WENN DIE STILLE KOMMT

Bild der Zerstörung Die Wassermassen reißen alles mit sich (Foto: Vinicius Mendonca/Ibama (CC BY-SA 2.0)

„Am schlimmsten wird es werden, wenn die Stille kommt“, sagt Cleiton Cândido da Silva, Einwohner der Gemeinde Córrego do Feijão in der Gemeinde Brumadinho. Brumadinho liegt im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, wo am 25. Januar 2019 der Sicherungswall des Rückhaltebeckens Nummer 1 der Erzbergmine Córrego do Feijão brach. Der Dammbruch verursachte min­destens 310 Todesopfer. Jetzt, einen Monat später, wurden noch immer nicht alle Leichen geborgen, die sich unter teils meterhohen Schlammbergen befinden. Der Bruch von Brumadinho gilt bereits jetzt als die schlimmste menschliche Katastrophe der letzten 33 Jahre im Bergbauwesen und als der größte Arbeitsunfall in Brasilien. Die Menschen suchen noch immer verzweifelt nach ihren Angehörigen, während die Rettungskräfte seit Wochen unermüdlich arbeiten, um nach den sterblichen Überresten der Menschen zu suchen. Mundschutz für die Rettungskräfte wurde bereits nach wenigen Tagen Pflicht, da die unzähligen, bisher noch nicht gefundenen Leichen Verwesungsgeruch ausströmen. Und die Menschen sind neben ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung wütend. Denn der Dammbruch von Brumadinho war nicht der erste Großbruch.

Der jetzige Dammbruch erfolgte drei Jahre nach der größten Umweltkatastrophe in Brasilien, als damals am 5. November 2015 der Damm des Rückhaltebeckens Fundão der Firma Samarco Mineração S.A. brach, ein Joint Venture von Vale S.A. und BHP Billiton. In der Nähe der Stadt Mariana gelegen, ebenfalls in Minas Gerais, wurden durch den Dammbruch 62 Millionen Kubikmeter Erzrückstände freigesetzt, die sich in einem Tsunami durch mehrere Dörfer und anschließend durch Flusstäler bis hin zur Mündung in den Südatlantik frästen. Der Bruch von „Mariana“, wie er fortan in den Medien genannt wurde, zerstörte den Bezirk Bento Rodrigues vollständig, begrub Häuser, Kirchen, Schulen, Brücken, Plantagen unter sich, tötete 19 Menschen, traf auf den Rio Doce, eines der größten Flussbecken Brasiliens, und alle Gemeinden entlang des Flusses in den Bundesstaaten Minas Gerais und Espírito Santo, bevor er 700 Kilometer entfernt den Atlantik erreichte und dort die Fisch- und Molluskenbestände ebenso wie die einzigartige Korrallenwelt von Abrolhos zerstörte. Immer noch kämpfen die betroffenen Bevölkerungsgruppen um ihr Überleben und um Gerechtigkeit. „Was wir am meisten wollen, ist, dass wir in unser Haus, zu unseren Nachbarn, zurückkehren“, sagt Mauro Marques da Silva, Bewohner des zerstörten Bento Rodrigues. „Es ist lange her, dass wir so gelitten haben, und wir wissen immer noch nicht, ob wir bezahlt werden oder ob es dann eben dabei bleiben würde, dass wir ganz leer ausgehen“, erzählt er. Zwischen Minas Gerais und Espírito Santo sind insgesamt mehr als 500.000 Menschen betroffen, und sie sind es noch immer, denn die Trinkwasserversorgung basiert auf Flusswasser, das nun aufbereitet werden muss. Vertrauen in dieses Wasser haben die Anwohner*innen jedenfalls nicht.

