KUBAS DROSTEN HEISST DURÁN

Öffentliches Leben lahmgelegt Die meisten Menschen folgen den Vorgaben der Behörden (Fotos: Andreas Knobloch)

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie zerren nicht nur in Deutschland zunehmend an den Nerven. In Kubas zentraler Provinz Sancti Spíritus entfleuchten vor Kurzem sechs Personen aus einem Isolationszentrum für mutmaßliche Coronavirus-Fälle. Ein Arzt und eine Krankenschwester, die routinemäßig überprüften, ob einer der aufgenommenen Patienten Atemwegs-Symptome aufwies, stellten fest, dass sechs Betten leer waren. Nachdem sie andere Zimmer und Korridore der Einrichtung durchsucht hatten, benachrichtigten sie die Behörden, die sofort eingesetzt wurden, um die Flüchtigen zu fassen. In weniger als 24 Stunden wurden die Patienten in ihren Häusern gefunden und in das Isolationszentrum zurückgebracht. Die mutmaßlichen Verstöße gegen die Quarantäne sollen strafrechtlich verfolgt werden.

Als Hauptproblem gelten die langen Schlangen vor den Geschäften

Quarantäne-Verstöße sind die Ausnahme auf Kuba. Im Großen und Ganzen folgt die kubanische Bevölkerung den Vorgaben der Behörden. Das öffentliche Leben wurde seit den ersten bekannten Fällen Mitte März weitgehend lahmgelegt. Der Öffentliche Nahverkehr ist landesweit eingestellt; selbst private Taxis dürfen derzeit nicht fahren. Zudem schloss Kuba Anfang April seinen Luftraum. Es besteht keine obligatorische Ausgangssperre, die Menschen sind aber angehalten, zu Hause zu bleiben und Abstand zu halten. Als Hauptproblem bei der Ausbreitung des Virus gelten weiterhin die langen Schlangen vor den Geschäften. Darauf reagierte die Regierung in Havanna mit neuen Maßnahmen: Größere Einkaufszentren wurden geschlossen; Einzelhandelsgeschäfte verkaufen nur noch Lebensmittel und Hygieneprodukte, Restaurants dürfen nur noch Essen zum Mitnehmen oder per Lieferung nach Hause anbieten.

Eduardo Fabra aus dem Zentrum von Havanna hält das Vorgehen der Behörden bisher für richtig. Der 58-jährige Schreiner bietet in seiner Haustür selbst gedrechselte Lampen und Tischchen an. „Aber wer kauft denn jetzt noch Tische?“, fragt er resigniert. „Wir versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen. In Kuba ist ständig Krise; wir überstehen auch die.“ Fabra, der sonst auch gern mal auf die Regierung schimpft, lobt den Präsidenten Miguel Díaz-Canel und dessen transparenten Regierungsstil: „Das ist anders als früher. Plötzlich sieht man die Minister im Fernsehen und jede Maßnahme wird erklärt. Man merkt, da weht ein anderer Wind.“

Tatsächlich geben diverse Minister oder auch der Präsident selbst dem Fernsehpublikum fast im Tagesrhythmus Auskunft über Entscheidungen der Regierung angesichts der Coronakrise. Zudem präsentiert jeden Morgen Chef-Virologe Dr. Francisco Durán García, der Christian Drosten Kubas, die neuesten Fallzahlen. Zuletzt stieg die Zahl der Covid-19-Erkrankten auf der Insel nur noch sehr moderat. Verglichen mit Deutschland sind die Fallzahlen gering. Bis zum 18. Mai wurden auf der Insel insgesamt 1.881 Personen positiv auf das neuartige Coronavirus getestet, 79 starben bisher an den Folgen des Virus, 1.505 gelten als genesen. Der Höhepunkt der Infektionen wurde Anfang Mai erreicht. Seitdem gehen die aktiven Fallzahlen zurück, bei im Schnitt zehn Neuansteckungen pro Tag.

