Giammatteis Vermächtnis

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Protest in Berlin Demo zum Amtsantritt der Regierung Giammattei im Jahr 2020 (Foto: Marcus Tragesser)

Im März hat das oberste Verfassungsgericht Guatemalas die Präsidentschaftskandidatur von Thelma Cabrera, der indigenen Anführerin der Volksbefreiungsbewegung (Movimiento para la liberación de los pueblos), und ihres Genossen Jordán Rodas, dem ehemaligen Staatsanwalt fur Menschenrechtsverteidigung, definitiv abgelehnt. Mit diesem Ereignis geht die Ära einer Regierung zu Ende, deren Politik eine Zunahme von staatlicher Gewalt, Extraktivismus sowie Korruption und Straflosigkeit bewirkt hat. Dies hat ständige Angriffe auf das demokratische System bedeutet. Die Wahlbehinderung zeigt sich dabei als letzte Phase der Entleerung der Garantiefunktion der demokratischen Institutionen.

Im Zuge der Gesundheitskrise zeigten die Unregelmäßigkeiten bei der Vergabe von Führungspositionen im Justizapparat deutlich die Unterordnung der Justiz unter die politische Macht der Regierung.
Angesichts der zahlreichen Mobilisierungen im ganzen Land ist die Wiederwahl von Dina Josefina Ocha und des Rechtsanwalts Luis Rosales Marroquín in das Verfassungsgericht im März 2021 ein Hinweis auf die Weigerung der Regierung, sich gegen Korruption und Straflosigkeit zu engagieren. Während Ocha beschuldigt wurde, mehrere Korruptionsfälle zu decken und die Beendigung der Mission der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) voranzutreiben, war Marroquín jahrelang der Verteidiger des ehemaligen Diktators Efraín Rios Montt. Wegen des Genozides gegen das Maya-Volk der Ixil in der Region Quiché wurde Ríos Montt verurteilt, dann aber in letzter Instanz für unschuldig erklärt.

Die Bestätigung von Consuelo Porras als Leiterin der Generalstaatsanwaltschaft im Mai 2022 spiegelt angesichts ihres Engagements gegen bestimmte Jurist*innen, die sich im Kampf gegen die Mafia engagiert haben, die Verbreitung von Korruption und Straflosigkeit wider. Andere Missstände zeigten sich bei der Wahl der Richter*innen des Obersten Gerichtshofs, beispielsweise bei der Kandidatur von Blanca Aída Stalling Dávila. Sie kam dem Gesetz nach nicht für eine zweite Amtszeit in Frage, zudem ermittelte die CICIG gegen sie wegen der Ausübung von Drucks auf die Justiz, um den Freispruch ihres Sohnes zu erreichen, gegen den wegen Bereicherung bei der Sozialversicherungsbehörde ermittelt wurde. Die Kooptierung der Justizorgane sowie der Wahlbehörde hat die aktuelle politische Konstellation begünstigt. In ihr spielen mehrere bekannte Persönlichkeiten eine Rolle, die beispielhaft für die Straflosigkeit stehen, die die guatemaltekische Politik in der Vergangenheit gekennzeichnet hat.

Die drei wichtigsten Präsidentschaftskandidat*innen – Zury Ríos für die Partei VIVA, Tochter des ehemaligen Diktators Ríos Montt, Sandra Torres für die Partei UNE, Exehefrau von Präsident Alvaro Colom Caballeros und nicht zuletzt Edmondo Mulet für die Partei CABAL – wurden alle der Verbindungen zum organisierten Verbrechen beschuldigt. Unabhängig davon bilden die politischen Profile der drei Kandidat*innen ein breites Spektrum von rechtsextrem bis moderat ab.

Die Kooptierung von Justizorganen und Kontrollinstitutionen ist jedoch nur eine der vielen Hinterlassenschaften der Regierung Giammattei. Während seiner Amtszeit war das Land nicht nur von einer Reihe von Maßnahmen betroffen, die unter dem Deckmantel der pandemischen Krise unangemessene Härten und Ungleichheiten verschärft haben, wie etwa dem ständigen Ausnahmezustand. Es kam auch zu einer Gewaltspirale, die unter dem Vorwand des Wirtschaftswachstums und der industriellen Entwicklung zum Verschwinden vieler indigener Gemeinschaften geführt hat.

#Wo ist das Geld hin?

Die Handhabung der Gesundheitskrise war durch einen Mangel an Impfstoffen und die Notlage eines zusammengesparten, unzureichend ausgestatteten öffentlichen Apparates gekennzeichnet. Dies bildete den Hintergrund für die zahlreichen Proteste, die die zu Ende gehende Legislaturperiode prägten. Um die Pandemie in den Griff zu bekommen, suchte die Regierung ihr Heil in einer zunehmenden Verschuldung. Die Weltbank bewilligte für den Zeitraum 2020-2022 ein Darlehen in Höhe von 750 Millionen US-Dollar, um die Effekte der Krise auf die besonders bedürftige Bevölkerung abzumildern und das Wirtschaftswachstum zu fördern. Hinzu kamen noch Darlehen anderer Institutionen wie des Internationalen Währungsfonds. Nach Angaben des Finanzministeriums liegt die Staatsverschuldung nun bei 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wenige Monate nach dem Beginn der Pandemie forderten Proteste einer Bewegung unter dem Motto #dondeestaeldinero („Wo ist das Geld hin?“) den Rücktritt der Regierung und Klarheit über die Verwendung der Darlehen zur Linderung der Gesundheitskrise.

Wahrend es keine Aufklärung über die Verwendung der Covid-Kredite gegeben hat, besteht Gewissheit über die Zunahme der Gewalt gegen indigene Gemeinschaften durch die extraktivistische Politik. Die Beobachtungsstelle für die Bergbauindustrie berichtet von einem enormen Wachstum der Bergbauaktivitäten: Im Vergleich zum Vorjahr wurden allein 2023 mehr als 40 Anträge und vier neue Konzessionen registriert. Parallel dazu wurden neue Behörden gegründet, deren Ziel es ist, Enteignungen zu ermöglichen und das Privateigentum zu stärken. Zu diesen Institutionen gehören die Vereinigung zur Verteidigung des Privateigentums (ACDEPRO) und die Staatsanwaltschaft für widerrechtliche Aneignungen. Angesichts der derzeitigen Lage kann man in Guatemala schwerlich von demokratischen Wahlen reden. Unregelmäßigkeiten bei der Zulassung der Präsidentschaftskandidat*innen sowie die offensichtliche und eklatante Ausschaltung der Opposition aus dem Wahlkampf sind Merkmale für Wahlbetrug. Durch die Kooptierung der Institutionen hat die Regierung Giammattei das perfekte Klima geschaffen, um unter dem Deckmantel der Straffreiheit und der Korruption zu regieren. Kann man in einem Land noch von Demokratie sprechen, wenn die demokratischen Institutionen ihrer primären Funktion, des Schutzes der Verfassung, beraubt worden sind? Die derzeitige politische Konstellation erinnert eher an die Durchsetzung einer Diktatur unter dem Deckmantel der Demokratie.

In diesem Rahmen zeigt sich die Zukunft voller Ungewissheit, was die Widerstandsfähigkeit der Demokratie im Lande betrifft. Angesichts dieses Panoramas ist die Wahl der Parlamentsabgeordneten wahrscheinlich die einzige Maßnahme, um damit beginnen zu können, diesen Prozess wieder umzudrehen. Die solidarische internationale Begleitung ist heute so wichtig wie nie zuvor.

Schweres Erbe aus 12 Jahren Diktatur

Große Baustellen und wenig Unterstützung Xiomara Castro steht vor einigen neuen Aufgaben (Foto: Jorge Cabrera/Contracorriente, Licencia de Producción Pares)

14 Monate nach ihrem Amtsantritt gehört Castro mit einer Zustimmung von über 60 Prozent noch zu den populäreren Präsident*innen der Region. Der erhoffte sozialdemokratische Wandel steht jedoch weiterhin vor großen Herausforderungen: Zwischen 2011 und 2022 sind die Auslandsschulden laut honduranischem Finanzministerium von 4365 Mio. USD auf rund 9540 Mio. USD gestiegen, das entspricht etwa 56,7 Prozent des BIP. Dazu kommen die verkrusteten sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, die Auswirkungen der weltweiten Rezession und nicht zuletzt eine reaktionäre parlamentarische Opposition.

Maßnahmen wie Gratis-Strom für 1,3 Millionen Mindestverbraucher*innen, die temporäre Subvention des Diesel-Preises und die Erhöhung der Budgets für Gesundheit und Bildung kommen von Armut betroffenen Menschen direkt zugute. Doch Projekte wie die Abschaffung der Sonderwirtschaftszonen ZEDE, die Amnestie für politische Gefangene und die Anerkennung der sogenannten „Märtyrer“ der Proteste nach den Wahlbetrügen von 2014 und 2017, sind in erster Linie Teil einer Symbolpolitik. Für die große Mehrheit der Bevölkerung sind diese Maßnahmen zu abstrakt.

Xiomara Castro hat ein hochverschuldetes und praktisch bankrottes Land übernommen. Die Inflationsrate, die laut der honduranischen Zentralbank bei 9,8 Prozent liegt, sorgt zudem für ansteigende Kosten: Das ganze Land ächzt unter den hohen Lebensmittelpreisen. Allein die 30 wichtigsten Nahrungsmittel für eine fünfköpfige Familie kosten im Monat mehr als der Mindestlohn von 11.365 Lempiras, umgerechnet 405 Euro. „Die Lebensmittelpreise sind extrem hoch. Ein Ei kostet jetzt sieben Lempiras (0.25 Euro), vor einem Jahr kostete es die Hälfte. Wir essen oft nur zweimal am Tag, weil unser Einkommen einfach nicht reicht“, sagt Juana Portillo. Sie ist 33 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern im „Sector Rivera Hernández“, einem marginalisierten Viertel in der Nähe des Flughafens San Pedro Sula im Norden von Honduras.

Preiskontrolle? Agrarreform? Weitergehende Subventionen? Leider Fehlanzeige. Zu stark ist die Vorherrschaft der Oligarchie, die aus Vertreter*innen von Großgrundbesitz, Importgeschäft, Stromproduktion, Handel, Industrie und Medien besteht. Auch die katholische Kirche beschränkt ihr Engagement auf den Erhalt des Status Quo.

Nach 132 Jahren konnte Castros Regierungspartei Libertad y Refundación (LIBRE) mit einem fortschrittlichen Programm die Dominanz der beiden großen Parteien Partido Nacional (PN) und Partido Liberal (PL) brechen. Für die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, ein konkretes Vorhaben von LIBRE, reicht der Rückhalt im Parlament jedoch nicht. Vor allem seitdem die parlamentarische Allianz mit der rechten Protestpartei Salvador de Honduras (PSH) des populären Fernsehmoderators Salvador Nasralla zerbrochen ist. Die ideologischen Differenzen zwischen ihm und Castro waren unüberwindbar.

Aber auch innerhalb der Regierung gibt es ideologische Gräben: Während der Debatte um die Steuerreform, die insbesondere Steuerbefreiungen für große, rentable Korporationen der Oligarchie aufheben soll, gerieten der Vorsitzende der honduranischen Steuerbehörde (der LIBRE-Mitglied ist), der Entwicklungsminister, der ehemalige Chef einer Arbeitgeberorganisation und ein PSH-Mitglied öffentlich aneinander und beschimpften sich als „Radikaler“ und „Verräter“. Dabei ist klar, dass die Regierung dringend Einnahmen benötigt, um die Funktionen des Staates aufrechtzuerhalten und Infrastrukturprojekte und soziale Programme für die wachsende Zahl armutsgefährdeter Personen finanzieren zu können. Laut dem Direktor der honduranischen Steuerbehörde SAR entgingen dem Staat allein 2022 über 2,4 Milliarden USD durch Steuerbefreiungen.

„Die Menge an Problemen kennt keine Grenzen“, fasste die sichtlich frustrierte Präsidentin die Situation kürzlich zusammen. Korrekturen führten oft ebenfalls zu Problemen. Weil der Medikamenteneinkauf des Gesundheitsministeriums strukturell von Korruption durchzogen war, wurde der Vorgang komplett geändert – mit dem Resultat, dass aktuell elementare Arzneimittel in den öffentlichen Krankenhäusern und Gesundheitszentren fehlen. Zudem konnte das Versprechen der Vorgängerregierung nicht eingehalten werden, das gesamte Gesundheitspersonal, das an erster Stelle und ohne ausreichenden Schutz gegen Covid-19 gekämpft hatte, fest anzustellen. Dazu fehlt schlicht das Geld. Viele weitere Sektoren fordern Lohnerhöhungen und Anstellungen in der öffentlichen Verwaltung.

Seit den Wahlen Ende 2021 verfügt die Regierungspartei LIBRE über 48 von 128 Parlamentarier*innen im Nationalkongress, die Fraktion der PN, die hinter dem aktuell in New York inhaftierten Ex-Präsidenten Juan Orlando Hernández stand (und teilweise noch steht) über 43. Die PN hatte den honduranischen Staat während zwölf Jahren gekapert und mit den größten Drogenhändler*innen aus Südamerika und Mexiko zusammengearbeitet, um an der Macht zu bleiben und sich zu bereichern. Währenddessen wurde die Bevölkerung immer ärmer, Hunderttausende emigrierten undokumentiert. Allianzen mit der Liberalen Partei, aus der LIBRE nach dem Putsch 2009 hervorgegangen ist, sind unwahrscheinlich – die Ressentiments auf beiden Seiten bleiben.

Ein weiteres Wahlkampfversprechen von LIBRE ist die Justizreform – eine Herkulesaufgabe angesichts struktureller Probleme wie der Korruption und einer hohen Straflosigkeit bei Gewaltverbrechen, Morden und Feminiziden. Fehlendes Vertrauen in den Rechtsstaat schreckt viele in- und ausländische Investor*innen ab. Ihre Ressourcen braucht das Land jedoch dringend, um die grassierende Arbeitslosigkeit zu verringern. Die von den UN geführte Internationale Kommission gegen die Korruption und die Straflosigkeit (CICIH) soll nicht nur die Justiz stärken, sondern Angeklagte strafrechtlich verfolgen und anklagen können. Das wäre ein riesiger Erfolg für Castro und ein entscheidender Schritt auf dem langen Weg zum Rechtsstaat.

Für die Bevölkerung ist das Thema der Sicherheit für Leib und Leben besonders dringlich. Die Mordrate ist zwar seit ihrem Höhepunkt im Jahr 2011 von 166 Morden auf 35,8 Morde pro 100.000 Menschen gesunken, die öffentliche Wahrnehmung hat sich diesbezüglich jedoch kaum geändert. Seit Dezember 2022 herrscht ein Ausnahmezustand „light“ in vielen Stadtgebieten mit hoher Kriminalität, um Erpressungsdelikte zu bekämpfen, die oft zu Morden führen.

Korruption führt zu Arzneimittel-mangel in Krankenhäusern und Gesundheitszentren

Die schockierenden Massaker im März dieses Jahres, bei denen es innerhalb weniger Tage eine Reihe von Toten gab, erschütterten das labile Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei zusätzlich. Denn diese reagierte mit der immer gleichen Floskel: „Es handelt sich um einen Konflikt zwischen rivalisieren Gangs.“ Danach passierte meistens nichts. Viele Honduraner*innen sagen daher, dass in Honduras alle Verbrechen perfekt seien – die Ironie stirbt zuletzt.

Laut einer aktuellen Umfrage möchte fast die Hälfte der honduranischen Bevölkerung emigrieren. Der Soziologe Marco Antonio Tinoco schlägt deshalb ein neues Entwicklungsmodell vor, das besonders jungen Menschen die Chance geben soll, eine Perspektive im Land zu finden: „Wir brauchen viel mehr staatliche Investitionen in Ausbildung, besonders auf dem Land, und natürlich Jobchancen, damit die Leute würdevoll leben können und nicht emigrieren müssen.“ Ein Hoffnungsschimmer ist daher die Zusammenarbeit mit Kuba zur Bekämpfung des Analphabetismus: 100.000 Honduranerinnen sollen ab März 2023 innerhalb von drei Monaten Lesen und Schreiben lernen. Von der Opposition und ihrem medialen Resonanzboden wird dieser Akt gelebter Solidarität zwischen zwei souveränen Nationen als „Indoktrination“ bezeichnet.

Bisher ist die 62-jährige Xiomara Castro in den Medien deutlich weniger präsent als ihre Vorgänger Juan Orlando Hernández und Porfirio Lobo. Dafür twittert sie umso mehr im Stil des salvadorianischen Präsidenten Nayib Bukele und befiehlt beispielsweise dem Polizeichef nach besonders aufsehenerregenden Gewalttaten Resultate innerhalb von drei Tagen. In den sozialen Medien liefern sich auch hohe Regierungsvertreter*innen verbale Scharmützel mit der US-Botschaft und provozieren damit gezielt konservative Kreise. Diese wiederum werfen Castro vor, sie sei von ihrem Ehemann, dem ehemaligen Präsidenten Manuel Zelaya, gesteuert und beabsichtige, das Land in den Kommunismus zu führen.

