„Der größte Erfolg wäre, sie zu finden“

Was ist der Hintergrund Ihres Besuches in Deutschland, bei dem Sie unter anderem mit verschiedenen politischen Vertreter*innen sprechen werden?

Seit einiger Zeit drängt die Stiftung darauf, eine Sonderkommission einzusetzen. Der Grund ist: Wir haben gesehen, dass in allen Fällen, die wir vertreten, eine historische Straffreiheit besteht. In Mexiko liegt diese Straffreiheit bei mehr als 95 Prozent. Gerechtigkeit zu erlangen, ist für jemanden aus einer Familie mit Migrationshintergrund sehr schwierig. Daher ist es äußerst wichtig, diese Fälle zu untersuchen, zu erfahren, was passiert ist und den Opfern Antworten zu geben. Das soll die Sonderkommission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gemeinsam mit der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft leisten. Diese technische Unterstützung hat die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft schon in einigen Fällen akzeptiert, in denen es um verschwundene Migrant*innen ging – auch im Fall der fünf Massaker, die wir vertreten.

Dass ich Deutschland besuche, liegt an der Rolle, die das Land für Mexiko spielt: Deutschland hat Mexiko in verschiedenen Bereichen technische Unterstützung angeboten. Der Hintergrund: Von deutscher Regierungsseite aus wird ein besonderer forensischer Mechanismus vorangetrieben. Der ermöglicht, die mehr als 56.000 nicht identifizierten Überreste von Menschen zu identifizieren, die wir in Mexiko haben.

Was erhoffen Sie sich konkret von Deutschland?

Da Deutschland uns diese Unterstützung angeboten hat, wäre es sehr wichtig, dass sie diesen Vorschlag der Sonderkommission politisch offen unterstützen. Denn dieser Vorstoß ist für Mexiko notwendig. Und wir wissen auch, dass mehrere Regionen in Lateinamerika mit ähnlich schweren Problemen kämpfen. Wir müssen anfangen, Gerechtigkeit über Ländergrenzen hinaus zu denken. Das wäre eine andere Gerechtigkeit als die, die Menschen erleben, die sich hier niederlassen.

Für uns in Mexiko ist dieses Thema grundlegend. Aber es lässt sich auch auf andere Regionen der Welt übertragen. Wir wissen zum Beispiel, was im Mittelmeer mit Migrant*innen passiert, die sterben und nicht identifiziert werden. Was wir wollen ist: Mechanismen vorantreiben, die uns helfen zu verstehen, wie die transnationale Kriminalität – und damit auch der Menschenhandel – funktioniert. Zudem wollen wir herausfinden, wie die Staaten funktionieren, die oft mit diesen kriminellen Netzwerken zusammenarbeiten.

Wie steht es unter der Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) aktuell um die Sicherheitslage von Menschen und Organisationen, die gegen dieses Verschwindenlassen in Mexiko kämpfen?

Die Sicherheitslage hat sich nicht verbessert unter der Regierung von Andrés Manuel López Obrador. Seine Regierung hat entschieden, eine Strategie fortzusetzen, die Organisationen der Zivilgesellschaft als gescheitert ansehen: die Armee gegen die organisierte Kriminalität auf die Straße zu schicken. Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass das in Mexiko jemals Erfolg gehabt hätte. AMLO setzt auf Militarisierung, statt eine richtige zivile Polizei aufzubauen, die auf dieses Problem reagieren kann. Zudem wird die Generalstaatsanwaltschaft völlig vergessen. Zusammengefasst: Weder die Gewalt ist zurückgegangen, noch haben die Fälle von Straffreiheit abgenommen.

Anzeige bei der Staatsanwaltschaft zu erstatten, ist für Familien nach wie vor sehr schwierig. Sie werden dort auch schlecht behandelt. Die Staatsanwaltschaften sind zu einem Ort von Korruption und organisiertem Verbrechen geworden. Das wirkt sich auf die Gesellschaft aus. In der bisherigen Amtszeit der jetzigen Regierung sind über 30.000 Menschen verschwunden. Wenn die Ursachen der Gewalt nicht bekämpft werden, wenn die Korruption in den Institutionen nicht bekämpft wird, wenn die Rechtsprechung sich nicht verbessert und wenn es keine Zivilpolizei gibt, dann werden wir in Mexiko weiterhin Gewalt erleben.

