Mückenalarm

Krankenhaus Roosevelt Ambulante Patient*innen warten auf Einlass (Foto: Andreas Boueke)

Das Hospital Roosevelt in Guatemala-Stadt ist eines der größten Krankenhäuser Mittelamerikas. Einige Patient*innen in den weiß gestrichenen Fluren sind gut gelaunt, weil sie nach Monaten des Wartens endlich einen Operationstermin bekommen haben. Ein Mann auf Krücken ist wütend, weil er für eine Röntgenaufnahme mehr bezahlen soll, als er in einer Woche als Tagelöhner verdient. Eigentlich sollten die Diagnosen und Therapien der öffentlichen Krankenhäuser in Guatemala kostenlos sein. Doch letztlich resignieren alle und fügen sich der im staatlichen Gesundheitssystem herrschenden Willkür.

Die Schlafsäle des Krankenhauses sind völlig überfüllt

Einige Flure stehen voll mit Pritschen, auf denen Kranke liegen. Besonders eng ist es in den Räumen der Notaufnahme für Kinder. Der Familienvater Luis Fernando Hernández ist froh und dankbar, dass sein elfjähriger Sohn trotz der offensichtlichen Mangelsituation besondere Aufmerksamkeit bekommt: „Es begann mit starken Bauchschmerzen. Wenig später bekam er hohes Fieber. Wir haben ihn ins Gesundheitszentrum gebracht. Dort wurde uns gesagt, er müsse ins Krankenhaus. Auf dem Weg hierher begann er, heftig aus der Nase zu bluten. Die Ärzte sagen, er habe hämorrhagisches Dengue-Fieber.“ Für den Jungen ist es die erste Erfahrung in einem Krankenhaus. Er klagt über starke Bauchschmerzen, schmerzende Füße und starkes Nasenbluten. Die Haut juckt, als ob er eine Allergie hätte. „Die größte Angst ist, dass das Schlimmste passiert. Mein Sohn könnte sterben“, sagt sein Vater mit Tränen in den Augen.

Als der Junge aufgenommen wurde, befolgte die Krankenschwester Raquel Calderón das übliche Verfahren bei Dengue-Patient*innen und legte ihm eine Kochsalzinfusion. „Zuerst denkst du: ‚Da kommt noch ein krankes Kind mehr.‘ Aber mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Er hörte nicht auf zu bluten und die Zahl der Blutplättchen sank immer weiter. Da begannen die Ärzte, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er wurde ständig überwacht und bekam Plasma-Transfusionen und intravenöse Infusionslösungen“, so Raquel Calderón.

Dem Vater steht die Angst ins Gesicht geschrieben: „Erst gestern habe ich meinen älteren Sohn aus einem anderen Krankenhaus geholt. Er hatte dasselbe. Zu all dem kommen noch die wirtschaftlichen Probleme. Ich kann nicht arbeiten gehen, weil ich für die Jungs da sein muss. Meine Frau hat schon so lange am Krankenbett gesessen, dass ihre Beine angeschwollen sind.“Wenn eine infizierte Mücke das Blut einer erkrankten Person saugt, vermehrt sich das Virus in ihrem Körper. Bei einem weiteren Stich wird der Erreger auf den nächsten Menschen übertragen. Heute gibt es weltweit achtmal mehr Ansteckungen mit dem Dengue-Virus als noch vor zwanzig Jahren. Auf Grund des Klimawandels überleben bestimmte Mückenarten auch an Orten wie Guatemala-Stadt, die auf 1.500 Metern über dem Meeresspiegel liegt.

„Wenn heute jemand von einer infizierten, weiblichen Mücke gestochen wird, dauert die Inkubation fünf bis sieben Tage“, erklärt der Kinderarzt Ricardo Menendez. „In dieser Zeit breitet sich das Virus im Körper aus. In der Phase der Krankheit ist der Mensch fünf Tage lang ansteckend.“

Die meisten Dengue-Infektionen verlaufen mild. Aber wer im Hospital Roosevelt stationär aufgenommen wird, dessen Fall ist kompliziert. Doktor Menendez arbeitet hier seit bald vierzig Jahren. In den letzten Monaten hat er so viele Dengue-Fälle betreut wie nie zuvor. „Einer der Todesfälle war ein Junge, der in einem Lager für gebrauchte Autoreifen gearbeitet hat. Die Reifen sind ideale Brutstätten für Mücken. Der Junge hatte extreme Blutungen. Der Tod eines Achtjährigen ist ein harter Schlag, verheerend für die Psyche der Eltern.“

Luis Fernando Hernández vermutet, dass sich sein Sohn zu Hause infiziert hat. Im Armenviertel, keine zehn Kilometer vom Hospital Roosevelt entfernt, lebt seine Familie beengt mit acht Personen in zwei Räumen. „Unser Nachbar hat eine Wiese voller Müll“, sagt er. „Von dort kommen viele Mücken rüber zu uns.“ Im Laufe der vergangenen Wochen hat sich fast die gesamte Familie mit dem Dengue-Virus infiziert. „Ich hatte das auch“, sagt Hernández. „Bei meinen Söhnen hat sich die Krankheit kompliziert, vielleicht weil sie noch klein sind. Die Feuerwehr hat sie hierher gebracht.“

Menschen könnten sich untereinander nur über Bluttransfusionen anstecken. Fast immer werde das Virus durch bestimmte Mückenarten von erkrankten Personen auf gesunde übertragen. Deshalb bestehe in der Umgebung von Dengue-Patient*innen erhöhte Gefahr, sagt die Krankenschwester Raquel Calderón. „Von zehn Neueinweisungen, die morgens reinkommen, sind manchmal acht Patienten mit Dengue. Die meisten haben schon Nasenbluten und hohes Fieber. Wir halten die Leute intravenös hydriert. Ansonsten können die Ärzte nicht viel tun.”

Wegen der heftigen Gelenkschmerzen wird Dengue auch „das Knochenbrecherfieber“ genannt. Raquel Calderón kennt sich aus mit den Symptomen. Sie selbst war auch schon infiziert: „Ich hatte schlimme Schmerzen. Die Knie taten mir sehr weh. Ich war immer müde. Der Erholungsprozess war quälend langsam.”

Weltweit sind vier verschiedene sogenannte Serotypen des Dengue-Virus bekannt. Bei einer ersten Infektion nehmen die meisten Betroffenen nahezu keine Symptome wahr. Danach sind sie in der Regel immun gegen diesen speziellen Serotyp. Doch wenn es zu einer zweiten Infektion mit einem anderen Serotyp kommt, kann das aufgrund einer verstärkten Immunantwort des Körpers zu schwereren Krankheitsverläufen und lebensbedrohlichen Komplikationen führen. Werden dann keine Transfusionen verabreicht, liegt die Sterberate bei 15 Prozent.

Seit Kurzem gibt es zwei Dengue-Impfstoffe. Ihre Wirkung hält geschätzte fünf Jahre lang an. Allerdings reicht die Produktion bisher noch längst nicht aus, um die Ausbreitung des Virus effektiv durch Impfkampagnen eindämmen zu können.