Drei Jahre sind seit dem Dammbruch von Mariana vergangen, und die Flussanwohner*innen, Fischer*innen und kleinen Landwirt*innen haben noch immer keine ausreichende Entschädigung für den kompletten Verlust ihres Lebenseinkommens erhalten. Dabei gehen die Verantwortlichen für den Dammbruch von Mariana bis heute straffrei aus. Wie Marli de Fátima Felício Felipe, die ihre Mutter bei der Tragödie verloren hat, betroffen sagt: „Ich denke, alle werden sie straffrei davonkommen. Das Unternehmen (Samarco) ist sehr stark. Nur Gott ist größer.“ Dabei haben die beiden gebrochenen Dämme, Fundão und Córrego do Feijão, auffällige Gemeinsamkeiten. Die Betreiberfirma von Fundão bei Mariana gehörte zur Hälfte dem brasilianischen Bergbauriesen Vale. Córrego do Feijão gehörte Vale komplett. Beide Minen belieferten unter anderem auch deutsche Stahlkocher. 52 Prozent der Eisenerzimporte nach Deutschland kommen aus Brasilien, größter Lieferant: Vale S.A. Doch wegen der mangelnden Pflicht zur Offenlegung der Lieferkette reden die deutschen Hüttenwerke sich immer gern mit Verschwiegensheitsklauseln aus der Affäre. Hinterher will niemand mehr etwas damit zu tun gehabt haben. Beide Minen hatten deutsche Versicherer und Rückversicherer, unter ihnen die Marktführer Allianz, Hannover Rück und Münchener Rück, wobei letztere jüngst eine Debatte unter den Versicherern anstrengt hat, die Versicherungspolicen bei den extrem bruchgefährdeten Dämmen strikter zu handhaben. Es wird wohl auch ihnen mittlerweile zu teuer.

Einsparungen bei Sicherheitsfragen führten direkt zu den Dammbrüchen von Mariana und Brumadinho

Beiden Brüchen war auch gemein, dass sie während des Abwärtszyklus der Mineralpreise geschahen, bekannt als Boom und Bust-Boom der mineralischen Rohstoffe. Laut Rodrigo Santos, Professor an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro UFRJ, bezieht sich der Rohstoff-Boom auf die Zeit des deutlichen Preisanstiegs bei standardisierten Mineralgütern, die im Zeitraum von 2003 bis 2011 auf den Weltmärkten gehandelt wurden. Auf der anderen Seite ist der Bustzyklus gekennzeichnet als ein Szenario von Überangebot, gefolgt von einem Rückgang der Nachfrage und der Perspektive niedriger Preise auf lange Sicht, die in der Lage sind, einen Strategiewechsel bei den Bergbauunternehmen herbeizuführen. Diese beginnen dann, die Produktionskosten zu senken, während sie die Förderung erhöhen, um die Verluste des negativen Szenarios auszugleichen. Und genau das hat, so die Wissenschaftler, schwerwiegende Konsequenzen.
Denn bei sinkenden Weltmarktpreisen steigt der Kosteneinsparungsdruck und die erste Maßnahme besteht nahezu immer darin, die Betriebskosten zu senken. Wie Bruno Milanez, Professor an der Bundesuniversität von Juiz de Fora UFJF, betont, ist es nicht ungewöhnlich, dass die ersten Einschnitte bei der Sicherheitsüberwachung, darunter die der Dämme, stattfinden. Im gleichen Sinne zitiert Milanez die Arbeit der kanadischen Forscher Michael Davies und Todd Martin, die einen Zusammenhang zwischen den Zyklen der Erzpreise und dem Bruch der Rückhaltedämme darstellt. Für Milanez ist die Sache klar: Einsparungen bei Sicherheitsfragen infolge des Preisverfalls führten direkt zu den Dammbrüchen von Mariana und Brumadinho.