Als die Präsidentin am 8. März die Notfallverhütung wieder legalisierte (als letztes Land in ganz Lateinamerika), entrüsteten sich genau die Frauen- und demokratiefeindlichen Gruppierungen, die den öffentlichen Diskurs prägen. Noch größer war der Aufschrei, als Castro Mitte März den Außenminister Eduardo Reina damit beauftragte, diplomatische Beziehungen mit China anzubahnen – nach 82 Jahren der Zusammenarbeit mit Taiwan. Dagegen protestierten nicht nur die honduranischen Konservativen, sondern auch renommierte US-Außenpolitiker*innen. Letztere warnten vor einer „Falle Chinas“ und vor negativen Konsequenzen für diejenigen Honduraner*innen in den USA, die dort die Erneuerung des temporären TPS-Schutzstatus anstreben. Diplomatische Beziehungen mit China öffnen aber durchaus Alternativen für Honduras, besonders in Bereichen wie wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, Infrastruktur und Ausbildung.

Letztlich wird Castro nur erfolgreich sein, wenn die Mehrheit der Bevölkerung spürt, dass ihr Leben sich verbessert – ob durch eine höhere Kaufkraft, Subventionen, Zugang zu einem gestärkten Gesundheits- und Bildungssystem oder durch erhöhte individuelle Sicherheit. Bessere Lebensumstände, die die honduranische Bevölkerung nicht zur Emigration zwingen. Nach einem Übergangsjahr muss Castro jetzt Charakterstärke zeigen, sich gegen die faktischen Kräfte durchsetzen und mit ihrem Kabinett fühlbare Resultate liefern.

DAS PHÄNOMEN LULA

Lula in Aktion Ob es der charismatische Politiker schafft, Bolsonaro aus dem Amt zu jagen? (Foto: Jeso Carneiro CC BY-NC 2.0)

Wer schon einmal Luiz Inácio Lula da Silva vor einer großen Menschenmenge hat sprechen hören, wird dies niemals wieder vergessen. Er verfügt über die Gabe, jede*m und jede*r Einzelnen in der Menge das Gefühl zu geben, sich mit ihm in einem kleinen, eher intimen Raum zu befinden – sagen wir in einer Gruppe von 20 Personen. Er liebt die persönliche Ansprache, selbst bei einer Menge von mehreren Zehntausend. Da bittet er die Gruppe mit den großen Transparenten, diese einzurollen, damit „die companheiros und companheiras, die hinter Euch stehen, auch etwas sehen und hören können.“ Nicht ohne zuerst zu sagen, dass die Transparente großartig aussehen und er hofft, dass sie gut erhalten zurückkommen und noch bei vielen Demonstrationen nützlich sein werden.

Überhaupt das Persönliche: Lula ist ein Erzähler. Einen Tag nach der Präsidentschaftswahl am 2. Oktober 2022 gibt er eine Pressekonferenz mit dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen PDT, Carlos Lupi. Es geht um die Unterstützung der PDT für Lula bei der Stichwahl am 30. Oktober. Für die PDT ist diese Unterstützung ein bisschen heikel, sind doch Lula und der PDT- Präsidentschaftskandidat Ciro Gomes seit 2018 so zerstritten, dass selbst der alles umarmende ehemalige Präsident keine Versöhnung erreichte. Am Ende der Pressekonferenz erzählt Lula, wie er 1989 „im allerschwersten Moment meines Lebens“ zum Gründer und damaligen Präsidentschaftskandidaten der PDT, Leonel Brizola, fuhr und diesen um Unterstützung im zweiten Wahlgang bat. Es ist eine richtige Geschichte, fast ein kleines Drama, mit Kampf des Helden, Höhepunkt und Happy End, die Lula mit viel Gefühl vorträgt. Am Ende erscheint so die aktuelle Entscheidung der PDT in einem ganz anderen (historischen) Licht.

Die „rosa Dekade“ der linken Regierungen in Lateinamerika ist auch eine Phase charismatischer Führungsfiguren. Lula kann unter seinen Anhänger*innen und insbesondere unter der Bevölkerung des armen brasilianischen Nordostens wahre Begeisterungsstürme entfachen – bis heute. Für sie ist er nicht nur ein Präsident zum Anfassen, sondern das fleischgewordene Versprechen einer besseren Welt. Seine Verehrung kommt der für den Ex-Präsidenten Hugo Chávez in Venezuela sicher sehr nahe.

Lula hatte einen langen Weg bis ins Präsidentenamt hinter sich. Die von ihm 1980 mitgegründete Arbeiterpartei PT ähnelte in den Anfangsjahren weniger einer der üblichen politischen Parteien, sondern mehr einer sozialen Bewegung, wie der Soziologe Emir Sader schon 1991 analysierte: Neben radikalen Gewerkschafter*innen sammelten sich darin auch Landlose, politisch Aktive aus den Favelas und viele Anhänger*innen der Befreiungstheologie. Die PT sah sich zwar ausdrücklich nicht in der Tradition der Linken des Landes, die von den kommunistischen Parteien geprägt war. Doch sie vertrat eine antikapitalistische Haltung und das Ziel, ein brasilianisches Modell des Sozialismus zu entwickeln. Das war für das von Militärdiktatur und Antikommunismus geprägte Brasilien zu radikal. Drei Mal kandidierte Lula als Vertreter der Arbeiter*innenbewegung für das Präsidentenamt, 1989, 1994 und 1998. Jedes Mal verlor er gegen einen bürgerlichen Gegenkandidaten, trotz seiner großen Popularität und seiner Fähigkeit, die Massen zu mobilisieren.

Im Wahlkampf von 2002 hatte Lula ein anderes Angebot an die Nation. Die bekannte Journalistin Eliane Brum, die unter anderem für El País aus Brasilien berichtet, analysierte seine Haltung 2002 so: „Lula machte immer klar, dass er nicht an einer Revolution interessiert war. Was er suchte, war Inklusion.“ In einem „Brief an das brasilianische Volk verpflichtete sich Lula – nicht gegenüber dem Volk, sondern gegenüber dem Markt – die grundlegenden Linien der liberalen ökonomischen Politik der Regierung Fernando Henrique Cardoso beizubehalten.“ Hohe Rohstoffpreise ermöglichten ihm tatsächlich eine Politik der „Inklusion“ der Armen Brasiliens: Es war genug für alle da. Soziale Programme konnten umgesetzt werden und der Mindestlohn stieg kontinuierlich, ohne dass auf der anderen Seite die Steuern der Reichen erhöht werden mussten.

Der Charismatiker Lula entfacht immer noch wahre Begeisterungsstürme

Lula schied 2010 mit einer Rekordzustimmungsrate von 87 Prozent aus dem Amt. Viele seiner Regierungsprogramme waren sehr erfolgreich, allen voran das Programm „Fome Zero“ (Null Hunger), das er vom ersten Tag seiner Regierung an verfolgte und das in eine Art Sozialhilfe („Bolsa Família“) und verschiedene andere Maßnahmen mündete. Zum Beispiel in die „Merenda Escolar“, die jedem Schulkind eine warme Mahlzeit am Tag garantierte und zusätzlich die lokale Landwirtschaft förderte. Wie wichtig diese Maßnahmen zur Beendigung der absoluten Armut waren, zeigen heute die Folgen von sechs Jahren neoliberaler Politik unter den Präsidenten Michel Temer und Jair Bolsonaro, die die erfolgreichen Programme der PT gezielt abschafften. Sie brachten Brasilien zurück auf die „Weltkarte des Hungers“, unter dem heute geschätzte 33 Millionen Brasilianer*innen leiden.

Viele Programme der PT-Regierungen fallen jedoch unter die Rubrik „Ja, aber“. Ja, die familiäre Landwirtschaft wurde in einem bisher nie dagewesenen Umfang gefördert – doch die reiche Agroindustrie erhielt deutlich mehr Subventionen. Ja, das Wohnungsbauprogramm „Minha Casa Minha Vida“ war erfolgreich und durch die veränderten Gesetze zu Konsumkrediten konnten viele Menschen erstmals einen großen Fernseher oder ein Auto erwerben. Doch gleichzeitig wurde viel zu wenig Geld in die notwendige Infrastruktur investiert, vor allem in die Abwasserentsorgung, aber auch in das Gesundheits- und das Bildungssystem. Das schürte die Unzufriedenheit. „Wir wollen ein Bildungssystem nach Fifa-Standard“, forderten die Studierenden 2014 vor der Austragung der WM in Brasilien, als Milliarden Reais in den Bau später nicht oder schlecht genutzter Stadien investiert wurden.

Besonders eklatant war die fehlende Bereitschaft zu echten strukturellen Veränderungen in den Bereichen der Agrarpolitik, der Medien und der juristischen Anerkennung indigener Gebiete. Das Versprechen einer echten Agrarreform war fester Bestandteil der politischen Forderungen der PT, in der von Beginn an viele Aktivist*innen der Landlosenbewegung engagiert waren. Gleichzeitig ist die Verteilung des Landbesitzes eine zentrale Machtfrage, die bis auf die Kolonialzeit zurückgeht. Die PT-Regierungen blieben hinter den eigenen Versprechungen weit zurück. Weitreichende Folgen hatte auch die Fortsetzung des Systems Rede Globo: Der größte private Medienkonzern kassierte weiterhin Millionen an Werbeeinnahmen für die Verbreitung staatlicher Informationen und Kampagnen, aber 2015 und 2016 trug Globo entscheidend zur Diskreditierung der PT und der Absetzung von Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff bei. Der Aufbau eines öffentlich-rechtlichen Mediensystems wurde verpasst und unter keinem anderen Präsidenten wurden so viele Basis- und Stadtteilradios geschlossen wie unter Lula.

„Korruption“ ist und bleibt die offene Flanke der PT


1988 war in Brasilien eine äußerst fortschrittliche Verfassung verabschiedet worden, an der Lula als Abgeordneter des Parlaments selbst mitgearbeitet hatte. Heute – 34 Jahre später – ist sie überall dort, wo sie entscheidende Machtfragen berührt, nicht oder nur wenig umgesetzt worden. Sie sieht unter anderem eine „Demarkation“, also die juristische Anerkennung der indigenen Gebiete, auf die die mehr als 200 indigenen Völker Brasiliens historisch begründet Anspruch erheben können, vor. Auch wenn es hier größere Fortschritte gab – vor allem die Anerkennung von Raposa do Sol mit 1,7 Millionen Hektar im Jahr 2005 – ist die Demarkation bis heute nicht abgeschlossen. Auch die Abholzung des tropischen Regenwalds wurde von 2004 bis 2014 zwar signifikant reduziert, doch die Megaprojekte des Wasserkraftwerks Belo Monte und der Umleitung des Rio São Francisco im Nordosten des Landes ließen, zusätzlich zum Extraktivismus als Wirtschaftsmotor, die ökologische Bilanz der PT-Regierungen verheerend aussehen. Sie trieben einen tiefen Keil zwischen die Partei und ökologisch orientierte Basisbewegungen und Persönlichkeiten. Viele Gründungsmitglieder und Unterstützer*innen der ersten Stunde kündigten ihre Gefolgschaft auf. Die politische und soziale Arbeit in den Stadtteilen und Gemeinden machten jetzt andere, vor allem die evangelikalen Kirchen und weitere Anhänger der Rechten. In der Linken und den sozialen Bewegungen Brasiliens wird der Verzicht auf die Basisarbeit, der mit einem ebenfalls kritisch betrachteten Wandel der PT zur Funktionär*innenpartei einherging, als entscheidender Faktor gesehen, warum der Bolsonarismus und die Ideologien, die ihn tragen, in Brasilien so stark werden konnten.

Um Lula und der PT gerecht zu werden, muss allerdings der politische Gesamtkontext betrachtet werden: Die PT hatte zu keinem Zeitpunkt eine Mehrheit im Parlament, sondern war für jedes einzelne Gesetzesvorhaben auf die Stimmen von Mitte-rechts-Parteien angewiesen. Lula hatte von Beginn an nicht auf den Druck von der Straße gesetzt, sondern die sozialen Bewegungen kooptiert und beschwichtigt: Sie bezeichnen 2003 noch heute als „Jahr der historischen Geduld“. Und er musste innerhalb des bestehenden politischen Systems weiterarbeiten, das den Stimmenkauf als Schmiermittel für Gesetzesvorhaben perfektioniert hatte. Damit war seine Regierung von Anfang an angreifbar. Bereits 2005 hatte die PT mit dem Mensalão ihren ersten Korruptionsskandal.

Korruptionsvorwürfe sind und bleiben die offene Flanke der PT und der diesjährigen Kandidatur Lulas für die Präsidentschaft. Das Gerichtsurteil, das ihn 2018 wegen angeblicher Bestechlichkeit ins Gefängnis und um die Präsidentschaftskandidatur brachte, ist inzwischen annulliert und die Befangenheit des ermittelnden Richters Sergio Moro von The Intercept Brasil hinlänglich belegt. Der Vorwurf der Korruption bleibt aber die Trumpfkarte, die die bürgerliche Rechte jederzeit ausspielen kann.

Dennoch verkörpert Lula heute für viele Brasilianer*innen – 48,43 Prozent derjenigen, die eine gültige Wähler*innenstimme im ersten Wahlgang abgegeben haben – ebenso eine bessere Vergangenheit wie eine bessere Zukunft. Mit einer radikalisierten, bolsonaristischen Rechten und eher mäßigen Rohstoffpreisen stehen die Chancen auf eine erfolgreiche Politik der Inklusion und Versöhnung allerdings sehr viel schlechter als 2003.

Das Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“ liegt der Oktober/November 2022-Ausgabe bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

MACHTERHALT MIT ALLEN MITTELN

Foto: Knut Henkel

Iván Velásquez Gómez ist ehemaliger Direktor der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) und ehemaliger kolumbianischer Richter. Der 66-Jährige lebt seit 2019 wieder in Bogotá, wo er die Übernahme zahlreicher staatlicher Institutionen durch die Regierung und Vertraute des derzeitigen Präsidenten beobachtet. LN sprachen mit ihm über die Einflussnahme der Exekutive sowie über Straflosigkeit und Korruption unter der aktuellen Regierung von Iván Duque.


Kooptation ist ein Wort, dass Sie zu verfolgen scheint. In Guatemala haben Sie als Direktor der CICIG gegen die Übernahme zentraler Institutionen des Staates durch den „Pakt der Korrupten“ gekämpft, in Kolumbien scheint es derzeit nicht anders. Richtig?
Ja, leider. Diese Regierung von Iván Duque, die sich dem Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla widersetzt, die für politische Gewalt steht, eng verbunden ist mit Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, diese Regierung hat zentrale Institutionen des Staates quasi übernommen. Alle Kontrollorgane, sowohl im finanziellen als auch administrativen Bereich, Strafverfolgung und Generalstaatsanwaltschaft sind in den Händen der Regierung. Bestes Beispiel ist Francisco Barbosa, enger Freund von Iván Duque, der von ihm zum Generalstaatsanwalt ernannt wurde. Ein anderes ist die ehemalige Justizministerin und Vertraute von Iván Duque, Margarita Cabello Blanco, die nun die wichtigste Kontrollbehörde im administrativen Bereich leitet. Der Rechnungshof, Contraloría, ist in den Händen eines Anhängers der Regierungspartei Centro Democrático. Auch die Defensoría del Pueblo, die Ombudsstelle, ist in den Händen eines Anhängers von Iván Duque und dieses System der Einflussnahme sorgt dafür, dass die Regierung die Straflosigkeit kontrolliert. Das beweist auch der Umgang mit dem 28. April und den über Wochen währenden sozialen Protesten, denen vor allem repressiv begegnet wurde. (siehe LN 564) Dafür gab es die offene Unterstützung des Präsidenten, der damals in Polizeiuniform mehrere Polizeistationen besucht hatte – das ist angesichts der hohen Opferzahlen durch Polizeigewalt Hohn für die Opfer und ein deutliches Signal an die Ermittlungsbeamten. Das ist eine Konstellation, die Straflosigkeit nach sich zieht, sie herbeikonstruiert.

Ein Grund für die Visite der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Anfang Juni.
Ja, genau. Die wurde von der Opposition angeregt, von der Regierung als nicht für nötig erachtet, bis sie dann letztlich einwilligte. Das Argument der Regierung lautete immer wieder, dass wir eine effektive Staatsanwaltschaft hätten. Doch das ist nicht korrekt und diese Haltung hat die Regierung mehrfach eingenommen. Das sorgt dafür, dass Straflosigkeit in Kolumbien genauso gestärkt wird wie die Korruption. Beides elementare gesellschaftliche Probleme.

Das nächste große Problem scheint die Registraduría, das Wahlregister, zu sein. Zwischen den Zahlen des Statistischen Amtes (DANE) und dem offiziellen Wahlregister gibt es eine Differenz von fünf Millionen Stimmen.
Kaum ein Tag vergeht, in dem Angehörige die Sterbedokumente ihrer Angehörigen zeigen, die aber noch im Register der Registraduría auftauchen. Das ist ein gravierendes Problem und wie die Behörden das lösen werden, ist nicht absehbar. De facto handelt es sich um fünf Millionen Stimmen, das heißt auch, dass das Wahlregister seit Jahren aufgebläht war. Kinder, die beweisen, dass der eigene Vater vor 15 Jahren gestorben ist, die Dokumente vorlegen und trotzdem ist er im Wahlregister geführt – das ist kriminell. Hinzu kommt, dass die Beweise, die Stimmenkauf in den letzten Wahlen zu Gunsten von Iván Duque belegen, stichhaltig sind. Nun ist klar, dass Paramilitärs und Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez involviert waren und Stimmen gekauft wurden. Viele Details sind durch Audio-Aufnahmen von Telefongesprächen belegt. All das muss untersucht, ermittelt und sanktioniert werden, aber wenn die Staatsanwaltschaft kein Interesse hat, die Ermittlungsbehörden ebenfalls nur begrenzt aktiv werden und die Institutionen der Regierung blockieren, dann wird es schwierig. Das ist in Kolumbien aber die Situation.

