
Zwei Tage später wurde der Regen zur Sintflut. Die Überschwemmungen und Sturzfluten betrafen den gesamten Bundesstaat inklusive der Hauptstadt Porto Alegre. Sechs Tage lang wurde ein Durchschnitt von 500 bis 700 mm Regen registriert. In einigen Regionen fiel innerhalb dieser wenigen Tage 1000 mm Regen, was 30% der üblichen Regenmenge eines ganzen Jahres entspricht. Am 1. Mai waren schon mehr als 100 Gemeinden betroffen. Die Überschwemmungen betrafen mindestens 298 Gemeinden, also mehr als 90% des Bundesstaats und eine Fläche so groß wie das Vereinigte Königreich. Fast 600.000 Menschen wurden vertrieben und 179 Personen starben (siehe LN 600).
Der Bundesstaat Rio Grande do Sul ist weithin für seine Agrarwirtschaft bekannt und produziert insbesondere Soja für den Export. Wichtige Biome (bezeichnet die Lebensgemeinschaft von Tieren und Pflanzen in einem größeren geographischen Raum, Anm. d. Red.) wie die Pampa und der Cerrado wurden durch die Plantagenwirtschaft zerstört und in regelrechte grüne Wüsten verwandelt. In der Vergangenheit war der Fokus der Regierungen und Produzentinnen nicht die Bewahrung der Natur, sondern ihre maximale Ausbeutung.
MapBiomas zufolge hatten im vergangenen Jahr 97% der Umweltzerstörung die Expansion der Agrarwirtschaft zum Ziel. In einer Satellitenbildanalyse zeigt die Organisation zudem auf, dass die landwirtschaftlichen Produktionsflächen am heftigsten von den Überschwemmungen getroffen wurden. Der Lokalpolitiker Eduardo Leite, entschiedener Vertreter ultraneoliberaler Politik, sieht darüber hinaus in den Unternehmerinnen und Produzentinnen der Agrarwirtschaft das größte Entwicklungspotenzial von Rio Grande do Sul. Der Umbau von Landschaft und Städten nach den Bedürfnissen der Agrarwirtschaft schaffte die Bedingungen für die katastrophale Flut im Jahr 2024.
Fast 200 Menschen und an die 20.000 Tiere, Wildtiere und Nutztiere, starben. Während die obere Mittelklasse von Porto Alegre ins Auto stieg und in ihre Häuser an der Küste floh, verloren tausende Menschen alles: ihre Häuser, Besitztümer, Erinnerungen und soziales Umfeld. Der größte Teil der durch die Überschwemmungen zerstörten Häuser wurde von Schwarzen, armen Frauen bewohnt. Eine Studie von Datafolha in den von den Überschwemmungen betroffenen Städten zeigt, dass fast die Hälfte der Familien mit einem Einkommen in Höhe von weniger als oder äquivalent zu zwei Mindestlöhnen angab, ihr Haus, Möbel, Haushaltsgeräte oder ihre Existenzgrundlage verloren zu haben. Im Gegensatz dazu trifft dies nur auf 13% der Familien zu, die fünf bis zehn Mindestlöhne verdienen, zu. Frauen, Kinder und Schwarze Personen sind in den unteren Klassen überrepräsentiert, sodass sie am häufigsten betroffen waren.
Die Indigenen Völker hingegen hatten noch andere Sorgen als den Verlust materieller Besitztümer. 8.000 Familien waren betroffen, von denen einige in Gebieten lebten, die noch nicht abgegrenzt und staatlich zugesichert waren. Ein Beispiel ist die Gemeinschaft der Guarani Aracaty, die seit über 40 Jahren in einem etwa 60 Kilometer von Porto Alegre entfernten Territorium lebt. Sie waren nicht bereit, das Gebiet zu verlassen und sich in die Schutzräume zu begeben, da sie Gefahr liefen, ihr Land durch ihr Weggehen zu verlieren: Das Guaraní-Dorf Tekoa Pekuruty wurde von der nationalen Behörde für Infrastruktur und Verkehr (Dnit) zerstört, während die Gemeinschaft sich in einem Schutzraum in Sicherheit brachte, die Gemeinde wurde in ein anderes Gebiet umgesiedelt. Die Indigenen Völker befürchteten entsprechend, dass die Überschwemmungen als Vorwand benutzt werden, um ihr Land für zerstörerische Projekte wie den Bergbau in Beschlag zu nehmen.
Während die Politik unzureichende Maßnahmen im Schneckentempo entwickelt, reagierte die lokale Zivilgesellschaft schon während das Wasser den Bundesstaat Rio Grande do Sul noch überschwemmt hatte und begann sofort mit der Rettung und Unterbringung von Menschen und Tieren. Es wurden Geld- und Sachspenden gesammelt, die für die Versorgung der improvisierten Unterkünfte benötigt wurden. Im ganzen Land nahmen Menschen an Hilfs- und Solidaritätsaktionen für die Betroffenen teil.
Inmitten der Solidarität versuchte die extreme Rechte, die Tragödie zu nutzen und daraus Kapital zu schlagen. In den sozialen Netzwerken der Rechtsextremer hieß es, Präsident Lula habe absichtlich die Öffnung der Schleusen des Flusses Guaíba angeordnet, um den Bundesstaat Rio Grande do Sul finanziell zu schädigen. Außerdem verhindere die Bundesregierung die Überweisung von Spenden aus anderen Teilen des Landes, da bekannt sei, dass der Präsident den Bundesstaat hasse, so die verbreiteten Gerüchte.

