Kultur nicht verkaufen, sondern verschenken

Die Biblioteca popular Salvador Allende versorgt die Nachbarschaft mit Büchern (Foto: Francisco Osorio via Flickr (CC BY 2.0))

Im März 1995 stach die Bibliolancha Itinerante (etwa: „wanderndes Biblioboot“) zum ersten Mal in See. Teolinda Higueras von der Insel Chiloé im zentralen Süden Chiles, damals Leiterin der öffentlichen Bibliothek von Quemchi, hatte sich die Reise auf einem Boot der Gemeinde zur Aufgabe gemacht: Sie wollte die abgelegensten Ortschaften der Inselgruppe anfahren und diese mit Büchern versorgen.

Seit der Gründung dieses einzigartigen Projekts sind fast dreißig Jahre vergangen. Noch immer steht es unter der Leitung von Teolinda und ihrer Familie, heute unter Schirmherrschaft eines Kulturvereins, der den Namen der Kunsthandwerkerin Otilia Yáñez trägt. Schon im Jahr 1998 konnte sich das Projekt den Traum eines eigenen Bootes erfüllen: Seitdem fährt die kleine Fähre, in der bis zu 32 Menschen Platz haben, die Inseln Tac, Metahua, San José, Añihue, Mechuque, Voigue, Cheniao, Chauques und Butachauques an und öffnet den abgelegenen Ortschaften die Türen zur Welt der Kultur.

Nach den ständigen Fahrten über die Inseln sei Teolinda in den ersten Jahren bewusst geworden, in welchen Realitäten die Menschen in dieser Gegend lebten: geprägt von der Einsamkeit der Ferne und dem fehlenden Zugang zu Kulturangeboten, die dem Rest des Landes zur Verfügung stehen. Im Laufe der Jahre bietet sie auf dem Boot nicht nur Bücher an, sondern auch Theater, Kino und reist zusammen mit Geschichtenerzähler*innen. „Dort, wo der der Staat nicht hinkommt, sind wir da“, berichtet sie. Die Gemeinschaftsbibliotheken wurden auf Initiative von Nachbar*innen gegründet und von ihnen verwaltet. Sie entstehen an Orten, in denen die Entfaltung kultureller Institutionen nicht ausreichend ankommt und somit als Antwort auf eine bestimmte Notwendigkeit: der Suche nach einem Raum, um sich Büchern und anderen künstlerischen Ausdrucksformen zu nähern. Doch oft werden die Bibliotheken auch zu dem Ort, an dem Menschen ihre gemeinsamen sozialen Kämpfe aufbauen können.

Um zur Villa Andes del Sur im Stadtteil Puente Alto von Santiago zu kommen, braucht man mehr als eine Stunde. An einer Haltestelle an der Kreuzung der Straßen Los Toros und Nuevo Continente wurde sich ein vernachlässigter Ort wieder angeeignet, um dort die heutige Bibliothek der Villa aufzubauen. Es ist ein bunter Ort voller verschiedenster Bücher entstanden.

„Mir wurden viele Bücher gespendet und alles Mögliche überlassen, das ist das Wichtigste. Filme, Poster, VHS-Kassetten, Zeitschriften. Auch beim Verfassungsplebiszit wurden mir die Ablehnungs- und die Zustimmungskampagnen überlassen, dieser Ort dient also kulturell gesehen sehr vielem“, erzählt Diego Riffo, der das Projekt leitet und Vizepräsident des Gemeinderats ist. Er erklärt auch, dass „die Bibliothek entstanden ist, um auf eine Forderung einzugehen, die nicht erst während des estallido (chilenische Revolte ab Oktober 2019, Anm. d. Übers.) aufkam: die Alphabetisierung. Es gab so wenig Kultur, Bücher hatten so wenig Prestige, das Lesen war immer sehr zentralisiert“.

Was Riffo sagt, wird von einer Studie der Stiftung Vivienda von 2019 untermauert, die untersuchte wie viele Familien aus Santiago Zugang zu Verkaufs- und Verleihstellen von Büchern haben. Hierbei stellte man eine beachtenswerte Schere zwischen verschiedenen Stadtteilen fest. Die geringsten Anteile von Familien mit Zugang zu Büchern – jeweils unter zehn, teilweise sogar unter fünf Prozent – wiesen die Stadtteile San Bernardo, Puente Alto, La Pintana, El Bosque, Quilicura, Macul, Renca und Conchalí auf. Diese Kommunen liegen größtenteils am Rande Santiagos, die Fahrtwege betragen teilweise mehrere Stunden.

Ein paar Kilometer weiter, in der Villa Doña Gabriela, findet man die Biblioteca Popular Ramiro, die an Mauricio Hernández Norambuena erinnert, auch bekannt als comandante Ramiro der Frente Patriótico Manuel Rodríguez (linke Guerrillaorganisation der Zeit der Diktatur, Anm. d. Übers.). Auf einem Regal vor dem Haus von Juan Pablo Álvarez in Puente Alto stapeln sich die Bücher in die Höhe: Schulbücher, Fiktion, Literaturklassiker. In diesem Haus befand sich früher eine der öffentlichen Bibliotheken von Santiago, deren Verwaltung dem Gemeinderat überlassen wurde. Juan Pablo sitzt auf der Straße und erinnert an die Anfänge des Projekts, das im Mai 2020 von ihm gegründet wurde und inzwischen bis zu 3.600 Bücher besitzt, die den Nachbar*innen der Siedlung zur freien Verfügung stehen. Das Projekt wurde mit der Vision gestartet, die Bildung aus dem Stadtteil heraus zu organisieren.