Lebensbedrohliche Komplikationen bei Zweitinfektionen


Auch COVID-Fälle werden auf der Kinderstation behandelt. Doktor Menendez vermutet, dass nicht einmal die Hälfte der guatemaltekischen Bevölkerung gegen Corona geimpft ist. Verlässliche Zahlen gebe es nicht: „Außerdem fehlt es häufig an Medikamenten, um die Patienten angemessen behandeln zu können. Aber der Bedarf ist groß.“ Ein Teil des Personals sei noch immer erschöpft von der Pandemie. Richtig Zeit zur Erholung habe es nie gegeben, denn die Herausforderungen des normalen Alltags in einer der gewalttätigsten Städte der Welt bestünden ja weiter, so der Doktor. „Es gibt Krankenschwestern, die kämpfen jetzt genauso engagiert gegen Dengue, wie sie schon gegen COVID gekämpft haben. Zudem kommen auch die Opfer von Schießereien in dieses Krankenhaus. Man denkt vielleicht, mit der Zeit gewöhnt sich das Personal an all das Leid. Aber nein. Wir sind ja auch nur Menschen und haben unsere Grenzen.“

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass sich das Denguefieber bald zu einem globalen Problem entwickeln wird. Nach einem großen Ausbruch in den südlichen Ländern Lateinamerikas wie Argentinien, Uruguay und Paraguay hat sich das Denguevirus auch weiter nördlich in Mittelamerika ausgebreitet. Doktor Menendez spricht von einem epidemischen Ausbruch: „Im letzten Monat hatten wir hier im Krankenhaus achthundert Patienten mit Dengue. Vier sind gestorben. Wir haben die WHO um Hilfe gebeten. Erst war es endemisch, jetzt epidemisch. Womöglich liegt das an einer Zunahme der tropischen Stürme, die den Boden feucht machen. Die vielen Pfützen sind ideale Brutstätten für die Mücken und ihre Larven.“

Das meteorologischen Institut in Guatemala (INSIVUMEH) bezeichnet das Jahr 2023 als das bisher wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen. So lässt sich die rapide Zunahme der Dengue-Fälle auf der Kinderstation des Hospital Roosevelt erklären. „Der Klimawandel spielt offensichtlich eine Rolle. Auch die Migration durch Guatemala Richtung USA nimmt zu. So kommen neue Krankheitserreger ins Land. Früher gab es ab einer bestimmten Höhe über dem Meeresspiegel kein Dengue, weil die Mücken in diesen Temperaturen nicht überleben. Aber jetzt ist es wärmer geworden, so dass sie sich auch in diesen Gegenden wohl fühlen“, erläutert Doktor Menendez Mücken mögen es heiß und feucht. Der Kinderarzt rechnet damit, dass es künftig auch im Hochland von Guatemala häufiger zu medizinischen Notlagen kommen wird: „Davon werden vor allem die Ärmsten betroffen sein, obwohl sie kaum etwas zum Klimawandel beitragen. Die durch die weltweite Industrieverschmutzung ausgelöste Klimakrise ist längst Realität. Wir erleben mehr Hitze, verheerendere Hurrikane und überbordende Flüsse.“

Über die Hälfte der Kinder in Guatemala gelten als unterernährt. Sie sind besonders gefährdet. „Wir kümmern uns nicht ausreichend um die verschmutzte Umwelt, um Parasiten und Tuberkulose“, schimpft der Kinderarzt. Es werde mehr und schwerere Hitzewellen geben. Dies führe zu einer Ausbreitung von gefährlichen Erregern, die schwere Krankheiten verursachen.

Die Krankenschwester Raquel Calderón verlässt das Krankenhaus, denn ihre Arbeitszeit ist zu Ende. Ihr Chef, Doktor Menendez, macht sich auch um sie Sorgen: „Wir bekommen viel Unterstützung von Frauen, die in der Umgebung von Guatemala-Stadt leben. Manche sind in mehreren Krankenhäusern angestellt. Nur so können sie genug verdienen, um ihre Familien zu versorgen. Doch sie sind total überarbeitet und haben fast keine Zeit für ihre eigenen Kinder.“ Raquel Calderón weiß von Kolleginnen, die um drei Uhr morgens in einen Bus steigen und erst drei Stunden später im Krankenhaus ankommen. „Das machen sie jeden Tag. Sie wohnen in abgelegenen Gegenden, wo es keine Möglichkeiten gibt, Geld zu verdienen. Schon gar nicht für Frauen.”

Gesundheit für alle

Internationale Bewegung für Gesundheit PHA5-Teilnehmer*innen aus El Salvador “¡Presente!” (Foto: People’s Health Movement)

„Als wir die Organisation der PHA5 übernommen haben, war unser Land noch ein anderes“, sagte die argentinische Mitorganisatorin Carmen Báez zur Eröffnung. Argentinien hatte erst letzten Sommer die Ausrichtung der Versammlung kurzfristig übernommen. Die „Motorsäge“ Milei und die politische Situation in Argentinien insgesamt waren in Mar del Plata allgegenwärtig – Marina, eine Basisgesundheitsarbeiterin (sp.: Promotora de Salud) aus den marginalisierten Vierteln von Buenos Aires, erfuhr während ihres Vortrages zum Thema Poder Popular (dt. in etwa „Basismacht“) im Gesundheitswesen von der Verhaftung ihrer Genoss*innen bei einer Demo gegen Entlassungen im öffentlichen Dienst.

Die Gesundheitssysteme entfernen sich jedoch nicht nur in Argentinien immer weiter vom Ziel einer universellen, öffentlichen Gesundheitsversorgung, von „Gesundheit für alle”. Das ist das übergeordnete Ziel des People’s Health Movement (PHM). Um es zu erreichen, fordert die Abschlusserklärung des Treffens unter anderem einen ökologischen Umbau, Klimagerechtigkeit, die progressive Besteuerung von Einkommen, Kapital, Erbschaften und Konzernen, kurz: eine neue internationale Weltwirtschaftsordnung. Indigene Bewegungen aus Süd- und Mesoamerika verbanden dies mit der Forderung nach Dekolonialisierung des Wissens um Gesundheit hin zum integralen Verständnis des buen vivir (Prinzip des guten Lebens).

Die fünfte Versammlung ist die zweite in Lateinamerika seit Gründung des PHM. Seine Voreschichte beginnt bereits im Jahr 1978. Damals waren Gesundheitsminister*innen aus 134 Ländern zu einer von der WHO und UNICEF organisierten Konferenz zum Thema Primäre Gesundheitspflege (engl.: Primary Health Care) im damals sowjetischen Alma-Ata zusammengekommen. Primäre Gesundheitspflege ist ein umfassendes Konzept von Krankheitsverhütung bis Rehabilitation. Die Konferenz verkündete das globale Ziel von „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“. Die Erklärung von Alma-Ata machte deutlich, dass zum Erreichen dieses Ziels die Errichtung einer neuen internationalen Weltwirt­schaftsordnung notwendig sein würde, wie sie die Generalversammlung der Vereinten Nationen zuvor schon 1974 gefordert hatte. Mit der neoliberalen Revolution von Reagan und Thatcher seit den 1980er Jahren war die anschließende Entwicklung jedoch in die entgegengesetzte Richtung verlaufen: Neoliberale Wirtschaft wurde globalisiert, Gesundheitswesen im Globalen Süden privatisiert und die Ungleichheiten in der Verwirklichung des Rechtes auf Gesundheit nahmen immer weiter zu. Das PHM entstand als Antwort auf diese Situation. Am 8. Dezember 2000 trafen sich 1453 Delegierte aus 92 Ländern in Savar (Bangladesch) zur ersten People’s Health Assembly. Seitdem haben in Cuenca, Ecuador (2005), Cape Town, Südafrika (2012) und wieder in Savar (2018) weitere Treffen stattgefunden.

Feministische Themen – ein Schwerpunkt auf der PHA Argentinische Aktivisinnen zeigen Präsenz (Foto: Christopher Knauth)

Beim dem fünften Treffen in Mar del Plata verdeutlichten die Dreieckstücher der argentinischen Frauen die starke Präsenz feministischer Themen: Geschlechtergerechtigkeit im Gesundheitswesen, Kampagnen zur Verbesserung des Zugangs zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsdiensten, Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Frauen im Gesundheitssektor und Abbau patriarchaler Modelle. Femizide seien Ausdruck einer weltweiten Krise öffentlicher Gesundheit, so Marta Montero, die Mutter von Lucía Pérez Montero, einer 16-jährigen Argentinierin, die 2016 Opfer eines Femizids geworden war. Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen in Gesundheitseinrichtungen sind auch in anderen Ländern Lateinamerikas verbreitet. Selbst das Recht auf Abtreibung, in den letzten Jahren vielerorts erstritten, ist noch nicht für alle Personen mit Uterus Realität, insbesondere nicht für arme, indigene und Schwarze Personen. Frauen- und LGBTIQ*-Rechte waren ein Querschnittsthema aller Kämpfe der PHA5.