In den Medien liest man viel darüber, dass Aktivist*Innen und Suchende bedroht, verfolgt und getötet werden und verschwinden. Hatte Ihre Organisation schon mit solchen Aggressionen zu tun? Warum ist es für Angehörige so gefährlich, in Mexiko nach verschwundenen Familienmitgliedern zu suchen?

Ja, wir begleiten suchende Familien, die in sehr gefährlichen Gebieten leben oder dorthin gehen, wo es unsicher ist oder wo organisierte Verbrechen passieren, etwa in Guanajuato. Es ist unangenehm, wenn organisiertes Verbrechen involviert ist. Aber es ist auch unangenehm, wenn der Staat involviert ist. Die Suchenden haben Angst und gehen mit der Suche ein Risiko ein. Der größte Teil der Verschwundenen sind Männer. Doch es sind Mütter, Töchter und Schwestern, die nach ihnen suchen und sich deshalb in solche Gebiete begeben. Die ganze Thematik der Gerechtigkeit und des Suchens prägt Frauen. Nicht nur in Mexiko ist das so, sondern auch in Mittelamerika.

Haben auch Sie persönlich Schwierigkeiten?

Gegen mich und zwei weitere Frauen ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft seit 2016 – wegen organisierter Kriminalität und Entführung. Mit mir beschuldigt werden die Journalistin Marcela Turati und Mercedes Doretti, Mitglied des argentinischen Teams für forensische Anthropologie. Die Generalanwaltschaft leitete diese illegale Untersuchung gegen uns ein und nutzte dazu das härteste Gesetz Mexikos: das Gesetz zur organisierten Kriminalität. Es ermöglichte ihnen, für mindestens anderthalb Jahre auf unsere Telefondaten zuzugreifen. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir haben den Fall bei der Abteilung für interne Angelegenheiten der Generalstaatsanwaltschaft angezeigt und bei der Nationalen Menschenrechtskommission Beschwerde eingelegt. Es ist ein schwieriger Weg für uns. Das ist es für jedes Opfer, das in Mexiko vor Gericht steht.

Welchen Wert hat die Arbeit anderer ziviler Organisationen, Journalist*innen und Akademiker*innen, die bei Untersuchungen zu Verschwundenen ebenfalls eine Rolle spielen?

Glücklicherweise haben auch wissenschaftliche Einrichtungen begonnen, sich mit diesem Thema zu befassen. In einem Land, in dem mehr als 100.000 Menschen verschwunden sind, sollte die gesamte Gesellschaft einbezogen werden. Die Einrichtungen begleiten Ermittlungen gegen kriminelle Netzwerke. Sie helfen uns beim Dokumentieren und auch dabei, Statistiken zu verstehen und Berichte zu erstellen. Aber wir würden uns wünschen, dass sie noch stärker einbezogen werden. Es gibt noch viel zu tun. Es geht darum, die mexikanische Gesellschaft weiter zu sensibilisieren. Darum, dass wir solidarisch sind – auch dann, wenn wir selbst noch nicht betroffen sind. Denn andere Menschen sind betroffen.

Der Journalismus hat verbreitet, was passiert. Das war ausschlaggebend. Journalist*innen haben mit ihren Berichten die fehlenden Informationen und die fehlenden Untersuchungen der Regierung etwas kompensiert. Sie geben den Opfern eine Stimme. Das ist sehr wichtig. Zudem versuchen sie zu erklären, was genau passiert. Sie haben es geschafft, dieses Problem sehr menschlich zu betrachten. Etwa, indem sie die Geschichten von Müttern und Familien er- zählen. Oder indem sie von den Hindernissen berichten, die Familien bei der Suche nach den Verschwundenen überwinden müssen. Der Journalismus ist eine der mutigsten Stimmen, die wir in Mexiko haben.

Wie messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit in diesem schwierigen Umfeld?