Gegenseitige Hilfe angesichts mangelnder politischer Antworten
Das Motto „das Volk für das Volk“ – die Idee, dass der Staat, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene, ineffizient und in gewisser Weise unnötig ist – tauchte in diesem Zusammenhang in rechtsextremen sozialen Netzwerken auf. Die Bewegung der Solidarität und gegenseitigen Hilfe wurde kooptiert und in eine Allegorie der These vom Minimalstaat und der Effizienz der bolsonaristischen Unternehmerinnenklasse in der Lösung sozialer und ökologischer Probleme umgewandelt. Außerdem wurde versucht, Klimawandelleugnende Erklärungen für die Katastrophe im Diskurs zu verankern.
Doch trotz der enormen Anstrengungen der extremen Rechten, ergab eine Meinungsumfrage von ProQuaest, dass sieben von zehn Brasilianerinnen glauben, dass die Überschwemmungen in Rio Grande do Sul in direktem Zusammenhang mit dem Klimawandel stehen. Dies zeigt, dass die Klimaleugnung in der Unmittelbarkeit und Fassbarkeit der Katastrophe und damit auch der Identifikation mit ihr eine Grenze findet. Auch die Wissenschaft hat dazu ihren Teil beigetragen: Eine vom Imperial College London veröffentlichte Studie hat im Fall der Überschwemmungen im Süden Brasiliens ergeben, dass das Klimaphänomen El Niño zwar ein wichtiger Faktor für die weit über dem Durchschnitt liegenden Niederschläge in diesem Zeitraum war, dass aber der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines solchen verheerenden Ereignisses in diesem Zeitraum um mindestens das Doppelte erhöht hat.
Koloniale Logik der Wiedergutmachung
Neben den durch die Verstärkung von El Niño verursachten Veränderungen des Niederschlags, trug zudem die neoliberale Politik des Staates direkt zu der Tragödie bei, insbesondere in der Hauptstadt. Wegen unzureichender Wartung gab das Schleusensystem, das bis zu sechs Meter Wasser fassen sollte, bei einem Pegelstand von 4,6 Metern nach. Die Wasserversorgung der Bevölkerung von Porto Alegre war mehrere Tage lang unterbrochen, was auch auf fehlende öffentliche Investitionen in das städtische Wasser- und Abwasseramt, ein kommunales öffentliches Unternehmen, zurückzuführen ist. Die Beschäftigten des Unternehmens prangern seit mehreren Jahren den Personalabbau, das Fehlen von Ausschreibungen für die Neubesetzung der Stellen derjenigen, die in den Ruhestand gehen, und die mangelnden Investitionen in die Liquiditätssicherung aufgrund der Privatisierungsagenda der lokalen Regierung an.
Ein Jahr nach der größten Klimakatastrophe, die den Bundesstaat Rio Grande do Sul heimgesucht hat, gibt es neben den erschreckenden Zahlen der Tragödie – 2,3 Millionen Betroffene, 183 Tote, 27 Vermisste, fast 100.000 Obdachlose und fast 700.000 Vertriebene – ein kollektives Trauma zu verarbeiten und weiterhin konkrete Schäden zu beheben.
Laut der Bewegung der von Staudämmen betroffenen Personen ist es für die Betroffenen nach wie vor eine Herausforderung, als solche anerkannt zu werden, da die Kriterien für den Zugang zu den Wiedergutmachungsprogrammen der Regierung auf diejenigen Personen beschränkt sind, die materielle Schäden erlitten haben.
Diese Logik ignoriert zudem andere subjektive und koloniale Dimensionen von Umweltschäden, wie etwa die Auswirkungen auf Tiere, Pflanzen, Wälder und ganze Ökosysteme, die über den Menschen hinausgehen. Obwohl sie für das Überleben der Menschheit und das Gleichgewicht des Planeten von grundlegender Bedeutung sind, werden andere Lebewesen in den Wiedergutmachungsplänen nach Katastrophen weiterhin ignoriert. Dieser Speziesismus trägt dazu bei, dass Tiere und Ökosysteme nicht als Opfer anerkannt werden und sowohl ihre Existenz als auch ihr Leiden ignoriert werden.
Eine im Juni 2024 veröffentlichte Umfrage ergab, dass drei von zehn Einwohnerinnen von Rio Grande do Sul beabsichtigen, an sicherere Orte zu ziehen, und dass 80 Prozent von ihnen weitere Tragödien dieser Art aufgrund des Klimawandels befürchten. All dies zeigt, dass einerseits das Bewusstsein der Bevölkerung für Umwelt- und Klimaprobleme zunimmt und andererseits die Behörden völlig unvorbereitet – um nicht zu sagen bewusst fahrlässig – sind, wenn es darum geht, kurz-, mittel- und langfristige Präventivmaßnahmen zu ergreifen.
Die Überwindung der auf Monokulturen basierenden Wirtschaft für den Export von Rohstoffen und fossilen Brennstoffen sowie die Erhaltung der Biome und der Kulturen, die sie schützen, sind nur einige Wege, um aktive Hoffnung zu kultivieren. Ohne die Erarbeitung von Mechanismen zur Beteiligung der verschiedenen Völker, aus denen sich die brasilianische Bevölkerung zusammensetzt, an der Ausarbeitung von Maßnahmen, die die moderne Trennung zwischen Natur und Kultur überwinden, werden sich die katastrophalen Ereignisse jedoch häufen.