Überschattet wurde die Konferenz von der dramatischen Lage in Gaza und im Sudan. Aktivist*innen aus Gaza waren aufgrund der Bedingungen dort und der Verweigerung von Visa durch die argentinische Regierung nicht persönlich anwesend. Online zugeschaltet konnten sie dennoch über die unsäglichen Opfer und Zerstörungen im palästinensischen Gesundheitswesen sowie über den Einsatz von Hunger als Waffe gegen die Zivilbevölkerung berichten. Die Versammlung machte deutlich, dass Frieden, Souveränität und Demilitarisierung entscheidende Voraussetzungen für die Verwirklichung des Rechtes auf Gesundheit für alle sind. In diesem Sinne stand auch die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza.

Kolumbien als Beispiel neoliberaler Gesundheitsreformen

Die gegenwärtige Lage der Gesundheitssysteme in Lateinamerika war Gegenstand von Arbeitsgruppen der PHA5. Kolumbien ist ein Beispiel extremer neoliberaler Reformen. Durch das Gesetz Nr. 100 von 1993 war das Gesundheitssystem in eine Vielzahl meist profitorientierter privater Krankenversicherungen und Dienstleister zersplittert worden. Im Bereich der Krankenversicherungen hatte die Reform eine Zwei­klassenmedizin mit beitragszahlenden und staatlich subventionierten Versicherten geschaffen, wobei letzteren nur ein eingeschränktes Paket medizinischer Leistungen zur Verfügung steht. In der Folge sind ärmere Patient*innen von einer angemessenen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen und im Krankheitsfall oft zu katastrophalen Barzahlungen gezwungen. Der Versuch einer Gesundheitsreform des linken Präsidenten Gustavo Petro hin zu einem universellen Gesundheitssystem ist bislang an den Widerständen der Kapitalinteressen gescheitert. Auch in Brasilien stößt der Versuch Lula da Silvas und seiner Gesundheitsministerin Nidia Trinidade, das öffentliche Gesundheitssystem zu revitalisieren, auf heftigen Widerstand. Einziger Ausweg scheint in beiden Ländern die breite Mobilisierung der Bevölkerung.

Eine wichtige Analyse des Treffens in Mar Del Plata: Weltweit sind Gesundheitssysteme von einer immer stärkeren Finanzialisierung und Privatisierung geprägt. Was Finanzialisierung bedeutet, machte Nicoletta Dentico auf der Versammlung deutlich: „Gesundheitsziele wurden den Werten von Aktionären, Marktschwankungen und finanziellen Misserfolgen unterworfen. … Die Kräfte der Finanzialisierung sind sehr stark, strategisch, gut organisiert und proaktiv.“ Nicoletta kommt von der Gesellschaft für Internationale Entwicklung (SID) in Rom. Private First (dt.: Privatinteressen zuerst), sagt sie, ist zum vorrangigen Prinzip von Regierungen, internationalen Organisationen und Entwicklungsbanken geworden. Dabei gibt es immer mehr wissenschaftliche Belege dafür, dass auf der Beteiligung des privaten Sektors basierende Gesundheitssysteme nicht dazu beitragen, einen universellen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erreichen. Dazu zählen auch öffentlich-private Partnerschaften (PPP) oder die Tätigkeiten wohltätiger privater Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation, die von Superreichen gegründet werden, um Steuern zu vermeiden und dann durch Wohltätigkeit indirekt politische Prioritäten setzen (dies wird auch als Philan­throkapitalismus bezeichnet).

Fran Baum, australische Co-Autorin des Entwurfs des Calls to Action (Aufruf zum Handeln), der zum Abschluss von PHA5 verabschiedet wurde, sieht in der Privatisierung des Gesundheitssystems einen Beitrag zur allgemeinen Entfremdung des Menschen im Kapitalismus, wie sie schon Marx beschrieben hatte. Sie warnte auch vor dem Übergang von Neoliberalismus und staatlicher Austeritätspolitik zu einem neuen Faschismus, wie er sich jetzt mit Javier Milei in Argentinien zeige.

Der Call to Action greift die Forderung nach einer neuen internationalen Weltwirtschaftsordnung als Bedingung für Gesundheit für alle wieder auf, die schon die Alma Ata Deklaration von 1978 erhoben hatte. Das schließt die Forderung nach einem ökologischen Umbau, der progressiven Besteuerung von Einkommen, Kapital, Erbschaften und Konzernen sowie einer Transformation hin zu universellen Gesundheitssystemen ein. Denn, so sagte der Kolumbianer Román Vega, globaler Koordinator des PHM, gegenüber der brasilianischen Plattform Outra Saúde: „Der extraktive, transnationale Kapitalismus […] blockiert durch unterschiedliche Verfahren und Strategien das Erreichen von Gesundheit für alle.“

// Ressource Gesundheitsfachkraft

Deutschlands Regierung schaut und reist nach Lateinamerika. Ob Lithium oder medizinische Fachkräfte – fehlende Ressourcen sucht sie im Globalen Süden. 2022 gab es in Deutschland mehr als 200.000 offene Stellen in Pflege und medizinischer Versorgung. Laut der Agentur für Arbeit kommen nur 33 Arbeitssuchende auf 100 gemeldete Stellen in der Pflegebranche. Von den 421.000 praktizierenden Ärzt*innen sind ein Drittel über 55 Jahre alt.

Auch in Lateinamerika herrscht Mangel in der Gesundheitsversorgung. Die öffentlichen Gesundheitssysteme waren in den vergangenen fünf Jahrzehnten das Ziel von Strukturanpassungsprogrammen, erzwungen vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Neoliberale „Gesundheitsreformen“ führten zu Privatisierung und Fragmentierung. Ein Beispiel ist Kolumbien mit einer Zersplitterung des Gesundheitssystems in eine Vielzahl privater Krankenversicherungen und Dienstleistern seit 1993. Der Zugang zu einer angemessenen, bezahlbaren Gesundheitsversorgung wurde so erschwert. Auch in Honduras ist das öffentliche Gesundheitssystem dramatisch unterfinanziert. Ärzt*innen und Pleger*innen sind unterbezahlt und arbeiten unter schwierigsten Bedingungen, viele wollen auswandern.

Kein Wunder also, dass die Verbesserung der öffentlichen Gesundheitsversorgung ein zentrales Versprechen linker Regierungen in Lateinamerika ist. Die Umsetzung ist nicht einfach. In Kolumbien war der Widerstand der privaten Gesundheitsunternehmen so massiv, dass Gustavo Petros Gesundheitsreform fast im Kongress scheiterte. In Brasilien war die Entwicklung allerdings lange eine andere. Nach der Diktatur wurde in der Verfassung von 1988 Gesundheit als Recht aller Bürger*innen und ihre Erhaltung als Pflicht des Staates definiert. In der 8. Nationalen Gesundheitskonferenz wurde das „Einheitliche Gesundheitssystem“ (SUS) geschaffen. So sollten alle Brasilianer*innen eine medizinische Versorgung erhalten.