„Die Idee für die Bibliothek entstand aus einer Unruhe heraus – und aus dem Aufruf dazu, dass es auch am Stadtrand Bibliotheken geben sollte“, sagt Álvarez, der sich selbst Professor der öffentlichen Bildung von unten nennt. Dabei hat er sich von anderen Bibliotheken der Kommune inspirieren lassen, die Bücher an Bushaltestellen oder vor Häusern platzierten und Workshops sowie Kulturangebote organisierten. All das wurde von den Nachbar*innen gut aufgenommen – vor allem während der Pandemie, als Bücher angesichts der sozialen Isolation zu einem Rückzugsort wurden. „Die Menschen, die am Stadtrand wohnen, brauchen Abwechslung, wenn sie ihr Zuhause zum Schlafen oder zusammen mit anderen benutzen. Ich denke, es braucht neben den Fußballplätzen und den Spielen auf den Plazas auch Orte der Entspannung und zum Lesen. Aber das Lesen fällt am Stadtrand schwer. Das liegt am Scheitern des Bildungssystems, weil in den Schulen nicht gelesen wird. Es gibt eine Krise des Leseverständnisses, der Textbearbeitung und der Textanalyse“, meint der Professor.

Das aktuelle Staatliche System Öffentlicher Bibliotheken (SNBP), das in Partnerschaft mit der Verwaltung für Bibliotheken, Archive und Museen (DIBAM) organisiert ist, deckt 96 Prozent der Fläche Chiles ab. Das heißt, dass es in 332 von 346 Kommunen mindestens eine Ausleihstelle für Bücher gibt. Da stellt sich die Frage: Warum haben sich die Gemeinschaftsbibliotheken von staatlichen Vorgaben und etablierten Strukturen unabhängig gemacht? Ihre Motivation liegt laut den Betreiber*innen darin, horizontale Strukturen in ihren Projekten zu fördern und nicht nur zum Lesen anzuregen, sondern auch Gemeinschafts- und Kulturräume zu schaffen.

Nachbarschaftliche Beziehungen knüpfen

Bibliotheken wie die von Teolinda, Diego und Juan Pablo beweisen eine Organisierung der Nachbarschaften rund um die Projekte. Die Initiativen haben ein Netzwerk der gegenseitigen Zusammenarbeit zwischen Nachbarschaftsgruppen geschaffen, das es ihnen ermöglicht, ihre Kontakte zu erweitern und mehr Teilnehmer*innen anzusprechen. So sind rund um die Demokratisierung des Lesens auch verschiedene Räume des Miteinanders sowie Kulturzentren entstanden.

Dass sich die Initiativen zusammenschließen und vernetzen, wird zur kulturellen und gesellschaftlichen Stärke: Juan Pablo erzählt, dass die Netzwerke zwischen verschiedenen Bibliotheken in Puente Alto schon ermöglichten, die Bibliotheken als Vorratszentren zu nutzen, um Notfälle wie Stürme oder Brände zu bekämpfen. Die Gemeinschaft besteht also nicht nur aus Leser*innen, die in den Büchern Zuflucht suchen, sondern aus aktiven gesellschaftlichen Akteur*innen.

Auch Diego Riffo von der Bibliothek aus Villa Andes Sur berichtet davon, dass durch die Vernetzung zwischen den Nachbar*innen aus Puente Alto eine Einheit entstanden ist, in der Unbekannte zu Bekannten wurden. „Was auch schön ist: Wenn neue Gemeinschaftsbibliotheken entstehen und bekannter werden, sehen die Leiter der anderen Bibliotheken ihre eigene Arbeit fruchten – weil eine nach der anderen entsteht“, freut sich Riffo.

Beide Initiativen in Puente Alto setzen einen Schwerpunkt darauf, das Lesen mit anderen Arten der Kultur zu verbinden. Juan Pablo erzählt davon, wie er Musikbands kennengelernt und dazu eingeladen hat, auf ihren Konzerten einen Bücherstand aufzustellen. „Anstelle die Kultur zu verkaufen, wird sie verschenkt“, sagt er mit Überzeugung.

So entstehen zwischen den Seiten der Bücher menschliche Bindungen. Nataly Nuñez, die die Bibliothek Villa Andes Sur benutzt, erzählt davon, wie sie Nachbar*innen näherkam, die vorher Fremde waren: „An einem Tag las ich gerade, als eine ältere Frau bei der Suche nach einem Buch hinfiel. Ich half ihr, aufzustehen und nun ja – heute gehen wir sogar zusammen zum Yoga. Das ist einer der Gründe dafür, dass wir so dankbar für diesen Ort sind. Er bringt uns dazu, miteinander ins Gespräch zu kommen.“ In dem Stadtviertel, das weit entfernt vom Zentrum der Hauptstadt liegt, bilden sich Bindungen, die denen einer Familie ähneln. „Ich komme her, um die Bücher zu sortieren und die Frau von gegenüber gibt mir ein Eis, der von der Bäckerei schenkt mir Gebäck. Es ist sehr schön, was hier entsteht“, sagt Riffo, dankbar.

Den Betreiber*innen geht es auch darum, die Nachbarschaftsorganisierung mit Institutionen der Bürger*innenbildung und politischer Debatte in Verbindung zu bringen. In der Gemeinschaftsbibliothek Ramiro gab es während des ersten Verfassungsprozesses drei Bürger*innentreffen, zu denen auch Verfassungsdelegierte wie Alondra Carrillo kamen. Diego hat außerdem organisiert, dass der Bibliothek Exemplare des Vorschlags für den neuen Verfassungstext geliefert wurden.

Auch das Netzwerk der Gemeinschaftsbibliotheken von Gran Valparaíso ist ein Beispiel für die Nachbarschaftsorganisierung, die diese Kulturinitiativen auszeichnet. Das Netzwerk ist 2012 entstanden und erstreckt sich von den Hügeln Valparaísos bis Los Andes.

Eine der Bibliotheken des Netzwerks trägt den Namen von Irma Cid Parra, die als Französischlehrerin in der Mädchenschule von Viña del Mar arbeitete und im Jahr 1973 gefeuert wurde, weil sie der Kommunistischen Partei angehörte. Die Bibliothek wird aktuell von Alejandra Jiménez Cid geleitet, der Tochter von Irma. Jiménez erklärt, bei der Gründung sei es darum gegangen, einen Ort der Erinnerung und der Wiederbegegnung von Familien zu schaffen.

Ghislaine Barría, Bibliothekarin und Ex-Präsidentin des Netzwerks, führt die Zunahme an Bibliotheken auf das große Interesse zurück, neue Orte zum Lesen zu finden. Diese seien manchmal auch weniger konventionell, sondern entstünden beispielsweise durch Besetzungen.