Ist die Justiz an die Kette gelegt, hat sie ihre Unabhängigkeit verloren?
Ja, denn die Staatsanwaltschaft ist dem Uribismo (Anhänger*innenschaft des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, Anm. d. Red.) unterstellt. Daran besteht kein Zweifel. Wir entdecken jetzt die Dimension der Falsos Positivos, der hingerichteten Jugendlichen und Männer, die ermordet wurden, um anschließend als gefallene Mitglieder der Guerilla dargestellt zu werden. Doch welche Folgen hat das? Zu wenige.

Nehmen sie den Fall der Kriminalisierung der Primera Línea, der oft aus Studenten und Hausfrauen bestehenden ersten Linie bei den Demonstrationen und Blockaden in Cali, Popayán und anderen Städten des Landes zwischen dem 28. April und Mitte Juli des Jahres. Sie werden jetzt auf Druck der Polizei und des Generalstaatsanwalts kriminalisiert. Doch was ist mit den Opfern der Polizeigewalt, den Menschen, die ein Auge verloren, weil die Tränengasgranaten gezielt in Augenhöhe abgeschossen wurden, was ist mit den Frauen, die vergewaltigt wurden, was mit den Verschwundenen und den rund 80 Toten – wer untersucht all diese Straftaten, denn es waren überwiegend gezielte Straftaten und keine Unfälle?

Die Justiz steht unter Druck, wird in eine einzige Richtung gelenkt. Wer untersucht die Paramilitärs, die an der Seite der Polizei und Armee auf Demonstranten schossen? Die Bilder sind eindeutig.

Wie denken Sie über den Fall der im Jahr 2000 entführten Journalistin Jineth Bedoya – wird das im Oktober 2021 gefällte Urteil des Interamerikanischen Menschenrechtshofs, in dem der kolumbianische Staat verantwortlich gemacht wird, das Land bewegen, Reformen anzustoßen?
Schwierige Frage, gerade was den Blick in die Zukunft angeht. Das Urteil ist zukunftsweisend, es ist wichtig und sorgt in der Theorie der Verteidigung der Menschenrechte für einen Fortschritt – aber in der Praxis? Welchen Effekt hat es da? Ja, der kolumbianische Staat, ein abstraktes Wesen, wird verurteilt, aber für Straftaten, die vor Jahrzehnten verübt wurden. Genauer: vor 21 Jahren. Was haben die Täter, die Auftraggeber aus Polizei oder Militär zu befürchten – sie werden nicht konkret benannt, was haben sie zu befürchten? Es ist ein symbolisches Urteil, ja, aber es kommt sehr spät und es wird die Auftraggeber nicht ins Schwitzen bringen, sie sind nicht beeindruckt.

Präsident Iván Duque ist sehr unpopulär. Doch er scheint das Land stärker verändert zu haben als seine Vorgänger. Seine Leute werden weiterhin in den Institutionen sitzen, oder?
Die gesamte Regierung Iván Duque, das gilt für wirklich alle Minister, sind sehr unbeliebt. Es ist wahrscheinlich, dass der Uribismo, der in mehreren Parteien, nicht nur im Centro Democrático verankert ist, in den nächsten Wahlen eine Niederlage kassieren wird. Deshalb wird an allen Schrauben gedreht, um das zu verhindern: auch am Ley de Garantías, dem Gesetz, welches Stimmenkauf mit öffentlichen Geldern unterbinden soll – deshalb werden größere, kostspielige Projekte in den Monaten vor den Wahlen nicht gestattet. Ziel ist es, klientelistische Strukturen und Stimmenkauf zu unterbinden und nun hat Iván Duque ein Gesetz vorgelegt, um das Ley de Garantías aufzuheben. Erfolgreich. Nun ist es also möglich große Projekte und Geldmittel vor den Wahlen zu verteilen: das öffnet dem Stimmenkauf Tür und Tor. Dagegen kann jetzt nur noch das Verfassungsgericht einschreiten, aber das dauert mehrere Monate – das ist eine schlechte Botschaft.

Wir können derzeit zusehen, wie versucht wird den enormen Vorsprung eines linken und sehr populären Kandidaten, Gustavo Petro, mit allen Instrumenten zu reduzieren – jedes Mittel ist recht.

Es hat den Eindruck, dass die Kooptation in der ganzen Region zunimmt. El Salvador, Guatemala, Mexiko oder Kolumbien – die Justiz scheint in der Defensive. Initiativen zur Stärkung der Justiz wie die CICIG in Guatemala oder die Mission zur Bekämpfung der Korruption in Honduras (MACCIH) scheinen kaum Früchte getragen zu haben. Richtig?
Wir brauchen derartige Initiativen, in der ganzen Region. Wir brauchen die internationale Unterstützung, die Beobachtung durch Experten, mahnende Worte, wenn Verfassungsrichter wie in El Salvador ausgetauscht werden, Kritik, wenn eine Generalstaatsanwältin nach der Pfeife der Korrupten pfeift wie in Guatemala. Die internationale Aufmerksamkeit, die Kritik ist extrem wichtig und die war zwischen 2016 und 2020 weitgehend verschwunden – vor allem in den USA, die traditionell sehr wichtig in der Region sind. Aber auch andere Regierungen und Bündnisse habe sich sehr bedeckt gehalten. Das war der Entwicklung der Justiz nicht förderlich.

Eine ganze Reihe von Analyst*innen bescheinigen Latein- und Mittelamerika eine Kultur der Korruption entwickelt zu haben. Ist dagegen ein Kraut gewachsen – wie lassen sich die Strukturen dahinter auflösen?
Unstrittig ist, dass es eine Akzeptanz für die Korruption auf Ebene der politischen und ökonomischen Entscheidungsträger gibt und dass der gesellschaftliche Widerstand dagegen zwar durchaus vorhanden, aber nicht stark genug ist. Eine entscheidende Frage ist, ob sich der Einfluss der Politik auf die Justiz, die teilweise den Justizsektor quasi übernommen hat, unterbinden lässt. Da sind wir dann wieder an dem Punkt der Unabhängigkeit der Justiz.

Ein anderes Beispiel aus Kolumbien: Dort hat ein Paramilitär in einem Verfahren erklärt, dass die Gesellschaft nicht für die Wahrheit vorbereitet sei. Die Wahrheit sei so grausam, dass sie kaum auszusprechen sei. Dieser Satz hat mich aufhorchen lassen. Ich bin der Meinung, dass wir uns bewusst werden müssen, wie weit diese Strukturen reichen und dass wir nur mit konsequentem Vorgehen eine Chance haben. Die Unabhängigkeit der Justiz ist dabei genauso wichtig wie ein unabhängiges Mediensystem und eine partizipative Gesellschaft, die sich engagiert. Das sind aus meiner Perspektiven die drei Faktoren, die nötig sind um die Transformation einer klientelistischen, korrupten Gesellschaft in eine demokratische zu ermöglichen.

LULA IST ZURÜCK

Schon immer gewusst Richter erklärt Verurteilung von Lula (PT) für ungültig

Die Entscheidung war ein Paukenschlag und ändert die politische Landschaft in Brasilien fundamental: Richter Edson Fachin vom Obersten Bundesgerichtshof (STF) entschied, dass die bisherigen Prozesse und Verurteilungen des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ungültig sind. Wie während der gesamten Ermittlungen und Verfahren gegen Lula vermischen sich auch bei diesem neuen Urteil untrennbar juristische und politische Aspekte. Formal hat Fachin entschieden, dass die Kammer von Curitiba für den Prozess nicht zuständig war. Eine wahrlich späte Erkenntnis, die nur durch den Kontext verständlich wird. Die juristische Verfolgung des ehemaligen Präsidenten ist untrennbar mit dem Richter Sergio Moro verbunden, der ebenfalls in Curitiba wirkte. Er hatte den Prozess gegen Lula im Rahmen der von ihm geleiteten Korruptionsermittlungen – berühmt geworden unter dem Namen „Lava Jato“ (Autowaschanlage) – an sich gerissen und wurde zu seinem unerbittlichen Verfolger. Dies brachte ihm Ruhm und das Amt des Justizministers unter Präsident Jair Bolsonaro ein. Moro wurde zu einer Galionsfigur der Rufmordkampagne gegen Lula und seine Arbeiterpartei PT. Er hatte maßgeblichen Anteil daran, dass der antipetismo, also die Fixierung auf die PT als den großen Feind, zu einer zentralen politischen Kraft wurde. Damit wurde Bolsonaro für einen Teil des bürgerlich-konservativen Lagers wählbar.

Moro galt lange als möglicher Nachfolger Bolsonaros. Inzwischen aber ist sein Stern gesunken und sein Saubermann-Image beschädigt. Zunächst wurde er von Bolsonaro entlassen, weil er verschiedene Personalentscheidungen nicht mittragen wollte, die eine Entmachtung der Lava-Jato-Ermittler*innen bedeuteten. Und nun sind in den vergangenen Monaten weitere Aufzeichnungen von Gesprächen aufgetaucht, die deutlich zeigen, dass es Moro und seinem Team nicht um Rechtsfindung ging, sondern um bedingungslose Verfolgung, die auch vor Rechtsbeugung nicht zurückschreckt. Dies hatten Lula und die PT immer wieder gesagt – nun ist es dokumentiert.

Da im ganzen Kontext von Lava Jato die Wahrheit eine untergeordnete Rolle spielt, dürfte für die überraschende Wendung noch ein anderer Umstand ausschlaggebend sein: Im politischen System Brasiliens hat sich ein weitgehender Konsens entwickelt, dass nun mit Lava Jato und den ganzen Korruptionsentwicklungen einmal Schluss sein muss. Kurioserweise hat dies damit zu tun, dass einige Ermittlungen auch die Familie Bolsonaro erreichen, und Bolsonaro nun dringend darauf angewiesen ist, das Lava-Jato-System, das so wichtig für seine Wahl war, schleunigst zu entsorgen. Mit der Entmachtung Moros und seines juristischen Teams hat sich eine Gemengelage herausgebildet, die die Aufhebung der Prozesse gegen Lula unabweisbar, zumindest aber logisch machte.

Allerdings ist nicht klar, ob damit wirklich das letzte Wort gesprochen worden ist. Es ist noch ein weiterer Prozess gegen Lula anhängig und der Prozess, der zu seiner Verurteilung führte, ist nicht begraben, sondern nur an die Kammer von Brasília überwiesen worden. Die meisten Beobachter*innen gehen aber davon aus, dass die Ermittlungen gegen Lula nun durch die Rechtsbrüche Moros dermaßen kompromittiert sind, dass eine neue Verurteilung Lulas eher unwahrscheinlich ist. Was bleibt, ist eine bestürzende Blamage des brasilianischen Justizsystems und die nicht mehr zu leugnende Erkenntnis, dass die Wahl von 2018, die Bolsonaro in das Präsidentenamt brachte, durch einen Justizskandal erheblich beeinflusst wurde.

Die Annullierung der Verfahren und Urteile gegen Lula kommt zu einem brisanten Zeitpunkt. Die Covid-19-Krise hat Brasilien voll im Griff, die Todeszahlen lagen im April bei unfassbaren 3000 Fällen täglich, die Impfungen kommen nicht recht voran und nun sinkt auch endlich die Popularität Bolsonaros. Zu offensichtlich ist das Regierungsversagen. Die wirtschaftliche Lage ist desolat, die Arbeitslosigkeit hat neue Rekordhöhen erreicht. Die Präsidentenfamilie wird mit immer neuen Enthüllungen über Korruption und Verbindung zu Milizen in den Fokus gerückt. Bolsonaro wird zunehmend nervös und hat durch eine Regierungsumbildung auch Teile ranghoher Militärs gegen sich aufgebracht. All dies bietet einen idealen Kontext, um Lula als Präsidentschaftskandidaten aufzubauen.

Mögliche Zweifel, ob Lula tatsächlich bei den Wahlen antreten will, sind inzwischen wohl ausgeräumt. Er selbst hat erklärt, dass er sich mit seinen 75 Jahren topfit fühle und der US-Präsident Joe Biden bei seiner Wahl älter war als Lula 2022 sein werde. PT-nahe Publikationen veröffentlichen erste Umfragen, die zeigen sollen, dass nur Lula Bolsonaro schlagen könne. „Lula ist der stärkste Kandidat, um Bolsonaro zu schlagen und den Faschismus aus Brasilien zu verscheuchen“, titelte Brasil 247, ein der PT nahestehendes Portal. Aber auch die konservative, wirtschaftsnahe Folha de São Paulo fasst eine Umfrage vom März mit den Worten zusammen: „Nur der Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva scheint mehr politisches Kapital zu haben als der aktuelle Amtsinhaber, Jair Bolsonaro.“

Diese Überzeugung wird zunehmend zu einem realen, politischen Faktor. Die erste Konsequenz wird sein, dass Perspektiven, andere Kandidat*innen aus dem linken Lager aufzubauen, unwahrscheinlich werden. Alle Überlegungen, ob es nun an der Zeit ist, die Hegemonie der PT in der Linken zu überwinden, werden obsolet. Mit einem Kandidaten Lula und der Aussage, dass nur er Bolsonaro schlagen könne, wird die PT nicht daran rütteln lassen, Lula auch wirklich aufzustellen. Denn damit gibt es keinen Grund mehr für eine „argentinische Lösung“, also für den Verzicht zugunsten eines anderen Kandidaten oder einer Kandidat*in, die weniger Ablehnung provozieren. Aus der Sicht des PT-Lagers verliert der antipetismo zusehends an Kraft – und gerade Lula ist die politische Figur, die am besten dazu geeignet scheint, ihn zu überwinden. Schließlich beendete er seine zweite Amtszeit mit sehr hohen Zustimmungsraten. Dies begünstigt das Narrativ, das ganze politische Dilemma des Landes habe erst nach Lula begonnen. Von allen Kandidat*innen der PT hat kurioserweise Lula das größte Potential, sich von der PT abzulösen. Schon seit vielen Jahren geht daher in Brasilien das Schlagwort des „Lulismo“ um. Dieser ist seit der Freilassung von Lula Ende 2019 so lebendig wie nie.

Und noch ein anderer Umstand spricht für die Kandidatur von Lula als Präsidentschaftskandidat der PT: Es kann fast als politisches Naturgesetz in Brasilien gelten, dass der amtierende Präsident bei Präsidentschaftswahlen in die Stichwahl kommt. Und das zweite Gesetz lautet, dass die Kandidat*innen der PT immer in die Stichwahl gelangen. Seit den ersten Wahlen nach dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1989 war dies jedenfalls so.

Die damit sich abzeichnende erneute Polarisierung zwischen der PT und Lula auf der einen sowie Bolsonaro auf der anderen Seite ist eine große Herausforderung für das Mitte-Rechts-Lager, das in dem Niedergang Bolsonaros seine Chance sieht. Doch dieses Lager ist extrem zersplittert und besitzt eine Vielzahl von potentiellen Kandidat*innen, ohne dass jemand bisher herausragt. Bemerkenswert ist allerdings, dass sechs mögliche Kandidaten einen gemeinsamen Brief zum Jahrestag des Militärputsches am 1. April veröffentlichten. Dieser offene Brief ruft zur Verteidigung der Demokratie in Brasilien auf. Zu den Unterzeichnern gehören drei Personen, die als aussichtsreichste Anwärter auf eine Kandidatur gelten: João Doria (Gouverneur von São Paulo), Ciro Gomes (dritthöchste Stimmenzahl bei den letzten Präsidentschaftswahlen) und Luciano Huck, ein populärer Fernsehmoderator, der vor allem von dem mächtigen Medienkonzern Globo als unabhängiger Kandidat aufgebaut wird. Es fehlt der Name von Sergio Moro, der trotz seiner Demontage bei den jüngsten Umfragen auf relativ gute Zustimmungswerte kam.

Gerade für dieses Mitte-Rechts Lager ist die mögliche und jetzt sogar wahrscheinliche Kandidatur Lulas ein großes Problem. Denn ihr entscheidendes Argument ist, dass nun die Dichotomie PT – Bolsonaro überwunden werden muss, und zwar durch einen Kandidaten des demokratischen Lagers, der nicht den antipetismo hervorruft, der so wichtig für den Sieg Bolsonaros war. Wenn die Umfragen nun aber zeigen, dass Lula der aussichtsreichste Kandidat nicht nur der Linken, sondern des gesamten politischen Spektrums ist, um Bolsonaro zu schlagen, dann verliert dieses Argument an Kraft.
Hinzu kommt, dass der angeschlagene Bolsonaro durchaus leichter zu besiegen ist als 2018. Die Bekämpfung der Korruption wird kein wichtiges Wahlkampfthema sein, zu sehr ist der Bolsonaro-Clan in Skandale verwickelt. Das Corona-Desaster ist offensichtlich und Bolsonaro kann nicht mehr als Mythos und unbeschriebenes Blatt antreten, auf das sich alle Wünsche und Erwartungen projizieren lassen. Er hat nun eine Geschichte. Überraschend und bestürzend ist, dass trotz seiner desaströsen Bilanz Bolsonaros Popularität zwar sinkt, aber keineswegs ins Bodenlose. Die jüngste Umfrage von Anfang April zeigen Lula (29 Prozent) und Bolsonaro (28 Prozent) praktisch gleichauf. Andere Kandidaten wie Ciro Gomes oder Sergio Moro bleiben unter 10 Prozent. In einer Stichwahl würde Lula mit 42 Prozent vor Bolsonaro mit 38 Prozent liegen.

