GIFT UND ZUCKER

Cortina Martínez Eine betroffene Kleinbäuerin, Foto: Isabel Nordhausen, INKOTA-netzwerk

Die letzten verlässlichen, aus dem Jahr 2013 stammenden Zahlen sind alarmierend: In Nicaragua und El Salvador wurden 43 bzw. 42 Todesfälle pro 100.000 Einwohner*innen infolge von chronischem Nierenversagen gemeldet. Da die Menschen in den Zuckerrohranbauregionen oft nur eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben und häufig keine notwendige Maßnahmen wie Dialyse und Transplantationen in Anspruch nehmen können, führen fortgeschrittene Stadien von chronischer Niereninsuffizienz meist zu einem schnellen Tod.

Vertreter*innen der Vereinigung für die integrale Entwicklung von Frauen (APADEIM), die im Landkreis El Viejo im Nordwesten von Nicaragua kleinbäuerliche Familien unterstützt, beschreiben eindrücklich die Lebenssituation der dortigen Bevölkerung. So berichtet die Kleinbäuerin Cortina Martínez, deren Ehemann an chronischer Niereninsuffizienz leidet und die seit mehreren Jahren an Projekten und Organisationsprozessen von APADEIM teilnimmt: „Die Zuckerrohrplantagen, die Monte Rosa hier im unmittelbaren Umfeld unserer Gemeinde angelegt hat, schädigen uns in allen Lebensbereichen. Alle zwei Wochen, manchmal auch öfter, werden Pestizide versprüht. Meist mit einem Flugzeug, manchmal auch mit Traktoren. Unser Wasser ist vergiftet. Aus unserem Brunnen trinke ich schon lange kein Wasser mehr. Hier in meiner Gemeinde ist die Mehrheit der Menschen erkrankt, sowohl Männer als auch Frauen und Kinder.“ Auch María Luisa Mercado, die 14 Jahre lang Zuckerrohr geschnitten hat und selbst von Nierenversagen betroffen ist, erzählt: „Man erfährt immer wieder von anderen Personen, die gestorben sind und dann denkt man, dass es in jedem Augenblick auch einen selber treffen kann.“

Seit einigen Jahren ist unter internationalen Wissenschaftler*innen eine rege Debatte über die Ursachen der chronischen Niereninsuffizienz in landwirtschaftlich geprägten Gemeinden entflammt. Dabei stehen sich im Kern zwei Theorien gegenüber: Einige vertreten die These, das Auftreten von chronischer Niereninsuffizienz unter Zuckerrohrarbeiter*innen werde vor allem durch die starke Hitze in Kombination mit schwerer körperlicher Arbeit und der daraus resultierenden Austrocknung des Körpers verursacht. Dabei fällt auf: Mindestens eine Untersuchung von 2019 wurde von der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) sowie der größten nicaraguanischen Zuckermühle Ingenio San Antonio (ISA) finanziert, die sich aufgrund massiver Beschwerden seit einigen Jahren um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie der Gesundheitsversorgung in den Zuckerrohranbaugebieten bemüht. Ob die Zuckerindustrie dabei direkt auf die Studienergebnisse Einfluss genommen hat, bleibt unklar − offensichtlich ist jedoch, dass die präsentierten Lösungen wie mobile Schattenspender und Trink- wasserstationen auf den Plantagen einen vergleichsweise geringen Eingriff in die Produktionsstrukturen darstellen, was die Industrie begrüßen dürfte.