Doch die neoliberale Politik der rechten Regierungen seit 2016 führte zu einer systematischen Unterfinanzierung des SUS. Auch deshalb verursachte die Pandemie in Brasilien selbst im lateinamerikanischen Vergleich katastrophale Todeszahlen. Ein Ziel der Regierung Lula und der Zivilgesellschaft ist die Wiederbelebung des darniederliegenden Gesundheitssystems: Anfang Juli fand dazu die 17. nationale Gesundheitskonferenz statt. Aktuell sind die Bedingungen für brasilianischen Ärzt*innen und Pfleger*innen im SUS aber weiter schlecht. Gerade die Pfleger*innen führen einen erbitterten Kampf um eine bessere Bezahlung. Zusätzlich ist dort schätzungsweise jede*r Zehnte arbeitslos.

Um Pflegekräfte anzuwerben, reisten die Minister*innen Baerbock und Heil im Mai nach Brasilien und sprachen von einer „Win-Win“-Situation. Der Verein demokratischer Ärzt*innen und der brasilianischen gesundheitspolitischen Organisation CEBES sehen das anders: „Indem Deutschland Gesundheitspersonal in Brasilien anwirbt, profitiert es von den schlechten Arbeitsbedingungen und der Unterfinanzierung des SUS.“ Fakt ist, dass die Ausbildung von medizinischen Fachkräften erhebliche volkswirtschaftliche Kosten verursacht. Es ist kein Zufall, dass hierzulande viel zu wenig ausgebildet wird. Die Ursachen sind die miserablen Arbeitsbedingungen und eine schlechte Bezahlung, die das reiche Deutschland nicht verbessern will. Doch wenn Hochqualifizierte das Ausbildungsland verlassen, ist das für dieses ein Verlustgeschäft. Der Transfer von medizinischem und pflegerischem Personal ist weder für Brasilien noch für Deutschland eine Lösung.

Die Deutsche Plattform für globale Gesundheit fordert, dass eine Abwerbung in gute Arbeitsbedingungen führen und fair sein muss. Die Bundesregierung solle sich für ausreichend finanzierte, gemeinwohlorientierte und bedarfsgerechte Gesundheitssysteme in Deutschland und weltweit einsetzen. Diese Forderung unterstützen wir.

Abwanderung der Gehirne

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In Honduras ist die öffentliche Gesundheitsversorgung katastrophal. Es fehlt an allem, von Medikamenten über funktionierende Geräte bis hin zu ausreichend Betten und Personal. Die Folgen davon bekommen in erster Linie die Patient*innen zu spüren, die auch teure Medikamente aus eigener Tasche bezahlen (sofern sie oder ihre Familie dazu in der Lage sind) und monatelang auf einen Termin für eine Fachärzt*innenbehandlung in den großen Städten warten müssen. Nicht alle Kranken überleben diese Tortur.

Aber auch Ärzt*innen leiden unter dem defizitären Gesundheitssystem. Sie klagen über zu viele Patient*innen, 24-Stunden-Schichten alle vier Tage im Sozialdienst, niedrige Löhne sowie erniedrigenden Umgang vonseiten ihrer Vorgesetzten. Oft muss das Gesundheitspersonal monatelang auf den Lohn warten. Manchmal ist es dann sogar notwendig, zu streiken, was das Leiden der Bevölkerung zusätzlich vergrößert.

„Das Gesundheitssystem von Honduras liegt mit einer negativen Prognose auf der Intensivstation“, ist das bittere Fazit der Koordinatorin der Studienrichtung Medizin der nationalen Universität in San Pedro Sula, Patricia Elvir.

Kein Wunder, dass die Ärzt*innen, die unter derart schwierigen Umständen Patient*innen behandeln müssen, frustriert sind. Zu den allgemeinen Problemen im System kommen die wenigen Chancen für eine Facharztausbildung. Es gibt nur ganz wenige Stellen für Fachärzt*innen im staatlichen Gesundheitssystem. Immer mehr junge Mediziner*innen, die vor Kurzem an der öffentlichen Universität UNAH promovierten, lernen jetzt Deutsch mit dem Ziel, möglichst bald in Deutschland eine Fachärzt*innenausbildung zu absolvieren und dann in einem Krankenhaus oder einer Klinik zu arbeiten.

Josué Pérez ist ein Arzt aus Santa Rosa de Copán im Westen von Honduras, der vor sieben Monaten den Schritt nach Deutschland gewagt hat. Zuvor führte er eine kleine Klinik für Familienmedizin in der Kleinstadt Quimistán. Am Humboldt-Institut in San Pedro Sula erwarb er das B2-Deutschzertifikat und ist zur Zeit im Approbationsverfahren in Essen. „Schon als Kind wollte ich in einem hochentwickelten Land studieren. Mein Ziel ist es, möglichst bald die Facharztausbildung in Neurochirurgie zu beginnen“, erklärt der 32-Jährige. Rückkehr nach Honduras? Wohl nie mehr. „Meine Frau ist auch Ärztin, wir wollen langfristig in Deutschland bleiben und die Chancen hier nutzen“, fasst Josué zusammen.

Josué ist bei Weitem nicht allein: Die Bundesärztekammer registrierte Ende 2022 insgesamt 121 zugelassene Ärzt*innen aus Honduras, ein Plus von 23,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es darf davon ausgegangen werden, dass ihre Zahl in Zukunft weiter steigen wird, denn Dutzende Mediziner*innen aus Honduras befinden sich bereits im Approbationsverfahren, andere sind jetzt auf dem Sprung nach Deutschland.

Ärzt*innen und Pflegepersonal werden aktiv aus Deutschland angeworben

Wer über das notwendige Geld verfügt, wird bei der Einwanderung nach Deutschland von einer Agentur wie Intermed Personal GmbH in Wuppertal umfassend betreut. Ihre Website ist auf Pflegekräfte, besonders Krankenpfleger*innen aus Honduras, spezialisiert und spricht interessiertes „personal de salud“ (Gesundheitspersonal) direkt auf Spanisch an, während die Sektion „Arbeitgeber“ gut ausgebildetes und zuverlässiges Pflegepersonal auf Deutsch anbietet. Patricia Schuler-Hoffmann ist die Geschäftsführerin. In Honduras aufgewachsen, kennt sie die Mentalität und die Schwierigkeiten ihrer Klientel: „Honduraner*innen sind freundlich und empathisch, gut vorbereitet und motiviert. Deshalb kommen sie hier bei Kolleg*innen und Vorgesetzten gut an. Es gibt natürlich auch Schwierigkeiten bei der Integration wie die Sprache, niedriges Selbstbewusstsein und Probleme im Umgang mit der Technologie. Unsere Agentur hat bisher rund 40 Personen aus Honduras hier in Wuppertal vermittelt, 30 Pflegekräfte und zehn Ärzt*innen inklusive ihrer Angehörigen, aber wir könnten leicht das Zehnfache vermitteln.“

Deutschland braucht dringend Pflegekräfte: Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln gab es 2022 über 200.000 offene Stellen im Pflegebereich; bis 2030 soll diese Zahl sogar auf 500.0000 steigen. 14 Prozent aller Ärzt*innen in Deutschland haben schon jetzt ausländische Wurzeln, infomiert die Bundesärztekammer.

In der deutschen Humanmedizin herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Ende August 2022 meldete die Bundesagentur für Arbeit 2.300 unbesetzte Stellen für Mediziner*innen, also durchschnittlich vier pro Krankenhaus. Von den 421.000 praktizierenden Ärzt*innen in Deutschland ist ein Drittel bereits über 55 Jahre alt und wird in absehbarer Zeit in Rente gehen. Der demografische Wandel führt gleichzeitig zu einer Zunahme von Krankheiten wie Diabetes, Krebs und Demenz. Diese Kombination ist ein perfekter Sturm, der Deutschland heimsuchen wird.