Die Verschwundenen zu finden, wäre der größte Erfolg. Lebend. Oder, falls nicht, „zumindest ihre Überreste“, wie die Familien es sagen. Ein Erfolg wäre auch, wenn Menschen verurteilt würden für das, was in Mexiko geschehen ist. Wir messen den Erfolg vor allem an der Stärke der Familien. In dem täglichen Kampf, den sie austragen, obwohl sie so viele wirtschaftliche und andere Schwierigkeiten haben. Sie treten vereint auf: um die öffentliche Ordnung des Landes zu verändern, um die Verschwundenen zu finden, um neue Strategien für die Suche und die Gerechtigkeit zu entwickeln. Manche Situationen, die anfangs schmerzhaft sind, enden in gewisser Weise als Erfolg. Wenn es uns gelingt, einige Überreste zu identifizieren, macht uns das traurig, aber es macht uns auch glücklich. Denn es ist eine Antwort, zumindest für diese eine Familie. Sie kann dann mit diesem Kapitel abschließen, mit dieser offe- nen Folter. 2013 gelang es uns, die Generalstaatsanwaltschaft dazu zu bringen, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, um die Überreste von drei Massakern an Migrant*innen zu identifizieren.

Wie ist Ihnen das gelungen?

Das schafften wir mit Hilfe des argentinischen Teams für forensische Anthropologie, elf Organisationen aus der Region und Familienkomitees. Das war für uns ein Erfolg. Denn damals war Mexiko noch dabei, sein gesamtes forensisches System umzustrukturieren. Es ist uns auch gelungen, die Regierung dazu zu bewegen, mexikanische Botschaften und Konsulate für Betroffene zu öffnen. Dort können Familien nun die Suche nach ihren Angehörigen beantragen und Anzeigen erstatten. Das ist wichtig. Denn Mexiko muss sich an die Opfer wenden. Die Opfer sollten nicht zusehen müssen, wie sie hierherkommen, um Anzeige zu erstatten. Letztes Jahr ist es uns gelungen, einen nationalen Suchmechanismus einzurichten. Er kann alle Informationen über vermisste Migrant*Innen aus Zentralamerika mit Informationen aus den Vereinigten Staaten und Mexiko zusammenführen. Damit versuchen wir dann, Suchmuster auf regionaler Ebene zu erkennen. Das machen wir gemeinsam mit der Nationalen Suchkommission, einem Runden Tisch für Migrant*innen.

Frau Delgadillo, warum ist es so wichtig, Informationen über diesen Kampf zu verbreiten, um die internationale Solidarität zu stärken?

Eine erste Botschaft ist: Menschen verschwinden zu lassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch dann, wenn es nicht in unserer Nähe passiert. Dieses Thema betrifft uns alle, denn seine Auswirkungen sind äußerst schwerwiegend. Deshalb ist Solidarität immer notwendig. Sie ist vor allem für die Familien notwendig, aber auch für alle Journalist*innen und Verteidiger*innen, die in diesem Bereich arbeiten. Dass in der Berichterstattung auch Familien zu Wort kommen, ist immer wichtig. Denn sie sind diejenigen, die mit allen möglichen Hindernissen konfrontiert sind. Für uns sind sie die Hauptakteur*innen. Diejenigen, die uns Wege öffnen: bei der Suche, der Gerechtigkeit und der Wiedergutmachung in unserem Land.

„DEN ORT WIE EINE FLUSSMÜNDUNG GESTALTEN“

Im März findet zum sechsten Mal die „Fiesta de la lectura y de la escritura del Chocó“ (Fest des Lesens und des Schreibens des Chocó, FLECHO) statt. Worum geht es da?

Wir haben FLECHO 2018 ins Leben gerufen, weil wir eine Buchveranstaltung in Quibdó, der Hauptstadt des Chocó, haben wollten, die für alle offen ist. So etwas gab es vorher nicht. Wir wollten, dass der Chocó als Ort der Begegnung, des Wortes, der Kunst und der Kultur positiv wahrgenommen wird. Es geht dabei um das Recht auf Lesen. Auf dem Festival soll das Leben gefeiert werden, gemeinsam Gesellschaft geknüpft werden. Dieses Jahr werden wir uns mit Migration beschäftigen, einem Thema, das viel mit uns zu tun hat: mit den freiwilligen und unfreiwilligen Migrationsbewegungen, die wir erlebt haben, aber auch mit den biologischen Migrationen der Artenvielfalt, die uns umgibt und durchzieht.

In deinem Buch Aguas de Estuario (Mündungsgewässer), das 2020 erschienen ist, identifizierst du dich stark mit dem Pazifik. Du benutzt das Bild des Salzwassers, das gegen das Süßwasser drückt, um eine Art hybriden Raum zu schaffen. Wenn du der Pazifik bist, was sind dann diese Flüsse?