Andere Wissenschaftler*innen halten die Hitzestress-Theorie jedoch nicht für haltbar. So sei damit nicht erklärbar, warum die Sterblichkeitsrate in El Salvador und Nicaragua 17 Mal höher ist als etwa in Kuba, wo auch Zuckerrohr angebaut wird und ein ebenso heißes Klima herrscht. Gleichzeitig wurden in Sri Lanka, das ebenfalls stark unter dem vermehrten Auftreten von chronischer Niereninsuffizienz leidet, im Vergleich die wenigsten Fälle in der heißesten ariden Zone registriert. Jüngste epidemiologische Untersuchungen eines internationalen Forscher*innenteams um den salvadorianischen Nephrologen Carlos Orantes und den belgischen Nierenfacharzt Marc De Broe legen indes nahe, dass das vermehrte Auftreten von chronischer Niereninsuffizienz mit dem gesteigerten Einsatz von Pestiziden – vor allem Herbiziden – einhergeht. Diese werden unter anderem als Wachstumshemmer eingesetzt, um das Zuckerrohr am Ende der Anbausaison besser ernten zu können. Zum Teil ersetzen Herbizide heute auch die früher gängige und aufgrund der extremen Gesundheits- und Umweltschädlichkeit inzwischen weitgehend verbotene Praxis, das Zuckerrohr vor der Ernte abzubrennen. Durch den Vergleich von Gewebeproben stehen nun vor allem Glyphosat und Paraquat im Verdacht, maßgeblich zum Auftreten von chronischer Niereninsuffizienz beizutragen − sowohl unter Plantagenarbeiter*innen als auch unter Bewohner*innen von Gemeinden, deren Trinkwasser aus Brunnen stammt, die mit Glyphosat verunreinigt sind.

Auch Umweltaktivist*innen in Nicaragua und El Salvador sind überzeugt: Das Problem sind die Pestizide. Aus Sicht von Adalberto Blanco von dem salvadorianischen Kooperativenverband der Agrarreform in der Zentralregion (FECORACEN) ist der Einsatz teils hochgefährlicher Pestizide eins der zentralen Hindernisse, die einer Transformation der Landwirtschaft hin zu einer nachhaltigen, agrarökologischen Nahrungsmittel- produktion und zum Erreichen von Ernährungssouveränität im Weg stehen. Vor allem die gesundheitlichen Auswirkungen sind frappierend: Dem salvadorianischen Gesundheitsinstitut zufolge wurden zwischen 2011 und 2015 jährlich rund 1.500 akute Pestizidvergiftungen registriert. Gut ein Drittel davon ist auf Versuche von Bäuerinnen und Bauern zurückzuführen, sich mit Pestiziden das Leben zu nehmen, der Rest wurde durch die tägliche Arbeit oder Unfälle verursacht.

Auf internationaler Ebene wurden seit 30 Jahren keine globalen Daten mehr zu den Pestizid-Opferzahlen erhoben. Nach letzten Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beziehungsweise der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) werden jährlich drei Millionen Menschen weltweit wegen einer akuten Pestizidvergiftung behandelt und 25 Millionen Menschen erleiden weniger akute Vergiftungen, während 20.000 bis 40.000 Menschen dadurch am Arbeitsplatz sterben. Ein Großteil dieser Pestizidvergiftungen ereignet sich in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Deutlich schwieriger zu erfassen sind die langfristigen gesundheitlichen Schäden, die durch Pestizide verursacht werden. Medizinische Untersuchungen in Argentinien aus den Anbauregionen von Ackerpflanzen wie Soja, die meist unter Einsatz von Pestiziden angebaut werden, dokumentieren die dramatischen Auswirkungen: Dort wurden unter anderem eine deutlich höhere Fehlgeburtsrate, häufigere Missbildungen bei Säuglingen und fast doppelt so viele Krebserkrankungen im Vergleich zum nationalen Durchschnitt bemessen.

Wissenschaftler*innen sind sich uneinig über Krankheitsursachen


Zuckerrohr ist eine der wichtigsten so genannten flex crops, also Pflanzen, deren Anbau als Nahrung, aber auch zu anderen Zwecken dienen kann. Der Anbau solcher Pflanzen wurde in den letzten Jahrzehnten in vielen Regionen der Welt massiv ausgeweitet. So hat sich die Anbaufläche für Zuckerrohr in Zentralamerika zwischen 1990 und 2018 mittlerweile verdoppelt. Die Zuckerproduktion teilt sich auf in die Herstellung und den Export von Zucker, Alkohol und Bioethanol als Kraftstoff. Letzteres wird als Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit verkauft. So schreibt etwa die Zuckermühle San Antonio, der größte nicaraguanische Exporteur von Agrarkraftstoffen mit einer Produktionskapazität von 340.000 Litern pro Tag, auf ihrer Webseite: „Durch diese Investitionen [in die Produktion von Agrartreibstoffen] trägt das Unternehmen zur Schaffung von ökologischen und sozialen Vorteilen bei, die mit dem Produkt in Zusammenhang gebracht werden.“