Das weiß auch die Bundesregierung, die seit einem Jahrzehnt mit der Website „Make it in Germany“ gezielt Ingenieur*innen, IT-Spezialist*innen, Naturwissenschaftler*innen, Handwerker*innen – und eben auch Ärzt*innen und Pflegekräfte anwirbt. „Als ich zum ersten Mal diese Seite ansah, glaubte ich, dass ich träume“, erinnert sich Karen Baide, eine 52-jährige Anästhesistin aus San Pedro Sula und zweifache Mutter. „In einem modernen Gesundheitssystem zu arbeiten, mich weiterzubilden, die Lebensqualität Deutschlands, das ist mein Wunsch. Deutschland braucht mich, hier in Honduras ist alles viel zu kompliziert.“ Ursprünglich wollte sie nach Kanada auswandern, entschied sich jedoch 2019 für Deutschland. Karen lernte erst online Deutsch und zertifizierte sich auf dem Niveau B1, bevor sie im Januar dieses Jahres nach Berlin reiste, um sich intensiv auf die B2-Prüfung vorzubereiten und erste Kontakte zu knüpfen.

Mit dem Zertifikat in der Tasche erkundigte sie sich vor Ort über die nächsten Schritte, also die Fachsprachprüfung, das Approbationsverfahren und natürlich die Jobchancen auf ihrem Gebiet. „Ich habe 20 Jahre Erfahrung als Anästhesistin, aber in Honduras bin ich Freelancerin ohne jede Jobsicherheit und völlig von den operierenden Chirurgen abhängig. Oft bekomme ich mein Honorar nicht, weil die Klinik argumentiert, dass der Patient nicht bezahle. Es fehlt teilweise sogar in privaten Kliniken am nötigen Zubehör. Ich habe das honduranische Gesundheitssystem satt. Gesundheit ist hier ein Geschäft, keine Dienstleistung.” Karen ist eine Kämpferin, die sich aus einfachen Verhältnissen und unter großen persönlichen Opfern zur Fachärztin heraufgearbeitet hat. Sie ist sicher, ihren Weg in Deutschland zu finden, obwohl sie deutlich älter ist als die meisten emigrierenden Mediziner*innen. Ende dieses Jahres will sie sich in Deutschland niederlassen.

Der massive Exodus junger, gut ausgebildeter Ärzt*innen überrascht Patricia Elvir von der Nationalen Universität UNAH in San Pedro Sula nicht. „Wir sind stolz auf unsere Mediziner*innen, die überall gut ankom´men. Als Dozentin inspiriere ich meine Student*innen, sich weiterzubilden, auch im Ausland. Sie sollen jedoch ihr Heimatland und ihre Leute nicht vergessen, sondern durch ihre Kenntnisse und Ausrüstung unterstützen.“ Aber sie ist sich bewusst, dass die Allermeisten nie zurückkehren werden: „In Honduras gibt es keine soziale Gerechtigkeit, keine Sicherheit und keine Chancen.“ Auf die Frage, ob irgendwann Ärzt*innen in Honduras fehlen werden, antwortet Elvir kategorisch: „Unmöglich! Es gibt zwei Universitäten, die in Tegucigalpa und San Pedro Sula Mediziner*innen ausbilden.“

Zur Zeit gibt es nur 0,5 Ärzt*innen pro 1.000 Honduraner*innen bei nur acht Krankenhausbetten für dieselben 1.000. In Deutschland kümmern sich fast neunmal mehr Ärzt*innen um dieselbe Anzahl Patient*innen – und es gibt über 13 Mal mehr Krankenhausbetten als in Honduras. Damit steht Deutschland im Index der menschlichen Entwicklung auf Position 9 von 188 Ländern − und Honduras an 137. Stelle.

Honduras bildet aus, Deutschland profitiert

Der Demograf und Universitätsdozent Nelson Raudales ist Autor einer 2013 erschienenen Studie zum Thema „Brain Drain aus Honduras“. Diese hält fest, dass zwischen 1996 und 2010 rund 25.000 Akademiker*innen ins Ausland emigrierten. Allein die volkswirtschaftlichen Kosten dafür beziffert Raudales mit 17 Milliarden Dollar, also zwischen fünf und sieben Prozent des damaligen Bruttoinlandsproduktes von Honduras. Ein extrem hoher Preis für ein Entwicklungsland, ein tolles Geschäft für die Empfängerländer? „Honduras investiert in die Ausbildung dieser hochqualifizierten Migrant*innen, die ihr Talent dann in den Empfängerländern anwenden und dort Mehrwert schaffen. In dieser Hinsicht verliert Honduras ganz klar. Dieses Phänomen wird hier jedoch unterschätzt, denn die Migration war schon immer ein Druckventil für Honduras, weil viele Auswander*innen ihren Familien remesas (Geldsendungen) schicken“, erläutert Nelson Raudales. Diese remesas waren 2022 laut der honduranischen Nationalbank mit fast sieben Milliarden Euro für gut ein Viertel des Bruttosozialproduktes verantwortlich und halten das Land sprichwörtlich am Laufen. Je schwieriger die wirtschaftliche Lage, desto stärker steigen die remesas, nämlich 17,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Lücke wird größer

Wie alle Interviewten versteht Nelson Raudales die Akademiker*innen, die Honduras auf der Suche nach Chancen verlassen. Auch er hält den Wissens- und Technologietransfer für eine Utopie. „Honduras fällt zurück, während die hochentwickelten Länder im Norden wachsen“.

Diese Lücke wird immer größer. Noch ist der Mangel an Fachkräften in Honduras und die sinkende Wettbewerbsfähigkeit praktisch kein Thema, aber das kann sich in Zukunft ändern: Laut dem Ökonomen Rafael Delgado verurteilt die Abwesenheit hochgebildeter Personen das Land zu mehr Armut, denn es gibt wenig technologische und wissenschaftliche Entwicklung, geschweige denn daraus entstehende Unternehmen und Patente. „Das Wissen ist heutzutage einer der wichtigsten Produktionsfaktoren.“

Aber alle diese abstrakten Bedenken werden auch in Zukunft niemanden aufhalten, der*die in Honduras keine professionelle und persönliche Zukunft sieht, besonders die Hochgebildeten mit einer klaren Vision. ¡Adiós cerebros! – Lebt wohl, Spitzenkräfte!

KUBAS DROSTEN HEISST DURÁN

Öffentliches Leben lahmgelegt Die meisten Menschen folgen den Vorgaben der Behörden (Fotos: Andreas Knobloch)

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zerren nicht nur in Deutschland zunehmend an den Nerven. In Kubas zentraler Provinz Sancti Spíritus entfleuchten vor Kurzem sechs Personen aus einem Isolationszentrum für mutmaßliche Coronavirus-Fälle. Ein Arzt und eine Krankenschwester, die routinemäßig überprüften, ob einer der aufgenommenen Patienten Atemwegs-Symptome aufwies, stellten fest, dass sechs Betten leer waren. Nachdem sie andere Zimmer und Korridore der Einrichtung durchsucht hatten, benachrichtigten sie die Behörden, die sofort eingesetzt wurden, um die Flüchtigen zu fassen. In weniger als 24 Stunden wurden die Patienten in ihren Häusern gefunden und in das Isolationszentrum zurückgebracht. Die mutmaßlichen Verstöße gegen die Quarantäne sollen strafrechtlich verfolgt werden.

Als Hauptproblem gelten die langen Schlangen vor den Geschäften

Quarantäne-Verstöße sind die Ausnahme auf Kuba. Im Großen und Ganzen folgt die kubanische Bevölkerung den Vorgaben der Behörden. Das öffentliche Leben wurde seit den ersten bekannten Fällen Mitte März weitgehend lahmgelegt. Der Öffentliche Nahverkehr ist landesweit eingestellt; selbst private Taxis dürfen derzeit nicht fahren. Zudem schloss Kuba Anfang April seinen Luftraum. Es besteht keine obligatorische Ausgangssperre, die Menschen sind aber angehalten, zu Hause zu bleiben und Abstand zu halten. Als Hauptproblem bei der Ausbreitung des Virus gelten weiterhin die langen Schlangen vor den Geschäften. Darauf reagierte die Regierung in Havanna mit neuen Maßnahmen: Größere Einkaufszentren wurden geschlossen; Einzelhandelsgeschäfte verkaufen nur noch Lebensmittel und Hygieneprodukte, Restaurants dürfen nur noch Essen zum Mitnehmen oder per Lieferung nach Hause anbieten.

