Die Mantras der neoliberalen Ökonomie müssen weg
Interview mit Herausgeberin und Autorin eines Buches zu 50 Jahren “Neue Weltwirtschaftsordnung”
Warum ist es für Aktivist*innen heute überhaupt von Interesse, sich mit den historischen Ansätzen für eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu beschäftigen?
AV: Es gibt viele Gründe, aber heute sind zwei Aspekte wichtig. Erstens: 1974 ist ein erster alternativer Globalisierungsentwurf entstanden und das auf der hohen diplomatischen Ebene der UN-Vollversammlung. Zweitens wurde gefordert, dass es eine stärkere Planung und Regulation des Welthandels geben sollte. Auch jetzt sieht man bei vielen Staaten, dass sie wieder stärker in die Wirtschaft eingreifen wollen.
Vor 50 Jahren waren diese Ideen schon mal da, aber damals sollte die Intervention viel stärker auf internationaler Kooperation basieren. Es sollten Gremien gebildet werden, die auf einer gleichberechtigten zwischenstaatlichen Ebene aushandeln sollten, wie Welthandel und Produktion in den Dienst der Gesellschaften gestellt werden könnten. Die Initiative ging von Regierungschefs aus und viele von ihnen waren nicht demokratisch legitimiert, damals wie heute.
Welche Rolle spielten die lateinamerikanischen Beiträge zu Abhängigkeit und Unterentwicklung („Dependencia“) in jener Zeit?
AV: Der argentinische Ökonom Raúl Prebisch hat hier eine zentrale Rolle gespielt, da er schon früh die Terms-of-Trade-Problematik beschrieben hatte (in den 1950er Jahren: den ungleichen Tausch von Rohstoffen und Industrieprodukten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, Anm. d. Red). Das Faszinierende an seiner Person ist, dass er zu so hohen Ämtern gekommen ist, bis hin zum Generalsekretär der UNCTAD, und dort tatsächlich ein konkretes politisches Programm umsetzen konnte. Der Beitrag von lateinamerikanischen Denkern wurde in Afrika und Asien aufgegriffen und weiterentwickelt.
Es bedarf auch heutzutage dringend einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Weshalb hilft dabei der Rückblick?
ML: Einerseits hat die neoliberale Globalisierung Asymmetrie und Ungleichheit noch verschärft. Das Gerechtigkeitsargument greift heute mehr denn je. Es ist unsere derzeitige Weltwirtschaftsordnung, die die drängenden Probleme der Menschheit wie den Klimawandel verschlimmert. Wir treiben viel zu viel Welthandel, der nur dem Wirtschaftswachstum dient. Güter, die lokal produziert und gehandelt werden könnten, werden unter enormem Energieverbrauch hin und her geschifft.
Die Weltwirtschaftsordnung zeigt, dass wir unfähig sind, diese drängenden Probleme in Angriff zu nehmen, deswegen müssen wir alles dafür tun, sie zu ändern.
Welche Elemente von NWWO und Dependenztheorie sind heute noch von Bedeutung?
ML: Es gibt heute Berechnungen aus der ökologischen Ökonomie, wer wem wieviel schuldet, wie diese Terms-of-Trade-Geschichte sich in Zahlen niederschlägt. Und das ist hochaktuell! Wir sehen außerdem am Beispiel von Donald Trump, dass er ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass Protektionismus ein Recht der mächtigen Staaten ist, während die Schwachen zum Freihandel gezwungen werden können. Auch an diesem Verhältnis hat sich wenig geändert. Es ist immer noch so, dass der Süden den Norden entwickelt.
Es gibt aber sicher auch Bestandteile der Dependenztheorie, die im Zeitalter der Klimakrise veraltet sind, oder?