Davon gibt es sehr viele. Es gibt zum Beispiel einen sehr starken Fluss, der mit meiner Ausgrenzung und der kollektiven Ausgrenzung zu tun hat. Ich spreche kein Englisch. Und ich weiß, dass das daran liegt, dass ich als Afrofrau aus dem Chocó nie eine Schule besuchen konnte, in der ich Zugang zu einer guten Ausbildung gehabt hätte. Aber es gibt auch den Pazifik: Die Tatsache, dass mein Mann damit einverstanden ist, dass ich für ein halbes Jahr weggehe, um Englisch zu lernen, weil wir glauben, dass das für meine Arbeit als Schriftstellerin und Kulturmanagerin wichtig ist. Das ist der Pazifik, der gegen die Ausgrenzung anrollt. Ein anderes Beispiel ist unsere Arbeit mit MOTETE. Wir arbeiten mit Literatur, obwohl die Stereotypen uns auf die Arbeit mit Tanz und Musik reduzieren – auf die Körperlichkeit und die Mündlichkeit. Wenn man sich entscheidet, eine Kultur zu fördern, die normalerweise nicht mit der Afrobevölkerung in Verbindung gebracht wird, dann ist das der Pazifik, der gegen einen anderen Fluss ankämpft.

Was passiert, wenn der Pazifik auf diese Flüsse der Ausgrenzung trifft?

Wir werden von vielen Dingen erdrückt. Deshalb müssen wir versuchen, die Flüsse, die immer in diese Richtung geflossen sind, zurückzudrängen. Das bedeutet, dass wir diesen Ort wie eine Flussmündung gestalten: manchmal dunkel, manchmal transparent, manchmal schlammig, aber immer voller Leben. Hier wird viel Leben geboren. So wird dieser Ort, der so unbestimmt, so ungewiss, so gefährlich ist – denn er ist gefährlich und hat mit Strömungen zu kämpfen –, dieser Ort, von dem man nicht weiß, ob er süß oder salzig ist, zu einem fruchtbaren Ort.

Welche Autor*innen gibt es noch im Chocó, der für Literatur ja gar nicht bekannt ist?

Derzeit wird eine Bibliothek der kolumbianischen Literatur von Frauen erstellt, das ist sehr wichtig. Da wurden unter anderem Teresa Martínez de Varela mit Mi Cristo negro und meine Freundin Yihan Rentería Salazar aufgenommen. Sie erzählen von der Region Chocó aus. Ihre Stimmen sollten bekannter werden. Auch die Erzählungen von Carlos Arturo Truque, die in der Afrokolumbianischen Bibliothek erschienen, sind meiner Meinung nach nicht bekannt genug. Es gibt einen Roman mit dem Titel La hija del aguijón, geschrieben von Eyda María Caicedo, die jung verstarb. Es gibt noch andere Leute im Chocó, die im Selbstverlag publiziert haben. Ich schätze es sehr, dass César Rivas Lara oder Ana Gilba Ayala niemanden um Erlaubnis fragen, bevor sie veröffentlichen.

Woran liegt es, dass Literatur aus dem Chocó weniger bekannt ist?

Der kolumbianische Literaturbetrieb ist sehr geschlossen. Wir haben im Chocó mit großen Nachteilen zu kämpfen, zum Beispiel gibt es kein Literaturprogramm, es gibt keine Kunstfakultät, und das hat direkte Auswirkungen auf die Ausbildung neuer Autor*innen. Um gegen diese Strömungen anzukämpfen muss man so sein wie der Pazifik – sich einen Platz im Literaturbetrieb erkämpfen und die Entscheidung treffen, Schriftsteller zu werden. Es ist sehr schwer für uns, diesen Weg zu gehen, und ich bin sehr glücklich darüber, dass ich es geschafft habe.