„In Kuba ist ständig Krise – wir überstehen auch die“

Fabras Tochter arbeitet im Krankenhaus Calixto García in Havanna. Dort gebe es zum Teil Probleme mit Schutzkleidung, erzählt sie. Dies deckt sich mit Medienberichten. „Das größte epidemiologische Risiko besteht im Krankenhaus Calixto García“, schrieb das staatliche Online-Portal Cubadebate. Bis zum 24. April hatten sich 102 Mediziner*innen und Pflegepersonal mit dem Coronavirus angesteckt. „Wenn meine Tochter nach Hause kommt, zieht sie sich noch auf der Türschwelle aus, packt die Sachen in eine Plastiktüte und läuft direkt durch ins Bad“, erzählt Fabra. Von seiner Tochter weiß er, dass die Regierung frühzeitig ganze Krankenhäuser geräumt und für Covid-19-Patienten vorbereitet hat, um im Fall der Fälle über ausreichend Bettenkapazitäten zu verfügen. Darüber hinaus wurden Tausende Medizinstudenten aktiviert, die von Haustür zu Haustür gehen und dabei helfen, mögliche Infizierte zu finden. Vor allem allein lebende ältere Menschen werden regelmäßig aufgesucht. Auch bei Fabra komme praktisch jeden Tag jemand vorbei, erzählt er. „Meine Tochter hat mir gesagt, die Regierung ist gut vorbereitet und weiß, was sie tut.“

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch der Kuba-Experte Bert Hoffmann vom GIGA (German Institute of Global and Area Studies). „Kubas Gesundheitssystem hat so viel Erfahrung mit Seuchen wie kein anderes in Lateinamerika.“ Er verweist auf den Einsatz kubanischer Ärzte in Westafrika während der Ebola-Krise. „Kubas Gesundheitssystem hat verschiedene Schwächen im Alltag. Das ist gar nicht mehr zu idealisieren und längst nicht mehr so gut, wie es mal war. Aber es ist flächendeckend sehr gut in der Versorgung.“ Aufgrund seiner politischen Struktur könne Kuba Einschränkungen des öffentlichen Lebens sehr viel direkter durchsetzen als das zum Beispiel in Deutschland gehe. „Kubas Gesundheitssystem ist sicherlich mit am besten in ganz Lateinamerika vorbereitet auf so eine Epidemie, wie wir sie jetzt erleben.“

Auch in der Krise bleibt Kuba seinen solidarischen Prinzipien treu. Während in Europa die Grenzen wieder dicht gemacht werden und jedes Land schaut, wie es selbst am besten durch die Coronakrise kommt, hat die Karibikinsel bereits mehr als 2.000 Ärzt*innen und medizinisches Personal in 22 Länder weltweit geschickt, um im Kampf gegen die Lungenkrankheit Covid-19 zu helfen. Mit Italien und Andorra helfen kubanische Ärzt*innen auch in zwei europäischen Staaten.

Kuba hat eine lange Tradition medizinischer und humanitärer Hilfe. Fidel Castro nannte die Ärzt*innen, die der Karibikstaat in alle Welt schickt, einmal die „Armee der weißen Kittel“. Seit 1963 waren Hunderttausende kubanische Mediziner*innen in 164 Ländern im Einsatz. Zurzeit leisten rund 30.000 Fachkräfte in 67 Ländern Hilfe. Darüber hinaus hat Kuba mehr als 35.000 Medizinstudent*innen aus 138 Ländern auf der Insel ein kostenloses Studium ermöglicht. Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti 2010 oder während der Ebola-Krise 2014 in Westafrika waren kubanische Mediziner*innen mit als erste vor Ort. Sie sammelten so Erfahrungen, die auch in der aktuellen Krise helfen können.

Für Kubas Wirtschaft ist die Coronakrise dagegen fatal. „Der Tourismus wird in diesem Jahr komplett zusammenbrechen“, prognostiziert Hoffmann. „Er ist einer der ganz wenigen Wachstumsbereiche der kubanischen Wirtschaft. Dadurch wird es einen massiven Einbruch geben. Das wird das Land, das ohnehin in einer ganz tiefen Wirtschaftskrise steckt, sehr, sehr hart treffen.“ Der Großteil des kubanischen Privatsektors hängt direkt oder indirekt vom Tourismus ab. Taxibetriebe, Zimmervermietungen, Führungen, Restaurants – allen bricht das Geschäft weg.