Die ersten Äußerungen Lulas nach der Annullierung seiner Verurteilungen zeigen, dass er sich als Kandidat einer nationalen Versöhnung nach Bolsonaro profilieren will. In einem großen Interview mit dem Spiegel Anfang April verweist er explizit auf die Erfahrung seiner ersten Wahl zum Präsidenten im Jahre 2002. Damals sei es ihm gelungen, mit einem Unternehmer als Vizepräsidenten einen Pakt zwischen Kapital und Arbeit zu schmieden. Dies gelte es nun zu wiederholen. Lula will sich so als Mitte-Links-Kandidat profilieren, und Stimmen aus dem bürgerlichen Lager anziehen. Von links droht ihm ohnehin keine Gefahr. Er will vielmehr die alte Parole „Lula – Paz e Amor“ (Frieden und Liebe) wiederbeleben. Die Perspektive ist die Wiederherstellung einer kapitalistischen Normalität mit aktiven Sozialprogrammen – aber keine umfassende gesell­schaftliche Transformation. Dennoch – die erste Reaktion „der Märkte“ war bemerkenswert. Der brasilianische Börsenindex sank nach der Entscheidung über die Annullierung der Urteile gegen Lula um 3,8 Prozent. Die Corona-Toten und die Gefährdung der Demokratie scheinen „die Märkte“ weniger zu beunruhigen als die mögliche Rückkehr Lulas in das Präsidentenamt.

ANTWORT DER GEMEINSCHAFT AUF DEN ABWESENDEN STAAT

Angestauter Frust „Schluss mit den staatlichen Plünderungen“ hieß es schon 2015 auf Demonstrationen (Foto: Surizar via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Nery Osorio ist Koordinator der Bauernvereinigung Río Negro Trece de Marzo Maya Achí, die sich auf die Rettung und Vermittlung von traditionellem Wissen über Agrarökologie sowie Ernährungssouveränität konzentriert. Infolge der historischen Vernachlässigung des Staates und der aktuellen Krise waren sie gezwungen, kollektive Strategien zu entwickeln, um den am stärksten gefährdeten Einwohner*innen zu helfen.


Im November verabschiedete der guamaltekische Kongress hinter verschlossenen Türen den Haushalt für das Jahr 2021 und löste damit bei vielen Bürger*innen Empörung aus. Ressourcen wurden gekürzt, zum Beispiel für den Kampf gegen Unterernährung und die Versorgung der nationalen Krankenhäuser. Glauben Sie, dass die aktuellen Proteste tiefgreifende Veränderungen im Land herbei-führen können?
Es ist kompliziert, weil die führenden Politiker entscheiden, ohne uns zu konsultieren oder die Grundbedürfnisse des Volkes zu berücksichtigen. Es gibt eine Menge Korruption und sie verwalten das Geld nicht richtig: Statt die Menschen zu erreichen, wollen sie nur ihre Taschen füllen. Es ist traurig, denn wir sehen so viel Mangelernährung bei Kindern, und die Kinder sind die Basis des Volkes. Wir wollen uns mit anderen Gemeinschaften zusammenschließen und demonstrieren. Denn wenn die Regierung nicht in der Lage ist, das Land zu führen, sollte sie besser gehen. Bei anderen Gelegenheiten haben wir uns dafür eingesetzt, dass die ganze Gemeinde demonstriert, entweder in der Hauptstadt oder in Salamá (Hauptstadt von Baja Verapaz, Anm. d. Red.). Aber im Moment fehlt es an Geld, um Transport, Essen und Unterkunft zu bezahlen. Diesmal werden nur wenige Menschen in die Hauptstadt reisen können. Wir werden unser Bestes tun, um eine Veränderung herbeizuführen.

Wie hat der Staat aus Ihrer Sicht auf die Pandemie reagiert?
Leider muss man sagen, dass wir schon lange auf uns allein gestellt sind. Die Regierung hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Menschen über das Nötigste zu informieren. Wir haben einen rassistischen Präsidenten, der die indigenen Völker weder respektiert noch unterstützt. Es besteht keine Hoffnung, dass sich die Lage bald ändern wird. Obwohl der Staat eine Menge Geld und Spenden aus anderen Ländern erhalten hat, haben diese nie die Gemeinden erreicht, die sie am meisten benötigen. Wir selbst waren es, die sich dafür eingesetzt haben, wichtige Informationen an die Familien weiterzugeben und die Menschen aufzuklären, damit sie wissen, was die Präventivmaßnahmen sind: häufiges Händewaschen, Tragen einer Maske, Abstand halten.

Wie hat sich der Alltag in Ihrer Gemeinde seit dem Auftreten der Pandemie verändert?
Die Situation ist fatal, weil viele Menschen ohne Einkommen auskommen müssen, um ihre Familie zu ernähren. Ältere Menschen, Witwen und alleinerziehende Mütter haben am meisten gelitten. Viele sind niedergeschlagen, weil sie ihr Haus und die Region nicht verlassen können oder nichts mehr zu essen haben. Wir durchleben eine große Krise und wir sind sehr besorgt um die Kinder. Deshalb baten wir im Namen der Vereinigung um internationale Unterstützung durch die Initiative Comunidades Solidarias (Gemeinschaften in Solidarität, Anm. d. Red.), um Grundnahrungsmittel wie Mais, Bohnen, Reis, Öl und Zucker kaufen zu können. Aber mit dieser Unterstützung konnten wir bisher nur 41 Familien helfen.

Wie ist die Beziehung zwischen den natürlichen Ressourcen in Ihrer Region und den dort lebenden Gemeinden?
Im Gegensatz zu Unternehmen, die in unserer Region Megaprojekte wie Wasserkraftwerke installieren oder Bäume fällen, um das Holz zu verkaufen, schätzen und respektieren wir natürliche Ressourcen. Wir bearbeiten das Land auf nachhaltige Weise nach den Prinzipien der Agrarökologie und der Wiederaufforstung mit Obstbäumen. Das Landwirtschaftsministerium spricht immer über die Bedeutung der Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft, unternimmt aber nichts in dieser Richtung. Es unterstützt die Bauern nicht dabei, ihre Praktiken zu verbessern. Die spirituelle Beziehung zu unserer Mutter Erde ist für uns sehr wichtig, denn sie gibt uns Energie. Wir führen immer Zeremonien durch, um unseren Ajaw (der Weltanschauung der Maya zufolge der Schöpfer aller Dinge, Anm. d. Red.) zu bitten, uns Weisheit und Kraft zu geben, damit wir uns den Problemen unserer Gemeinschaft stellen können.

Am 5. November 2020 erlebte die Region zwei aufeinanderfolgende Tropenstürme. Wie ist die aktuelle Situation in der Region und in Ihrer Gemeinde?
Mittlerweile hat der Regen aufgehört. Aber die Situation ist bedrückend und ernst, da viele Menschen durch so viel Regen ihre Ernte verloren haben. Andere Gemeinden in der Region waren stärker von Erdrutschen betroffen und von der Kommunikation abgeschnitten. Die Menschen hier sind sehr verzweifelt, weil das Wenige, das sie hatten, um ihre Familien zu ernähren, verloren ging. Wie erwartet kam keine Unterstützung vom Staat. Als beispielsweise Präsident Giammattei zu einem Besuch in die Region kam, wollte der Bürgermeister von Carchá im Departement Alta Verapaz um Unterstützung bitten, doch ein Gespräch wurde ihm verwehrt. Deshalb setzen wir uns dafür ein, das Wissen der Vorfahren für die Bepflanzung von Maisfeldern, die Erhaltung von Boden und Wasser zu retten, immer mit Rücksicht auf die Umwelt. Ernährungssicherheit wird durch die Rettung einheimischen Saatguts erreicht. Das Problem ist, dass wirtschaftliche Ressourcen benötigt werden, um diese Projekte durchzuführen und Gehälter zahlen zu können.

Was waren die Konsequenzen für Ihre Arbeit innerhalb der Organisation?
Die schwerwiegendste Folge ist der Mangel an finanziellen Mitteln. Vorher gingen die Leute aus den abgelegenen Gemeinden der Region für eine Zeit lang an die Küste, um Arbeit zu suchen. Aber jetzt können wir uns aufgrund der Ausgangssperren nicht aus der Region bewegen, um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Es ist sehr schmerzhaft, denn es geht darum, mit dem zu überleben, was man ernten kann, aber oft ist es nicht genug. Für die Fortsetzung unserer Bildungsprojekte zu Ernährungssouveränität im ökologischen Landbau und für die weitere Ausbildung der Jugendlichen fehlen uns auch die Mittel.

Was sollte sich in Zukunft ändern, um diese Art von Katastrophen zu verhindern?
Es ist schwierig, weil diese Region immer von Regenfällen betroffen sein wird, die eigentlich ein Segen für das Land sind. Das Problem ist, dass viele gewaltsam vertriebene Gemeinden keine andere Möglichkeit hatten, als sich in Regionen anzusiedeln, die sich nicht zum Leben eignen und hohe Risiken bergen. Die Lösung wäre, dass die Menschen dorthin ziehen, wo das Land besser standhält und sicherer ist. Aber die Regierung müsste dafür die Menschen unterstützen, damit sie Land kaufen und sich anderswo niederlassen können. Hier obliegt dem Staat die Verpflichtung.

DAS DOPPELTE ÜBEL

Marta Lucía Ramírez Die Kolumbianische Vizepräsidentin beim OAS Treffen (Foto:   Juan Manuel Herrera OAS via Flickr) CC BY NC-ND 2.0

Das Virus hält Kolumbien fest im Griff: Laut der nationalen Gesundheitsbehörde haben sich 182.140 Kolumbianer*innen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, 6.288 Menschen sind bislang daran gestorben (Stand: 18.07.2020). Die Tendenz steigt seit Mitte Juni um 4.000 bis 8.000 neu gemeldete Fälle täglich, just als die Regierung die landesweite Quarantäne mit einer Reihe von Ausnahmen lockerte. Angesichts dessen verlängerte die Regierung von Präsident Iván Duque die Isolationsmaßnahmen zum sechsten Mal bis zum 1. August. Menschen über 70 Jahre können nach wie vor bis zum 31. August ihr Haus nicht verlassen, bis dahin gilt der verhängte gesundheitliche Notstand.

Nach drei Monaten angeordneter Isolation wünschen sich viele Kolumbianer*innen in einer „neuen Normalität“ anzukommen, doch das Licht am Ende des Tunnels ist noch nicht in Sicht. Die ersten Lockerungen in Kolumbien betrafen vor allem die Baubranche und die Fertigungsindustrie. Dazu kamen Einkaufszentren, Museen, Bibliotheken und Restaurants, die nun Essen zum Mitnehmen verkaufen dürfen. Die Pandemie hat die horrenden strukturellen Ungleichheiten im Land offengelegt. So wie in anderen lateinamerikanischen Ländern ist die Quarantäne eine Sache von Privilegien.
Allein in der Hauptstadt sind 56.830 Menschen an Corona erkrankt. „Vor einem Monat zählte Bogotá 400 neue Fälle, heute gibt es im Durchschnitt 1.200 pro Tag. Wir führen massenweise Tests durch, doch die Geschwindigkeit der Infektion ist sehr besorgniserregend“, schrieb die Bürgermeisterin Claudia López am 6. Juli auf Twitter. Dazu kommt, dass die Intensivstationen zu 80 Prozent belegt sind. Auch wenn López während der Pandemie einen besseren Führungsstil als der Präsident Iván Duque zeigte, wurde die Bürgermeisterin für den Einsatz der Einheit zur Aufstandsbekämpfung der Polizei (ESMAD) bei Demonstrationen Mitte Juni kritisiert. Studierende und Jugendliche protestierten gegen die Polizeigewalt, vor allem bei Zwangsräumungen im Süden der Stadt mitten in der Pandemie durch die ESMAD.

Während sich Bogotá auf die Eröffnung der großen Einkaufszentren Anfang Juni vorbereitete, wurde in dem südöstlichen Bezirk Kennedy, der mit 1,2 Millionen Einwohner*innen der bevölkerungsreichste der Hauptstadt ist, eine strikte 14-tägige Ausgangssperre verhängt. 30 Prozent der gemeldeten COVID-19-Fälle wurden in Kennedy registriert. Eine von drei Personen, die an den Folgen des Virus in Bogotá starben, wohnte dort. Es trifft die Viertel, in denen Armut weitverbreitet ist und die Menschen bereits vor der Pandemie um ihre Lebensgrundlage täglich kämpften. Nun müssen sie eine Infektion mit COVID-19 riskieren, weil der Hunger die eigentliche Pandemie ist.

Bis zu 8.000 Neuinfizierungen täglich

So wie an der Atlantikküste, im Verwaltungsbezirk Atlántico, der bis dato 41.006 positive Fälle meldete und mit 1.640 Toten die höchste Zahl an Todesfällen im Land. Die Hauptstadt Baranquilla hat mit 21.134 Corona-Fällen die Höchstzahl an Infizierten in der Region. Besonders betroffen sind die südöstlichen Bezirke Barranquillas, wo sich die Menschen mit informeller Arbeit den Unterhalt verdienen. Mitte Juni wurde in Barranquilla ein erhöhter Alarmzustand ausgerufen und die betroffenen Gebiete mit Hilfe der wegen ihrer Brutalität gefürchteten Polizeieinheit ESMAD abgeriegelt. Dort, wo die Menschen ihre Häuser nicht mehr verlassen können, warten sie nun, dass die Regierung die 120.000 Lebensmittelrationen verteilt, die bereits am 17. Juni zugesagt wurden.

Die Situation in dem Verwaltungsbezirk erschwert sich von Tag zu Tag. Seit März ist dort Regenzeit und das Denguefieber war bereits vor COVID-19 in der Region ausgebrochen. Dazu ist es sehr wahrscheinlich, dass die Dunkelziffer von positiven Fällen und Todesfällen viel höher als die realen Zahlen liegt. Seit Anfang des Monats können in Atlántico wegen einer defekten Maschine nur 200 Tests pro Tag durchgeführt werden, bislang sind 67.600 Menschen getestet worden.

Doch statt direkte Hilfe für die ärmere Bevölkerung des Landes zu leisten, hat Präsident Iván Duque eine Reihe von Maßnahmen zugunsten von Großunternehmen und Banken zur Ankurbelung der Wirtschaft eingeführt. Die Hilfe für die Menschen in den ärmeren Bezirken von Bogotá, Barranquilla und Cali kamen vor allem von sozialen Organisationen oder privaten Spender*innen.

Der Hunger ist die eigentliche Pandemie

Präsident Duque führte am 19. Juni den Tag ohne Mehrwehrsteuer ein, um den Konsum anzukurbeln. „COVID-Friday“ wird der Tag in der Presse genannt, an dem Menschenmengen ohne Distanz und Mundschutz, die Supermärkte überfluteten, um hauptsächlich Fernseher und andere Elektrogeräte günstiger zu kaufen. Doch ob diese Maßnahme eine nachhaltige Wirkung auf die ohnehin paralysierte Wirtschaft haben wird, ist zweifelhaft. Auch für die Konsument*innen halten sich die Vorteile in Grenzen. Große Supermarktketten wie „Falabella“ und „Olímpica“ hatten in den Tagen vor dem COVID-Friday die Preise angehoben.
Dennoch kündigte das Staatsoberhaupt zwei weitere solcher mehrwehrsteuerfreien Tage im Juli an, allerdings unter strengeren Hygiene-Auflagen.
Die Wirtschaft des Landes war bereits vor der Pandemie durch den niedrigen Ölpreis – Kolumbiens Exportprodukt Nr. 1 – und der darauffolgenden Währungsentwertung in einer schwierigen Lage. Nun befindet sich Kolumbien in einer Rezession mit wachsender Arbeitslosigkeit. Diese stieg im Mai um 21,4 Prozent an und war somit doppelt so hoch wie im selben Monat des letzten Jahres. Deshalb fordern 48 Senator*innen und Mitglieder des Repräsentantenhauses, dass über ein temporäres bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert wird. „Wir stehen vor einer sozialen Unruhe, weil die Menschen Hunger haben“, sagte Armando Benedetti, Senator der „Partei der Einheit“, Mitunterzeichner der Petition, bei einer Debatte über das Grundeinkommen in Semana TV.

Hilfe kommt vor allem von sozialen Organisationen oder privaten Spender*innen

„Der einzige Weg, um die steigende Infektionskurve zu bremsen, ist die Einkommenssicherung der Kolumbianer*innen, sodass sie die nötige Zeit in ihren Häusern bleiben können“ schrieben die Abgeordneten in einem Brief an den Präsidenten.

Es wird ein Grundeinkommen von 900.000 Pesos (ca. 220€) für drei Monate gefordert, das durch eine außerordentliche Steuer an Superreiche, den Stopp der beschlossenen Steuerreform und durch die Neustrukturierung der Auslandsverschuldung eingetrieben werden könnte. Doch auch wenn Finanzminister Alberto Carrasquilla versicherte, dass sich Kolumbien perspektivisch in diese Richtung bewege, könne ein Grundeinkommen nach Aussage des Ministers nicht die, in eine tiefe Rezension fallende Wirtschaft auffangen, da es sich um „eine strukturelle Änderung“ handele.

Indessen steigen die Infektionskurve sowie die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung und die Gewalt in den abgelegenen Gebieten des Landes weiter an. In dieser multidimensionalen Krise hat Präsident Duque vehement seine Unfähigkeit gezeigt, das Land zu regieren. Fast täglich macht Duque 30- bis 60-minütige Videoansprachen und berichtet, wie er die Krise zu meistern versucht. Dabei wirkt er immer mehr wie die Karikatur eines Präsidenten, der eher beunruhigt als beruhigt.