Barría erklärt, dass diese Orte Teil der Geschichte der Hafenregion seien. Sie richteten sich an strategischen Orten ein, um gegen soziale Ungleichheiten wie etwa in der Bildung zu kämpfen. Auch wenn es den Orten primär darum gehe, ein Bewusstsein zu schaffen und neue Generationen zu unterstützen, kämpfen sie auch gegen den Rückgang der Alphabetisierungsrate unter älteren Generationen an, indem Lesekreise und Familien- oder Nachbarschaftstreffen organisiert werden. Die Bibliothekarin erinnert auch an die Bedeutung der Gemeinschaftsbibliotheken: „Wir dürfen nicht vergessen, dass solche Räume aus dem Widerstand heraus entstehen.“

Kulturpolitik von der Basis aus

In Chile gibt es aktuell 681 Bibliotheken, die dem Netzwerk der staatlichen Bibliotheken (SNBP) des Ministeriums für Kultur, Kunst und Kulturerbe angehören. Im Jahr 2022 wurden dort landesweit 1.448.148 Bücher ausgeliehen und 415.223 Bücher digital bereitgestellt. Hierbei ist ein Zuwachs von 61 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Im April 2023 wurde zudem eine nationale Politik des Lesens, des Buches und der Bibliotheken vorgestellt. Dass der Staat in den letzten Jahren versucht, mit seiner Kulturpolitik das Lesen zu fördern, Leseverständnis zu vermitteln und seine Bibliotheken zu professionalisieren, kann also nicht geleugnet werden. Dennoch wenden sich die Gemeinschaftsbibliotheken gegen solche Statistiken und versuchen, ein anderes Problem zu lösen: den schwierigen Zugang in ihren Regionen, sei es der Stadtrand von Santiago, die Hügelkette von Valparaíso oder die verborgenen Winkel der Insel Chiloé, die die Bibliolancha Itinerante besucht.

Laut Andrés Fernández, Soziologe an der Universidad de Chile, habe es hier Fortschritte gegeben: „Diese Politik stellt den Menschen und den kulturellen Ausdruck in den Fokus und entwickelt staatliche Strukturen, um den Menschen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Was der Buchpolitik bisher gefehlt hat, war zum Beispiel ein tatsächliches politisches Interesse daran, das, was auf dem Papier steht, auch in die Praxis umzusetzen“, so der Autor.

Dennoch: In einer Studie von Ipsos und der Stiftung La Fuente über Lesegewohnheiten und -wahrnehmungen in Chile geben 82 Prozent der Chilen*innen an, dass sie gern mehr lesen würden, als sie es aktuell tun. Aber warum? In der gleichen Studie bestätigen 53 Prozent der Befragten, der Zeitmangel sei der Hauptgrund, der sie vom Lesen abhalte. Dies ist insbesondere in den sozioökonomisch schwächeren Kommunen zu beobachten.

Deshalb sind die Gemeinschaftsbibliotheken für ihre Gemeinden so wichtig. „Diese Orte erfüllen die grundlegende Funktion, Identitäten zu stärken. Als kulturelle Treffpunkte versuchen sie, Orte anzuerkennen, die historisch gesehen in den Vierteln eine sehr wichtige Rolle spielten. Diese wurden aber nicht staatlich finanziert, weil sie das Spiel nicht mitspielen wollten“, erklärt Tomás Peters, Soziologe an der Universidad de Chile.

Auch der Soziologe Andrés Fernández erklärt, dass Bildung auf unterschiedliche Weise prekarisiert worden sei. Lehrbücher würden überarbeitet, ohne den Lernprozess der Menschen zu beachten, es würden keine Anreize geschaffen, Bücher zu lesen. Fernández hebt das SNBP hervor, kritisiert allerdings die Art und Weise, in der Geldvergabe über Wettbewerbe, nicht nachhaltig und langfristig konzipiert sei. „Der springende Punkt liegt beim Fokus auf das Bildungssystem: Wie bringen wir das Lesen bei und schaffen Lesegewohnheiten?”

Die Bibliolancha, die seit 29 Jahren über das Meer vor Chiloé schippert, ist wegen ihrer Langlebigkeit zu einer Ikone der Leseförderung geworden. Die kulturelle Demokratisierung, an den entlegensten Orten, ist mit der Zeit vorangeschritten. Heute bleibt Teolinda Higueras mit der Bibliolancha jeweils eine Woche an der Küste der Inseln, damit Kinder, Erwachsene und Nachbar*innen nicht nur an den Büchern, sondern auch an Workshops und anderen Aktivitäten Spaß haben können.

Mit den Erfahrungen und Meinungen der verschiedenen Organisationen und Expert*innen lässt sich die These des Soziologen Peters bestätigen: Diese Kulturzentren sind Orte des Zusammentreffens und strategisch wichtig für die kulturelle Demokratisierung des Landes.

Zusammen kommen wir weiter

Das Viertel umgestalten, feministische Kämpfe von unten führen Sitz der Mujeres en Espiral in Havanna (Foto: Jana Salcedo Strausfeld)

In einem bunt angemalten Gebäude warten die Mujeres en Espiral mit zuckrigen Getränken und selbstgebackenen Keksen in der kubanischen Hauptstadt auf uns. Ihr Hauptsitz ist ein liebevoll gestaltetes Haus im Kolonialstil und befindet sich in Marianao, einem ökonomisch schwachem Randbezirk Havannas. Dort versammeln sie sich wöchentlich, um Frauen aus ihrer Gemeinschaft Workshops und psychologische Beratung anzubieten, die ihnen bei ihrer Emanzipation helfen soll. Oftmals wenden sich Frauen an sie, die psychische, physische und emotionale Gewalt erfahren und sich in Abhängigkeitsdynamiken mit ihren Ehemännern befinden.