Gleichzeitig steht fest: Ob für Bioethanol, industriellen Zucker oder neuerdings auch für so genanntes Bio-Plastik − die Produktion von Zuckerrohr trägt nicht zur Ernährungssicherung bei. Angesichts der inzwischen zum fünften Mal in Folge gestiegenen Hungerzahlen und der gleichzeitig wachsenden Zahl an mangel- oder überernährten Menschen stellt der Zuckerrohranbau eine mehr als fragliche Nutzung von Anbauflächen dar. Denn Exportpflanzen wie Zuckerrohr, Sojabohnen oder Baumwolle ersetzen zunehmend Nahrungsmittelpflanzen. In Bolivien zum Beispiel ist die Produktion von Getreide, Gemüse, Früchten, Knollen und Futtermitteln in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 27 Prozent zurückgegangen, was zu einer Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten führt und die Ernährungssicherheit und -souveränität stark beeinträchtigt.

Um das Problem der Niereninsuffizienz wirksam zu bekämpfen, müssen die Plantagenarbeiter*innen, unabhängig von der wissenschaftlichen Debatte um die genauen Ursachen der Erkrankung, umfassend geschützt werden: Kürzere Arbeitszeiten und längere Pausen im Schatten sind dabei ein genauso wichtiger erster Schritt wie das Einsatzverbot von hochgefährlichen Pestiziden wie Glyphosat und Paraquat.

Darüber hinaus braucht es Strategien für einen Umbau der Plantagenstrukturen. Denn in vielen Ländern des globalen Südens verdrängen Zuckerrohr-Plantagen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die stattdessen auf agrarökologische Weise vielfältig und ausgewogen für sich, ihre Familien und lokale Märkte Nahrung produzieren könnten. Agrarökologie beruht auf den Prinzipien des ökologischen Landbaus und ermöglicht Nahrungsmittelproduzent*innen, durch eine geschickte Fruchtfolge, selbsthergestellte botanische Pestizide und den Anbau in Mischkulturen auf den Einsatz von chemischen Pestiziden zu verzichten – und damit die Gesundheit von Menschen und Umwelt besser zu schützen. Dafür braucht es sowohl förderliche Politiken, die unter anderem auch kleinbäuerlichen Landbesitz erleichtern, als auch finanzielle Anreize, um eine ernsthafte Transformation des Ernährungssystems Realität werden zu lassen.