Auch deutsche Reiseveranstalter auf Kuba bedroht die Corona-Krise in ihrer Existenz. „Die Situation trifft uns sehr hart“, sagt der Geschäftsführer eines deutschen Reiseveranstalters, der seit 1992 auf Kuba aktiv ist und anonym bleiben möchte. „Wir sind jetzt im Krisenmodus, das heißt, unsere Mitarbeiter hier in Kuba verdienen nichts mehr, weil kein Geld mehr da ist.“ Er geht davon aus, dass es in den kommenden sechs Monaten keine Buchungen geben werde. Allein die Stornierungskosten machten aber mehrere zehntausend Euro aus. Der kubanische Staat habe bisher unbürokratisch geholfen, sagt der Unternehmer. Löhne, Mieten, und Steuern würden für ein halbes Jahr ausgesetzt. „Das gibt uns den Hauch einer Chance zu überleben. Mehr oder weniger sind wir zahlungsunfähig. Wir versuchen zu retten, was zu retten ist.“ Die Devise der Stunde laute: „Irgendwie durchkommen.“ Das gilt wohl für das gesamte Land.

// PFLEGE IN DER MANGEL

Höchstpersönlich reiste Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im September nach Mexiko, um vor Ort Pflegefachkräfte anzuwerben. Das Geld für 13.000 neue Stellen in der Altenpflege sei da, aber der Arbeitsmarkt für Fachkräfte in Deutschland leer gefegt. Daher setzt die Bundesregierung nun vermehrt auf Anwerbung: Pflegepersonal aus den Philippinen, dem Kosovo und nun auch Mexiko sollen helfen, den deutschen Pflegenotstand zu beheben. Auf seiner Reise betonte Spahn, dass er keinesfalls anderen Ländern die Pflegekräfte klauen wolle, nur herbei zaubern könne er sie auch nicht. Also versucht er sein Glück in Ländern, die laut der Bundesregierung nicht zu denen gehören, die selbst einen kritischen Mangel an Gesundheitsfachkräften aufweisen.
In Deutschland kommen 180 medizinische Fachkräfte auf 10.000 Einwohner*innen, in Mexiko knapp ein Viertel davon. Deutschland wirbt also einem selbst unterversorgten Land ausgebildete Pflegearbeiter*innen ab._Im öffentlichen Sektor wird diese Entwicklung als Care Drain bezeichnet: Das Entsendeland leidet aufgrund des Verlusts ausgebildeter Fachkräfte unter den wirtschaftlichen und humanitären Folgen.
„In den Herkunftsländern werden Zuneigung und Fürsorge auf die gleiche Weise geplündert wie früher Rohmaterialien oder Arbeitskraft“, schreibt die spanische Ökonomin Amaia Pérez Orozco über grenzüberschreitende Pflegeketten, entlang derer weltweit Migrantinnen in Privathaushalten, bei Dienstleistern und im öffentlichen Gesundheitssektor Pflegetätigkeiten ausführen. So helfen die Migrantinnen so manchen Müttern, ihre Karriere zu verfolgen, manchen Haushalten, nicht unter der Doppelbelastung von Arbeit und Haushalt unterzugehen, und marode Gesundheitssysteme in den Ländern des Nordens zu „sanieren“. Dabei sind sie selbst oft entrechtet und ihr Aufenthaltsstatus oder die Bleibeperspektive sind unsicher.
Weltweit leisten Frauen drei Viertel der unbezahlten Pflegearbeit, in Nicaragua werden 97 Prozent der unbezahlten Arbeit in den Haushalten von Frauen übernommen. Auch der Großteil aller bezahlten pflegenden Tätigkeiten wird von Frauen und immer öfter von Migrantinnen geleistet.
Care-Arbeit, Sorge und Fürsorge im weitesten Sinn, gehört weltweit zu den am stärksten wachsenden Arbeitsbereichen. Die Lücke zwischen zu versorgenden Menschen und fürsorgenden Menschen wächst, im Jahr 2030 werden laut Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 400 Millionen ältere Menschen auf Pflege angewiesen sein. Die Pflegekrise bekommt nun mehr Aufmerksamkeit, die Debatte darum berücksichtigt jedoch nur selten, dass die Doppelbelastung für Arbeiterinnen schon lange Realität ist. Die geschlechtliche Arbeitsteilung führt dazu, dass Emanzipation von reichen Frauen auch auf Kosten anderer Frauen geht. Die Eingliederung vieler Frauen in den Arbeitsmarkt führt also nicht zu einer gesamtgesellschaftlich gerechter verteilten Sorgeverantwortung, sondern gibt diese einfach an andere, ärmere Frauen weiter. So hüten Ecuadorianerinnen schon lange Kinder in Spanien und nun sollen auch Mexikanerinnen alte Menschen in Deutschland pflegen.
Bei alldem muss klar bleiben: Die Pflegekrise lösen zu wollen, indem man sie exportiert, ist inakzeptabel. Es geht darum, Sorge und Pflege einen anderen Wert zu geben, nicht den einer Ware, sondern den einer sozialen und gesellschaftlichen Aufgabe. Das heißt: Verantwortung für die Sorge gerechter verteilen; verhindern, dass Profitinteressen die Gesundheitssysteme leiten; dafür sorgen, dass der Staat, Arbeitgeber*innen und Männer ihrer Sorgeverantwortung gerecht werden. Nur so können wir gemeinsam verhindern, dass Frauen weiterhin die Lücken des Systems durch unbezahlte oder schlecht bezahlte Sorgearbeit ausgleichen müssen.