Tanja, América und ihre Kolleginnen empfangen uns während unseres dreimonatigen Aufenthaltes im Herbst 2022 in Kuba, in dem wir ein soziales Kleinprojekt zum Thema Ressourcenmanagement und Wasser durchführen. Krise nach Krise verschärft die bereits bestehenden Konflikte des Inselstaates: Auf die Corona-Pandemie folgt der Angriffskrieg auf die Ukraine, im September 2022 der verheerende Hurrikan Ian. Bereits 2020 war Kuba mit einer Nahrungsmittel- und Gesundheitskrise konfrontiert. Fehlende Ressourcen, Stromausfälle, Verhaftungen von jungen Protestierenden im Juli 2020 sowie das Jahrzehnte andauernde Handelsembargo und die deutlich verschlechterten Beziehungen zu den USA unter Trump (2017 bis 2021) belasten die Kubaner*innen enorm (siehe LN-Dossier 19).

Im Jahr 2022 nahm die (irreguläre) Abwanderung von der Insel stark zu – nie seit der Revolution 1959 war sie höher. Mit einem monatlichen Durchschnittseinkommen von umgerechnet 25 bis 30 Euro hat der Großteil der kubanischen Bevölkerung kaum Perspektiven auf ein würdevolles Leben.

Die Mujeres en Espiral kämpfen mit ihrem Projekt für mehr soziale Gerechtigkeit in Kuba, für die Gleichstellung der Geschlechter und für die Verbreitung solidarischer Volkswirtschaft. Sie verstehen sich als Bewegung, die aus feministischen, sich selbst ermächtigenden Unternehmer*innen besteht und in ihrem Viertel für soziale Verantwortung, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Aktivismus bekannt ist. Die Gruppe vereint auf freiwilliger Basis Frauen aus verschiedenen Gemeinden, sozialen Sektoren, Ethnien und Religionen Havannas, die mit sozio-produktiven Erfahrungen, Dienstleistungen und Workshops für die ganzheitliche Umgestaltung des Viertels kämpfen und dabei die Rolle der Frau stärken. Unter dem Motto Solas vamos más rápido, juntas llegamos más lejos (Allein kommen wir schneller voran, gemeinsam kommen wir weiter voran) und Juntas aprendemos, juntas producimos, juntas decidimos (Gemeinsam lernen, produzieren und entscheiden wir) führen sie Workshops durch, in denen sie mit den stereotypischen Rollenbildern der patriarchalen Gesellschaftsstruktur brechen. Sie bieten Frauen eine Ausbildung in diversen Berufen an und ermöglichen ihnen durch Fortbildungen den Einstieg in den Arbeitsmarkt.

Die Mujeres en Espiral sind eine Gemeinschaft von 75 Frauen und haben bereits zur Entstehung von 15 Kleinunternehmen beigetragen, die sich dem Kunsthandwerk oder der Herstellung von Bio-Lebensmitteln, Brot oder Süßigkeiten widmen. Auch ein Friseursalon und eine Wäscherei sind entstanden sowie zwei Gemeindeberatungen für Frauen und Familien in Gewaltsituationen, die sich aus Fachleuten für Gemeindearbeit und Pädagog*innen zusammensetzen.

Nähateliers, Kunstwerkstätten, Friseursalons Aus dem Projekt Mujeres en Espiral sind bereits 15 Kleinunternehmen entstanden (Foto: Jana Salcedo Strausfeld)

Nach dem interessanten und lehrreichen Gespräch mit den Gründerinnen der Mujeres en Espiral besuchen wir Frauen in der Nachbarschaft, die bereits an den Workshops teilgenommen und ihr eigenes kleines Unternehmen gegründet haben. Darunter ist Alina Saborit in ihrem Näh-Atelier Atrévete, eres más (Traue dich, du bist mehr wert) und Paula Margarita Montalvo Jorrín sowie ihre Nichte Maritza vom Recycle- und Kunstprojekt La Muñeca Negra (Die Schwarze Puppe). Alina Saborit nimmt in ihrem Nähstudio vor allem junge Frauen aus problematischen Umfeldern auf, die dort nähen lernen und sich so berufliche Aussichten verschaffen. Sie spezialisieren sich auf die Herstellung von Konfektionskleidung, auf Reparatur und Upcycling. In Pandemiezeiten nahmen sie Aufträge zur Stoffmaskenherstellung an und nähten zudem aufgrund eines Lieferengpasses Schuluniformen. Ihnen bietet der Job eine erste kleine Einnahmequelle und die Hoffnung, in Zukunft selbst ein Kleinunternehmen zu starten.

Von den zehn Frauen, die bereits bei Alina ausgebildet wurden, haben vier bereits eigene Unternehmen gegründet und Mitarbeiter*innen angestellt. Auf eine lange Geschichte blickt das Recycle- und Kunstprojekt La Muñeca Negra zurück. Es wurde bereits 1980 von Paula Margarita gegründet und besteht derzeit aus einer Gemeinschaft älterer Frauen, die aus recycelten Materialien und Naturprodukten Kunst herstellen. Ihre Kunst zeichnet sich durch die Repräsentanz der Schwarzen Frau sowie farbenfrohe Muster und Stoffe aus. Das Projekt hat bereits kubanische und spanische Auszeichnungen erhalten.

Paula Margarita ist studierte Künstlerin und bietet seit 40 Jahren Wochenendkurse für Kinder an, die bei ihr diverse Recycle- Kunsttechniken lernen können und dadurch ein kostenloses Freizeitprogramm erhalten. Die Mütter schicken ihre Kinder dankend zu den Kursen von Paula Margarita und Maritza, die Mitglieder der Mujeres en Espiral sind. Sie haben selbst Workshops zur Stärkung der Frauen mitgemacht und implementieren das erworbene Wissen in den Wochenendkursen mit den Kindern. Zudem ist den beiden bewusst, dass ihr Projekt den älteren Frauen eine Einnahmequelle sowie ein soziales Umfeld bieten. Auf Handwerksmärkten und Veranstaltungen verkaufen sie ihre Kunst und auch im Ausland und bei Tourist*innen treffen sie auf Interesse. Bei meinem letzten Besuch bei Maritza bereitete sie sich für einen Besuch der Mujeres en Espiral auf einer feministischen Messe in Mexiko vor, mit dem Titel Expo Mujer: Generando comunidad entre Mujeres (Ausstellung Frau: Gemeinschaft zwischen Frauen schaffen). Es war bereits ihre zweite Auslandsreise, die ihr das feministische Netzwerk ermöglichte.