// PFLEGE IN DER MANGEL

Höchstpersönlich reiste Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im September nach Mexiko, um vor Ort Pflegefachkräfte anzuwerben. Das Geld für 13.000 neue Stellen in der Altenpflege sei da, aber der Arbeitsmarkt für Fachkräfte in Deutschland leer gefegt. Daher setzt die Bundesregierung nun vermehrt auf Anwerbung: Pflegepersonal aus den Philippinen, dem Kosovo und nun auch Mexiko sollen helfen, den deutschen Pflegenotstand zu beheben. Auf seiner Reise betonte Spahn, dass er keinesfalls anderen Ländern die Pflegekräfte klauen wolle, nur herbei zaubern könne er sie auch nicht. Also versucht er sein Glück in Ländern, die laut der Bundesregierung nicht zu denen gehören, die selbst einen kritischen Mangel an Gesundheitsfachkräften aufweisen.
In Deutschland kommen 180 medizinische Fachkräfte auf 10.000 Einwohner*innen, in Mexiko knapp ein Viertel davon. Deutschland wirbt also einem selbst unterversorgten Land ausgebildete Pflegearbeiter*innen ab._Im öffentlichen Sektor wird diese Entwicklung als Care Drain bezeichnet: Das Entsendeland leidet aufgrund des Verlusts ausgebildeter Fachkräfte unter den wirtschaftlichen und humanitären Folgen.
„In den Herkunftsländern werden Zuneigung und Fürsorge auf die gleiche Weise geplündert wie früher Rohmaterialien oder Arbeitskraft“, schreibt die spanische Ökonomin Amaia Pérez Orozco über grenzüberschreitende Pflegeketten, entlang derer weltweit Migrantinnen in Privathaushalten, bei Dienstleistern und im öffentlichen Gesundheitssektor Pflegetätigkeiten ausführen. So helfen die Migrantinnen so manchen Müttern, ihre Karriere zu verfolgen, manchen Haushalten, nicht unter der Doppelbelastung von Arbeit und Haushalt unterzugehen, und marode Gesundheitssysteme in den Ländern des Nordens zu „sanieren“. Dabei sind sie selbst oft entrechtet und ihr Aufenthaltsstatus oder die Bleibeperspektive sind unsicher.
Weltweit leisten Frauen drei Viertel der unbezahlten Pflegearbeit, in Nicaragua werden 97 Prozent der unbezahlten Arbeit in den Haushalten von Frauen übernommen. Auch der Großteil aller bezahlten pflegenden Tätigkeiten wird von Frauen und immer öfter von Migrantinnen geleistet.
Care-Arbeit, Sorge und Fürsorge im weitesten Sinn, gehört weltweit zu den am stärksten wachsenden Arbeitsbereichen. Die Lücke zwischen zu versorgenden Menschen und fürsorgenden Menschen wächst, im Jahr 2030 werden laut Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 400 Millionen ältere Menschen auf Pflege angewiesen sein. Die Pflegekrise bekommt nun mehr Aufmerksamkeit, die Debatte darum berücksichtigt jedoch nur selten, dass die Doppelbelastung für Arbeiterinnen schon lange Realität ist. Die geschlechtliche Arbeitsteilung führt dazu, dass Emanzipation von reichen Frauen auch auf Kosten anderer Frauen geht. Die Eingliederung vieler Frauen in den Arbeitsmarkt führt also nicht zu einer gesamtgesellschaftlich gerechter verteilten Sorgeverantwortung, sondern gibt diese einfach an andere, ärmere Frauen weiter. So hüten Ecuadorianerinnen schon lange Kinder in Spanien und nun sollen auch Mexikanerinnen alte Menschen in Deutschland pflegen.
Bei alldem muss klar bleiben: Die Pflegekrise lösen zu wollen, indem man sie exportiert, ist inakzeptabel. Es geht darum, Sorge und Pflege einen anderen Wert zu geben, nicht den einer Ware, sondern den einer sozialen und gesellschaftlichen Aufgabe. Das heißt: Verantwortung für die Sorge gerechter verteilen; verhindern, dass Profitinteressen die Gesundheitssysteme leiten; dafür sorgen, dass der Staat, Arbeitgeber*innen und Männer ihrer Sorgeverantwortung gerecht werden. Nur so können wir gemeinsam verhindern, dass Frauen weiterhin die Lücken des Systems durch unbezahlte oder schlecht bezahlte Sorgearbeit ausgleichen müssen.