Eduardo Fabra aus dem Zentrum von Havanna hält das Vorgehen der Behörden bisher für richtig. Der 58-jährige Schreiner bietet in seiner Haustür selbst gedrechselte Lampen und Tischchen an. „Aber wer kauft denn jetzt noch Tische?“, fragt er resigniert. „Wir versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen. In Kuba ist ständig Krise; wir überstehen auch die.“ Fabra, der sonst auch gern mal auf die Regierung schimpft, lobt den Präsidenten Miguel Díaz-Canel und dessen transparenten Regierungsstil: „Das ist anders als früher. Plötzlich sieht man die Minister im Fernsehen und jede Maßnahme wird erklärt. Man merkt, da weht ein anderer Wind.“

Tatsächlich geben diverse Minister oder auch der Präsident selbst dem Fernsehpublikum fast im Tagesrhythmus Auskunft über Entscheidungen der Regierung angesichts der Coronakrise. Zudem präsentiert jeden Morgen Chef-Virologe Dr. Francisco Durán García, der Christian Drosten Kubas, die neuesten Fallzahlen. Zuletzt stieg die Zahl der Covid-19-Erkrankten auf der Insel nur noch sehr moderat. Verglichen mit Deutschland sind die Fallzahlen gering. Bis zum 18. Mai wurden auf der Insel insgesamt 1.881 Personen positiv auf das neuartige Coronavirus getestet, 79 starben bisher an den Folgen des Virus, 1.505 gelten als genesen. Der Höhepunkt der Infektionen wurde Anfang Mai erreicht. Seitdem gehen die aktiven Fallzahlen zurück, bei im Schnitt zehn Neuansteckungen pro Tag.

„In Kuba ist ständig Krise – wir überstehen auch die“

Fabras Tochter arbeitet im Krankenhaus Calixto García in Havanna. Dort gebe es zum Teil Probleme mit Schutzkleidung, erzählt sie. Dies deckt sich mit Medienberichten. „Das größte epidemiologische Risiko besteht im Krankenhaus Calixto García“, schrieb das staatliche Online-Portal Cubadebate. Bis zum 24. April hatten sich 102 Mediziner*innen und Pflegepersonal mit dem Coronavirus angesteckt. „Wenn meine Tochter nach Hause kommt, zieht sie sich noch auf der Türschwelle aus, packt die Sachen in eine Plastiktüte und läuft direkt durch ins Bad“, erzählt Fabra. Von seiner Tochter weiß er, dass die Regierung frühzeitig ganze Krankenhäuser geräumt und für Covid-19-Patienten vorbereitet hat, um im Fall der Fälle über ausreichend Bettenkapazitäten zu verfügen. Darüber hinaus wurden Tausende Medizinstudenten aktiviert, die von Haustür zu Haustür gehen und dabei helfen, mögliche Infizierte zu finden. Vor allem allein lebende ältere Menschen werden regelmäßig aufgesucht. Auch bei Fabra komme praktisch jeden Tag jemand vorbei, erzählt er. „Meine Tochter hat mir gesagt, die Regierung ist gut vorbereitet und weiß, was sie tut.“

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch der Kuba-Experte Bert Hoffmann vom GIGA (German Institute of Global and Area Studies). „Kubas Gesundheitssystem hat so viel Erfahrung mit Seuchen wie kein anderes in Lateinamerika.“ Er verweist auf den Einsatz kubanischer Ärzte in Westafrika während der Ebola-Krise. „Kubas Gesundheitssystem hat verschiedene Schwächen im Alltag. Das ist gar nicht mehr zu idealisieren und längst nicht mehr so gut, wie es mal war. Aber es ist flächendeckend sehr gut in der Versorgung.“ Aufgrund seiner politischen Struktur könne Kuba Einschränkungen des öffentlichen Lebens sehr viel direkter durchsetzen als das zum Beispiel in Deutschland gehe. „Kubas Gesundheitssystem ist sicherlich mit am besten in ganz Lateinamerika vorbereitet auf so eine Epidemie, wie wir sie jetzt erleben.“

Auch in der Krise bleibt Kuba seinen solidarischen Prinzipien treu. Während in Europa die Grenzen wieder dicht gemacht werden und jedes Land schaut, wie es selbst am besten durch die Coronakrise kommt, hat die Karibikinsel bereits mehr als 2.000 Ärzt*innen und medizinisches Personal in 22 Länder weltweit geschickt, um im Kampf gegen die Lungenkrankheit Covid-19 zu helfen. Mit Italien und Andorra helfen kubanische Ärzt*innen auch in zwei europäischen Staaten.

Kuba hat eine lange Tradition medizinischer und humanitärer Hilfe. Fidel Castro nannte die Ärzt*innen, die der Karibikstaat in alle Welt schickt, einmal die „Armee der weißen Kittel“. Seit 1963 waren Hunderttausende kubanische Mediziner*innen in 164 Ländern im Einsatz. Zurzeit leisten rund 30.000 Fachkräfte in 67 Ländern Hilfe. Darüber hinaus hat Kuba mehr als 35.000 Medizinstudent*innen aus 138 Ländern auf der Insel ein kostenloses Studium ermöglicht. Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti 2010 oder während der Ebola-Krise 2014 in Westafrika waren kubanische Mediziner*innen mit als erste vor Ort. Sie sammelten so Erfahrungen, die auch in der aktuellen Krise helfen können.

Für Kubas Wirtschaft ist die Coronakrise dagegen fatal. „Der Tourismus wird in diesem Jahr komplett zusammenbrechen“, prognostiziert Hoffmann. „Er ist einer der ganz wenigen Wachstumsbereiche der kubanischen Wirtschaft. Dadurch wird es einen massiven Einbruch geben. Das wird das Land, das ohnehin in einer ganz tiefen Wirtschaftskrise steckt, sehr, sehr hart treffen.“ Der Großteil des kubanischen Privatsektors hängt direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Taxibetriebe, Zimmervermietungen, Führungen, Restaurants – allen bricht das Geschäft weg.

Auch deutsche Reiseveranstalter auf Kuba bedroht die Corona-Krise in ihrer Existenz. „Die Situation trifft uns sehr hart“, sagt der Geschäftsführer eines deutschen Reiseveranstalters, der seit 1992 auf Kuba aktiv ist und anonym bleiben möchte. „Wir sind jetzt im Krisenmodus, das heißt, unsere Mitarbeiter hier in Kuba verdienen nichts mehr, weil kein Geld mehr da ist.“ Er geht davon aus, dass es in den kommenden sechs Monaten keine Buchungen geben werde. Allein die Stornierungskosten machten aber mehrere zehntausend Euro aus. Der kubanische Staat habe bisher unbürokratisch geholfen, sagt der Unternehmer. Löhne, Mieten, und Steuern würden für ein halbes Jahr ausgesetzt. „Das gibt uns den Hauch einer Chance zu überleben. Mehr oder weniger sind wir zahlungsunfähig. Wir versuchen zu retten, was zu retten ist.“ Die Devise der Stunde laute: „Irgendwie durchkommen.“ Das gilt wohl für das gesamte Land.