ML: Was aus heutiger Perspektive anders gedacht werden muss, ist, dass die Dependenztheoretiker damals das Recht auf „Entwicklung“ eingeklagt haben, also auf Wirtschaftswachstum und Industrialisierung. Heute wissen wir, dass dort, wo sich der globale Süden industrialisiert hat, das nicht unbedingt zu einem guten Leben für alle beigetragen hat, sondern zu mehr Ungleichheit innerhalb dieser Länder. Es sind besonders die schmutzigen, arbeitsintensiven oder krankmachenden Produktionsprozesse, die in den Süden ausgelagert wurden, während der Norden auf Hochtechnologie und Hochlohnproduktion gesetzt hat. Das setzt sich fort, wenn China heute bestimmte Produktionsprozesse nach Afrika verlagert, weil sie besonders schmutzig sind. Dass Industrialisierung der Königsweg ist, um ein besseres Leben für die Bevölkerung zu erreichen, muss aus heutiger Sicht in Frage gestellt werden.
Die Dependenztheorie hielt Industrialisierung für unabdingbar, oder?
AV: Die Dependenztheorie war ja auch eine Modernisierungstheorie in dem Sinn, dass es darum ging, dem Beispiel des Nordens nachzueifern, und zwar durch den Abbau und Export von Rohstoffen. Es ist inzwischen deutlich geworden, dass dieser sogenannte Extraktivismus verheerende Umweltschäden verursacht. Die Autorin Melanie Pichler macht in ihrem Beitrag zu unserem Buch „Von ökologisch ungleichem Tausch zu Postwachstum“ einen sehr guten weiteren Punkt. Sie sagt, Einsparungen von CO2 müssen vor allem im globalen Norden stattfinden, um einen Raum zu schaffen für eine wirtschaftliche Entwicklung im globalen Süden, die sicher auch noch ein gewisses Maß an Industrialisierung mit sich bringt. Die Unterschiede sind so groß, dass dafür noch Raum sein muss. In diesem Zusammenhang stellt sich aber auch die Frage, ob nicht auch China – das sich selbst weiterhin zum globalen Süden zählt – ebenfalls Einsparanstrengungen zugunsten anderer Gesellschaften unternehmen müsste. Trotzdem sind im Norden Einsparpotenziale vorhanden, die dem Süden Spielraum für weitere Entwicklung lassen könnten.
ML: Aus meiner Perspektive gehört China überhaupt nicht mehr zum globalen Süden. Es ist einfach das Vorzeigebeispiel, das der Norden immer benutzt, um zu zeigen, dass der Süden sich eben doch „entwickeln“ kann. Geopolitisch und in der Weltwirtschaft spielt China ja heute eine ganz andere Rolle und gehört auch zu den Ländern, die ihre sozialen und ökologischen Kosten anderswohin externalisieren. Ich bin natürlich damit einverstanden, dass die Einsparungen vor allen Dingen im Norden stattfinden müssen, aber das führt uns wieder auf unser Ausgangsthema zurück: Wenn wir es nicht schaffen, die globalen Regeln gerechter zu gestalten und wirklich strukturelle Veränderungen im internationalen Finanzsystem und im Handel zu erreichen, dann nützt ein solcher „Raum“ den Ländern des Südens überhaupt nichts, er würde lediglich zu Rezession führen.
In Lateinamerika werden bekanntlich „Alternativen zur Entwicklung“ diskutiert …
ML: Genau, und eben nicht ein anderer Weg der Entwicklung. Das ist ein entscheidender Unterschied. Dabei kommen andere Paradigmen ins Spiel, die der riesigen kulturellen und zivilisatorischen Diversität dieses Kontinents Rechnung tragen. Gedanken wie das buen vivir aus indigenen Gesellschaften erhalten Gewicht. Das Ziel ist eben nicht Wachstum und Akkumulation, sondern im Gleichgewicht miteinander und mit der Umwelt zu leben. Das kann zu unserer heutigen Nachhaltigkeitsdiskussion sehr viel beitragen. Im Angesicht von Klimawandel, massivem Artensterben und drohendem ökologischem Kollaps brauchen wir ein Umsteuern, das über dieses „Wir wollen auch Wachstum“ hinausgeht. Heute ist es für Länder des Südens nicht mehr wirklich möglich, auf denselben Weg zu setzen wie die kapitalistischen Zentren.