WIE IMMER BLEIBT NUR DER PROTEST

Straßenkampf Das brutale Vorgehen von Polizei und Militär hat die Situation weiter eskalieren lassen / Foto: Luis Méndez

Ein Streik von Lehrer*innen und Ärzt*innen Mitte April führte zu einer neuen Welle von landesweiten Protesten, die bis heute anhält. Ausgangs­punkt waren von der Regierung geplante Umstrukturierungen des Bildungs- und Gesundheitssystems, die sich in einer tiefen Krise befinden. Statt den Dialog mit den Gewerkschaften zu suchen, wurde versucht, die Proteste durch brutales repressives Vorgehen der Polizeieinheiten aufzulösen, was den Konflikt zunehmend eskalieren ließ. Zuerst schlossen sich Studierende, Schüler*innen, Eltern und soziale Organisationen an, im Juni folgte der Transportsektor und selbst Teile der Polizei traten zeitweise in den Streik. Die Situation ähnelt der nach den umstrittenen Wahlen von 2017, durch den der jetzige Präsident Juan Orlando Hernández von der rechten Nationalen Partei (PNH) trotz verfassungsrechtlichen Verbots eine zweite Amtszeit antreten konnte. Große Teile der Bevölkerung, die von Wahlbetrug ausgehen, sind seither nicht zur Ruhe gekommen. Auch aktuell gewinnen die Proteste ihre Stärke durch die solidarische Beteiligung von Bürger*innen, die sich, Spaltungsversuchen seitens der Regierung zum Trotz, spontan in ihren Dörfern oder Vierteln organisierten.
Neben Streiks wurden Schulen und Universitäten besetzt, es kam zu Straßenblockaden und Massendemonstrationen als Ventil der vorherrschenden Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile. Längst gehen die Aktionen und Demonstrationen über die Forderungen der Lehrer*innen und Ärzt*innen hinaus. Die Mitte Mai gegründete Plattform zur Verteidigung der Bildung und Gesundheit (Plataforma por la Defensa de la Salud y la Educación), in der sich landesweit 18 Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, organisiert sich wie eine Basisbewegung in lokalen und regionalen Versammlungen und artikuliert mit lokal organisierten Kämpfen, wie etwa mit Organisationen von Indigenen und Kleinbauern und -bäuerinnen. Dies gibt dem Protest neue Impulse und bringt das Regime von Präsident Hernández in starke Bedrängnis. Verschiedene gesellschaftliche Sektoren fordern seinen Rücktritt, der gemeinsame Nenner, der sie vereint, ist die Ablehnung seiner Regierung.