Im Fall Brumadinho zeigt sich die kalte Arroganz und Inkompetenz der Firmen

Dieser gleichsam systemimmanente Zwang zur Kosteneinsparung zeigt sich auch beim Bau der Dammanlage für die Rückhaltebecken. Die Dammkonstruktionen von Mariana und Brumadinho waren beides sogenannte Upstream-Dämme, das heißt, dass dort der Damm errichtet wird und die Erzschlammreste dahinter gelagert werden. Wenn die Dammkrone erreicht ist, gehen die Ingenieur*innen davon aus, dass das abgelagerte Untermaterial mittlerweile ausreichend ausgehärtet ist, sodass man auf die alte Dammkrone und den Rand des Erzschlammmaterials einfach eine Dammerhöhung draufsetzt. Beim nun gebrochenen Damm von Brumadinho wurde dies zwischen 1976 und 2006 allein zehn Mal durchgeführt, bis zu einer Höhe von 86 Meter. Es gibt solche Dämme bis zu einer Höhe von über 250 Meter. Der nun gebrochene Damm wurde 1976 in erster Stufe von den Ingeneur*innen der damaligen Besitzerin, Thyssen, errichtet. Deren brasilianische Tochterfirma Ferteco Mineração verkaufte ThyssenKrupp dann im Jahre 2001 an Vale S.A. Auch Mariana war ein solcher Damm. Beide sind nun gebrochen. Diese Upstream-Dämme sind die billigste Methode – und die gefährlichste. Chile beispielsweise hat die bei Mariana und Brumadinho verwandte Dammbaumethode verboten. Im Gegensatz dazu sind Downstream-Dämme (also eine Erhöhung der Dämme immer nur in Fließrichtung abwärts) doppelt so teuer, und die vorherige Bearbeitung der Erzschlämme durch Trocknung kostet noch viel mehr − Kosten, die die Bergbaufirmen nicht aufbringen wollen. So steht dann die Sicherheit bei der Überwachung dieser Strukturen nicht im Vordergrund.

Gedenken an die Opfer Mindestens 310 Menschen kamen bei der Katastrophe ums Leben (Foto: Romerito Pontes CC BY 2.0)

 

Medienberichte deckten auf, dass Vale über die Risiken des Einsturzes des Brumadinho-Staudamms seit No­vember 2017 Bescheid wußte und dass Vale S.A. auf die Ingenieur*innen des deutschen Beratungsunternehmen TÜV-Süd Druck ausgeübt hat, um die Stabilitätserklärung des zusammengebrochenen Staudamms – offenkundig wider eigener Fachexpertise und Einschätzung– abzu­geben.Vale selbst versucht seit dem Dammbruch von Mariana sein Image von der größten Umweltkatastrophe in Brasilien zu lösen. Fabio Schvartsman, seit Mai 2017 Präsident der Vale S.A., erklärte in seiner Eröffnungsrede, dass das Motto des Unternehmens „Mariana never again“ lauten würde. Es wurde jedoch offenkundig nichts unter­nommen, um die Sicherheit der Anlagen zu gewährleisten oder die Folgen der Katastrophe im Rio-Doce-Becken effektiv zu beseitigen. Auch nach dem, was am 25. Januar in Brumadinho geschah, sagt Schvartsman weiter: „Vale ist eines der besten Unternehmen, das ich in meinem Leben je gesehen habe. Es ist ein brasilianisches Juwel, das nicht für einen Unfall in seinem Staudamm verurteilt werden kann, egal wie tragisch die Tragödie gewesen sein mag.“ Diese Aussage offenbart die ganze Arroganz des Unternehmens, indem es nicht die gebührende Verantwortung für die Fakten übernimmt und sich selbst als Saubermann darstellt.

Die Verantwortlichen für den Dammbruch von Mariana gehen bis heute straffrei aus

Was die Brüche aber auch mit ermöglicht hat, ist die mangelnde Kontrolle seitens der zuständigen Behörden. Die Unternehmen kontrollieren sich in dem Maße zunehmend selbst, wie der Staat neoliberaler Ideologie folgend den Abbau des staatlichen Kontrollapparats befördert. Die Selbst­kontrolle ermöglicht es Unternehmen, direkt vermeintlich unabhängige Auditor*innen zu beauftragen, die die Sicherheit ihrer Geschäftstätigkeit zertifizieren. Diese direkte Beziehung birgt einen inhärenten Interessenkonflikt, da diejenigen, die die Sicherheit bezeugen, von denen bezahlt werden, die keine Probleme haben wollen. In einer Branche, die keine Toleranz erlauben darf, weil ein Fehler sofort tödlich ist, darf es nicht sein, dass die Unternehmen sich selbst überwachen.In Bezug auf die gezielte Demontage der Staatsapparatur darf die Antwort nicht nur darin bestehen, eine weitere Flexibilisierung und/oder Vereinfachung des Umweltgenehmigungsverfahrens zu verhindern. Es ist vielmehr notwendig, die staatliche Einmischung in den Prozess zu verstärken, die Kapazität des staatlichen Handelns in Bezug auf die Anzahl der Fachleute und Technologien zu erhöhen und die Zivilgesellschaft als wirksamen Teil der Entscheidungen über Bergbaubetriebe wirklich einzubeziehen, fordert das internationale Netzwerk der von der Firma Vale Betroffenen.