Bereits vor der Pandemie hatte sich die Regierung von Präsident Iván Duque in eine Sackgasse manövriert. Seitdem überschlagen sich die Skandale. Kurz bevor die landesweiten Quarantäne­maßnahmen verhängt wurden, wurde ein Prozess gegen den kolumbianischen Präsidenten wegen Wahlbetrugs in der zuständigen parlamentarischen Kammer und im nationalen Wahlrat eröffnet. Anfang Mai enthüllte die Wochenzeitschrift Semana den größten militärisch-geheimdienstlichen Abhörskandal der jüngsten Geschichte des Landes. 130 Zivilist*innen, darunter Journalist*innen, Politiker*innen und Anwält*innen, wurden vom Nachrichtendienst des Militärs über Monate bespitzelt. Betroffen waren vor allem nationale und internationale Journalist*innen, die kritisch über den Konflikt berichten. Auch Anwält*innen von dem Anwaltskollektiv CAJAR, welche die Opfer von staatlichen Verbrechen verteidigen, waren Zielscheibe der Bespitzelungen.

In Juni enthüllte das Online-Portal La Nueva Prensa noch einen weiteren Skandal, der die Vizepräsidentin Marta Lucía Ramírez in Schwierigkeiten bringen dürfte. Marta Lucía Ramírez, eine der einflussreichsten kolumbianischen Politikerinnen des letzten Jahrzehnts, hatte im Jahr 1997 eine Kaution von 150.000 Dollar für ihren Bruder bezahlt, nachdem dieser in Miami wegen Heroinschmuggels festgenommen wurde. Nachdem Ramírez bisher stets behauptet hatte, keine Kaution bezahlt zu haben, nahm sie ihre Aussage in Folge der neuerlichen Enthüllungen zurück. Bereits im April war bekannt geworden, dass die Firma der Vizepräsidentin gemeinsam mit einer Firma des mutmaßlichen Drogenhändlers Guillermo Acevedo an einem Megabauprojekt im Norden Bogotás beteiligt war.

Ebenso unangenehm für Ramírez dürften die Anschuldigungen der Webserie „Matarife“ sein. Laut dem Matarife-Macher, dem Journalisten und Anwalt Daniel Mendoza Leal, verkehrte Marta Lucía Ramírez Ende der 1990er und Anfang der 2000er im elitären Club Nogal in Bogotá mit zentralen Figuren des Paramilitarismus.

Überhaupt hat die Youtube-Serie „Matarife“ für viel Wirbel in Kolumbien gesorgt. Seit dem 22. Mai erscheint jede Woche ein Kapitel, das die Verstrickungen des „Matarife“, des „Schlachters“ Álvaro Uribe mit Drogenmafia und Paramilitarismus aufdeckt. So berichtet Mendoza unter anderem über die Arbeit von Álvaro Uribe als Direktor der zivilen Luftfahrtbehörde 1980 bis 1982, in der er mehr als 200 Fluglizenzen für Flugzeuge und Landebahnen an Drogenhändler*innen vergab und so den internationalen Schmuggel des Medellín-Kartells ermöglichte. Es war ausgerechnet der Vater des heutigen Präsidenten und Uribes politischem Ziehsohn Iván Duque, der als damaliger Gouverneur von Antioquia auf die Fluglizenz-Vergabe an die Mafia aufmerksam wurde und dem Präsidenten Cesar Turbay über Uribes Machenschaften berichtete. Trotzdem behielt Uribe seinen Posten. 1984 machte es sich der Justizminister Rodrigo Lara zum Ziel, den Narcos die Fluglizenzen zu entziehen und deckte außerdem Tranquilandia auf, eine der großen Kokainfabriken Pablo Escobars. Bei der Razzia entdeckte die Polizei auf Tranquilandia auch einen Helikopter von Alberto Uribe Sierra, dem Vater von Álvaro Uribe. Zeitgleich machte die Zeitung El Espectador die Verbindungen der Uribes mit der Mafia bekannt – wenig später wurden sowohl Rodrigo Lara als auch Guillermo Cano, Herausgeber des Espectador, von Auftragskillern umgebracht. „Matarife“ berichtet auch von den Verbindungen Uribes zum Ochoa-Clan, den Geschäftspartnern Pablo Escobars, welche laut Aussagen eines Ex-Senators die Wahlkampagnen Uribes in den 1980ern finanzierten.

„Wir stehen vor einer sozialen Unruhe, weil die Menschen Hunger haben“

Das nächste Kapitel, so kündigt Mendoza an, wendet sich Uribes Rolle beim Aufbau des Paramilitarismus in den 90ern zu und seiner Verantwortung für diverse Massaker. Eine Million Aufrufe erreichen die einzelnen Kapitel der Webserie und tragen so die Vergangenheit des wohl nach wie vor mächtigsten Politikers des Landes ins allgemeine Bewusstsein. Einen Bezug zur Gegenwart zu ziehen ist dabei nicht schwer: Ob im Zuge des Ñeñepolítica-Skandals zum Stimmenkauf Uribes mit Hilfe paramilitärischer Strukturen (siehe LN 550), der Vorwürfe, Uribe habe dem mexikanischen Drogenboss El Chapo beim Kokainexport von Bogotás Flughafen El Dorado aus geholfen oder der jüngsten Berichte über die Waffengeschäfte des kolumbianischen Militärs mit Paramilitärs, bei denen unter anderem Pistolen der deutschen Carl Walther GmbH illegal weiterverkauft wurden. In einem Land, in dem weite Regierungskreise und das Militär in den illegalen Handel verstrickt sind, ist Aktivismus gegen diese Interessen lebensgefährlich. Laut der Stiftung IndePaz wurden allein in diesem Jahr 153 Aktivist*innen in Kolumbien ermordet. Dabei nutzen illegale bewaffnete Gruppen die häusliche Quarantäne, um ungestört zu morden. Während sich die Schutzmechanismen für gefährdete Personen als nutzlos erweisen, nimmt die Gewalt in den abgelegenen Gebieten des Landes rasant zu. Ein Trend, der schon vor der Pandemie zu verzeichnen war. Die steigende Kriminalität in den kolumbianischen Städten und die Gewalt auf dem Land sind Symptome eines Staates, der in kriminellen, sexistischen, klassistischen und rassistischen Strukturen verharrt. Trauriger jüngster Ausdruck davon ist die Massenvergewaltigung eines 12-jährigen indigenen Mädchens durch sechs Armeeangehörige im Verwaltungsbezirk Riseralda. Die Soldaten hatten die Angehörige der Embera zunächst entführt und dann vergewaltigt. Mittlerweile haben die Täter ihre Schuld zugegeben und wurden festgenommen. Die indigene Gemeinde der Embera fordert, dass sie sich neben der kolumbianischen Justiz auch vor der indigenen Justiz verantworten müssen. Gemeindesprecher wiesen auch darauf hin, dass es bereits in der Vergangenheit zu sexuellem Missbrauch gegen Angehörige der Gemeinde durch Armeesoldaten gekommen war, frühere Fälle aber keine öffentliche Beachtung oder Strafverfolgung fanden.

„FRAUEN HATTEN MACHT“

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Edith (42, links) war 20 Jahre lang aktives Mitglied der FARC und Camila (32, rechts) 15 Jahre lang (Illustration: Lena Roßner)

Was bewegte euch dazu, sich der FARC anzuschließen?

Camila: Mich bewegte die linke Bewegung, die in den barrios im Süden, den verarmten Peripherien der Stadt, aktiv war. Aufgrund der prekären Lebensumstände, in denen wir dort lebten, begann ich die Ideologie des sozialen Kampfes zu verstehen. Wir hatten keinen Zugang zu Wasser, keine Elektrizität und die Entfernungen zwischen der Stadt und der Peripherie waren sehr groß. Die Lebensbedingungen waren hart. Als sich mir durch meine politischen Netzwerke die Möglichkeit bot, beschloss ich der FARC beizutreten.

Edith: Mich motivierte das, was wir auf dem Land erlebten, was wir als Kinder gesehen hatten. Wegen der vorherrschenden Gewalt konnten wir nicht studieren gehen, teilweise nicht einmal die Schule beenden; es gab kaum Perspektiven für uns. Wenn ich Teil dieser Gesellschaft geblieben wäre, wäre ich heute ein anderer Mensch. Als ich hörte, dass es in der Organisation Frauen gab, beschloss ich der FARC beizutreten. Ich bin sehr dankbar, dass ich eine guerrera war und dass ich als Rundfunkbeauftragte und Krankenschwester vieles gelernt habe.

Was bedeutete es, eine Frau in der FARC zu sein?

Edith: Die Rolle der Frau in der Guerilla war sehr wichtig. Wir wurden nicht diskriminiert, sondern respektiert. Frauen hatten Macht. Frauen hatten diverse Positionen: als Kommandantinnen der Guerilla, als Rundfunksprecherinnen, als Krankenschwestern, als Ärztinnen, als Musikerinnen. Es wurde gesagt, eine Organisation ohne Frauen könne nicht funktionieren. Der Mann trug die Waffe, ebenso die Frau. Wir sprachen über Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Geschlechter.

Dieses Rollenbild stand im Gegensatz zum Rest der kolumbianischen Gesellschaft mit ihrem Machismo, in der die Rechte der Frauen nicht respektiert werden. Der Kampf von uns Ex-Guerilleras ist unter anderem, dass sich dies in unserem Land verändert. Wir sprechen mit Frauen über Freiheit und dass sie sich von ihren Männern nicht schlecht behandeln lassen müssen.

Camila: Unsere Rolle bestand nicht darin – wie oft dargestellt wird –, dass wir Frauen gezwungen und unterdrückt wurden, dass wir keine Ahnung hatten, was wir dort taten. Dem war nicht so. Wir sind Frauen, die politische Übersicht haben und vor allem sind wir politische Subjekte!

Welche Rolle spielte Feminismus in der FARC?

Camila: Zunächst muss klargestellt werden, dass wir den Begriff vor dem Friedensabkommen nicht gebrauchten. Im Grunde lebten wir durch unsere egalitären Geschlechterverhältnisse und durch die stetige Arbeit an diesen unsere Form des Feminismus: Wir kämpften in den ländlichen und städtischen Gebieten, wir waren durch unsere Aktivitäten in die Struktur der FARC eingebunden und besprachen Themen wie Sexismus und die Rolle der Frau in unseren Gruppenarbeiten.

Was wir infolge des Abkommens, das den Begriff „Feminismus” einführte, taten, war unsere gelebten Praktiken in theoretische Konzepte zu überführen. Wir wollten unsere eigene Theorie von Feminismus, den feminismo insurgente (aufständischer Feminismus; LN), innerhalb des globalen Diskurses erschaffen, um zu beschreiben wer die „mujeres farianas” (etwa: FARC-Frauen, LN) sind und was uns bewegt.

Was definiert den feminismo insurgente?

Camila: Zunächst entstand der Begriff, weil wir uns weder mit dem westlich-liberalen noch dem rechten Feminismus identifizieren konnten. Wir sagten uns, unser Feminismus sei ein Aufstand, da unsere Geschichte von Widerstand geprägt ist.

Dieser Feminismus wird von radikalen Frauen innerhalb der revolutionären Prozesse der linken Bewegung in Kolumbien gelebt. Von Frauen, die zur Waffe griffen, um für Landrecht zu kämpfen. Von Frauen, die verstanden haben, dass die Rolle der Hausfrau keine Option ist. Und von Frauen, die erkannt haben, dass wir als kritisch denkende Menschen auf der Welt sind, um einen Beitrag zu leisten.

Der FARC wird von mehreren Frauen, wie den Mitgliedern der Opferorganisation „Corporacion Rosa Blanca”, vorgeworfen innerhalb der FARC und in den Gemeinden sexuelle Gewalttaten begangen zu haben. Wie wurden diese Fälle innerhalb der FARC behandelt?

Edith: Da ich persönlich nichts dergleichen erlebt habe und auch nichts davon hörte, zweifle ich sehr an diesen Anschuldigungen. Ich glaube eher, dass die Frauen, die sich dort geäußert haben, keine Guerilleras waren. Vielleicht wurden sie für diese Aussagen bezahlt. Wenn ein Compañero das getan hätte, wäre er innerhalb der FARC hart verurteilt worden. Gewalt gegen Frauen wurde weder innerhalb noch außerhalb der Guerilla akzeptiert.

Camila: Für solche Fälle ist das Sondergericht des Friedensprozesses zuständig. Ich hoffe, dass die Klägerinnen ehrlich sind. Denn ich war innerhalb meiner Zeit in der FARC immer mit Männern unterwegs und mir ist weder etwas passiert, noch habe ich jemals etwas dergleichen von meinen Compañeras gehört. Dass Gewalt gegen Frauen für uns eine generelle Strategie war, ist eine Lüge. Es ist möglich, dass es Einzelfälle gibt, von denen wir nichts wissen. Wir können auch nicht behaupten, dass wir ihnen nicht glauben. Das wäre schlicht gegen unsere Vorstellung von Feminismus. Und wenn die Anschuldigungen berechtigt sind, müssen die Schuldigen vor Gericht verurteilt werden. Aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass es sich hierbei auch um eine Strategie der Rechten handeln könnte.

Wie bewertet ihr den momentanen Friedensprozess?

Edith: Seit vielen Jahren wollte die FARC aktiv an der kolumbianischen Politik teilnehmen. Wir griffen nicht zu den Waffen, weil wir es wollten. Wir sahen uns gezwungen, uns selbst und die Bevölkerung zu verteidigen. Heute können wir sagen: Der Prozess ist nicht das, was wir uns erhofft hatten. Wir dachten, dass das Leben danach anders sein würde. Nun passieren Morde an indigenen und afrokolumbianischen sozialen Vorkämpfer*innen, an Ex-Kämpfer*innen, an Zivilist*innen (LN  547), es herrscht mehr Angst auf dem Land und in den Städten. Die Regierung sagte, die Terroristen seien wir, doch nun ist die Zahl der Gewalttaten in Kolumbien deutlich gestiegen.

Eine der Aufgaben unserer politischen Führer*innen aus der FARC-Partei ist es uns Gehör zu verschaffen. Viele der jungen Menschen aus der FARC brauchen Arbeit und ein Zuhause. Schuld an all dem trägt die Regierung. Denn diese glaubte, wenn die FARC ihre Waffen niederlegt, sei alles getan. Das sei Frieden. Aber das ist kein Frieden. Wir wollen Wohnraum, wir wollen Bildung und vor allem ein würdiges Leben. Das ist Frieden!

Camila: Die kolumbianische Bevölkerung ist es leid, jeden Tag an verschiedenen Orten Menschen sterben zu sehen. Wir haben kein Friedensabkommen für die FARC geschlossen, sondern ein Friedensabkommen für die gesamte kolumbianische Bevölkerung. Und bis jetzt ist es uns nicht gelungen, das Recht auf Land zu erhalten. Und das war der grundlegende Kampf der FARC. Wir konnten allerdings nicht länger zulassen, dass der Kauf unserer Waffen ein Mittel zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus ist.

Heute fühle ich mich wie eine Gefangene in Kolumbien. Wir müssen uns jeden Monat bei den Behörden melden und dürfen das Land nicht ohne Erlaubnis verlassen.

Welche Rolle spielt der deutsche Staat im Friedensprozess?

Camila: Als Befürworter des Friedensprozesses sollte Deutschland überprüfen, dass die kolumbianische Regierung die Projekte tatsächlich unterstützt. Wie das Geld verwendet wird und wo es innerhalb dieser Projekte bleibt. Es herrscht Vetternwirtschaft und Korruption. Die für die Finanzierung der Sozialprojekte bestimmten Gelder fließen in die hohen Gehälter der Vorgesetzten und es bleibt kaum etwas für die Projekte übrig.

An welchen Projekten arbeitet ihr aktuell?

Edith: In Quibdó haben wir ein Restaurant geführt mit Frauen aus der Guerrilla und die Fußballmannschaft „Pare colombia“ [Stopp Kolumbien; LN] gegründet, in dem ausschließlich weibliche Ex-Kämpfer*innen spielen. Wir wollen auch Schulen in den Gemeinden bauen. Das Ziel ist die Integration der Ex-Kämpfer*innen in die Zivilbevölkerung.

Camila: Meine Arbeit bestand darin, eine genderspezifische Ausbildung für Frauen in den Wiedereingliederungszonen durchzuführen. Geführt wird dieses Projekt von der nationalen Genderkommission unter der Leitung von Victoria Sandino. Ein weiteres Projekt ist die Internetseite „mujer fariana“, sie dient als interne Plattform für die Ex-Guerrilleras.

Was habt ihr euch von der Reise nach Deutschland erhofft?

Edith: Wir suchen nach finanzieller und politischer Unterstützung, damit wir mit den Projekten in den Wiedereingliederungszonen fortfahren können. Es besteht kaum noch Hoffnung diese Projekte eigenständig umzusetzen. Es gibt immer wieder Sitzungen und Treffen, hier ein Protokoll, dort ein Protokoll. Doch nichts passiert und die Menschen sind die Lügen und leeren Versprechungen leid.

Camila: Was ich mir wünsche ist, dass globale linkspolitische und besonders feministische Netzwerke entstehen. Wir wollen den direkten und konstanten Kontakt zu den Vereinen halten, die wir hier kennengelernt haben. Ich habe den starken Wunsch nach Kooperationen, die es uns ermöglichen, die Arbeit der Frauen im Rahmen des Friedensabkommens zu stärken.

Was ist eure Vision für Kolumbien?

Edith: Ich will, dass Kolumbien sich verändert; dass es ein Land mit sozialer Gerechtigkeit wird. Ein Land in dem es Arbeitsplätze, Wohnraum, Bildung und ein funktionierendes Gesundheitssystem gibt. All das bleibt uns in Kolumbien verwehrt. Vor den Krankenhäusern sterben Menschen, weil sie nicht die nötigen finanziellen Mittel haben.