Das Bildungs- und Gesundheitssystem stecken in einer tiefen Krise


Mitte April hatte das Parlament unter der Führung der regierenden Partei PNH die umstrittenen Gesetze erlassen, die das marode Gesundheits- und Bildungssystem sanieren sollten, jedoch laut Gewerkschaften eine erneute Kürzung der Staatsausgaben vorsehen und einen ersten Schritt in Richtung Privatisierung staatlicher Infrastruktur darstellen. In den öffentlichen Krankenhäusern in Honduras fehlt es an Medikamenten und grundlegender Ausstattung, im Bildungssektor mangelt es an Materialien und adäquaten Unterrichtsorten. Angestellte beklagen immer wieder ausstehende Lohnzahlungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Die Auswirkungen dieser Situation betreffen besonders die ärmeren Bevölkerungsteile, welche ihre Bildung in staatlichen Einrichtungen erhalten und in Krankheitsfällen auf die öffentlichen Gesundheitszentren und Krankenhäuser angewiesen sind. Die Gewerkschaften betonen, dass die Regierung selbst für die Krise verantwortlich ist, denn der Haushaltsetat für die beiden Sektoren wurde in den vergangenen Jahren immer weiter gekürzt. Die Bildungsausgaben sanken laut einer Analyse der unabhängigen Bürgerinitiative CESPAD (Centro de estudio para la democrática) von 32,9 Prozent des Haushaltes im Jahr 2010 auf 19,9 Prozent im Jahr 2019, im Gesundheitssystem sank der Anteil im selben Zeitraum von 14,3 Prozent auf 9,7 Prozent. Die ausufernde Korruption, die sich zum Beispiel in der Plünderung des Sozialversicherungsinstitut IHSS im Jahr 2015 zeigte, aus dem über 300 Millionen US-Dollar geraubt wurden, trägt ebenfalls zur Krise bei und führte seinerzeit zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Auch hohe Regierungsfunktionäre der Nationalen Partei (PNH) sollen in den Korruptionsskandal verwickelt sein.

Die Proteste gewinnen ihre Stärke durch Solidarität in der Bevölkerung


Die in den Gesetzesänderungen vorgesehenen Maßnahmen seien keine Lösung des Problems, sondern eine neoliberale Umstrukturierung nach den Wünschen des Internationalen Währungsfonds, betonen Vertreter*innen der Gewerkschaften. Pläne für diese Umstrukturierung stehen bereits seit dem Regierungswechsel nach dem zivil-militärischen Putsch von 2009 auf der Agenda und wurden von Hernández‘ Vorgänger im Präsident*innenamt Porfirio Lobo vorangetrieben. So soll unter anderem die öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung dezentralisiert und der Staat von seiner Verpflichtung befreit werden, der Bevölkerung diese grundlegenden Rechte zu garantieren. Dies sollen stattdessen die 298 Landkreise übernehmen. Aber die meisten haben weder die Kapazitäten, Personal dafür zu unterhalten, noch für die nötige Infrastruktur zu sorgen. So könnte die Verwaltung öffentlicher Einrichtungen an private Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen übergeben werden, welche Schulen und Krankenhäuser mit internationaler Finanzierung, zum Beispiel durch USAID, betreiben würden. Diese Maßnahmen scheiterten bisher jedoch unter anderem am Widerstand der organisierten Lehrer*innen. Das Umstrukturierungsgesetz und zusätzlich erlassene Notstandsdekrete, die laut Gewerkschaftler*innen den Abbau von Arbeitsrechten und Massenentlassungen mit sich bringen, werden auch als ein Versuch gewertet, die starke Organisation der Gewerkschaften zu untergraben, um den Widerstand gegen neoliberale Reformen zu brechen. So berichten Aktivist*innen über anhaltende Drohungen und Überwachung: streikendes Personal wird mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen unter Druck gesetzt und in Kommunikationsmedien und sozialen Netzwerken kommt es zu Diffamierungskampagnen.