Vor Kurzem habe ich in der Zeitschrift 070 einen Artikel mit dem Titel „Racismo en Esta herida llena de peces“ („Rassismus in Esta herida llena de peces“, Anm. d. Red.) veröffentlicht. Über den Rassismus in einem Roman zu sprechen, der bei Angosta Editores, einem sehr wichtigen Verlag in Kolumbien, erschienen ist, bedeutet: Das zu riskieren, was man sich aufgebaut hat – ein weiterer mächtiger Fluss, gegen dessen Strömung man anschwimmen muss. Zu sagen: „Dieser Roman handelt vom Chocó, und ich muss es sagen: Er ist rassistisch“, ist ein Drahtseilakt. Ich muss abwägen: Welchen Weg will ich im Literaturbetrieb dieses Landes einschlagen, wie will ich mich positionieren. Schweigen und den Kopf einziehen, um nicht rausgeschmissen zu werden? Es war entlarvend für mich, dass ich den Artikel an ein sehr wichtiges Medium geschickt hatte, das zunächst zusagte, sich dann aber nicht mehr meldete und den Artikel nie veröffentlichte. Zum Glück waren die Leute von 070 absolut offen.

Manchen gilt der Pazifik als Symbol für bestimmte Bevölkerungsgruppen. Was sagst du dazu?

In meiner vorherigen Antwort habe ich von Autoren aus dem Chocó gesprochen, weil ich glaube, dass diese Vorstellung vom Pazifik gefährlich ist. Sie verleitet uns dazu, eine Region über einen Kamm zu scheren, die sehr vielfältig ist. Das Cabo Corrientes als wichtiges geografisches Merkmal des Pazifiks zeigt, dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann. Vom Cabo Corrientes aufwärts ist der Pazifik völlig anders als vom Cabo Corrientes abwärts. Das zeigt sich zum Beispiel in den gastronomischen Gepflogenheiten, in der Art zu sprechen, in der Musik und in vielen anderen Dingen. Die Menschen von der Pazifikküste sind ganz anders als die Menschen im Landesinneren, etwa am Fluss San Juan, am Fluss Atrato oder an der Karibik. Die Idee des Pazifiks ist eine weitere Vereinfachung aus dem Zentrum des Landes, eine so absurde Vereinfachung, dass sogar Cali darunter gefasst wird.

Was kann man dem entgegensetzen?

In einem Artikel der spanischen Tageszeitung El País werde ich als einzige lebende Afroschriftstellerin dargestellt, alle anderen seien Mestizos und Mestizas. Ich respektiere die dort Genannten sehr, einige von ihnen liebe ich von ganzem Herzen. Aber ja, sie sind zweifellos Mestizos und Mestizas. Ihre Romane sind sehr unterschiedlich, was den Sprechort der Protagonist*innen und die Figuren angeht. Ich finde, darin liegt ein Reichtum. Aber es sind ganz andere Stimmen als meine. Es geht mir nicht darum, die eine über die andere zu stellen. Ich glaube auch nicht, dass wir nur über uns selbst sprechen können. Aber es muss eine größere Vielfalt geben, das würde die Perspektiven bereichern. Ich versuche, Verallgemeinerungen über den Pazifik zu vermeiden, weil sie ein großes Risiko bergen. Zwar gibt es auch ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass dieses Gebiet, das nicht erzählt wurde, erzählt werden muss. Und es gibt einen Markt dafür. Und deshalb entstehen Dinge wie Esta herida llena de peces. Dabei ignorieren wir unsere Unfähigkeit, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir die anderen erzählen. Ich glaube nicht, dass man nur über sich selbst schreiben kann, man kann auch von anderen erzählen. Aber man muss in der Lage sein, sich zu fragen, wie man von diesem Anderen erzählt, und das ist vielleicht das Wichtigste bei dieser Übung, vom Pazifik zu erzählen. Wer schreiben will, soll es tun! Darum geht es in der Literatur, um Freiheit, aber es ist wichtig, dass wir uns fragen, wie wir vom Anderen erzählen, insbesondere von einem rassifizierten Anderen und einem ausgeschlossenen Anderen.

In deinem Buch benutzt du oft den Begriff des Glücks. Wie steht es heute um das Glück der Flussmündung?

Vergangene Woche bin ich aufgestanden und das erste, was ich las, war, dass zwei junge Frauen in Quibdó ermordet worden waren, ganz in der Nähe unserer Bibliothek. In meinem Dorf ermordeten Paramilitärs einen Schizophrenen, weil sie beschlossen, dass sie keine „Verrückten“ im Dorf haben wollten. In demselben Park, in dem wir das FLECHO-Festival veranstalten, haben sie um sechs Uhr abends zehn Mal auf ihn geschossen.