Eine weitere erwähnenswerte Initiative ist eine Seminarreihe zu toxischer Männlichkeit in Kuba. Das Konzept haben Ania und ihr Team von zwölf Frauen erstellt und möchten es im August 2023 mithilfe der gemeinnützigen Organisation Centro Félix Varela implementieren. Die Seminare sollen einen Raum für den Austausch von männlich gelesenen Personen bieten, in dem eine offene Kommunikation stattfindet und Emotionen ausgedrückt werden dürfen. Sie richten sich an Schul- und Universitätsgruppen, aber auch an allgemein Interessierte aus Havanna und Umgebung. Dafür haben sie 60 diverse Freiwillige angefragt, die als Mentor*innen trainiert werden und die ihre persönlichen Erfahrungen zu toxischer Männlichkeit mit den Teilnehmenden teilen wollen. Mit diesem Konzept möchten sie den Jugendlichen und Männern einen Raum und einen Zugang zu ihren Emotionen geben sowie Offenheit und Akzeptanz diverser Sexualitäten und fluider Geschlechtsidentitäten fördern.

Die Frauen schaffen eine in Krisen bestmögliche Realität

Das Streben nach Gleichberechtigung und Unabhängigkeit, die feministische Solidarität und der Unternehmer*innengeist, die die kubanischen Frauen in ihrem Kampf für Geschlechtergleichstellung antreibt, bereichern ihre Gemeinschaft und bringt eine neue Perspektive in das Leben der Beteiligten. Ihr Aktivismus und ihr weites Netzwerk sind bewundernswerte Beispiele für einen lebendigen, kubanischen Feminismus. Diese inspirierenden Aktivist*innen machen Frauen ihre Handlungsfähigkeit bewusst gzeigen, dass gemeinschaftliches Wirken die Lebensrealität von Vielen verbessern kann, ganz nach ihrem oben genannten Slogan. Kein Ideologiekrieg und kein autoritäres System können diese Art von sozialem Handeln und Fühlen kritisieren oder unterdrücken. Auf ihre sprudelnde und solidarische Weise kämpfen sie für Gerechtigkeit und erschaffen die beste Realität, die sie inmitten von vielen Krisen erschaffen können.

„ES FINDET EIN BRUCH STATT“

 

ANTONIO GONZÁLEZ PLESSMANN
ist Soziologe, langjähriger linker Menschenrechtsaktivist und Teil der Menschenrechtsorganisation Colectivo Surgentes. Er was Vizedirektor der Universidad Nacional Experimental de la Seguridad und hat den Prozess der Polizeireform von 2006 bis 2013 begleitet. Surgentes wurde 2016 von einer Reihe linker Menschenrechtsaktivisten gegründet und legt besonderes Augenmerk auf die soziale Frage. Gemeinsam mit anderen Kollektiven initiierte Surgentes im Juli dieses Jahres die „Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise“. Zuvor entstand als Diskussionsgrundlage ein gemeinsames Papier, das eine Analyse der derzeitigen Situation, Vorschläge für kollektives Handeln und Forderungen an die Regierung enthält.


Anfang Juli haben sich Vertreter*innen mehrerer Basisorganisationen unter dem Motto „Dialoge für eine chavistische Überwindung der Krise“ getroffen. Worum geht es dabei?
Als Kollektive und Bewegungen wollen wir unseren bescheidenen Beitrag leisten. Wir sehen das radikaldemokratisch-sozialistische Programm des Chavismus heute sowohl durch die von den USA angeführte Rechte als auch die Regierungselite bedroht. Mit dem Argument, „die Regierung zu verteidigen, um die Revolution zu retten“ hat diese Elite einen Schwenk nach rechts vollzogen und die Räume demokratischer Partizipation eingeschränkt. Die Mehrheit der Basis sieht heute eine Diskrepanz zwischen Regierungsdiskurs und -praxis. Dies hat bisher aber nicht zu einer Neuerfindung des Chavismus geführt.

Was heißt Neuerfindung?
Als politisches Subjekt ist der Chavismus mehrheitlich basisnah und antikapitalistisch. Doch die Bewegungen sind fragmentiert und von der bürokratischen Elite vereinnahmt. Die Dialoge sollen dazu beitragen, dieses politische Subjekt zu stärken. Wir glauben, dass der Chavismus als politische Kraft jenseits der Regierung eine lange Zukunft hat.

Mittlerweile versuchen unterschiedliche politische Strömungen den Chavismus für sich zu vereinnahmen. Worin besteht für Sie Chávez’ Erbe?
Erstens in der staatlichen Kontrolle der natürlichen Ressourcen und strategischen Unternehmen. Dazu gehören politische Souveränität sowie der Austausch mit Regierungen und Bevölkerungen des globalen Südens. Zweitens in der Radikalisierung der Demokratie. Das bedeutet, allmählich die Macht der Bevölkerung zu vergrößern, und zwar im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bereich. In Chávez’ Worten hieß das: „Wenn wir die Armut beseitigen wollen, müssen wir den Armen Macht geben.” Während Chávez’ Regierungszeit förderte der Staat die Übernahme von Produktionsmitteln durch die Bevölkerung. Die Regierung förderte zudem sowohl Selbstregierung auf kommunaler Ebene als auch die Kontrolle des Staates durch die Öffentlichkeit und die Debatte über staatliche Politik. Im kulturellen Bereich gab es eine positive Besinnung auf das afrikanische, indigene, mestizische und volksnahe Erbe, das historisch untergeordnet und ausgegrenzt wurde.
Und drittens besteht Chávez’ Erbe in einem postkapitalistischen Ansatz. Der Sozialismus soll nach und nach von unten aufgebaut werden, in einem radikal-demokratischen Rahmen und in Allianz zwischen Staat und Basismacht (poder popular).