Lateinamerika positioniert sich gerade in einer multipolaren Welt neu. Lulas Brasilien in den BRICS; die Länder des Mercosur zeigen wenig Begeisterung, sich über ein Handelsabkommen einseitig an die EU zu binden; überall sieht man ein stärkeres Engagement mit China. Bereiten die Länder Lateinamerikas damit eine Basis für eine Neue Weltwirtschaftsordnung vor oder reproduziert der Handel mit China nur das alte Schema der Abhängigkeit?
AV: Es gibt oft diesen Vergleich zwischen der Bewegung der blockfreien Staaten vor 50 Jahren, die die NWWO vorangetrieben hat, und dem BRICS-Staatenbündnis von heute. Da gibt es Parallelen, aber ein Aspekt ist wichtig: Der Prozess, der zur NWWO geführt hat, war damals ganz anders strukturiert. Er begann mit Wissenschaftlern, die sich darüber Gedanken gemacht haben, wie die Weltwirtschaft und internationale Zusammenarbeit strukturell anders ausschauen können. Zudem war er flankiert von sozialen Bewegungen in Nord wie Süd. Das hat ausgestrahlt in die sozialdemokratischen Regierungen in Europa und wurde letztlich übersetzt auf die Ebene internationaler Organisationen, wo fast alle Staaten Mitglied waren. BRICS ist heute viel stärker top-down und hat keinen Anspruch, den Handel selbst neu zu strukturieren. Es hat eigentlich eher den Anspruch, für bestimmte Staaten mehr Mitspracherecht und mehr Handelsvorteile rauszuholen, aber eben keine globalen Strukturveränderungen.
ML: Ein kurzer Blick in die jüngere lateinamerikanische Geschichte ist lehrreich, die Rolle Brasiliens während der „progressiven Hegemonie“, die ungefähr zehn Jahre gedauert hat (2005 bis 2015). Da gab es sehr interessante Vorschläge für eine lateinamerikanische Integration, die eine teilweise Abkopplung vom Weltmarkt bedeutet hätte, mit eigenen digitalen Zahlungsmitteln. Die „Bank des Südens“ sollte ganz andere Projekte finanzieren als eine klassische Entwicklungsbank. Es ging um Ernährungssouveränität, um Gesundheitssouveränität, also eigene pharmazeutische Produktion, und Energiesouveränität. Mit dem Motto der Souveränität ging es eben nicht um „Entwicklung“ und Teilhabe am Welthandel. Brasilien war jedoch letztendlich der Gigant in Lateinamerika, der dann dem Rest der Länder den Rücken zugewandt und lieber darauf gesetzt hat, selbst in den Rang der Weltmächte aufzusteigen. Die brasilianische Entwicklungsbank oder auch die Entwicklungsbank der BRICS sind heute vollkommen konventionelle Entwicklungsbanken, die strukturell nichts verändern. Lateinamerika erlebt auch die Abhängigkeit von China in Bezug auf Finanzierung, Infrastruktur und Handel nicht wesentlich anders als die von Europa oder den USA.
Miriam, in Deinem Beitrag zu dem Buch kritisierst Du mit Ulrich Brand den „staatlichen Steuerungsoptimismus“ der NWWO. Was meint Ihr damit und welche anderen Wege müssen hin zu einer neuen, ökologisch und sozial gerechten Weltwirtschaftsordnung begangen werden?