Camila: Wir sind es leid, dass von den drei Farben der kolumbianischen Flagge das Rot am deutlichsten hervortritt. Ich will, dass das Blutvergießen der kolumbianischen Bevölkerung ein Ende hat. Wir wollen ein menschenwürdiges Leben. Wir wollen frei sein.

PERU VERSINKT IM NACHWAHLCHAOS

Nach den Wahlen am 26. Januar ist das peruanische Parlament zersplittert. Wahlsieger wurde die konservative Acción Popular (AP) – mit gerade einmal 10,2 Prozent der Stimmen. Damit stellt sie im kommenden Kongress nur 25 der 130 Abgeordneten. Die anderen acht Parteien, die den Einzug geschafft haben, liegen mit jeweils fünf bis acht Prozent nur knapp dahinter. Die rechtspopulistische FP von Keiko Fujimori, der Tochter des Ex-Diktators Alberto Fujimori, stürzte mit 7,2 Prozent der Stimmen auf 15 Sitze ab und verlor ihre Dominanz im Parlament – 2016 hatte sie mit 73 Sitzen die absolute Mehrheit errungen.

Die schwierigen Mehrheitsverhältnisse im künftigen Kongress sorgen nun für neue Allianzen. Derzeit laufen die Vorbereitungen zur Wahl des Parlamentspräsidiums auf der konstituierenden Sitzung Anfang März. Wie die Nachrichtenagentur Andina berichtete, haben vier Parteien vor, einen gemeinsamen Vorschlag an Kandidat*innen für die Besetzung des obersten Gremiums der Legislative einzureichen. Das Bündnis besteht aus der AP, der Mitte-rechts Parteien Alianza para el Progreso (APP) und Somos Perú sowie der populistischen Podemos Perú (PP). Zusammen haben sie eine rechnerische Mehrheit von gerade einmal vier Stimmen. „Wir suchen nicht nach Bündnissen, sondern nach einer Agenda für die Regierbarkeit“, kommentierte Manuel Merino de Lama die Verhandlungen. Merino, Abgeordneter der konservativen Acción Popular (AP) im neuen peruanischen Parlament, kann sich gute Chancen auf das Amt des Parlamentspräsidenten ausrechnen.

Abschaffung der parlamentarischen Immunität

Die FP von Keiko Fujimori wurde in den Vorgesprächen der sich abzeichnenden Koalition bewusst nicht berücksichtigt. Gegen Keiko Fujimori laufen derzeit Ermittlungen aufgrund nicht deklarierter Wahlkampfspenden durch das brasilianische Bauunternehmen Odebrecht. Die 44-jährige Politikerin sitzt seit Ende Januar erneut in Untersuchungshaft, aus der sie im vergangenen November entlassen worden war.

Die Fragmentierung des Parlaments treibt teils bizarre Blüten. Der gewählte Abgeordnete Posemoscrowte Chagua der ethnonationalistischen Unión por el Perú (UPP) erklärte Anfang Februar gegenüber der Zeitung Peru 21, seine Partei befinde sich mit der linken Frente Amplio (FA) und der Frente Popular Agrícola (FREPAP), die eine krude Mischung aus evangelikalen und indigenen Positionen vertritt, in Verhandlungen über eine eigenen Vorschlag für die Besetzung des Parlamentspräsidiums. FREPAP hat einen beachtlichen Wahlerfolg errungen und war aus dem Stand auf 15 Mandate gekommen. Zuletzt hatte die theokratische Sekte, die ihren Gründer Ezequiel Ataucusi wie einen Messias verehrt im Jahr 2000 zwei Sitze im Kongress erhalten. Der gemeinsame Vorschlag kam jedoch nicht zustande, die FA machte stattdessen einen eigenständigen Vorschlag für das Präsidium.

Ein Ziel der UPP ist die Freilassung von Antauro Humala, dem jüngeren Bruder des ehemaligen Präsidenten Ollanta Humala. Er durfte nicht wie geplant als UPP-Spitzenkandidat in Lima zur Wahl antreten, da er derzeit im Gefängnis sitzt. Dort befindet er sich seit 2005, weil er damals 150 Anhänger, vor allem Reservisten, in einem später als „Andahuaylazo“ bekannt gewordenen bewaffneten Aufstand gegen den damaligen Präsidenten Alejandro Toledo geführt hatte. Der Aufstand in dem Andenstädtchen Andahuaylas wurde nach drei Tagen beendet, vier Polizisten und zwei Aufständische starben. Begründet hatte Humala den Aufstand mit der Ideologie des Ethnocacerismus. Diese fordert eine Wiederherstellung des Inkareiches durch militärische Expansion und Vorherrschaft der als cobriza deklarierten Ethnie, die laut Humala aus Mestiz*innen, Indigenen und Teilen der asiatischen Bevölkerung besteht.

Alle 20 Tage ein Rücktritt

Ein wichtiges Anliegen vieler Fraktionen in der aktuellen Legislaturperiode, die nur bis zu den turnusmäßigen Wahlen 2021 dauert, ist die Abschaffung der parlamentarischen Immunität. Die meisten der im Kongress vertretenen Parteien, ausgenommen die AP, die FA und die Fujimorist*innen der FP, stehen einer solchen Änderung offen gegenüber. Auch die Gegner*innen einer vollständigen Abschaffung fordern zumindest deren erleichterte Aufhebung. Antauro Humala ging sogar soweit, die Todesstrafe für Korruption zu fordern.

Derweil erreichte der Korruptionsskandal um Odebrecht die Regierung des Interimspräsidenten Martín Vizcarra. Allein in der zweiten Februarwoche gaben zwei Minister*innen deswegen ihren Rücktritt bekannt, der Energieminister Juan Carlos Liu und die Justizministerin Ana Teresa Revilla. Seit der Parlamentsauflösung im vergangenen September haben bereits sieben Minister*innen ihr Amt geräumt, im Durchschnitt eine*r alle 20 Tage. Liu, der im Oktober sein Amt antrat, war während seiner Beratertätigkeit für das Ministerium zwischen 2010 und 2014 auch als privater Berater für Odebrecht tätig. 2013 erstellte er im Auftrag des Ministeriums eine Studie, die ein Finanzierungsmodell für eine Gaspipeline empfahl, deren Konzession an Odebrecht ging. Der Vertrag wurde 2017 aufgrund von Finanzierungsproblemen des Baukonsortiums um Odebrecht seitens der Regierung gekündigt. Seitdem ruhen die Arbeiten. Zwei Jahre später einigte sich Odebrecht in den Korruptionsfällen mit dem peruanischen Justizministerium per Vergleich auf eine Strafzahlung von 182 Millionen US-Dollar und kann seitdem die Geschäfte fortführen. Dessen ungeachtet verklagte Odebrecht wegen des Baustopps der Gaspipeline die peruanische Regierung auf 1,2 Milliarden Dollar Entschädigungszahlungen vor dem CIADI, einem Schiedsgericht der Weltbank. Liu hatte sich vorher mit Vertreter*innen von Odebrecht und dem zuständigen Staatsanwalt Jorge Ramírez getroffen.

Die Justizministerin Ana Teresa Revilla hatte laut den Aussagen von Liu und Ramírez vorab Kenntnis von Odebrechts Klagevorhaben, ohne den Präsident Vizcarra zu informieren. Revilla kündigte daraufhin ihren Rücktritt an. Der mittlerweile ebenfalls zurückgetretene Jorge Ramírez behauptete anschließend, Vizcarra selbst sei über die Treffen mit Odebrecht informiert gewesen, was dessen Premierminister Vicente Zeballos umgehend bestritt. Vizcarra, der eigentlich guten Rückhalt in der peruanischen Bevölkerung genießt, büßte im Nachgang der Ereignisse weiter an Vertrauen ein. Umfragen zufolge befürworten nur noch 53 Prozent der Peruaner*innen seine Regierung. Nach der Parlamentsauflösung im vergangenen September waren es noch 79 Prozent gewesen. Seitdem fielen die Zustimmungswerte kontinuierlich. Ob und wie Vizcarra seinen Antikorruptionskurs weiter fortsetzen kann, bleibt angesichts der neuesten Enthüllungen fraglich. Der Ex-Parlamentarier und Vorsitzende der FA, Marco Arana, warnte im Interview mit Canal N vor einer allgemeinen Regierungskrise, von der korrupte Kreise profitieren könnten: „Was sie wirklich tun wollen, ist, die geringen Anstrengungen und die Unklarheiten anzugreifen, die manchmal in dieser Regierung in Bezug auf den Kampf gegen die Korruption bestehen.“ Er forderte stattdessen eine parlamentarische Untersuchungskommission. In Sicht ist die nicht.

WAHLEN IM SCHATTEN DER KORRUPTION

Kein leichter Job Übergangspräsident Vizcarra versucht sich an der Demokratisierung des Kongresses (Foto: Ministerio de Relaciones Exteriores via Flickr CC BY-SA 2.0)

Auf den ersten Blick ähneln sich die Ereignisse. Als der damalige Präsident Alberto Fujimori im April 1992 eigenmächtig den peruanischen Kongress auflöste und verriegelte, stand eine breite Mehrheit der Bevölkerung hinter ihm. 27 Jahre später, im September 2019, erhielt der aktuelle Präsident Martín Vizcarra unerwartet viel Applaus, als er diese Maßnahme kopierte. Beide Politiker inszenierten sich als Kämpfer gegen die Korruption und wollten in ihrem jeweils zweiten Amtsjahr für frischen Wind sorgen.

Doch der Unterschied könnte nicht größer sein: Fujimori ließ damals Panzer auffahren und schuf selbst eine bis ins letzte Glied korrupte Diktatur, die sich schwerer Menschenrechtsverbrechen schuldig machte. Vizcarra hingegen verzichtete aufs Säbelrasseln und verstieß nicht gegen geltendes Recht. Allem Anschein nach geht es ihm wirklich darum, den Kongress zu demokratisieren statt ihn zu kontrollieren.

Widerstand gegen Vizcarras Vorhaben gab es nur im Kongress, dem Einkammerparlament Perus. Als dessen Wortführerinnen schwangen sich Oppositionspolitikerinnen wie Luz Salgado und Rosa Bartra auf. Sie wähnten den politisch eher moderaten Vizcarra bereits auf dem Wege Fidel Castros und „entlarvten“ ihn als Inkarnation des verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, der aus ihrer Sicht vermutlich mit dem Leibhaftigen höchstselbst identisch sei. Salgado und Bartra waren bis Ende September Abgeordnete der konservativen Fuerza Popular (FP), der Partei der Diktatorentochter Keiko Fujimori, die über die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament verfügte. Die langjährige Kongressabgeordnete Luz Salgado steht – wie viele ihrer Parteifreund*innen auch – bereits seit Beginn der 1990er Jahre im Dienst des Fujimori-Clans. So vehement sie gegen Vizcarra Front machte, so leidenschaftlich verteidigte sie 1992 den Putsch ihres damaligen Mentors Alberto Fujimori.

Die von Vizcarra veranlasste Schließung des Kongresses steht in direktem Zusammenhang mit der Welle von Korruptionsprozessen, die Peru momentan überzieht. Fast alle Präsidenten der vergangenen 35 Jahre werden verdächtigt, Bestechungsgelder des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht angenommen zu haben. Sie haben sich ihren Lebensabend ebenso gründlich ruiniert wie ihre Reputation: Alan García, zweimaliger Präsident von 1985 bis 1990 und von 2006 bis 2011, schoss sich im April vergangenen Jahres eine Kugel in den Kopf, nachdem Polizisten an seiner Haustür geklingelt hatten, um ihn ins Untersuchungsgefängnis zu eskortieren. Alejandro Toledo, Präsident von 2001 bis 2006, sitzt in den USA in Auslieferungshaft. Gegen Toledos Nachfolger Ollanta Humala (2011 bis 2016) und Pedro Pablo Kuczynski (2016 bis 2018) wird ebenfalls eine Anklage vorbereitet. Humala saß bereits knapp zwei Jahre im Untersuchungsgefängnis, der 81-jährige Kuczynski steht seit April letzten Jahres unter Hausarrest. Nur Alberto Fujimori (1990 bis 2000) sitzt nicht wegen Odebrecht, obwohl der Konzern auch an ihn zahlte. Stattdessen verbüßt er seit 15 Jahren eine 25-jährige Haftstrafe wegen schwerer Menschenrechtsverbrechen. Hätte er nicht morden, entführen und foltern lassen, so säße er wegen Bestechung, Erpressung und Wahlfälschung, denn nach peruanischem Recht zählt nur die höchste Strafe.

Alan García nahm Schmiergelder in Brotdosen an

Seit dem Tod von Alan García, langjähriger Vorsitzender der einst sozialdemokratischen Alianza Popular Revolucionaria Americana (APRA), gelangen immer mehr Details seines Falls ans Tageslicht. Garcías ehemaliger Generalsekretär im Präsidentenpalast, Luis Nava, ebenfalls hinter Gittern, bezeugte unlängst, dass Odebrecht seinem Chef regelmäßig Schmiergelder in Rucksäcken, Koffern und Brotdosen zukommen ließ. Als Gegenleistung soll Odebrecht überteuerte Aufträge für den Bau einer Metrolinie in Lima und eines Straßenprojekts erhalten haben. Nava erinnerte sich auch an ein anderes Ermittlungsverfahren: 1986 setzte García als Präsident die Armee ein, um eine Revolte von Gefangenen der maoistischen Guerillaorganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) im Hochsicherheitsgefängnis El Frontón niederzuschlagen. Dabei wurden 133 Gefangene getötet. Als die Behörden deswegen Ermittlungen gegen García aufnahmen, ließ dieser dem zuständigen Staatsanwalt laut Nava einen 25.000 US-Dollar schweren Umschlag zukommen. Danach wurde das Verfahren eingestellt.

In Kürze beginnt der Prozess gegen Ollanta Humala und seine Frau Nadine Heredia. Beide sollen unter anderem gegen großzügige Spenden in einem intransparenten Ausschreibungsverfahren Konzessionen für die Ausbeutung eines Gasfeldes an Odebrecht vergeben haben. Die Staatsanwaltschaft fordert 20 Jahre Haft für Humala und 26 Jahre für Heredia. Ähnliches Ungemach droht Alejandro Toledo, in dessen Taschen 21 Millionen US-Dollar von Odebrecht und dem brasilianischen Mischkonzern Camargo Correas für entsprechende Aufträge im Straßenbau geflossen sein sollen. In diesem Fall lässt es die Staatsanwaltschaft bei 16 Jahren Haft bewenden. Kuczynski strich als ehemaliger Minister Toledos mittels einer seiner Firmen Zuwendungen von Odebrecht ein und wird mit vergleichsweise wenig Jahren davonkommen.

Die Spur der Korruption zieht sich vom Präsidentenamt weiter zum Parlament und durch Gouverneurs- und Bürgermeisterämter bis hinein in die Provinzen. Die Oppositionsführerin Keiko Fujimori, die sich dreimal vergeblich um das Präsidentenamt beworben hatte und bei ihrem bis dato letzten Versuch 2016 nur knapp gescheitert war, saß wegen nicht deklarierter Wahlkampfspenden von Odebrecht über ein Jahr in Untersuchungshaft, weil sie nach Ansicht ihrer Richter*innen die Ermittlungen in ihrem Fall massiv behindert hatte. Ihr Prozess steht ebenfalls noch aus. Doch es geht längst nicht mehr nur um Odebrecht. So gestand der mächtige peruanische Bankier und Konzernchef Dionisio Romero der Staatsanwaltschaft im November, er habe 2011 höchstpersönlich von seinem Bankkonto auf den Kaimaninseln 3,65 Millionen US-Dollar abgehoben und diese in sechs Lederkoffern als Wahlkampfspende an Keiko Fujimori übergeben.

Illegale Spenden, die im Gegenzug mit lukrativen Bauaufträgen verknüpft waren, gingen den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zufolge auch an Susana Villarán, der ehemaligen Bürgermeisterin Limas, an ihren Vorgänger und Nachfolger Luís Castaneda und an den ehemaligen Gouverneur der Provinz San Martín, César Villanueva. Auch Villarán und Villanueva verbringen ihren Alltag zurzeit in einer Gefängniszelle. Zahlreiche Abgeordnete des aufgelösten Parlaments, darunter Luz Salgado, müssen nach dem Verlust ihrer Immunität ebenso mit Anklagen rechnen wie weitere Gouverneur*innen, Richter*innen und Staats­anwält*innen.

Es scheint so, als würde die Justiz überall dort, wo sie ermittelt, in ein Wespennest stoßen. Doch die Justiz sticht längst nicht in jedes Nest, denn viele hochrangige Richter*innen und Staatsanwält*innen gehören selbst kriminellen Vereinigungen an. Im Juni 2018 flog ein Netz korrupter Richter*innen und Staatsanwält*innen mit dem Namen „Die Weißen Kragen des Hafens“ auf. Der Kopf der Bande mit Sitz in Limas Hafenbezirk Callao war der ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof, César Hinostroza. Die „Weißen Kragen“ erpressten Bestechungsgelder für die Vergabe von Justizposten, manipulierten Urteile durch Absprachen und pflegten erstklassige Beziehungen zur Drogenmafia sowie – das belegen abgehörte Telefongespräche – zur FP. Sie kontrollierten bis 2018 sogar den Nationalen Richter*innenrat (Consejo Nacional de Magistratura, CNM), der für die Evaluierung, Ernennung und Absetzung von Richter*innen zuständig war. Die Parlamentsmehrheit um die FP hielt Hinostroza, der ausgerechnet Berufungsverfahren in wichtigen Korruptionsfällen leitete, selbst nach seiner Enttarnung noch weiter im Amt. Nicht zuletzt dadurch konnte er seiner Festnahme durch eine Flucht nach Spanien entgehen. Während er dort in Auslieferungshaft sitzt, besetzen von den „Weißen Kragen“ eingesetzte Richter*innen immer noch Schlüsselstellen in der Justiz.