Diese Allianz funktioniert heute nicht mehr so wie während der Regierungszeit von Hugo Chávez. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Regierung und chavistischen Organisationen zurzeit beschreiben?
Zum einen gibt es den Versuch, die Bewegungen gefügig zu machen. Das drückt sich in dem Slogan „Beschützer des Volkes“ aus, den Nicolás Maduro und seine Regierung verwenden. Die protagonistische Bevölkerung unter Chávez wird bevormundet und in eine passive Rolle zurückgedrängt. Die Regierungselite erwartet Loyalität, Dankbarkeit und Demobilisierung. Das zeigt sich auch daran, dass Nicolás die „Lokalen Komitees für Versorgung und Produktion“ (CLAP), die stark subventionierte Lebensmittel verteilen, als höchsten Ausdruck der Basismacht bezeichnet.

Inwiefern deutet die Regierung hier den Begriff poder popular um?
Während die kommunalen Räte und die comunas (Zusammenschlüsse mehrerer kommunaler Räte, Anm. d. Red.) pluralistische Räume darstellten, in denen die Macht von unten, von Versammlungen und Abstimmungen ausging, werden die CLAP vom Staat und der Regierungspartei PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) kontrolliert. Ihre Mitglieder werden ernannt statt gewählt und führen Weisungen von oben aus. Diese Sichtweise der Basismacht steht im Widerspruch zu Autonomie, Protagonismus und Sozialismus. Aber die venezolanische Bevölkerung ist aufsässig und rebellisch. Organisierte comunas, Kollektive und Bewegungen, die über eine größere Autonomie gegenüber dem Staat verfügen, bieten der Regierung aus dem Inneren des Chavismus heraus häufig die Stirn, indem sie Forderungen aufstellen und Kritik formulieren.

Wie antwortet die Regierung darauf?
Unterschiedlich. Zum einen versucht sie die Legitimität von Kritik zu untergraben, ohne sich direkt mit ihr auseinanderzusetzen. Andererseits geht sie aber manchmal auf Forderungen ein, um die eigene Legitimität zu erhöhen. Regierung und PSUV sind in den ärmeren Vierteln sehr präsent und kontrollieren mittels des bürokratischen Apparates die Mehrheit der chavistischen Basis. Aber die Zustimmung schwindet auch dort. Die Menschen lehnen zwar den Imperialismus ab und wollen mit der rechten Opposition nichts zu tun haben. Gleichzeitig wissen sie aber genau, dass die derzeitige Regierung das chavistische Programm verraten hat. Es findet ein allmählicher Bruch statt, von dem wir nicht wissen, welche Auswirkungen er haben wird.

Wieso hat sich der demokratische Spielraum für die Basisbewegungen in den vergangenen Jahren derart verkleinert?
Wenn linke Regierungen belagert werden, neigen sie dazu, sich zu verschanzen. Die Angriffe des Imperiums sind sehr real und finden seit 2001 statt. Nach Chávez’ Tod haben sie sich jedoch intensiviert bis hin zu den sogenannten US-Sanktionen, die wir als unilaterale, illegale und willkürliche Zwangsmaßnahmen ohne völkerrechtliche Grundlage betrachten. Diese haben katastrophale Auswirkungen für eine Ökonomie, die sich bereits in der Krise befand.
Diosdado Cabello (Vorsitzender der verfassunggebenden Versammlung und ein politisches Schwergewicht des Chavismus, Anm. d. Red.) wiederholt regelmäßig einen Gedanken von San Ignacio Loyola, den auch Fidel Castro häufig zitiert hat: „In Zeiten der Belagerung bedeutet Zweifel Verrat”. Daraus folgt die Negierung von Kritik, geduldet wird nur Zustimmung. Die Regierung schließt unbequeme Personen oder Sektoren aus, bevormundet die Basis und schränkt die autonome Partizipation ein. Niemand darf über die Korruption in den eigenen Reihen sprechen, das Regierungshandeln wird ineffizient und wir erleben eine zunehmende Privatisierung der Politik. Dadurch schwindet die Legitimität der politischen Klasse.

Seit einigen Jahren nehmen die Berichte über die verstärkte Repression in den barrios (einfache und ärmere Stadtviertel) zu. Venezolanische Menschenrechtsorganisationen und auch die Vereinten Nationen sprechen von tausenden extralegalen Hinrichtungen. Was geht da vor sich?
Nach offiziellen Zahlen gab es im Jahr 2018 10.598 Morde. Hinzu kommen 5.287 Todesfälle aufgrund von „Widerstand gegen die Staatsgewalt.“ Damit gemeint sind bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen mutmaßlichen Kriminellen und den Sicherheitskräften. Der Staat räumt also öffentlich ein, dass er selbst ein Drittel der getöteten Personen zu verantworten hat. Dies allein schon ist eine Ungeheuerlichkeit, weil sich darin eine unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt seitens der Sicherheitskräfte ausdrückt. Dies widerspricht völlig den Zielen der Polizeireform, die Chávez ab 2006 durchgeführt hat. Doch wenn wir uns die Todesfälle genauer ansehen, stellen wir fest, dass es in den meisten Fällen gar keine Auseinandersetzungen gab. Vielmehr handelt es sich um Hinrichtungen, die später anderes dargestellt werden.

Wie ist diese Polizeigewalt zu erklären?
Im Bereich der Sicherheit findet eine Verselbständigung statt. Es gibt keine politische Kontrolle, der übelste Teil des Militärs und der Polizei gibt den Ton an. Und die Regierung toleriert dies. Die meisten der Toten sind junge Leute aus den Armenvierteln. Es handelt sich also um eine klassistische Gewalt, die die sozialen Ungleichheiten reproduziert. Als Menschenrechtler*innen haben wir dies seit 2015 angeprangert, als die Regierung damit begann, Polizeiaktionen unter dem Namen Operación de Liberación del Pueblo (OLP, Operation Befreiung der Bevölkerung) durchzuführen. Wir veröffentlichten damals ein Kommuniqué, das verschiedene Medien dokumentierten.

Wie hat die Regierung auf die Kritik reagiert?
Ohne uns beim Namen zu nennen wies Nicolás den Innenminister öffentlich an, die „kleine Gruppe Intellektueller“ einzubestellen, die sich wegen der OLP „besorgt” zeige. Das Treffen fand allerdings niemals statt. Offensichtlich hatte die Regierung kein wirkliches Interesse daran, den repressiven Ansatz der Sicherheitspolitik zu ändern.