Vom eigentlich kollektiven Gut profitieren nur wenige

Der Bergbau ist ein öffentliches Gut und sein Gewinn erfolgt aus einer staatlichen Konzession. Durch die Einführung einer Mineralienexportpolitik profitiert Brasilien von den Gewinnen der Unternehmen zum Nachteil derjenigen Gebiete, die auf allen Folgeschäden des Bergbaus sitzenbleiben. Zu diesen gehören die Zerstörung der Wasserressourcen, Bodenverunreinigung, Luftverschmutzung, Zerstörung diverser Ökosysteme, Erstickung lokaler wirtschaftlicher Alternativen und der Zerfall von Gemeinschaften und traditionellen Völkern, die täglich mit dem Bergbau leben und oft ihrer Territorien beraubt werden. In diesem Szenario führt ein öffentliches und kollektives Gut dazu, dass einige wenige Gewinne erzielen und diese eine Spur von Leid und Tod in den Territorien hinterlassen.Angesichts der weltweit wachsenden Nachfrage nach Erzen und angesichts des Umfangs der sozialen und ökologischen Auswirkungen, die Bergbauunternehmen verursachen, ist es dringend erforderlich, über das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Rohstoffgewinnung nachzudenken, insbesondere in den Ländern, die diese Erze liefern, die aber deren soziale und ökologische Auswirkungen erben, wobei die Risiken und Schäden stärker und deutlicher auf die schwächsten ethnischen Gruppen entfallen und Ungleichheiten produzieren und reproduzieren. So lange dies nicht geschieht, bleibt den Menschen vor Ort meist nicht viel anderes als den Tag zu fürchten, der die Stille bringen wird.

 

 

// NOTORISCHE VERSAGER

Es war ein Versagen mit Ansage. Die wenigsten Mexikaner*innen dürften überrascht gewesen sein, welch schwache Figur ihre politische Führung im Umgang mit den schweren Erbeben abgab. Diese ereigneten sich am 7. und 19. September im südlichen und zentralen Mexiko, erschütterten neben der Hauptstadt und angrenzenden Bundesstaaten weite Teile Oaxacas und Chiapas‘. In beiden Fällen war es die selbstorganisierte Bevölkerung, die schneller und effizienter Hilfe leistete. So aktivierte Präsident Enrique Peña Nieto von der Revolutionären Institutionellen Partei (PRI) am 19. September erst mit deutlicher Verzögerung den Katastrophennotfallplan „Plan MX“. Dieser sieht vor, das Militär in die betroffenen Gebiete zur Hilfe zu schicken. In der Zwischenzeit zogen Zivilpersonen Menschen mit bloßen Händen aus den Trümmern (siehe Titelfoto) und leisteten auf der Straße Notversorgung für Verletzte. Ohne die aufopferungsvolle Solidarität der zahllosen freiwilligen Helfer*innen, die tage- und nächtelang pausenlos arbeiteten, wären weit mehr Menschen gestorben.

Die Regierungen auf Landes- und Bundesebene hingegen simulierten oftmals nur Hilfe oder versuchten die Situation für sich politisch auszunutzen. So raubte die Regierung des Bundesstaats Morelos Spendengüter aus der Hauptstadt, um diese mit ihren Aufklebern zu versehen und als eigene Spenden zu deklarieren. Menschen aus den südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas und Oaxaca berichteten, dass Hilfspakte oftmals nur an Anhänger*innen der Regierungsparteien übergeben wurden. Ebenso gibt es Aussagen von Augenzeug*innen, die berichten, wie ein LKW mit Hilfspaketen beladen vor einem zerstörten Haus hielt, Fotos machte – und die Pakete anschließend wieder mitnahm. Präsident Peña Nieto persönlich wollte in der Öffentlichkeit bella figura machen, indem er vor geladenen Fotograf*innen bei der Verladung der staatlichen Hilfspakete mit anpackte. Dumm nur, dass eine Videoaufnahme offenlegt, wie er vor der Aktion herumfeixt und in der organisierten Inszenierung die Kisten leer sind. Das Video ist ein Hit in den sozialen Medien.

