Honduras | Nummer 589/590 - Juli/August 2023

Abwanderung der Gehirne

Immer mehr Ärzt*innen verlassen ihr Land

In Deutschland herrscht seit Jahrzehnten ein Pflegenotstand, der zunehmend gravierender wird. Also wird Personal importiert, auch aus Lateinamerika. Das Beispiel Honduras zeigt, was die Abwanderung von jungen, hochmotivierten Ärzt*innen individuell und volkswirtschaftlich bedeutet.

Von Christof Wittwer

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In Honduras ist die öffentliche Gesundheitsversorgung katastrophal. Es fehlt an allem, von Medikamenten über funktionierende Geräte bis hin zu ausreichend Betten und Personal. Die Folgen davon bekommen in erster Linie die Patient*innen zu spüren, die auch teure Medikamente aus eigener Tasche bezahlen (sofern sie oder ihre Familie dazu in der Lage sind) und monatelang auf einen Termin für eine Fachärzt*innenbehandlung in den großen Städten warten müssen. Nicht alle Kranken überleben diese Tortur.

Aber auch Ärzt*innen leiden unter dem defizitären Gesundheitssystem. Sie klagen über zu viele Patient*innen, 24-Stunden-Schichten alle vier Tage im Sozialdienst, niedrige Löhne sowie erniedrigenden Umgang vonseiten ihrer Vorgesetzten. Oft muss das Gesundheitspersonal monatelang auf den Lohn warten. Manchmal ist es dann sogar notwendig, zu streiken, was das Leiden der Bevölkerung zusätzlich vergrößert.

„Das Gesundheitssystem von Honduras liegt mit einer negativen Prognose auf der Intensivstation“, ist das bittere Fazit der Koordinatorin der Studienrichtung Medizin der nationalen Universität in San Pedro Sula, Patricia Elvir.

Kein Wunder, dass die Ärzt*innen, die unter derart schwierigen Umständen Patient*innen behandeln müssen, frustriert sind. Zu den allgemeinen Problemen im System kommen die wenigen Chancen für eine Facharztausbildung. Es gibt nur ganz wenige Stellen für Fachärzt*innen im staatlichen Gesundheitssystem. Immer mehr junge Mediziner*innen, die vor Kurzem an der öffentlichen Universität UNAH promovierten, lernen jetzt Deutsch mit dem Ziel, möglichst bald in Deutschland eine Fachärzt*innenausbildung zu absolvieren und dann in einem Krankenhaus oder einer Klinik zu arbeiten.

Josué Pérez ist ein Arzt aus Santa Rosa de Copán im Westen von Honduras, der vor sieben Monaten den Schritt nach Deutschland gewagt hat. Zuvor führte er eine kleine Klinik für Familienmedizin in der Kleinstadt Quimistán. Am Humboldt-Institut in San Pedro Sula erwarb er das B2-Deutschzertifikat und ist zur Zeit im Approbationsverfahren in Essen. „Schon als Kind wollte ich in einem hochentwickelten Land studieren. Mein Ziel ist es, möglichst bald die Facharztausbildung in Neurochirurgie zu beginnen“, erklärt der 32-Jährige. Rückkehr nach Honduras? Wohl nie mehr. „Meine Frau ist auch Ärztin, wir wollen langfristig in Deutschland bleiben und die Chancen hier nutzen“, fasst Josué zusammen.

Josué ist bei Weitem nicht allein: Die Bundesärztekammer registrierte Ende 2022 insgesamt 121 zugelassene Ärzt*innen aus Honduras, ein Plus von 23,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es darf davon ausgegangen werden, dass ihre Zahl in Zukunft weiter steigen wird, denn Dutzende Mediziner*innen aus Honduras befinden sich bereits im Approbationsverfahren, andere sind jetzt auf dem Sprung nach Deutschland.