Foto: Luis Méndez

Neben der selektiven Repression ist aber vor allem das brutale Vorgehen von staatlichen Sicherheitskräften und Militärs gegen die Proteste zu beobachten. Die Menschenrechtsorganisation COFADEH (Komitee der Familien von Verhafteten und Verschwundenen) dokumentierte alleine im Zeitraum von Mitte Mai bis zum 9. Juni 48 illegale Verhaftungen, drei Fälle von Folter, die gewaltsame Auflösung von 48 Demonstrationen und repressive Maßnahmen gegen 136 Protestaktionen. Am 19. Juni bestimmte der Nationale Rat der Verteidigung und Sicherheit den Einsatz des Militärs, um die Demonstrationen zu kontrollieren. Dies führte bereits zu drei Todesopfern und mehreren Verletzten durch Polizei und Militär. Am 24. Juni drangen Sicherheitskräfte von Polizei und Militär in die nationale Universität von Honduras in Tegucigalpa ein und verfolgten Studierende, die auf der Straße vor der Universität demonstrierten und sich mit den Bildungs- und Gesundheitsprotesten solidarisierten. Bei dem gewaltsamen und illegalen Eingriff in die Autonomie der Universität wurden fünf Studierende durch Schüsse der Polizei verletzt. Eine Eilmission von Amnesty International dokumentierte bis Anfang Juli acht Todesopfer und 80 Verletzte. Menschenrechtsorganisationen wie COFADEH, kritisieren zudem den massiven Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen, willkürliche Verhaftungen und das Einschleusen von Provoka­teur­*innen in Demonstrationen.

// Foto: Luis Méndez

Die landesweiten Proteste führten bereits wenige Wochen nach Verabschiedung zur Außerkraftsetzung der Notstandsdekrete, die die Gesetze zur Umstrukturierung begleiten sollten. Als Antwort auf den Druck der Straße rief die Regierung Lehrer*innen und Ärzt*innen zu einem Dialog auf. Die von der Regierung zum Dialog eingeladenen Personen waren allerdings keine Vertreter*innen der Plattform für die Verteidigung der Bildung und Gesundheit, sondern gelten als der Regierung nahestehende Personen. Um an einem Dialog teilzunehmen, fordert die Plattform unter anderem die Teilnahme aller in der Plattform vertretenen Organisationen am Dialog, das Ende der Repressionen gegen Lehrer*innen und Ärzt*innen, die Untersuchung der Todesfälle mit Gewalteinwirkung bei den Protesten und eine internationale Vermittlung. Dabei solidarisiert sich die Plattform auch mit anderen Kämpfen, wie der Forderung nach Demilitarisierung der Dörfer Guapinol, Pajuiles und Guadalupe Carney, die sich im Widerstand gegen verschiedene zerstörerische Megaprojekte, wie Bergbau und Wasserkraftwerke, in der Region befinden und sich ebenso mit den Aktionen der Plattform soldarisieren.

Der systematischen Abbau von Grundrechten seit 2009 führte zur Krise


Die Regierung lehnte die Punkte jedoch bisher ab. Deshalb rief die Plattform zu einem alternativen und breiten gesellschaftlichen Dialog auf, zu dem neben Gewerkschaften und sozialen und Basisorganisationen auch Regierungsvertreter*innen eingeladen wurden. Bei einem ersten Treffen am 18. Juni in der Hauptstadt Tegucigalpa nahmen Hunderte von Delegierten aus dem ganzen Land teil. Ziel des Dialoges ist eine Analyse der Stärken und Schwächen des nationalen Bildungs- und Gesundheitssystems und die Erarbeitung einer Strategie zu deren Verbesserung. Unterdessen nehmen die Proteste kein Ende, bis die umstrittenen Gesetze endgültig außer Kraft gesetzt werden. „Wir werden nicht aufhören, zu landesweiten Protesten zu mobilisieren“, erklärt Ligia Ramos, Sprecherin der Plattform gegenüber der Internatio­nalen Nahrungsmittelgewerkschaft Rel-Uita. „Wir müssen die Regierung dazu zwingen, diese Gesetze abzuschaffen und einem neuen Modell die Tür zu öffnen, das wir gerade gemeinsam mit der Bevölkerung entwickeln.“
Obwohl die Zustimmung für Hernández im Land selbst sehr gering ist, halten die USA und die Europäische Union weiter an ihrem Verbündeten fest. Die aktuelle Krise ist das Produkt des Bruchs der verfassungsmäßigen Ordnung durch den Putsch 2009 und dem seither stattfindenden systematischen Abbau von Grundrechten und zivil-gesellschaftlichen Handlungsräumen. Wie schon vor zehn Jahren, bleibt den Honduraner*innen nur der massive Protest auf der Straße. Und wie nach dem zivil-militärischen Putsch und dem Wahlbetrug von 2017 zeigt sich die internationale Gemeinschaft bisher gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in Honduras blind.

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