NOTSTAND IN QUINTERO UND PUCHUNCAVÍ

„Schluss mit den Opferzonen, Schluss mit der Verschmutzung“, fordern wieder einmal Anwohner*innen der beiden Städte Quintero und Puchuncaví, die nördlich von Valparaíso gelegen sind. In der letzten Augustwoche häuften sich Fälle von Schüler*innen verschiedener Schulen, die wegen Kopfschmerzen, Übelkeit und teils auch gestörter Sensibilität der Gliedmaßen in den örtlichen Notfallaufnahmen behandelt wurden. Die Symptome sind mögliche Anzeichen für eine Vergiftung, die durch das Einatmen von flüchtigen Kohlenwasserstoffverbindungen verursacht werden kann. Bis heute steigt die Anzahl der von den Symptomen Betroffenen. Anfang Oktober lag sie bei über 600 und Ende Oktober schon bei etwa 1000 Personen. Das regionale Ministerialsekretariat für Gesundheit rief zwei Tage nach dem Auftreten der ersten Vergiftungssymptome die mittlere Warnstufe aus. Diese Aktion hatte die zeitweise Schließung der Schulen zur Folge, sowie Sofortmaßnahmen zur Einstellung des Betriebs einiger Unternehmen, um über dem Grenzwert liegende organische Verbindungen in der Luft zu reduzieren. Die zuständigen staatlichen Stellen, in erster Linie das Umwelt- und das Gesundheitsministerium, reagierten zwar medienwirksam, aber insgesamt völlig unzureichend bei der Ergründung und Aufklärung der Vorkommnisse. So kommentierte der Pressesprecher des Ministeriums im Moment des Ausbruchs der Symptome vor dem überfüllten Krankenhaus, dass alles in bester Ordnung sei. Weiterhin wurden keinerlei Maßnahmen für statistische Erhebungen ergriffen, um auf ein Krankheitsbild und damit auf mögliche Ursachen schließen zu können. Wodurch die Symptome also tatsächlich hervorgerufen werden, wurde bislang offiziell nicht festgestellt.

Eine vom Umweltministerium erst im Februar angeschaffte „Wundermaschine“ konnte auch nicht weiterhelfen. Sie wurde zur Messung der in der Luft gelösten, flüchtigen organischen Verbindungen vor Ort eingesetzt, aber von Angestellten bedient, die die entsprechende Einweisung noch nicht erhalten hatten. Die Ergebnisse der Messung konnten daher nicht fachgerecht ausgewertet werden. Trotzdem wurde ein Teil dieser Rohergebnisse direkt an die Medien gefiltert, worauf ein weiteres Beispiel staatlicher Inkompetenz folgte: Die Nachricht wurde von Präsident Piñera und dem Gesundheitsminister kommentiert, als sei sie ein ernstzunehmendes Ergebnis der Messung des Umweltministeriums. Das offizielle Ergebnis „Kohlenwasserstoffverbindungen würden in der Luft liegen“, war schließlich so genereller Art, dass es keine weiterführende Erkenntnis brachte. Fakt ist, dass die Bevölkerung der Region seit mindestens 50 Jahren der Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung des unzureichend kontrollierten Industriegebiets ausgesetzt ist. Dieses entstand in den sechziger Jahren, als Chile wie andere lateinamerikanische Staaten seine Wirtschaft zu diversifizieren versuchte. In dieser Phase galten selbst hoch verschmutzende Industrien als Fortschrittsmotor. Aber innerhalb der Arbeitsplätze, die dadurch geschaffen wurden, nehmen die Anwohner*innen Quinteros und Puchuncavís die prekärsten Posten ein, während Ingeneur*innen und anderes hochqualifiziertes Personal es sich finanziell leisten kann, weit abseits der belasteten Gegenden zu leben. In dem Industriegebiet ist eine ganze Bandbreite von Industrien vertreten, die durch ihre Emissionen nicht nur das einst hohe touristische Potenzial der Region einschränken, sondern auch Landwirtschaft und Fischerei. Den Anfang machte das schon genannte staatliche Unternehmen zur Ausbeutung der Kupfervorkommen Codelco. Daneben gibt es auch Firmen wie Enap und Gasmar, die Erdöl verarbeiten, sowie die Raffinerie Copec und den Chemieproduzenten Qxiqium.