Überhaupt kein Hit war dagegen die staatliche Krisenprävention. Seit Jahrzehnten bestehen strenge Bauvorschriften, die nach dem Erbeben 1985, das große Teile der Hauptstadt zerstörte, nochmals verstärkt wurden. Ebenso sind regelmäßige Überprüfungen der Bausubstanz vorgesehen. Wie kann es also sein, dass sogar neuere Gebäude jetzt einstürzten? Und wie kann es sein, dass ausgerechnet derjenige Ingenieur Schulgebäude nach dem Beben überprüfen soll, welcher der eben erst eingestürzten Schule Enrique Rébsamen im Jahr 2014 das Prädikat „perfekter Zustand“ verlieh? Ein Kollektiv aus Anwält*innen, Aktivist*innen und Akademiker*innen hat bei der Justizverwaltung von Mexiko-Stadt Klage gegen verschiedene städtische Autoritäten als auch private Bau- und Immobilienfirmen eingereicht. Der Vorwurf: fahrlässige Tötung.

Das staatliche Versagen bei dem Erbeben im Jahr 1985 war Initiationspunkt für das Entstehen einer sich selbst organisierenden Zivilgesellschaft, die das autoritäre korporatistische Herrschaftsmodell der PRI bekämpfte und demokratische Rechte einforderte. Echte Oppositionsparteien entstanden, unter anderem die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die seit 1997 in Mexiko-Stadt regiert. Das Machtmonopol der PRI zerbrach. Das staatliche Versagen bei den Beben im Jahr 2017 ist jedoch das aktuellste Beispiel dafür, dass sich zwar bisweilen das Parteibuch, nicht jedoch die Verantwortungslosigkeit und systematische Korruptheit der politischen Eliten geändert hat. Damals wie heute kann sich die Bevölkerung im Wesentlichen nur auf sich selbst verlassen. Trotz der Abwärtsspirale aus entgrenzter (staatlicher) Gewalt sowie weitgehender gesellschaftlicher Verrohung und Apathie, in der sich das Land seit einem guten Jahrzehnt befindet, ist die Selbstverständlichkeit, mit der Mexikaner*innen nun ihre Solidarität untereinander wiedergefunden haben, ein Hoffnungsschimmer.

KATASTROPHE MIT ANKÜNDIGUNG

Nach mehreren Monaten der Dürre wurden die Regionen Lambayeque, La Libertad, Piura und Tumbes im Norden Perus im Januar von starkem Regen heimgesucht. Das Phänomen wird der „Küsten-Niño” (Niño Costero) genannt, da es nur die peruanische und ecuadorianische Küste betrifft. Zu den betroffenen Regionen gehören sowohl Ancash – hier befinden sich gegenwärtig 166 Bezirke im Notstand, darunter der Bezirk Huarmey, der sich praktisch in eine Lagune verwandelt hat – als auch Lima mit 145 Bezirken im Notstand.

Die Bilanz ist erschreckend. Laut dem Zentrum für nationale Notfalloperationen (COEN) summiert sich die Zahl der Betroffenen auf über eine Million. Bisher gibt es mindestens 113 Todesopfer. 238.000 Häuser wurden beschädigt, tausende Kilometer Landstraße und Autobahn sind zerstört, ebenso 6.000 Kilometer Bewässerungs­kanäle und 24.000 Hektar landwirtschaftliche Anbaufläche. Besonders betroffen sind die Ärmsten der Gesellschaft.