Gleichzeitig ist MOTETE größer geworden, hat ein wunderbares Arbeitsteam, Pläne und Verbündete. Alles, was wir tun, tun wir inmitten eines Departamento, das von der verstärkten paramilitärischen Gewalt zerrissen wird. Und man fragt sich: Was mache ich? Gebe ich mich der Trauer und dem Schmerz hin oder gebe ich mich dem Leben in einer Blase hin, um diesem Schmerz nicht begegnen zu müssen? Der Weg ist die Flussmündung. Oder, wie eine mit mir befreundete Lesefördererin sagte: „Ich habe verstanden, dass es kein Paradies ohne Schlangen gibt.“

DIE WELTSTADT DER ARMEN

Drogenkrieg, Migrationskrise, Frauenmorde – über die dramatische Situation in der US-amerikanisch-mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez wissen selbst in Deutschland nicht wenige Bescheid, dank regelmäßiger sensationalistischer Berichterstattung der Medien und Serien wie Breaking Bad oder Narcos: Mexiko. Diese immer gleichen stereotypen – jedoch nicht gänzlich unwahren – Bilder möchte Kathrin Zeiske mit einer Gegenperspektive kontrastieren. Die freie Journalistin hat nun ein Buch über den „Alltag in der gefährlichsten Stadt der Welt“ vorgelegt. Einen Alltag, den Zeiske bestens kennt, denn Ciudad Juárez ist ihre Wahlheimat, aus der sie seit Jahren berichtet.

Im Stil einer Reportage führt Zeiske durch Ciudad Juárez und lässt durch Begegnungen mit einer Vielzahl an Menschen die mittlerweile fast mythische Stadt lebendig werden. Expert*innen aus Wissenschaft und Journalismus, aber vor allem zahlreiche Expert*innen des Alltags, denen die nordmexikanische Stadt eine Heimat ist, lässt Zeiske zu Wort kommen.

Das Buch ist in sechs thematisch fokussierte Kapitel gegliedert, die sich jeweils als eigenständige Großreportagen lesen. So ist es kein roter Faden, der das Buch strukturiert, sondern ein Fokus, von dem sich die Erzählungen immer wieder in örtliche, thematische oder persönliche Details verästeln, um dann wieder auf das große Ganze im Blick zurückzukommen.

Doch warum sollte man ein Buch über eine US-amerikanisch-mexikanische Grenzstadt lesen? Vielleicht, weil Ciudad Juárez nicht nur von eben jener Stadt handelt, sondern de facto einen stellvertretenden Blick in die Gegenwart Mexikos liefert, wo Traum und Alptraum so nahe beieinander liegen. Oder man könnte daraufhin hinweisen, dass Ciudad Juárez mit seinen 1,5 Millionen Einwohner*innen eine Weltstadt ist. Eine Weltstadt der Armen. Denn hier treffen sich Migrant*innen aus allen möglichen Ländern des Globalen Südens auf ihrem Weg in ein erhofftes besseres Leben in den USA. Hier treffen sich Arbeitsmigrant*innen aus ganz Mexiko, um in den immer weiter anwachsenden Montageanlagen internationaler Unternehmen für Hungerlöhne Waren für den US-amerikanischen Markt zusammenzuschrauben. Und hier schmuggeln die Kartelle die für die Konsument*innen in den nordamerikanischen Metropolen gedachten Drogen aus dem Süden über die Grenze in die USA. Abgesehen davon gibt es noch einen anderen, viel simpleren Grund: Ciudad Juárez ist wunderbar und mitreißend geschrieben. Schon nach wenigen Seiten wird die Liebe Zeiskes zum journalistischen Schreiben und zu ihrer Wahlheimat deutlich. Ein einziges kleines Manko sind einige wenige halbwahre Informationen zur Situation in Mexiko. Beispielsweise die häufig wiederholte Behauptung, dass die Grenze zwischen Mexiko und den USA die militarisierteste der Welt sei. Diverse Grenzen Israels zu Nachbarländern, die zwischen Indien und Pakistan in Kaschmir oder die zwischen Algerien und Marokko und selbst die EU-Außengrenzen sind militarisierter als die US-mexikanische Grenze. Doch für den Zweck des Buchs sind dies verzeihbare Randproblemchen. „Ich hoffe aber, ich kann denen eine Stimme geben, die Unerhörtes zu erzählen, aber keine Zuhörer*innen haben“, schreibt Zeiske. Das von ihr verfasste Buch wird diesem Zweck mehr als gerecht. Möge es möglichst viele Leser*innen finden.