Alle Einwohner*innen sind einem ernsten gesundheitlichen Risiko ausgesetzt

„Das Problem an dem Industriegebiet ist, dass die Umweltverschmutzung vielfältig ist und der Ansiedlungsprozess schrittweise stattfand“, erklärt Aníbal Vivaceta, Umweltaktivist und Facharzt für öffentliche Gesundheit sowie ehemaliger Ministerialsekretär für Gesundheit in der Region. Es gebe verschiedene, teils nachgewiesene Schadstoffbelastungen in Boden, Wasser und Luft, die kurzfristige sowie langfristige Schäden nach sich ziehen. Kohlenstoffverbindungen und Schwefeldioxide haben eher unmittelbare, nicht ganz so schwerwiegende Effekte. Schwermetalle wie Arsen sind hingegen für tiefgreifende gesundheitliche Schäden verantwortlich. Keiner dieser Schadstoffe ist allerdings auf die leichte Schulter zu nehmen, denn, so Vivaceta:„Hohe Konzentrationen an Kohlenmonoxid beeinträchtigen nachgewiesenermaßen die schulischen Leistungen und Schwefeldioxid führt zu allergieähnlichen Symptomen. Damit stellen beide eine erhebliche Einschränkung des täglichen Lebens dar.“ Die ansässigen Unternehmen selbst garantieren nur die Überwachung einiger Schadstoffe und dies machen sie auch noch unvollständig. Von den staatlichen Plänen zur Dekontaminierung wurde bislang keiner durchgeführt.

In Zukunft könnte sich die Lebensqualität der ansässigen Bevölkerung sogar noch verschlechtern, denn es stehen nach offiziellen Plänen weitere 500 Hektar für die Ausdehnung des Industriegebietes zur Verfügung. Diesen Ausbauplänen und den Emissionen der bestehenden Industrieunternehmen stellt sich, verstärkt seit 2011, eine vielfältige Widerstandsbewegung entgegen. Sie setzt sich aus Anwohner*innen selber zusammen, die von Umweltaktivst*innen, Akademiker*innen und Studierenden unterstützt wird. 2011 entzündete sich der Zorn der Bevölkerung, weil zahlreiche Schüler*innen einer Schule mit Schwermetallen vergifteten worden waren, 2014 aufgrund einer Ölpest in der Bucht. Doch noch nie war die Mobilisierung so stark und anhaltend wie jetzt. Höhepunkt war bislang eine Demonstration, die einen Teil der Überlandstraße und Zubringerwege stilllegte. Zwischenzeitlich besetzen Schüler*innen zeitgleich fünf Schulen der Orte, um ihren Protest auszudrücken. Greenpeace prägte den Begriff des „chilenischen Tschernobyl“, um die Tragweite der Situation zu verdeutlichen, die landesweit Schlagzeilen macht. Im Bewusstsein, jahrzehntelang Kontaminierungen ausgesetzt gewesen zu sein, tun die Anwohner*innen ihre Sorge um ihre Gesundheit und der ihrer Familien kund. In offenen Bürgerversammlung wurde unter anderem auch eine bessere örtliche medizinische Versorgung gefordert. Es ist möglich, dass die aktuelle Mobilisierung die Änderung einiger Umweltnormen zur Folge haben wird, aber „ob diese dann umgesetzt werden, ist eine ganz andere Frage“, so Vivaceta. Da das Zusammenleben von Industriepark und Menschen langfristig unmöglich scheine, müsse es in absehbarer Zeit entweder zu einer Umsiedlung der Betroffenen oder zu einem Strukturwandel, beispielsweise durch umweltschonendere Technologien, kommen, fügt er hinzu.

Quintero-Puchuncaví, das ist „nur“ eine von vielen sogenannten „Opferzonen“ Chiles, in deen Umweltregulierungen in höchstem Maße die Unternehmen übervorteilen. Wie ein roter Faden durchziehen diese Zonen den neoliberalen Staat und bringen unverschleiert seine Vorgehensweise zum Ausdruck.

GESUNDHEIT VOR GERECHTIGKEIT?