// PFLEGE IN DER MANGEL

Höchstpersönlich reiste Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im September nach Mexiko, um vor Ort Pflegefachkräfte anzuwerben. Das Geld für 13.000 neue Stellen in der Altenpflege sei da, aber der Arbeitsmarkt für Fachkräfte in Deutschland leer gefegt. Daher setzt die Bundesregierung nun vermehrt auf Anwerbung: Pflegepersonal aus den Philippinen, dem Kosovo und nun auch Mexiko sollen helfen, den deutschen Pflegenotstand zu beheben. Auf seiner Reise betonte Spahn, dass er keinesfalls anderen Ländern die Pflegekräfte klauen wolle, nur herbei zaubern könne er sie auch nicht. Also versucht er sein Glück in Ländern, die laut der Bundesregierung nicht zu denen gehören, die selbst einen kritischen Mangel an Gesundheitsfachkräften aufweisen.
In Deutschland kommen 180 medizinische Fachkräfte auf 10.000 Einwohner*innen, in Mexiko knapp ein Viertel davon. Deutschland wirbt also einem selbst unterversorgten Land ausgebildete Pflegearbeiter*innen ab._Im öffentlichen Sektor wird diese Entwicklung als Care Drain bezeichnet: Das Entsendeland leidet aufgrund des Verlusts ausgebildeter Fachkräfte unter den wirtschaftlichen und humanitären Folgen.
„In den Herkunftsländern werden Zuneigung und Fürsorge auf die gleiche Weise geplündert wie früher Rohmaterialien oder Arbeitskraft“, schreibt die spanische Ökonomin Amaia Pérez Orozco über grenzüberschreitende Pflegeketten, entlang derer weltweit Migrantinnen in Privathaushalten, bei Dienstleistern und im öffentlichen Gesundheitssektor Pflegetätigkeiten ausführen. So helfen die Migrantinnen so manchen Müttern, ihre Karriere zu verfolgen, manchen Haushalten, nicht unter der Doppelbelastung von Arbeit und Haushalt unterzugehen, und marode Gesundheitssysteme in den Ländern des Nordens zu „sanieren“. Dabei sind sie selbst oft entrechtet und ihr Aufenthaltsstatus oder die Bleibeperspektive sind unsicher.
Weltweit leisten Frauen drei Viertel der unbezahlten Pflegearbeit, in Nicaragua werden 97 Prozent der unbezahlten Arbeit in den Haushalten von Frauen übernommen. Auch der Großteil aller bezahlten pflegenden Tätigkeiten wird von Frauen und immer öfter von Migrantinnen geleistet.
Care-Arbeit, Sorge und Fürsorge im weitesten Sinn, gehört weltweit zu den am stärksten wachsenden Arbeitsbereichen. Die Lücke zwischen zu versorgenden Menschen und fürsorgenden Menschen wächst, im Jahr 2030 werden laut Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 400 Millionen ältere Menschen auf Pflege angewiesen sein. Die Pflegekrise bekommt nun mehr Aufmerksamkeit, die Debatte darum berücksichtigt jedoch nur selten, dass die Doppelbelastung für Arbeiterinnen schon lange Realität ist. Die geschlechtliche Arbeitsteilung führt dazu, dass Emanzipation von reichen Frauen auch auf Kosten anderer Frauen geht. Die Eingliederung vieler Frauen in den Arbeitsmarkt führt also nicht zu einer gesamtgesellschaftlich gerechter verteilten Sorgeverantwortung, sondern gibt diese einfach an andere, ärmere Frauen weiter. So hüten Ecuadorianerinnen schon lange Kinder in Spanien und nun sollen auch Mexikanerinnen alte Menschen in Deutschland pflegen.
Bei alldem muss klar bleiben: Die Pflegekrise lösen zu wollen, indem man sie exportiert, ist inakzeptabel. Es geht darum, Sorge und Pflege einen anderen Wert zu geben, nicht den einer Ware, sondern den einer sozialen und gesellschaftlichen Aufgabe. Das heißt: Verantwortung für die Sorge gerechter verteilen; verhindern, dass Profitinteressen die Gesundheitssysteme leiten; dafür sorgen, dass der Staat, Arbeitgeber*innen und Männer ihrer Sorgeverantwortung gerecht werden. Nur so können wir gemeinsam verhindern, dass Frauen weiterhin die Lücken des Systems durch unbezahlte oder schlecht bezahlte Sorgearbeit ausgleichen müssen.

WIE IMMER BLEIBT NUR DER PROTEST

Straßenkampf Das brutale Vorgehen von Polizei und Militär hat die Situation weiter eskalieren lassen / Foto: Luis Méndez

Ein Streik von Lehrer*innen und Ärzt*innen Mitte April führte zu einer neuen Welle von landesweiten Protesten, die bis heute anhält. Ausgangs­punkt waren von der Regierung geplante Umstrukturierungen des Bildungs- und Gesundheitssystems, die sich in einer tiefen Krise befinden. Statt den Dialog mit den Gewerkschaften zu suchen, wurde versucht, die Proteste durch brutales repressives Vorgehen der Polizeieinheiten aufzulösen, was den Konflikt zunehmend eskalieren ließ. Zuerst schlossen sich Studierende, Schüler*innen, Eltern und soziale Organisationen an, im Juni folgte der Transportsektor und selbst Teile der Polizei traten zeitweise in den Streik. Die Situation ähnelt der nach den umstrittenen Wahlen von 2017, durch den der jetzige Präsident Juan Orlando Hernández von der rechten Nationalen Partei (PNH) trotz verfassungsrechtlichen Verbots eine zweite Amtszeit antreten konnte. Große Teile der Bevölkerung, die von Wahlbetrug ausgehen, sind seither nicht zur Ruhe gekommen. Auch aktuell gewinnen die Proteste ihre Stärke durch die solidarische Beteiligung von Bürger*innen, die sich, Spaltungsversuchen seitens der Regierung zum Trotz, spontan in ihren Dörfern oder Vierteln organisierten.
Neben Streiks wurden Schulen und Universitäten besetzt, es kam zu Straßenblockaden und Massendemonstrationen als Ventil der vorherrschenden Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile. Längst gehen die Aktionen und Demonstrationen über die Forderungen der Lehrer*innen und Ärzt*innen hinaus. Die Mitte Mai gegründete Plattform zur Verteidigung der Bildung und Gesundheit (Plataforma por la Defensa de la Salud y la Educación), in der sich landesweit 18 Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, organisiert sich wie eine Basisbewegung in lokalen und regionalen Versammlungen und artikuliert mit lokal organisierten Kämpfen, wie etwa mit Organisationen von Indigenen und Kleinbauern und -bäuerinnen. Dies gibt dem Protest neue Impulse und bringt das Regime von Präsident Hernández in starke Bedrängnis. Verschiedene gesellschaftliche Sektoren fordern seinen Rücktritt, der gemeinsame Nenner, der sie vereint, ist die Ablehnung seiner Regierung.