Einen der kritischsten Momente erlebte die Hauptstadt Lima, als durch die Regenfälle und Erdrutsche, gemeinsam mit dem Schmutz der Flüsse Rímac und Chillón, die Aufbereitungsanlage von Trinkwasser, La Atarjea, die Dekontaminierung des Wassers nicht mehr bewältigen konnte, so dass die ganze Stadt fast eine ganze Woche ohne fließendes Wasser auskommen musste. Zudem bestand das Risiko einer Kontaminierung des Flusses Rímac durch die Aufbereitungsrückstände der Minen des Tamboraque. Dies hätte die Zufuhr von fließendem Wasser für die Stadt auf unbestimmte Zeit unterbrechen können.

Die Regierung schickte das Militär in die betroffenen Regionen und tausende Personen aus Peru und anderen Ecken der Welt spendeten viel Zeit und Geld an die Bedürftigen. Sporteinrichtungen, Schulen, Wohnungen und Parks verwandelten sich in Sammelstellen für Spenden, in denen haltbare Lebensmittel, Wasser, Kleidung, Hygieneartikel und weitere Produkte gesammelt wurden.

Die massive nationale und internationale Solidarität wurde deutlich sichtbar – ebenso wie die Untätigkeit und mangelnde Prävention von Seiten des Staates. Interessanterweise erlebt Ecuador die gleiche Regenzeit wie Peru, wurde aber, aufgrund von Präventionsplänen der Regierung Rafael Correas, nicht so heftig von dem Phänomen getroffen.

In den letzten hundert Jahren hat das Phänomen El Niño Peru viermal heimgesucht. Diese Vorgeschichte müsste mehr als ausreichend sein, um Präventions- und Notfallpläne in Betracht zu ziehen, seitens der Bürger sowie der lokalen, regionalen und nationalen Verwaltung. Aber dies war nicht der Fall.

Es gibt keine Pläne zur Eindämmung ähnlicher Katastrophen.

Im Jahr 1952 traf El Niño – ähnlich wie in diesem Jahr – die nördliche peruanische Küste mit Starkregen und sorgte für überquellende Flüsse, während der Süden von Dürren geplagt war. Die nächste Katastrophe 1983 war die schlimmste von allen. Die Bilanz waren Schäden in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar, 15.000 zerstörte Häuser, massive Schäden der Infrastruktur und eine Malariaepidemie.

Die Katastrophe, die diesem Jahr am nächsten liegt, geschah Ende 1997 und Anfang 1998 unter der Regierung von Alan García. Damals waren Kolumbien, Ecuador und Peru betroffen. Die am stärksten geschädigten Regionen waren Piura mit 120.000 Betroffenen, gefolgt von La Libertad mit 72.000 und Lambayeque mit 71.000 Menschen, die, wenn nicht ihr Leben, dann Hab und Gut verloren. Die Auswirkungen auf Peru waren damals besonders verheerend, da erst kurz zuvor ein bewaffneter Konflikt beendet und die extreme Armut weitgehend überwunden worden waren. Laut Alfredo Zambrano, Mitglied des Nationalen Zentrums für Einschätzung, Prävention und Katastrophenvorsorge (Cenepred), haben weder die Gemeinden noch die Landesregierungen Pläne zur Eindämmung ähnlicher Katastrophen entwickelt. „Alle lokalen Verwaltungen haben seit 2013 Risikokarten der Cenepred. Sie wissen, wo die gefährdeten Zonen und die kritischen Punkte für Überschwemmungen, Erdrutsche und Erdbeben sind“, so Zambrano. Und trotzdem hat niemand etwas unternommen.

Der Bürgermeister von Lima, Luis Castañeda, verfügt über ein Budget von cirka 20 Millionen Euro für die Katastrophenprävention. Von diesem Budget wurden jedoch cirka 17,5 Millionen Euro für die Ausbesserung der Stadtautobahn „Promenade der Grünen Küste“ (Malecón de la Costa Verde) ausgegeben. In Piura hat der Regionalgouverneur Reynaldo Hilbck demgegenüber nicht einmal drei Prozent der 23 Millionen Soles (cirka 6,5 Millionen Euro) für den Schutz vor El Niño genutzt.

Der Dreijahresplan zur Rekonstruktion wird heftig konstruiert.