Es wirkte fast schon verzweifelt. Ein weiterer Versuch in der Reihe der unermüdlichen Anstrengungen, endlich das lang gewünschte Ziel zu erreichen: Alberto Fujimori, der wegen Mord, schwerer Körperverletzung und Entführung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, aus dem Gefängnis zu holen. Im April wurde zuletzt ein Gesetzesvorhaben vor dem peruanischen Kongress vorgestellt. Der 78-Jährige ehemalige Politiker sei schwerkrank, was einen Arrest im eigenen Haus nötig mache, hieß es. Fujimori zählt zu den kontroversesten Politikern der peruanischen Geschichte. Die Auseinandersetzung zwischen den Anhänger*innen des „Fujimorismo“ und seinen Gegner*innen zeigte sich auch beim Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr. Keiko Fujimori, die älteste Tochter des Inhaftierten, kam mit ihrer rechtskonservativen Partei Fuerza Popular als stärkste Kraft in die Stichwahl. In der zweiten Runde musste sie sich nur knapp Pedro Pablo Kuczynski von der neoliberalen Partei Peruanos por el Kambio (PPK) geschlagen geben. Dass es am Ende für Keiko an einem Prozentpunkt scheiterte, war größtenteils der Anti-Fujimori-Bewegung zu verdanken. Mit Slogans wie „Fujimori nunca más“ (Nie wieder Fujimori), demonstrierte die Bewegung in den großen Städten gegen eine erneute Machtübernahme eines Fujimoris (siehe LN 503). Auch eine mögliche Haftentlassung von Alberto Fujimori trieb viele Demonstrant*innen auf die Straße.

Trotz der Wahlschlappe sind die Bestrebungen zur Entlassung Fujimoris nicht abgeklungen, sondern haben lediglich ein neues Gesicht erhalten. So stellte der fraktionslose Kongressabgeordnete Roberto Vieira am 24. April den Gesetzentwurf Nr. 1295 zur „Regelung der Strafe für Senioren ab 75 Jahren“ vor. Mit dem Entwurf sollte eine besondere Bedingung in das Strafgesetzbuch integriert werden. Schwerkranke, alte Gefangene sollten demnach den Rest ihrer Strafe zu Hause absitzen können. Obwohl das Gesetzesvorhaben keinen konkreten Namen nannte, bestätigte Vieira, dass er das Projekt unter Berücksichtigung des ehemaligen Präsidenten entworfen habe. Vieira bestand allerdings darauf, dass der Entwurf nicht mit einer Entlassung gleichzusetzen sei: „Es ist keine Begnadigung. Es wird nichts verziehen. Stattdessen können 820 Menschen, die die Anforderungen erfüllen, die Vorteile nutzen.“

Diese Anforderungen waren, dass der Gefangene ein Drittel der auferlegten Haftstrafe abgesessen hat, älter als 75 Jahre ist und an einer schweren Krankheit leidet und sich so in einer heiklen Gesundheitslage befindet. Im Falle Fujimoris, der 78 Jahre alt ist, wären die ersten beiden Bedingungen erfüllt gewesen. Der ehemalige Diktator hatte im vergangenen Jahr das erste Drittel seiner Haftzeit beendet. Bezüglich seines Gesundheitszustandes wurden verschiedene Beschwerden festgestellt. Im Februar musste Fujimori ins Krankenhaus eingeliefert werden, da ein Bandscheibenvorfall an seiner Wirbelsäule ihm am Laufen gehindert hatte. Der Neurochirurg Carlos Álvarez erklärte, dass dies ein typisches Anzeichen des Alterungsprozesses sei, was den Patienten in seiner Beweglichkeit einschränken würde. Zusätzlich wurden beim ehemaligen Diktator weitere Leiden wie Bluthochdruck, Herzrasen, Mundkrebs und eine Magenschleimhautentzündung diagnostiziert. Fujimoris Arzt, Alejandro Aguinaga, erklärte, dass sein Patient jedoch keinen Herzinfarkt gehabt hätte: „Ein Fehler der Mitralkappe verursacht sein Herzrasen, aber kein Infarkt.“ Inwieweit diese Beschwerden ausreichend sind, den Ex-Diktator aus humanitären Gründen zu begnadigen, ist unklar. Jedoch hätte die Verabschiedung des Gesetzentwurfes Fujimori eine Möglichkeit eröffnet, seine Haft legal zu umgehen.