Immerhin wurde der FP mit dem Kongress nun ein wichtiges Forum entzogen. Die Parlamentsmehrheit um die FP und die APRA hatte im September in aller Eile versucht, mehrere Richter*innenstellen im obersten Verfassungsgericht mit eigenen Leuten zu besetzen, ohne die Auswahlkriterien transparent zu machen. Ein von Präsident Vizcarra in den Kongress eingebrachtes Gesetz, das eine größere Transparenz bei Richter*innenwahlen durch das Parlament garantieren sollte, wurde dagegen abgeschmettert. Nachdem der Kongress dann noch einen Cousin des amtierenden Parlamentspräsidenten von der FP zum Verfassungsrichter gekürt hatte, zog Präsident Vizcarra die Reißleine und ließ den Kongress schließen. Anschließend wurde die Richter*innenwahl annulliert, weil ein Widerspruch von zwei Abgeordneten gegen die Vetternwirtschaft nicht mehr verhandelt werden konnte.

Die FP hatte es mit der Wahl der Verfassungsrichter*innen deshalb so eilig, weil Keiko Fujimori zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis saß und nur das Verfassungsgericht ihre zweieinhalbjährige Untersuchungshaft wieder aufheben konnte. Drei der sieben Richter*innen des Verfassungsgerichts, darunter der Vorsitzende Ernesto Blume, verfügten über enge Bindungen zum Fujimori-Clan. Mit einem vierten Richter hätte sich die Fujimori-Partei die Mehrheit in diesem Gremium gesichert. Doch Blume gelang es auch so, einen weiteren Kollegen zu überzeugen: Ende November 2019 verfügten die Verfassungsrichter*innen mit vier zu drei Stimmen die sofortige Freilassung Keiko Fujimoris – gerade noch rechtzeitig für den anstehenden Wahlkampf.

Das neue Parlament hat nur einen Übergangscharakter, denn bereits im April 2021 stehen wieder turnusmäßig Präsidentschafts- und Kongresswahlen an. Da 2018 mittels eines Referendums entschieden wurde, dass Abgeordnete sich nicht mehr in zwei aufeinander folgenden Perioden in den Kongress wählen lassen dürfen, ist eine Kandidatur für viele Abgeordnete zum jetzigen Zwischentermin nicht sonderlich attraktiv. Nach den letzten Umfragen sieht es so aus, als sollte die Acción Popular, eine rechtskonservative Partei, die vom ehemaligen Präsidenten Fernando Belaúnde gegründet wurde, mit etwa 15 Prozent als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgehen. Danach folgt die FP mit einem immerhin noch zweistelligen Ergebnis. Die APRA, immer noch Mitglied der Sozialistischen Internationalen, pendelt um die fünf Prozent und könnte aufgrund der Fünfprozentklausel den Einzug ins Parlament verpassen.

Die Linke zerlegt sich wieder selbst

Die einzige linke Partei, die auf knapp über fünf Prozent geschätzt wird, ist die Frente Amplio, deren Kandidatin Verónika Mendoza bei den Präsidentschaftswahlen 2016 nur knapp die Stichwahl verpasste. Nach den bleiernen Jahren unter Fujimori hatte Frente Amplio und Verónika Mendoza 2016 endlich wieder für Optimismus in der Linken gesorgt. Inzwischen sind diese Hoffnungen zerstoben, denn die Linke hat sich wieder einmal selbst zerlegt. Verónika Mendoza verließ die Frente Amplio nach einem Streit mit deren Anführer Marco Arana und schmiedete ein Bündnis mit marxistisch-leninistischen Splittergruppen, das den Einzug in den neuen Kongress mit großer Wahrscheinlichkeit nicht schaffen wird. Immerhin ist es sehr wahrscheinlich, dass die FP ihre absolute Mehrheit verlieren wird. Damit hätte Präsident Vizcarra freie Bahn für Justizreformen, die künftig verhindern, dass Parteien wie die FP Richter*innenwahlen für ihre Zwecke missbrauchen.

WENIG BESSERUNG IN SICHT


Festival Lula Livre
Ex-Präsident Lula da Silva mit der populären Musikerin Lia de Itamaracá (Ricardo Stuckert/Fotos Publicas, CC BY 2.0)

Es ist eines dieser Fotos, die es in jedes Jahrbuch von 2019 schaffen werden: Lula da Silva, ganz in Schwarz gekleidet und nach der Haft deutlich verjüngt, den Rücken durchgestreckt und die Faust gen Himmel geballt, reitet auf den Schultern einer riesigen Menschenmenge in einem Meer von Rot. Wie am Tag zuvor, bei seiner Entlassung in Curitiba, empfängt ihn eine völlig euphorische Menge am Sitz der Metallarbeitergewerkschaft in São Bernardo do Campo: Endlich. Endlich ist er wieder da, ihr Präsident, nach 580 Tagen Haft. Sie wollen ihm nah sein, sie wollen ihn anfassen, seine Kleidung berühren, seinen Kopf streicheln, besser noch, ihn umarmen und küssen. So grenzenlos ist die Erleichterung, die Freude und der Schmerz, dass allerorts Tränen fließen, in Massen, nicht in Maßen.

Die Verehrung des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva durch seine Anhänger*innen erreicht dieser Tage ein Niveau, das in Lateinamerika sonst nur Heiligen zukommt. Doch selbst diese extreme Form der Verehrung eines Politikers ist nicht völlig unverständlich. Die Mehrzahl der heute in Brasilien lebenden Menschen hat unter Lulas Präsidentschaft von 2003 bis 2010 die besten Jahre ihres Lebens verbracht. Jahre, in denen sich ihr Einkommen deutlich gesteigert hat, in denen sie selbst oder ihre Kinder vielleicht die ersten der Familie waren, die studierten. Jahre, in denen es in vielen Bereichen des Lebens deutliche Verbesserungen gab. All dies wird im Rückblick vor allem Lula als Person zugeschrieben, auch weil seine Nachfolgerin Dilma Rousseff in der Arbeiterpartei und ihrer Wählerschaft nicht nur deutlich weniger populär war, sondern auch deutlich weniger erfolgreich im Schmieden politischer Allianzen und ökonomischer Erfolge. Und so erscheint Lula nach seiner Haftentlassung vielen als Garant dafür, dass es jetzt endlich wieder aufwärts geht, nach fünf Jahren Wirtschaftsflaute, Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Rücknahme vieler sozialer Errungenschaften und Rechte durch die Regierungen Temer und Bolsonaro.

Sie wollen Lula nah sein

Lula selbst gibt sich in seinen öffentlichen Reden kämpferisch. Er greift Bolsonaro und die Politik seiner Regierung scharf an. Er beteuert seine Unschuld und kritisiert den Richter und heutigen Justizminister Sergio Moro, der ihn 2018 zu zwölf Jahren und elf Monaten Haft verurteilte, als parteiisch. Und er wird gehört. Zum Festival Lula Livre, einer bereits vor seiner Freilassung geplanten Großveranstaltung am 17. November in Recife, strömten Zehntausende, um ihn sprechen zu hören. „Jetzt muss sich die Kampagne Lula Livre in eine viel größere Sache verwandeln, denn was wir wollen, ist die Annulierung der niederträchtigen Prozesse gegen uns. Legt Beweise gegen mich vor und verurteilt mich, und ich werde nicht mehr zurückkehren, um vor euch Reden zu halten“, sagte er auf dem Festival. „Ich werde nicht über meine Freiheit verhandeln und keine elektronische Fußfessel akzeptieren. Niemandem wird es gelingen, mich davon abzuhalten dafür zu kämpfen, dass unsere Kinder ein besseres Leben haben werden als wir. Und dafür, dass unser Land endlich das grenzenlose Leid von 300 Jahren Sklaverei beendet.“

In vielen Medien wurde diese Rede Lulas als Auftakt für seine erneute Kandidatur im Jahr 2022 verstanden. Er selbst nährt die Hoffnungen, er könne noch einmal als Präsident zurückkehren und die Erfolgsgeschichte von 2003 wiederholen. Seine Partei hofft mit Lula als Wahlkämpfer auf große Gewinne für die PT bei den Kommunalwahlen im kommenden Jahr. Und nicht zuletzt ist die Einigung der Linken unter der Führung der PT ein wichtiges Ziel. Doch in der Realität scheint all dies eher unwahrscheinlich.

Auch innerhalb der PT ist die Situation unklar

Der ehemalige Präsident muss sich in insgesamt zehn Fällen Korruptionsvorwürfen stellen und ist bereits in mehreren Prozessen in erster oder zweiter Instanz verurteilt worden. Im letzten Prozess Ende November bestätigte das Gericht nicht nur das erstinstanzliche Urteil, sondern erhöhte sogar die Strafe von rund 13 Jahren auf mehr als 17 Jahre Haft. Dem Gesetz Ficha Limpa (sinngemäß weiße Weste, Anm. d. Red.) zufolge, kann Lula da Silva nach nur einer einzigen Verurteilung in zweiter Instanz nicht mehr für ein politisches Amt kandidieren. Ein Ausweg aus dieser Situation wäre nur eine Annulierung aller Prozesse des Korruptionsskandals um den Ölkonzern Petrobras, bekannt als Lava Jato, in denen Sergio Moro, in seiner damaligen Position als Bundesrichter, Lula da Silva 2018 verurteilte. Nachdem über die Nachrichtenplattform The Intercept zahlreiche Absprachen zwischen Moro, der Staatsanwaltschaft und führenden Politiker*innen bekannt wurden (LN 541/542), erschien dies durchaus möglich. Doch am 6. Dezember entschied die Generalstaatsanwaltschaft (PGR), dass sie keine Unregelmäßigkeiten in den Gesprächen zwischen Richter Moro und den Staatsanwälten des Lava Jato-Prozesses in Curitiba feststellen konnte und daher keine Rechte des Angeklagten Lula da Silva verletzt wurden. Solange diese Entscheidung Bestand hat, kann Lula bei der Präsidentschaftswahl 2022 nicht antreten.

Auch innerhalb der PT ist die Situation recht unklar. Direkt nach seiner Freilassung hatte Lula an seine Partei die Losung ausgegeben, die größtmögliche Anzahl an PT-Kandidat*innen für die Kommunalwahlen 2020 zu nominieren, vor allem in Städten mit kostenloser Wahlwerbung im Fernsehen. Diese könne die Partei nutzen, um die PT-Regierungen und den ehemaligen Präsidenten zu verteidigen. Die Suche nach geeigneten Kandidat*innen gestaltet sich jedoch durch die regionalen Interessenlagen als schwierig. Oft werden Allianzen mit anderen Parteien bevorzugt, um die Wahlchancen zu erhöhen. Bisher stehen in fast allen wichtigen Großstädten die PT-Kandidat*innen noch nicht fest. In São Paulo ist Lulas Vorschlag eine Kandidatur der heute parteilosen, ehemaligen PT-Bürgermeisterin Marta Suplicy gemeinsam mit Fernando Haddad, ebenfalls ehemaliger PT-Bürgermeister von São Paulo. Suplicy ist, was die Wahlchancen angeht, jedoch keine sichere Bank und Haddad hat bereits mehrfach geäußert, dass er nach drei Kandidaturen in sechs Jahren – in São Paulo und bei den Präsidentschaftswahlen – im Moment nicht zur Verfügung stehe. Ähnlich schwierig ist es in Rio de Janeiro mit einer Kandidatur von Benedita da Silva (PT) in einer möglichen Allianz mit Marcelo Freixo (PSOL) sowie mit möglichen Kandidat*innen in der ehemaligen PT-Hochburg Porto Alegre und in Salvador de Bahia.

„Lula ist ein Schlangenbeschwörer.“

Jenseits taktischer Überlegungen wurde bei den Diskussionen des nationalen PT-Kongresses ab dem 22. November deutlich, dass sich die verschiedenen Strömungen der Partei über mögliche Koalitionen nicht einig sind. Der sozial-*demokratische Flügel möchte strategisch mit Mitte-Rechts-Parteien gegen die Regierung Bolsonaro zusammenarbeiten, während der linke Flügel ausschließlich mit linken Parteien Bündnisse schließen will, jedoch mit einem entsprechenden Antrag scheiterte. Gleisi Hoffmann vom sozialdemokratischen Flügel wurde nach einer emotional geführten Debatte erneut zur Parteivorsitzenden gewählt. Beides kann man als Niederlage des linken Flügels werten.

Kritik an der Fixierung der PT auf Lula und Zweifel an seiner Mobilisierungsfähigkeit wurden auf dem Parteikongress nur hinter vorgehaltener Hand geäußert. Dass Lula direkt nach seiner Freilassung öffentlich kundtat, die PT habe sich nichts vorzuwerfen, hat bei der Linken innerhalb und außerhalb der Partei für Kritik gesorgt. Ob die brasilianische Opposition, von den sozialdemokratischen Parteien im Parlament bis zu den sozialen Bewegungen, gewillt ist, sich unter der Führung der PT zu vereinen, darf bezweifelt werden. Denn auch wenn jetzt Zehntausende an den Veranstaltungen mit Lula teilnehmen, hatte die PT zuletzt erheblich an Mobilisierungsfähigkeit eingebüßt, aller Lula Livre-Rhetorik zum Trotz. So konnte die Partei in Rio de Janeiro oft nur noch wenige hundert Menschen mobilisieren, wenn sie die Freilassung ihres ehemaligen Präsidenten forderte. Lula nutzt daher jede Gelegenheit, um mit möglichen Bündnispartnern zu verhandeln. Auch den Besuch in Recife nutzte er für Gespräche mit den Leitfiguren der sozialdemokratischen PSB in Pernambuco.

Konzentration auf Kampf gegen Bolsonoaro

Wenig hilfreich ist in dem Szenario einer Einigung der Linken auch das Verhalten von Ciro Gomes von der sozialdemokratischen PDT. Anfang 2018 wurde er als möglicher Kompromisskandidat aller linken Parteien gehandelt, sollte Lula nicht kandidieren können. Direkt nach Lulas Freilassung sagte er öffentlich: „Lula ist ein Schlangenbeschwörer. Er bildet sich ein, dass die Leute blöd sind und er sie verleiten kann, indem er völlig ohne Skrupel Fetische und Intrigen benutzt. Der Schaden, den Lula Brasilien zufügt, ist umfassend und schwerwiegend.“ Der Sozialdemokrat reihte sich damit ein in den Chor der Rechten und Ultrarechten, die nach der Freilassung Lulas öffentlich vor Wut schäumten und alle möglichen Sanktionen in Aussicht stellten, darunter ein Verbot des Obersten Gerichtshofes (STF) und die Änderung der Verfassung durch den Kongress, um die Entscheidung rückgängig zu machen.

Deutlich vorsichtiger als Gomes agieren im Moment viele soziale Bewegungen, die sich auf den Kampf gegen die Politik der Regierung Bolsonaro konzentrieren und weder deutliche Kritik noch übertriebenen Enthusiasmus gegenüber Lula und seiner Partei äußern.

Kurz vor Redaktionsschluss fand im Parlament die Abstimmung über eine Gesetzesvorlage von Sergio Moro statt. Das „Anti-Kriminalitäts-Paket“ sollte nach den Vorstellungen des Justizministers „mit Dringlichkeit“ noch in diesem Jahr verabschiedet werden. Es enthält Regelungen, die den Schusswaffengebrauch der Militärpolizei noch über die bereits bestehenden großzügigen Regelungen hinaus legitimieren und wird von Menschenrechtsverteidiger*innen als „Lizenz zum Töten“ bezeichnet. Eine parteiübergreifende Koalition von Mitte-Links-Parteien lehnte die Dringlichkeitsabstimmung jedoch ab. Eine herbe Niederlage für Justizminister Moro und den Parlamentspräsidenten Rodrigo Maia von der rechten DEM. Und ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass sich in bestimmten Fragen möglicherweise doch eine parlamentarische Opposition gegen die Regierung Bolsonaro organisieren lässt.