Aktuell besteht Hoffnung auf einen möglichen Dialog zwischen Regierung und rechter Opposition. Unter Mediation Norwegens fanden bereits mehrere Treffen statt, zuletzt auf Barbados. Auch wenn kaum Details bekannt sind: Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass es zu einer Vereinbarung kommt, um die Krise zu überwinden?
Es wäre wünschenswert, dass ein Abkommen geschlossen wird. Denn die Alternativen sind Krieg, Invasion oder ein autoritärer Kurs. Und in all diesen Szenarien sind es die ärmeren Schichten, die am meisten verlieren. Ein Abkommen wird aber nicht dazu führen, dass der politische Konflikt verschwindet. Er muss vielmehr in demokratische und verfassungsmäßige Kanäle zurückkehren, die er niemals hätte verlassen dürfen.

 

WIE IMMER BLEIBT NUR DER PROTEST

Straßenkampf Das brutale Vorgehen von Polizei und Militär hat die Situation weiter eskalieren lassen / Foto: Luis Méndez

Ein Streik von Lehrer*innen und Ärzt*innen Mitte April führte zu einer neuen Welle von landesweiten Protesten, die bis heute anhält. Ausgangs­punkt waren von der Regierung geplante Umstrukturierungen des Bildungs- und Gesundheitssystems, die sich in einer tiefen Krise befinden. Statt den Dialog mit den Gewerkschaften zu suchen, wurde versucht, die Proteste durch brutales repressives Vorgehen der Polizeieinheiten aufzulösen, was den Konflikt zunehmend eskalieren ließ. Zuerst schlossen sich Studierende, Schüler*innen, Eltern und soziale Organisationen an, im Juni folgte der Transportsektor und selbst Teile der Polizei traten zeitweise in den Streik. Die Situation ähnelt der nach den umstrittenen Wahlen von 2017, durch den der jetzige Präsident Juan Orlando Hernández von der rechten Nationalen Partei (PNH) trotz verfassungsrechtlichen Verbots eine zweite Amtszeit antreten konnte. Große Teile der Bevölkerung, die von Wahlbetrug ausgehen, sind seither nicht zur Ruhe gekommen. Auch aktuell gewinnen die Proteste ihre Stärke durch die solidarische Beteiligung von Bürger*innen, die sich, Spaltungsversuchen seitens der Regierung zum Trotz, spontan in ihren Dörfern oder Vierteln organisierten.
Neben Streiks wurden Schulen und Universitäten besetzt, es kam zu Straßenblockaden und Massendemonstrationen als Ventil der vorherrschenden Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile. Längst gehen die Aktionen und Demonstrationen über die Forderungen der Lehrer*innen und Ärzt*innen hinaus. Die Mitte Mai gegründete Plattform zur Verteidigung der Bildung und Gesundheit (Plataforma por la Defensa de la Salud y la Educación), in der sich landesweit 18 Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, organisiert sich wie eine Basisbewegung in lokalen und regionalen Versammlungen und artikuliert mit lokal organisierten Kämpfen, wie etwa mit Organisationen von Indigenen und Kleinbauern und -bäuerinnen. Dies gibt dem Protest neue Impulse und bringt das Regime von Präsident Hernández in starke Bedrängnis. Verschiedene gesellschaftliche Sektoren fordern seinen Rücktritt, der gemeinsame Nenner, der sie vereint, ist die Ablehnung seiner Regierung.

Das Bildungs- und Gesundheitssystem stecken in einer tiefen Krise


Mitte April hatte das Parlament unter der Führung der regierenden Partei PNH die umstrittenen Gesetze erlassen, die das marode Gesundheits- und Bildungssystem sanieren sollten, jedoch laut Gewerkschaften eine erneute Kürzung der Staatsausgaben vorsehen und einen ersten Schritt in Richtung Privatisierung staatlicher Infrastruktur darstellen. In den öffentlichen Krankenhäusern in Honduras fehlt es an Medikamenten und grundlegender Ausstattung, im Bildungssektor mangelt es an Materialien und adäquaten Unterrichtsorten. Angestellte beklagen immer wieder ausstehende Lohnzahlungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Die Auswirkungen dieser Situation betreffen besonders die ärmeren Bevölkerungsteile, welche ihre Bildung in staatlichen Einrichtungen erhalten und in Krankheitsfällen auf die öffentlichen Gesundheitszentren und Krankenhäuser angewiesen sind. Die Gewerkschaften betonen, dass die Regierung selbst für die Krise verantwortlich ist, denn der Haushaltsetat für die beiden Sektoren wurde in den vergangenen Jahren immer weiter gekürzt. Die Bildungsausgaben sanken laut einer Analyse der unabhängigen Bürgerinitiative CESPAD (Centro de estudio para la democrática) von 32,9 Prozent des Haushaltes im Jahr 2010 auf 19,9 Prozent im Jahr 2019, im Gesundheitssystem sank der Anteil im selben Zeitraum von 14,3 Prozent auf 9,7 Prozent. Die ausufernde Korruption, die sich zum Beispiel in der Plünderung des Sozialversicherungsinstitut IHSS im Jahr 2015 zeigte, aus dem über 300 Millionen US-Dollar geraubt wurden, trägt ebenfalls zur Krise bei und führte seinerzeit zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Auch hohe Regierungsfunktionäre der Nationalen Partei (PNH) sollen in den Korruptionsskandal verwickelt sein.