Trotz der Beteuerungen Vieiras, dass dieses Vorhaben rein aus humanitären Gründen ins Leben gerufen wurde, blieb die politische Motivation unverkennbar und sorgte für viel Aufsehen.

Trotz der Beteuerungen Vieiras, dass dieses Vorhaben rein aus humanitären Gründen ins Leben gerufen wurde, blieb die politische Motivation unverkennbar und sorgte für viel Aufsehen. Das Gesetz wäre nämlich nicht nur dem Ex-Diktator zu Gute gekommen. Eine Reihe weiterer Gefangener, unter denen sich auch Vladimiro Montesinos, der brutale und korrupte Geheimdienstbeauftragte der Regierung Fujimori, befindet, hätten auf diese Weise die Chance gehabt, ihre Haftstrafe in Hausarrest umzuwandeln. Laut dem Anwalt Alonso Gurmendi hätte dieses Gesetz sogar Abimael Guzmán, Anführer der maoistischen Terrororganisation „Leuchtender Pfad“, zu partieller Freiheit verhelfen können. Ein Schreckensszenario für viele Peruaner*innen, die die Grauen des bewaffneten Konfliktes zwischen der Terrororganisation und der peruanischen Armee in den 1980er und 1990er Jahren miterlebt haben.

Kritik an dem Gesetzesvorhaben äußerte auch die Fuerza Popular, die Partei des „Fujimorismo“. Die Kongresspräsidentin und Abgeordnete, Luz Salgado, erklärte im Interview mit dem Sender RPP Noticias, dass sie mit dem Hausarrest nicht einverstanden sei: „Ich möchte Alberto Fujimori frei sehen, nicht in einem Haus eingesperrt. Ich denke, dass es eine Begnadigung geben muss, und das liegt in der Macht von Präsident Kuczynski“.

Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos Perú befürwortet mehr als die Hälfte der peruanischen Bevölkerung eine Begnadigung Fujimoris aus humanitären Gründen. Diese kann allerdings nur vom Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski erteilt werden. Außerdem wird von 54 Prozent der Befragten die auferlegte Strafe von 25 Jahren Haft als zu streng empfunden. Diese Daten sind sinnbildhaft für die weiterhin starke Unterstützung, die Fujimori in der peruanischen Bevölkerung genießt. Dass er nach seiner Wahl den peruanischen Kongress im Jahr 1992 auflöste, alle oppositionellen Kräfte im Land durch den sogenannten autogolpe (Selbstputsch) zum Schweigen brachte, die Medien zensierte und mit Hilfe von Todesschwadronen unschuldige Menschen des Terrorismus beschuldigte und ermorden ließ, scheint aus der Erinnerung vieler Menschen verschwunden zu sein.

Am 10. Mai wurde das Gesetzesvorhaben Vieiras zur Haftentlassung Fujimoris vom peruanischen Kongress abgelehnt und archiviert. Der Versuch, Fujimori aus dem Gefängnis zu holen, scheiterte damit erneut. Ausschlaggebend war ausgerechnet der Widerstand der Fuerza Popular, die sich gegen den Hausarrest und für eine komplette Begnadigung aussprach. Ob die gesundheitlichen Beschwerden des Gefangenen ausreichend sind, um eine Entlassung aus der Haft zu erreichen, bleibt also weiterhin ein strittiges Thema. Das Land ist in zwei gegensätzliche Lager gespalten. Fraglich ist auch, ob bei den vielen Verbrechen Alberto Fujimoris überhaupt eine frühzeitige Entlassung gerechtfertigt werden kann. Sind seine körperlichen Beschwerden wirklich schwerwiegender zu gewichten als die Erpressungen, Ermordungen und Entführungen, die während seiner 10-jährigen Regierungszeit stattgefunden haben? Eine Frage, die eine gründliche Reflexion benötigt – besonders von Seiten der peruanischen Regierung.

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