Ärzt*innen und Pflegepersonal werden aktiv aus Deutschland angeworben

Wer über das notwendige Geld verfügt, wird bei der Einwanderung nach Deutschland von einer Agentur wie Intermed Personal GmbH in Wuppertal umfassend betreut. Ihre Website ist auf Pflegekräfte, besonders Krankenpfleger*innen aus Honduras, spezialisiert und spricht interessiertes „personal de salud“ (Gesundheitspersonal) direkt auf Spanisch an, während die Sektion „Arbeitgeber“ gut ausgebildetes und zuverlässiges Pflegepersonal auf Deutsch anbietet. Patricia Schuler-Hoffmann ist die Geschäftsführerin. In Honduras aufgewachsen, kennt sie die Mentalität und die Schwierigkeiten ihrer Klientel: „Honduraner*innen sind freundlich und empathisch, gut vorbereitet und motiviert. Deshalb kommen sie hier bei Kolleg*innen und Vorgesetzten gut an. Es gibt natürlich auch Schwierigkeiten bei der Integration wie die Sprache, niedriges Selbstbewusstsein und Probleme im Umgang mit der Technologie. Unsere Agentur hat bisher rund 40 Personen aus Honduras hier in Wuppertal vermittelt, 30 Pflegekräfte und zehn Ärzt*innen inklusive ihrer Angehörigen, aber wir könnten leicht das Zehnfache vermitteln.“

Deutschland braucht dringend Pflegekräfte: Laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln gab es 2022 über 200.000 offene Stellen im Pflegebereich; bis 2030 soll diese Zahl sogar auf 500.0000 steigen. 14 Prozent aller Ärzt*innen in Deutschland haben schon jetzt ausländische Wurzeln, infomiert die Bundesärztekammer.

In der deutschen Humanmedizin herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Ende August 2022 meldete die Bundesagentur für Arbeit 2.300 unbesetzte Stellen für Mediziner*innen, also durchschnittlich vier pro Krankenhaus. Von den 421.000 praktizierenden Ärzt*innen in Deutschland ist ein Drittel bereits über 55 Jahre alt und wird in absehbarer Zeit in Rente gehen. Der demografische Wandel führt gleichzeitig zu einer Zunahme von Krankheiten wie Diabetes, Krebs und Demenz. Diese Kombination ist ein perfekter Sturm, der Deutschland heimsuchen wird.

Das weiß auch die Bundesregierung, die seit einem Jahrzehnt mit der Website „Make it in Germany“ gezielt Ingenieur*innen, IT-Spezialist*innen, Naturwissenschaftler*innen, Handwerker*innen – und eben auch Ärzt*innen und Pflegekräfte anwirbt. „Als ich zum ersten Mal diese Seite ansah, glaubte ich, dass ich träume“, erinnert sich Karen Baide, eine 52-jährige Anästhesistin aus San Pedro Sula und zweifache Mutter. „In einem modernen Gesundheitssystem zu arbeiten, mich weiterzubilden, die Lebensqualität Deutschlands, das ist mein Wunsch. Deutschland braucht mich, hier in Honduras ist alles viel zu kompliziert.“ Ursprünglich wollte sie nach Kanada auswandern, entschied sich jedoch 2019 für Deutschland. Karen lernte erst online Deutsch und zertifizierte sich auf dem Niveau B1, bevor sie im Januar dieses Jahres nach Berlin reiste, um sich intensiv auf die B2-Prüfung vorzubereiten und erste Kontakte zu knüpfen.

Mit dem Zertifikat in der Tasche erkundigte sie sich vor Ort über die nächsten Schritte, also die Fachsprachprüfung, das Approbationsverfahren und natürlich die Jobchancen auf ihrem Gebiet. „Ich habe 20 Jahre Erfahrung als Anästhesistin, aber in Honduras bin ich Freelancerin ohne jede Jobsicherheit und völlig von den operierenden Chirurgen abhängig. Oft bekomme ich mein Honorar nicht, weil die Klinik argumentiert, dass der Patient nicht bezahle. Es fehlt teilweise sogar in privaten Kliniken am nötigen Zubehör. Ich habe das honduranische Gesundheitssystem satt. Gesundheit ist hier ein Geschäft, keine Dienstleistung.” Karen ist eine Kämpferin, die sich aus einfachen Verhältnissen und unter großen persönlichen Opfern zur Fachärztin heraufgearbeitet hat. Sie ist sicher, ihren Weg in Deutschland zu finden, obwohl sie deutlich älter ist als die meisten emigrierenden Mediziner*innen. Ende dieses Jahres will sie sich in Deutschland niederlassen.

