
Die Verbindung zur zapatistischen Bewegung besteht weiterhin. Wir arbeiten eng mit Jóvenes en resistencia alternativa („Junge Menschen im alternativen Widerstand“) zusammen, einem zapatistischen Kollektiv in Mexiko-Stadt. Mit ihnen stehen wir im Austausch und organisieren gemeinsam Partys und Konzerte. Ihre Arbeit unterstützen wir vor allem durch große, gut organisierte Veranstaltungen. Wir arbeiten also kontinuierlich in verschiedenen Bereichen, nicht notwendigerweise nur im Musikbereich. Und ich denke, diese Zusammenarbeit wird noch lange so fortbestehen, denn die zapatistische Bewegung bietet eine unterstützenswerte Alternative.

Arbeiten Sie im Moment mit anderen Organisationen zusammen?
Wir arbeiten sehr eng mit den Leuten von Atenco zusammen (Aktivist_innen, die sich für die Aufklärung der gravierenden Menschenrechtsverletzungen bei einem Polizeieinsatz in Atenco 2006 einsetzen; Anm. d. Red.). Außerdem haben wir viel mit der Gruppe Sin maíz no hay país („Ohne Mais kein Land“) gemacht. Dabei geht es um die Frage der Ernährungssouveränität. Das sind Themen, die uns interessieren und die wir öffentlich machen möchten. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Dinge anzugehen und sich zu engagieren. Wenn es schon nicht möglich ist, die ganze Welt zu verändern, möchten wir doch die Nischen ausfindig machen, die zu Veränderungen beitragen können.


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