Das Bildungs- und Gesundheitssystem stecken in einer tiefen Krise


Mitte April hatte das Parlament unter der Führung der regierenden Partei PNH die umstrittenen Gesetze erlassen, die das marode Gesundheits- und Bildungssystem sanieren sollten, jedoch laut Gewerkschaften eine erneute Kürzung der Staatsausgaben vorsehen und einen ersten Schritt in Richtung Privatisierung staatlicher Infrastruktur darstellen. In den öffentlichen Krankenhäusern in Honduras fehlt es an Medikamenten und grundlegender Ausstattung, im Bildungssektor mangelt es an Materialien und adäquaten Unterrichtsorten. Angestellte beklagen immer wieder ausstehende Lohnzahlungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Die Auswirkungen dieser Situation betreffen besonders die ärmeren Bevölkerungsteile, welche ihre Bildung in staatlichen Einrichtungen erhalten und in Krankheitsfällen auf die öffentlichen Gesundheitszentren und Krankenhäuser angewiesen sind. Die Gewerkschaften betonen, dass die Regierung selbst für die Krise verantwortlich ist, denn der Haushaltsetat für die beiden Sektoren wurde in den vergangenen Jahren immer weiter gekürzt. Die Bildungsausgaben sanken laut einer Analyse der unabhängigen Bürgerinitiative CESPAD (Centro de estudio para la democrática) von 32,9 Prozent des Haushaltes im Jahr 2010 auf 19,9 Prozent im Jahr 2019, im Gesundheitssystem sank der Anteil im selben Zeitraum von 14,3 Prozent auf 9,7 Prozent. Die ausufernde Korruption, die sich zum Beispiel in der Plünderung des Sozialversicherungsinstitut IHSS im Jahr 2015 zeigte, aus dem über 300 Millionen US-Dollar geraubt wurden, trägt ebenfalls zur Krise bei und führte seinerzeit zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Auch hohe Regierungsfunktionäre der Nationalen Partei (PNH) sollen in den Korruptionsskandal verwickelt sein.

Die Proteste gewinnen ihre Stärke durch Solidarität in der Bevölkerung


Die in den Gesetzesänderungen vorgesehenen Maßnahmen seien keine Lösung des Problems, sondern eine neoliberale Umstrukturierung nach den Wünschen des Internationalen Währungsfonds, betonen Vertreter*innen der Gewerkschaften. Pläne für diese Umstrukturierung stehen bereits seit dem Regierungswechsel nach dem zivil-militärischen Putsch von 2009 auf der Agenda und wurden von Hernández‘ Vorgänger im Präsident*innenamt Porfirio Lobo vorangetrieben. So soll unter anderem die öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung dezentralisiert und der Staat von seiner Verpflichtung befreit werden, der Bevölkerung diese grundlegenden Rechte zu garantieren. Dies sollen stattdessen die 298 Landkreise übernehmen. Aber die meisten haben weder die Kapazitäten, Personal dafür zu unterhalten, noch für die nötige Infrastruktur zu sorgen. So könnte die Verwaltung öffentlicher Einrichtungen an private Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen übergeben werden, welche Schulen und Krankenhäuser mit internationaler Finanzierung, zum Beispiel durch USAID, betreiben würden. Diese Maßnahmen scheiterten bisher jedoch unter anderem am Widerstand der organisierten Lehrer*innen. Das Umstrukturierungsgesetz und zusätzlich erlassene Notstandsdekrete, die laut Gewerkschaftler*innen den Abbau von Arbeitsrechten und Massenentlassungen mit sich bringen, werden auch als ein Versuch gewertet, die starke Organisation der Gewerkschaften zu untergraben, um den Widerstand gegen neoliberale Reformen zu brechen. So berichten Aktivist*innen über anhaltende Drohungen und Überwachung: streikendes Personal wird mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen unter Druck gesetzt und in Kommunikationsmedien und sozialen Netzwerken kommt es zu Diffamierungskampagnen.

Foto: Luis Méndez

Neben der selektiven Repression ist aber vor allem das brutale Vorgehen von staatlichen Sicherheitskräften und Militärs gegen die Proteste zu beobachten. Die Menschenrechtsorganisation COFADEH (Komitee der Familien von Verhafteten und Verschwundenen) dokumentierte alleine im Zeitraum von Mitte Mai bis zum 9. Juni 48 illegale Verhaftungen, drei Fälle von Folter, die gewaltsame Auflösung von 48 Demonstrationen und repressive Maßnahmen gegen 136 Protestaktionen. Am 19. Juni bestimmte der Nationale Rat der Verteidigung und Sicherheit den Einsatz des Militärs, um die Demonstrationen zu kontrollieren. Dies führte bereits zu drei Todesopfern und mehreren Verletzten durch Polizei und Militär. Am 24. Juni drangen Sicherheitskräfte von Polizei und Militär in die nationale Universität von Honduras in Tegucigalpa ein und verfolgten Studierende, die auf der Straße vor der Universität demonstrierten und sich mit den Bildungs- und Gesundheitsprotesten solidarisierten. Bei dem gewaltsamen und illegalen Eingriff in die Autonomie der Universität wurden fünf Studierende durch Schüsse der Polizei verletzt. Eine Eilmission von Amnesty International dokumentierte bis Anfang Juli acht Todesopfer und 80 Verletzte. Menschenrechtsorganisationen wie COFADEH, kritisieren zudem den massiven Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen, willkürliche Verhaftungen und das Einschleusen von Provoka­teur­*innen in Demonstrationen.

// Foto: Luis Méndez

Die landesweiten Proteste führten bereits wenige Wochen nach Verabschiedung zur Außerkraftsetzung der Notstandsdekrete, die die Gesetze zur Umstrukturierung begleiten sollten. Als Antwort auf den Druck der Straße rief die Regierung Lehrer*innen und Ärzt*innen zu einem Dialog auf. Die von der Regierung zum Dialog eingeladenen Personen waren allerdings keine Vertreter*innen der Plattform für die Verteidigung der Bildung und Gesundheit, sondern gelten als der Regierung nahestehende Personen. Um an einem Dialog teilzunehmen, fordert die Plattform unter anderem die Teilnahme aller in der Plattform vertretenen Organisationen am Dialog, das Ende der Repressionen gegen Lehrer*innen und Ärzt*innen, die Untersuchung der Todesfälle mit Gewalteinwirkung bei den Protesten und eine internationale Vermittlung. Dabei solidarisiert sich die Plattform auch mit anderen Kämpfen, wie der Forderung nach Demilitarisierung der Dörfer Guapinol, Pajuiles und Guadalupe Carney, die sich im Widerstand gegen verschiedene zerstörerische Megaprojekte, wie Bergbau und Wasserkraftwerke, in der Region befinden und sich ebenso mit den Aktionen der Plattform soldarisieren.

Der systematischen Abbau von Grundrechten seit 2009 führte zur Krise


Die Regierung lehnte die Punkte jedoch bisher ab. Deshalb rief die Plattform zu einem alternativen und breiten gesellschaftlichen Dialog auf, zu dem neben Gewerkschaften und sozialen und Basisorganisationen auch Regierungsvertreter*innen eingeladen wurden. Bei einem ersten Treffen am 18. Juni in der Hauptstadt Tegucigalpa nahmen Hunderte von Delegierten aus dem ganzen Land teil. Ziel des Dialoges ist eine Analyse der Stärken und Schwächen des nationalen Bildungs- und Gesundheitssystems und die Erarbeitung einer Strategie zu deren Verbesserung. Unterdessen nehmen die Proteste kein Ende, bis die umstrittenen Gesetze endgültig außer Kraft gesetzt werden. „Wir werden nicht aufhören, zu landesweiten Protesten zu mobilisieren“, erklärt Ligia Ramos, Sprecherin der Plattform gegenüber der Internatio­nalen Nahrungsmittelgewerkschaft Rel-Uita. „Wir müssen die Regierung dazu zwingen, diese Gesetze abzuschaffen und einem neuen Modell die Tür zu öffnen, das wir gerade gemeinsam mit der Bevölkerung entwickeln.“
Obwohl die Zustimmung für Hernández im Land selbst sehr gering ist, halten die USA und die Europäische Union weiter an ihrem Verbündeten fest. Die aktuelle Krise ist das Produkt des Bruchs der verfassungsmäßigen Ordnung durch den Putsch 2009 und dem seither stattfindenden systematischen Abbau von Grundrechten und zivil-gesellschaftlichen Handlungsräumen. Wie schon vor zehn Jahren, bleibt den Honduraner*innen nur der massive Protest auf der Straße. Und wie nach dem zivil-militärischen Putsch und dem Wahlbetrug von 2017 zeigt sich die internationale Gemeinschaft bisher gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in Honduras blind.

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