Der massive Exodus junger, gut ausgebildeter Ärzt*innen überrascht Patricia Elvir von der Nationalen Universität UNAH in San Pedro Sula nicht. „Wir sind stolz auf unsere Mediziner*innen, die überall gut ankom´men. Als Dozentin inspiriere ich meine Student*innen, sich weiterzubilden, auch im Ausland. Sie sollen jedoch ihr Heimatland und ihre Leute nicht vergessen, sondern durch ihre Kenntnisse und Ausrüstung unterstützen.“ Aber sie ist sich bewusst, dass die Allermeisten nie zurückkehren werden: „In Honduras gibt es keine soziale Gerechtigkeit, keine Sicherheit und keine Chancen.“ Auf die Frage, ob irgendwann Ärzt*innen in Honduras fehlen werden, antwortet Elvir kategorisch: „Unmöglich! Es gibt zwei Universitäten, die in Tegucigalpa und San Pedro Sula Mediziner*innen ausbilden.“

Zur Zeit gibt es nur 0,5 Ärzt*innen pro 1.000 Honduraner*innen bei nur acht Krankenhausbetten für dieselben 1.000. In Deutschland kümmern sich fast neunmal mehr Ärzt*innen um dieselbe Anzahl Patient*innen – und es gibt über 13 Mal mehr Krankenhausbetten als in Honduras. Damit steht Deutschland im Index der menschlichen Entwicklung auf Position 9 von 188 Ländern − und Honduras an 137. Stelle.

Honduras bildet aus, Deutschland profitiert

Der Demograf und Universitätsdozent Nelson Raudales ist Autor einer 2013 erschienenen Studie zum Thema „Brain Drain aus Honduras“. Diese hält fest, dass zwischen 1996 und 2010 rund 25.000 Akademiker*innen ins Ausland emigrierten. Allein die volkswirtschaftlichen Kosten dafür beziffert Raudales mit 17 Milliarden Dollar, also zwischen fünf und sieben Prozent des damaligen Bruttoinlandsproduktes von Honduras. Ein extrem hoher Preis für ein Entwicklungsland, ein tolles Geschäft für die Empfängerländer? „Honduras investiert in die Ausbildung dieser hochqualifizierten Migrant*innen, die ihr Talent dann in den Empfängerländern anwenden und dort Mehrwert schaffen. In dieser Hinsicht verliert Honduras ganz klar. Dieses Phänomen wird hier jedoch unterschätzt, denn die Migration war schon immer ein Druckventil für Honduras, weil viele Auswander*innen ihren Familien remesas (Geldsendungen) schicken“, erläutert Nelson Raudales. Diese remesas waren 2022 laut der honduranischen Nationalbank mit fast sieben Milliarden Euro für gut ein Viertel des Bruttosozialproduktes verantwortlich und halten das Land sprichwörtlich am Laufen. Je schwieriger die wirtschaftliche Lage, desto stärker steigen die remesas, nämlich 17,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Lücke wird größer

Wie alle Interviewten versteht Nelson Raudales die Akademiker*innen, die Honduras auf der Suche nach Chancen verlassen. Auch er hält den Wissens- und Technologietransfer für eine Utopie. „Honduras fällt zurück, während die hochentwickelten Länder im Norden wachsen“.

Diese Lücke wird immer größer. Noch ist der Mangel an Fachkräften in Honduras und die sinkende Wettbewerbsfähigkeit praktisch kein Thema, aber das kann sich in Zukunft ändern: Laut dem Ökonomen Rafael Delgado verurteilt die Abwesenheit hochgebildeter Personen das Land zu mehr Armut, denn es gibt wenig technologische und wissenschaftliche Entwicklung, geschweige denn daraus entstehende Unternehmen und Patente. „Das Wissen ist heutzutage einer der wichtigsten Produktionsfaktoren.“

Aber alle diese abstrakten Bedenken werden auch in Zukunft niemanden aufhalten, der*die in Honduras keine professionelle und persönliche Zukunft sieht, besonders die Hochgebildeten mit einer klaren Vision. ¡Adiós cerebros! – Lebt wohl, Spitzenkräfte!

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