 

FREIHEIT FÜR LULA

Am Ende ging alles sehr schnell: Am 7. November hatte der Oberste Brasilianische Gerichtshof (STF) mit sechs zu fünf Stimmen überraschend dafür votiert, eine Entscheidung von 2016 wieder aufzuheben. Diese erlaubte eine Haftanordnung nach der Verurteilung in zweiter Instanz, obwohl damit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Damit änderte sie die vorherige – und auch von Linken scharf kritisierte – Rechtspraxis, die es verurteilten Täter*innen oft ermöglichte, jahrelang in Freiheit zu leben. Und sie erlaubte die Verhaftung von Lula da Silva im April 2018 (siehe LN 526) nach seiner umstrittenen Verurteilung in zweiter Instanz.
Seither hatten Lulas Anwälte alle juristischen Hebel in Bewegung gesetzt, um seine Entlassung durchzusetzen. Weite Teile der linken Opposition in Brasilien, allen voran die Arbeiterpartei PT, erhob die Forderung „Lula Livre!“ (Freiheit für Lula) zur obersten Priorität ihrer politischen Agenda. Erst nach 580 Tagen Haft, aber weniger als 24 Stunden nach der Entscheidung des STF, konnte eine begeisterte Menge Lula da Silva in Freiheit in Curitiba feiern. Seine Anhänger*innen hatten während der gesamten Inhaftierung eine Mahnwache in seiner Hörweite organisiert.
In seiner ersten Rede würdigte Lula alle Unterstützer*innen: „Jeden einzelnen Tag habt ihr die Demokratie genährt, die ich gebraucht habe, um dem verdorbenen Teil des brasilianischen Staates Widerstand zu leisten.“ Er versprach, sein restliches Leben der Aufgabe zu widmen, diese Solidarität zurückzugeben, und den politischen Kampf sofort mit aller Entschlossenheit wieder aufzunehmen.
Die Entlassung von Lula da Silva ist nur vorläufig und bedeutet keine Aufhebung des umstrittenen Urteils zur angeblichen Korruption durch eine Luxuswohnung, dem Tríplex in Guarujá. Er wurde in diesem Fall in zweiter Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Gegen ihn sind außerdem weitere Anklagen anhängig.
Präsident Jair Bolsonaro hüllte sich zunächst in Schweigen, was die Presse kritisierte. Erst am folgenden Tag rief er dazu auf „diesem Dreckskerl keine Munition zu liefern“. Die rechte Regierungskoaliton sieht durch die Entscheidung „die Demokratie gefährdet“ und kündigte an, diese durch neue Gesetze rückgängig zu machen. Auch der Sozialdemokrat Ciro Gomes (PDT) kritisierte den STF.
Bei der PT sind die Hoffnungen hingegen grenzenlos, besonders für die Kommunalwahlen im Oktober 2020. Mit Lulas Unterstützung hofft die Partei, interne Rivalitäten zu überwinden und die Wahlen zu gewinnen. Zum Redaktionsschluss versammelt sich vor der Zentrale der Metallgewerkschaft in São Bernardo do Campo eine völlig euphorische Menge, die den direkten Kontakt mit Lula sucht. Aus ganz Brasilien kommen weitere Menschen, um an diesem „historischen Moment“ teilzuhaben.

 

„DROGENREGIME DURCH URTEIL GESCHWÄCHT“

(Foto: Honduras Delegation)

Joaqin A. Mejias ist Anwalt und Menschenrechtsexperte der honduranischen Organisation Equipo de Reflexión, Investigación y Comunicación (ERIC). Er vertritt Opfer von Menschenrechtsverbrechen vor der Interamerikanischen Kommission und dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschnerechte. Er lehrt an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universidad Atónoma de Couahila in Mexiko


Was bedeutet das Urteil gegen Tony Hernández?
Das Urteil gegen ihn wiegt schwer, denn was durch die New Yorker Staatsanwaltschaft ans Licht gekommen ist, steht für die Regierung von Honduras. Es zeigt, dass Tony Hernández nur mit Komplizenschaft der gesamten staatlichen Institutionen Drogen in solch großem Ausmaß schmuggeln konnte. Die US-Staatsanwaltschaft hat bestätigt, was alle schon lange wussten.
Das Urteil gibt auch Oberst Julian Aristides Gonzáles und dem Sicherheitsexperten Alfredo Landaverde Recht. Sie wurden in den Jahren 2009 und 2011 aufgrund ihrer Hinweise, dass die Drogenkriminalität den Staat kooptiert habe, ermordet. Oder Kommandant Santos Orellano, der unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, weil er einen Drogentransport mit einem Hubschrauber von Tony Hernández aufdeckte. Neben Tony Hernández beschuldigte Orellano auch den aktuellen Innenminister Julián Pacheco in das Drogengeschäft involviert zu sein. Und was geschah mit dem ehemaligen Polizeidirektor Sabillón? Er setzte mit Hilfe der US-Drogenbehörde (DEA) die Anführer des Kartells „Valle-Valle“ fest. Diese Operation führte Sabillón durch, ohne vorher seine Vorgesetzten im Innenministerium informiert zu haben. Es folgte seine Entlassung durch eine Kommission, die zur „Säuberung“ der Polizei eingesetzt worden war.
Nun ist das Drogenregime durch das Urteil geschwächt, denn während des Prozesses wurde es mehr als hundert Mal erwähnt und als Mitverschwörer entlarvt.
Vor allem werden die Doppelmoral Washingtons, die stillschweigende Komplizenschaft der Europäischen Union und die Heuchelei des Sekretariats der Organisation Amerikanischer Staaten deutlich, die alle das Drogenregime unterstützen.

Wieso interessiert sich die US-Regierung für die Regierung Hernández?
Washington interessiert die Migration sowie einen Verbündeten zu haben, der exakt das macht, was Washington anordnet. Und Juan Orlando Hernández ist nun in ihren Händen, weil sie wissen, dass er ein Drogenregime führt. Es fehlt ihnen an Alternativen in der Region. Sie werden weiterhin auf ihn setzen, weil er ihnen eine gewisse Stabilität garantiert. Juan Orlando Hernández hat der Verlegung der Botschaft nach Jerusalem zugestimmt, er militarisiert die Grenzen und unterzeichnet ein Abkommen, das Honduras als sicheren Drittstaat ausweist, was ein Wahnsinn und absolut absurd ist! Solange die USA beispielsweise in Nayib Bukele, dem Präsidenten von El Salvador, noch keinen vertrauenswürdigen Verbündeten sehen, werden sie weiterhin auf Juan Orlando Hernández setzen. Das ist die Doppelmoral.
Erinnern wir uns an Manuel Noriega in Panama. Obwohl die USA von seinen Verbindungen zum Drogenhandel wussten, unterstützten sie ihn solange, bis er für sie nicht mehr von Nutzen war.
Honduras ist für die USA geopolitisch wichtig um zu beobachten, was in den Nachbarländern und der Region passiert. In den 1980er Jahren wurden US-Militärbasen errichtet, um gegen die revolutionären Bewegungen in den Nachbarländern vorzugehen. Heute werden die Militärbasen mit dem angeblichen Kampf gegen den Drogenhandel gerechtfertigt. Die USA wollen den Drogenhandel kontrollieren oder regulieren. Mit dem Putsch im Jahr 2009 und dem Zusammenbruch der staatlichen Institutionen hat die DEA diese Kontrolle verloren.
Gemäß einem Bericht des US-Außenministeriums ist Honduras nun nicht mehr nur ein Land, durch das Drogen geschmuggelt werden. Es hat sich zu einem Land gewandelt, in dem Kokain gelagert und produziert wird.

Warum wurden zwei Tage vor dem New Yorker Urteilsspruch elf führende Militärs abgesetzt?
Die Säuberung in der Armee beruht darauf, dass die Offiziere in den mittleren Rängen mit der Rolle der Armee in den Drogengeschäften und mit der Diktatur nicht einverstanden sind. Es gab Gerüchte über einen möglichen militärischen Aufstand, daher hat die Regierung diese elf Offiziere abgesetzt. So behalten Juan Orlando Hernández und seine Truppe die absolute Kontrolle.

In welchem Zusammenhang steht der Mord an Magdaleno Meza, mutmaßlicher Partner des Drogenhändlers Tony Hernández, im Hochsicherheitsgefängnis „El Pozo“ am 26. Oktober 2019?
Der Mord an Magdaleno Meza, dem Autoren der Notizbücher, die dem New Yorker Gericht als Beweismittel gegen Tony Hernández vorgelegt wurden (siehe Infokasten, Anm. d. Red.), zeigt, dass die Gefängnisse in der Hand der Drogenkriminalität sind.
Allem Anschein nach sind Militärs und andere hohe Funktionäre der Regierung in die Ermordung des Drogendealers involviert. In einem Video, dass schnell in Umlauf gebracht wurde, wird gezeigt, wie Mithäftlinge auf Meza schießen und mit Messern auf ihn einstechen. Es enthält eine klare Botschaft: Das passiert denen, die mit der DEA kooperieren. Also seid still!
Die Nationale Strafvollzugsanstalt (INP) hatte einst einen zivilen Charakter. Sie wurde jedoch 2018 per Dekret unter die Koordination des Sicherheitskabinetts gestellt. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission veröffentlichte in ihrem jüngsten Bericht, dass die Gefängnisse von Militärs geführt und bewacht werden. Das Militär trägt die Verantwortung dafür, was in den Gefängnissen passiert. Das Hochsicherheitsgefängnis hat verschiedene Sicherheitsschleusen. Dass Schusswaffen oder große Messer da durchkommen ist eigentlich unmöglich.

Nach dem Urteil kam es zu Protesten an den Universitäten und durch die Oppositionspartei Libre. Wie verhält sich die Bevölkerung?
Die politische und zivilgesellschaftliche Opposition ist geschwächt. Trotz des Ausmaßes des New Yorker Urteilsspruches reagiert die Bevölkerung immer noch nicht. Ganz einfach, weil sie Angst hat. Bisher hat das Narcoregime auf die protestierenden Leute geschossen um zu töten. Von daher ist es normal, dass die Leute Angst haben. Die Proteste halten landesweit an, sind in den Regionen jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt. Das Problem ist, dass sie so zerstreut sind. Bisher hat kein Sektor diese verschiedenen Proteste einen können.
Es zeichnet sich ein ziemlich trostloses Panorama ab. Alles deutet darauf hin, dass Juan Orlando Hernández alles in seiner Macht Stehende tun wird um im Präsidentenamt zu bleiben.

„ALLE SOLLEN GEHEN!“

„Dieses Vorhaben wird die Pfeiler der Republik zementieren, auch wenn dies bedeutet, dass wir alle gehen müssen!“ So kündigte Präsident Martín Vizcarra überraschend das Projekt der vorgezogenen Neuwahlen am 28. Juli, dem peruanischen Nationalfeiertag, in seiner Rede vor dem Parlament an. Sein Vorschlag: Die erst 2021 wieder anstehenden Wahlen schon im nächsten Jahr abzuhalten, sie durch ein Referendum zu legitimieren und durch den Kongress, das peruanische Einkammerparlament mit 130 Abgeordneten, absegnen zu lassen. „Auf die Stimme des Volkes muss gehört werden!“ Doch Ende September legte das durch die Opposition kontrollierte Parlament den Vorschlag kurzerhand ad acta und befasste sich stattdessen mit der Neubesetzung des Verfassungsgerichts – ohne Debatte, im Eilverfahren und vor allem gegen den Willen Vizcarras, der eine Vertrauensfrage an diesen Prozess geknüpft hatte. Daraufhin erklärte Vizcarra in einer Fernsehansprache am 30. September die nunmehr zweite Vertrauensfrage der Regierung für gescheitert und verkündete die sofortige Auflösung des Parlaments. Mit der Opposition sei „keinerlei Einigung“ möglich, behauptete er und berief sich wiederholt auf die peruanische Verfassung. Diese ermächtigt ihn laut Artikel 134 nach zweimalig gescheiterter Vertrauensfrage den Kongress aufzulösen.

Die Auflösung des Kongresses wurde auf den Straßen gefeiert

Die Reaktion der Opposition ließ nicht lange auf sich warten: Noch am gleichen Abend stimmten die im Parlamentsgebäude verbliebenen oppositionellen Abgeordneten dafür, Vizcarra für zwölf Monate von seinem Amt zu suspendieren. Sie kritisierten Vizcarras Verhalten als nicht verfassungsgemäß und ernannten die Vizepräsidentin Mercedes Aráoz zur Interimspräsidentin. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Parlament bereits offiziell aufgelöst. Nach nur einem Tag erklärte Aráoz dementsprechend auf Twitter ihren Rücktritt, um den Weg für schnellstmögliche Neuwahlen frei zu machen, und rief auch Vizcarra zum Rücktritt auf. Sie bezeichnete die verfassungsmäßige Ordnung Perus als „zerbrochen“. Die Peruaner*innen manifestierten indes ihren Zuspruch für die Entscheidung Vizcarras auf den Straßen des Landes. Militär und Polizei verkündeten ihre Loyalität zum Präsidenten und entschieden damit das Machtverhältnis vorerst zugunsten Vizcarras.

Militär und Polizei verkündeten ihre Loyalität zum Präsidenten

Dem Ganzen war ein monatelanger Machtkampf zwischen Exekutive und Legislative vorausgegangen. Vizcarra hatte dem Parlament wiederholt vorgeworfen, durch Verzögerungstaktiken und Boykottpolitik seine Antikorruptionsbemühungen auszubremsen. Dahinter vermutete er das relativ offensichtliche Ziel, dass die Opposition Politiker*innen in den eigenen Reihen vor einer Strafverfolgung zu schützen versuchte. Als Vizcarra im März 2018 die Präsidentschaft übernahm, war er mit dem Versprechen angetreten, die Korruption im Land entschieden zu bekämpfen. Seinen Vorgänger Pedro Pablo Kuczynski hatten Verstrickungen in die Korruptionsaffäre um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht zu Fall gebracht (siehe LN 526). Der Odebrecht-Skandal hat sich bisher auf die vier letzten Präsidenten des Landes vor Vizcarra ausgeweitet, darunter auf den zweimaligen Präsidenten Alan García, der sich im Zuge der Korruptionsanschuldigungen aus Angst vor einer Haftstrafe im April dieses Jahres das Leben nahm (siehe LN 539). Vizcarras Kampf gegen die Korruption wurde allerdings durch die Zusammensetzung des Parlaments so gut wie unmöglich gemacht: Über die absolute Mehrheit verfügte dort nämlich die konservative Partei Fuerza Popular, deren Vorsitzende Keiko Fujimori, Tochter des peruanischen Ex-Diktators Alberto Fujimori, seit Oktober 2018 wegen der Annahme illegaler Wahlkampfspenden des Odebrecht-Konzerns in Untersuchungshaft sitzt (siehe LN 534). Zusammen mit der Mitte-Links-Partei APRA stellte sich die Fuerza Popular als fujiaprismo konsequent gegen jegliche Reformvorhaben Vizcarras. Die sechs zentralen Gesetzesinitiativen der Regierung, die Anfang Juni dieses Jahres nach einem Volksreferendum ins Parlament getragen wurden, beinhalteten unter anderem eine Neuregelung des Aufhebungsprozesses der parlamentarischen Immunität, über die künftig eine unabhängige Instanz entscheiden sollte, statt wie bisher der Kongress selbst. Dieser Kernvorschlag der Reformen wurde abgeschmettert und ad acta gelegt. Das erscheint besonders zynisch vor dem Hintergrund, dass viele der oppositionellen Politiker*innen bereits juristisch verfolgt wurden oder werden. Einige Tage später folgte der nächste Affront: Die fujiaprismo-Abgeordneten schützten den Obersten Staatsanwalt Chávarry trotz dringender Korruptionsbeschuldigungen endgültig vor einer Amtsenthebung.

Die Opposition bezeichnet Kongress-Auflösung als nicht verfassungsgemäß


Die Regierung stellte daraufhin die Vertrauensfrage, geknüpft an eben jene sechs Reformvorhaben, denen die Parlamentarier*innen noch bis zum Ende der Legislaturperiode zustimmen sollten – sonst werde es Neuwahlen geben. Trotz absurder, hitziger Debatten sprach das Parlament der Regierung letztlich das Vertrauen aus. Eine Auflösung des Kongresses wollte man auf Seiten des fujiaprismo zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht riskieren. Doch die Rufe nach Neuwahlen, die seit dem Frühjahr in der Bevölkerung laut geworden waren, konnten damit nicht erstickt werden. Im August befürworteten fast drei Viertel aller Peruaner*innen laut dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos Neuwahlen. Anfang September demonstrierten tausende Bürger*innen in vielen peruanischen Städten unter dem Motto „¡Que se vayan todos!“ (Alle sollen gehen!). Als es Ende September wirklich zur Auflösung des Kongresses kam, wurde das massenhaft auf den Straßen gefeiert, aber auch in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #cierredelcongreso.

Vizcarra wirft dem Parlament vor, seine Antikorruptionsbemühungen auszubremsen


Müssen nun alle gehen? Die Arbeit des Parlaments wird vorübergehend von einer dezimierten Versammlung aus 27 Abgeordneten (comisión permanente) weitergeführt, die nur über eingeschränkte Kompetenzen verfügt. Bereits am 3. Oktober ernannte Vizcarra eine neue Regierung und bemühte sich damit, eine gewisse Normalität wiederherzustellen. Viele Abgeordnete fürchten indessen eine Strafverfolgung, der sie bisher durch ihre parlamentarische Immunität entgangen sind. Durch die Auflösung des Kongresses haben sie diese jedoch (zumindest vorübergehend) verloren. Es ist nicht verwunderlich, dass die Opposition also mit allen Mitteln versucht, die Kongress-Auflösung als nicht verfassungsgemäß darzustellen. Dabei sind sie sich auch nicht zu schade, Vergleiche zum gewaltsamen „Selbstputsch“ des Diktators Alberto Fujimori im Jahr 1992 zu bemühen. Über die Rechtmäßigkeit der Parlamentsauflösung müsste eigentlich das Verfassungsgericht entscheiden. Dieses aber war Anstoß des aktuellen Konflikts und hat sich bis dato nicht mit der Regierungskrise beschäftigt.
Es erinnert an ein bizarres Theaterstück, was sich derzeit in der peruanischen Politik abspielt. Bis jetzt scheint Vizcarra im Machtkampf mit der Legislative die Oberhand zu behalten. Die internationalen Medien stehen mehrheitlich auf seiner Seite. Die vorherrschende parlamentsfeindliche Stimmung in der Bevölkerung dürfte dazu beitragen, Vizcarras Popularität zu steigern. Ob das allerdings bedeutet, dass er im Machtkampf mit der Legislative von den Neuwahlen des Kongresses am 26. Januar 2020 profitiert, ist vollkommen unklar.

 

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