ML: Es gibt ja häufig die Hoffnung, dass Politik, Regierung und Staat alles regeln werden. Dass nur ein bisschen mehr politischer Wille notwendig ist, um etwas grundlegend zu ändern. Das ist ein Trugschluss. Die Kräfteverhältnisse, die in einer Gesellschaft vorherrschen, finden sich auch im Staat wieder. Die lateinamerikanischen Staaten sind von ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Verfasstheit und ihrer politischen Kultur her anders als die europäischen. Hier muss man die alles durchdringende Kolonialität immer als Faktor einbeziehen. Es ist immer noch so, dass eine der Hauptaufgaben staatlicher Steuerung hier die Kanalisierung der Rohstoffe in die kapitalistischen Zentren ist. Statt auf staatlichen Steuerungsoptimismus und von oben reformierte globale Institutionen zu setzen, muss man den Weg hin zur neuen Weltwirtschaftsordnung immer multiskalar denken. Das heißt, es hängt sehr stark daran, was in nationalen Gesellschaften als akzeptabel angesehen wird, welche Kämpfe dort ausgefochten werden und wie sich das auf internationale Verhältnisse auswirkt. Es spielen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse auf verschiedenen Ebenen eine Rolle, die nicht einfach ausgeblendet werden können. Das sind strukturelle Hindernisse, die man nicht einfach mit politischem Willen wegräumen kann.
Miriam, du bist Erstunterzeichnerin des Ökosozialen und Interkulturellen Pakt des Südens. Welche Rolle können Bewegungen in Lateinamerika heute für eine ökologisch und sozial gerechte Weltwirtschaftsordnung spielen?
ML: Wir stehen vor der Aufgabe, einen tiefgreifenden kulturellen Wandel herbeizuführen, indem wir uns vor allen Dingen von diesen Mantras der neoklassischen Ökonomie verabschieden: vom Wachstumszwang, vom Entwicklungszwang, von der Zentralität dieser ökonomischen Sichtweise für die Politik. Das heißt, unsere neue Organisationsachse, unsere gesellschaftliche Orientierung sollte der Erhalt des komplexen Lebensgeflechts Erde sein, von dem wir ja als Menschen nur ein Teil sind. So ein tiefgreifender kultureller Wandel geht nur über gesellschaftliche Organisierung und Mobilisierung. Wir haben Ansätze wie die Care-Ökonomie, um zum Beispiel Arbeit neu zu denken. Das sind Ansätze eines anderen Miteinanders und nicht top-down. Vergangenen August wurde in Ecuador per Referendum von knapp zwei Dritteln der Bevölkerung entschieden, dass Ölförderung und Bergbau nicht mehr die Zukunft des Landes darstellen. Das ist eine sehr wichtige demokratische Entscheidung, die durch soziale Mobilisierung geschafft wurde, durch eine ganz breite Kampagne in vielen Städten, sehr dezentral. Die Leute haben die Sache selbst in die Hand genommen, in Schulen, in Betrieben, in Stadtversammlungen. Das ist ein Hoffnungsschimmer, hoffentlich schaffen es auch andere Gesellschaften auf der Angebotsseite, dem Rohstoffhandel einfach den Hahn abzudrehen. Das würde starke Einschnitte in die Weltwirtschaft nach sich ziehen. Wir dürfen diese sozialen Bewegungen nicht nur national denken, wir brauchen auch dringend Süd-Süd Bündnisse und ein neues Nord-Süd-Verständnis von Solidarität, das die Prozesse rund um Energiewende und Klimaschutz durch globale Gerechtigkeit verändern muss.
Miriam Lang ist Soziologin, Lateinamerikanistin und Aktivistin. Sie arbeitet als Professorin am Fachbereich für Umwelt und Nachhaltigkeit an der Universidad Andina Simón Bolívar in Ecuador und ist Mitglied im Ökosozialen und Interkulturellen Pakt des Südens.
Alex Veit hat als Akademischer Rat an der Universität Bremen im Bereich Internationale Beziehungen mit einem Schwerpunkt auf Süd-Nord-Beziehungen gelehrt und geforscht. Seit November 2023 ist er Redakteur für Nachhaltigkeitsthemen bei Table.Media in Berlin.