Mit jedem Tag erlebt die peruanische Bevölkerung auch den „Post-Niño-Effekt“. Stehende Gewässer, eingestürzte Kanalisation, Tonnen von Müll und eine starke Vermehrung von Moskitos durch die Regenfälle, die mehr als 300.000 Fälle von Durchfallerkrankungen verursacht haben. Auch vor einem neuen Ausbruch der Cholera wird gewarnt. Zusätzlich dazu ist die Anzahl an Dengue-Fällen exponentiell angestiegen. Bisher gibt es etwa 3.400 Personen, die an Dengue erkrankt sind, zu denen in Piura täglich 300 weitere mutmaßliche Fälle hinzukommen. Es gab bereits mindestens acht Tote. Außerdem sind 172 bestätigte Fälle des Zika-Virus und 55 des Chikungunya-Virus aufgetreten. Es sind aber nicht nur diese Erkrankungen, die durch die Überschwemmungen und Erdrutsche aufgetreten sind. Auch die Fälle von Atemwegserkrankungen haben um 437.000 zugenommen, von denen Lima mit 105.000 Fällen am meisten betroffen ist. In nur drei Monaten wurden mehr als tausend Fälle von Leptospirose gemeldet – einer Krankheit, die auftreten kann, wenn die Haut in Kontakt mit verunreinigtem Wasser kommt. Die Krankenhäuser sind nicht auf diese Gesundheitskrise vorbereitet. Der sanitäre Notstand ist für 90 Tage in elf Regionen des Landes ausgerufen worden.

Desgleichen hat die Exekutive einen Dreijahresplan zur Rekonstruktion vorgestellt, der die Bildung einer Behörde für den Wiederaufbau und die Beschaffung von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Beratung durch regionale Regierungen vorsieht, ohne die üblichen Limitierungen des staatlichen Vergaberechts einhalten zu müssen. Das wird heftig kritisiert, denn die Beauftragung privater Firmen ohne staatliche Kontrolle vereinfacht Korruption. Obendrein soll das Nationale Zentrum für Einschätzung, Prävention und Katastrophenvorsorge die Regionen mit hohem und sehr hohem Risiko für Überschwemmungen benennen und gegebenenfalls räumen. Das ist deshalb beunruhigend, weil dadurch Gebiete der indigenen Bevölkerung betroffen sein könnten.

Das Beratungsunternehmen Maximixe schätzte die Kosten für den Wiederaufbau der Infrastruktur auf knapp acht Milliarden US-Dollar. Knapp sechs Milliarden würden für die Sanierung von Straßen, Brücken, Kanälen, Schulen oder Gesundheitszentren gebraucht, die anderen zwei Milliarden für die Umsiedlung von Menschen und Notfallarbeiten. Die alles entscheidende Frage dabei ist, ob das Land ausreichend Budget besitzt. Nach den Aussagen des Staatsministers Fernando Zavala sei dies der Fall. So wurde trotz der bestehenden Unklarheiten ein Wiederaufbauplan vorgestellt und vom peruanischen Kongress genehmigt.

In dem Kontext ist zu sehen, dass laut Perus Steuerbehörde (SUNAT) und dem Ministerium für Wirtschaft und Finanzen, der Betrag, der dieses Jahr durch Steuervorteile für private Unternehmen nicht in die Staatskassen fließen wird, auf mehr als 14 Millarden Soles (circa vier Millarden Euro) geschätzt wird. Dieser Betrag entspricht 2,1 Prozent des BIP und annähernd der Summe, die der Wiederaufbau kosten wird.

Ein wichtiges Detail ist in dieser Hinsicht, dass sich, nachdem der „Küsten-Niño“ Ende April abgeklungen ist, schon eine neue Krise ankündigt: starker Frost im Süden des Landes. Wird Peru darauf vorbereitet sein? Hoffentlich ja.

Zwar gelten die diesjährigen Ausmaße vom „Küsten-Niño“ als untypisch, doch im Zuge des Klimawandels ist fraglich, ob die Auswirkungen des Wetterphänomens zukünftig weniger verheerend sein werden.

Newsletter abonnieren