Die Proteste gewinnen ihre Stärke durch Solidarität in der Bevölkerung


Die in den Gesetzesänderungen vorgesehenen Maßnahmen seien keine Lösung des Problems, sondern eine neoliberale Umstrukturierung nach den Wünschen des Internationalen Währungsfonds, betonen Vertreter*innen der Gewerkschaften. Pläne für diese Umstrukturierung stehen bereits seit dem Regierungswechsel nach dem zivil-militärischen Putsch von 2009 auf der Agenda und wurden von Hernández‘ Vorgänger im Präsident*innenamt Porfirio Lobo vorangetrieben. So soll unter anderem die öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung dezentralisiert und der Staat von seiner Verpflichtung befreit werden, der Bevölkerung diese grundlegenden Rechte zu garantieren. Dies sollen stattdessen die 298 Landkreise übernehmen. Aber die meisten haben weder die Kapazitäten, Personal dafür zu unterhalten, noch für die nötige Infrastruktur zu sorgen. So könnte die Verwaltung öffentlicher Einrichtungen an private Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen übergeben werden, welche Schulen und Krankenhäuser mit internationaler Finanzierung, zum Beispiel durch USAID, betreiben würden. Diese Maßnahmen scheiterten bisher jedoch unter anderem am Widerstand der organisierten Lehrer*innen. Das Umstrukturierungsgesetz und zusätzlich erlassene Notstandsdekrete, die laut Gewerkschaftler*innen den Abbau von Arbeitsrechten und Massenentlassungen mit sich bringen, werden auch als ein Versuch gewertet, die starke Organisation der Gewerkschaften zu untergraben, um den Widerstand gegen neoliberale Reformen zu brechen. So berichten Aktivist*innen über anhaltende Drohungen und Überwachung: streikendes Personal wird mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen unter Druck gesetzt und in Kommunikationsmedien und sozialen Netzwerken kommt es zu Diffamierungskampagnen.

Foto: Luis Méndez

Neben der selektiven Repression ist aber vor allem das brutale Vorgehen von staatlichen Sicherheitskräften und Militärs gegen die Proteste zu beobachten. Die Menschenrechtsorganisation COFADEH (Komitee der Familien von Verhafteten und Verschwundenen) dokumentierte alleine im Zeitraum von Mitte Mai bis zum 9. Juni 48 illegale Verhaftungen, drei Fälle von Folter, die gewaltsame Auflösung von 48 Demonstrationen und repressive Maßnahmen gegen 136 Protestaktionen. Am 19. Juni bestimmte der Nationale Rat der Verteidigung und Sicherheit den Einsatz des Militärs, um die Demonstrationen zu kontrollieren. Dies führte bereits zu drei Todesopfern und mehreren Verletzten durch Polizei und Militär. Am 24. Juni drangen Sicherheitskräfte von Polizei und Militär in die nationale Universität von Honduras in Tegucigalpa ein und verfolgten Studierende, die auf der Straße vor der Universität demonstrierten und sich mit den Bildungs- und Gesundheitsprotesten solidarisierten. Bei dem gewaltsamen und illegalen Eingriff in die Autonomie der Universität wurden fünf Studierende durch Schüsse der Polizei verletzt. Eine Eilmission von Amnesty International dokumentierte bis Anfang Juli acht Todesopfer und 80 Verletzte. Menschenrechtsorganisationen wie COFADEH, kritisieren zudem den massiven Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen, willkürliche Verhaftungen und das Einschleusen von Provoka­teur­*innen in Demonstrationen.

// Foto: Luis Méndez

Die landesweiten Proteste führten bereits wenige Wochen nach Verabschiedung zur Außerkraftsetzung der Notstandsdekrete, die die Gesetze zur Umstrukturierung begleiten sollten. Als Antwort auf den Druck der Straße rief die Regierung Lehrer*innen und Ärzt*innen zu einem Dialog auf. Die von der Regierung zum Dialog eingeladenen Personen waren allerdings keine Vertreter*innen der Plattform für die Verteidigung der Bildung und Gesundheit, sondern gelten als der Regierung nahestehende Personen. Um an einem Dialog teilzunehmen, fordert die Plattform unter anderem die Teilnahme aller in der Plattform vertretenen Organisationen am Dialog, das Ende der Repressionen gegen Lehrer*innen und Ärzt*innen, die Untersuchung der Todesfälle mit Gewalteinwirkung bei den Protesten und eine internationale Vermittlung. Dabei solidarisiert sich die Plattform auch mit anderen Kämpfen, wie der Forderung nach Demilitarisierung der Dörfer Guapinol, Pajuiles und Guadalupe Carney, die sich im Widerstand gegen verschiedene zerstörerische Megaprojekte, wie Bergbau und Wasserkraftwerke, in der Region befinden und sich ebenso mit den Aktionen der Plattform soldarisieren.

Der systematischen Abbau von Grundrechten seit 2009 führte zur Krise


Die Regierung lehnte die Punkte jedoch bisher ab. Deshalb rief die Plattform zu einem alternativen und breiten gesellschaftlichen Dialog auf, zu dem neben Gewerkschaften und sozialen und Basisorganisationen auch Regierungsvertreter*innen eingeladen wurden. Bei einem ersten Treffen am 18. Juni in der Hauptstadt Tegucigalpa nahmen Hunderte von Delegierten aus dem ganzen Land teil. Ziel des Dialoges ist eine Analyse der Stärken und Schwächen des nationalen Bildungs- und Gesundheitssystems und die Erarbeitung einer Strategie zu deren Verbesserung. Unterdessen nehmen die Proteste kein Ende, bis die umstrittenen Gesetze endgültig außer Kraft gesetzt werden. „Wir werden nicht aufhören, zu landesweiten Protesten zu mobilisieren“, erklärt Ligia Ramos, Sprecherin der Plattform gegenüber der Internatio­nalen Nahrungsmittelgewerkschaft Rel-Uita. „Wir müssen die Regierung dazu zwingen, diese Gesetze abzuschaffen und einem neuen Modell die Tür zu öffnen, das wir gerade gemeinsam mit der Bevölkerung entwickeln.“
Obwohl die Zustimmung für Hernández im Land selbst sehr gering ist, halten die USA und die Europäische Union weiter an ihrem Verbündeten fest. Die aktuelle Krise ist das Produkt des Bruchs der verfassungsmäßigen Ordnung durch den Putsch 2009 und dem seither stattfindenden systematischen Abbau von Grundrechten und zivil-gesellschaftlichen Handlungsräumen. Wie schon vor zehn Jahren, bleibt den Honduraner*innen nur der massive Protest auf der Straße. Und wie nach dem zivil-militärischen Putsch und dem Wahlbetrug von 2017 zeigt sich die internationale Gemeinschaft bisher gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in Honduras blind.

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