DAS ORGANISIERTE VERBRECHEN DER STRAFLOSIGKEIT

Fotos: Finja Henke

An einem Montagmorgen zieht Simón Pedro Pérez López los, um mit einem seiner vier Kinder einkaufen zu gehen. In der Nähe des Marktes in der Gemeinde Simojovel hält ein Motorradfahrer an und zielt direkt auf seinen Kopf. Ein einziger präziser Schuss beendet das Leben des 35-jährigen Tzotzil-Mannes, Menschenrechtsaktivist und Mitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Las Abejas de Acteal. Er fällt vor den Augen seines Sohnes mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Es ist 10 Uhr morgens am 5. Juli 2021, und der Markt ist voller Menschen, die sich um ihn versammeln, während sein Blut in Strömen fließt.

Neun Tage zuvor hatte Simón Pedro die Bewohner*innen von Pantelhó begleitet, um eine förmliche Beschwerde bei der Landesregierung einzureichen. Sie forderten die Behörden auf, angesichts des Vormarschs bewaffneter Gruppen zu intervenieren. Die Ermordung des Menschenrechtsverteidigers ist nur ein Beispiel für Zwangsvertreibung, Erpressung und den Einsatz von Gewalt im Kampf um die von Drogenkartellen begehrten Gebiete. Heute, über ein Jahr später, ist der Mörder noch immer nicht verurteilt worden. Die extreme Gewaltsituation im Landkreis Pantelhó hält derweil weiter an. Mehr als dreitausend indigene Personen wurden aus ihren Gemeinden zwangsvertrieben. Zeitgleich kam es dort zur Entstehung der selbsternannten bewaffneten Selbstverteidigungsgruppe El Machete, die sich als Reaktion auf die „hohe Präsenz des organisierten Verbrechens und die Abwesenheit der Landes- und Bundesregierung “ versteht. El Machete verlangt Gerechtigkeit im Fall der Ermordung von über zweihundert Personen und ließ aus diesem Grund den gewählten Landrat von Pantelhó im letzten Jahr sein Amt nicht antreten, da ihn die Gruppe mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung bringt. Gleichzeitig wird von der Nationalen Suchkommission (Comisión nacional de búsqueda) nach 21 Personen gesucht, die im Juli 2021 − zur Zeit der Machtübernahme von El Machete − verschwunden gelassen wurden.

Die Gewalt in Chiapas hängt eng mit der strukturellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Marginalisierung der indigenen Bevölkerung zusammen. Chiapas gehört zu den Bundesstaaten mit dem höchsten Anteil indigener Bevölkerung und gleichzeitig der höchsten Armutsrate.

Im Juli dieses Jahres prangerte das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) die gewaltsame Vertreibung von sechs zapatistischen Familien, die Verbrennung ihrer Häuser und ihres Besitzes in der autonomen Gemeinde Comandanta Ramona an. Dies geschah durch die Mitglieder der Landgenossenschaft von Muculum Bachajón zusammen mit der städtischen Polizei und dem Zivilschutz, so Frayba. Durch diesen Angriff werde „die Autonomie und Selbstbestimmung der Bevölkerung ernsthaft gefährdet”, und er stelle „eine schwere Verletzung des Rechts auf Sicherheit, Leben und Unversehrtheit” dar. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Gewalt beruht auf Gebietsstreitigkeiten zwischen verschiedenen Drogenkartellen. Dies äußerte sich im vergangenen Jahr durch eine hohe Gewaltrate bei den Landtags- und Kommunalwahlen. Chiapas hat landesweit die höchste Rate von Morden an Politiker*innen. Die Einrichtung von 232 Wahllokalen wurde verhindert. Im Juni 2022 wurde der Landrat von Teopisca, Rubén de Jesús Valdez Díaz, ermordet. Damit steigt die Zahl der ermordeten Landräte und Bürgermeister*innen während der Legislaturperiode von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) auf 17 Personen.

Seit Juli 2021 ist auch das Grenzgebiet von Chiapas zu Guatemala von der Gewalttätigkeit krimineller Gruppen um die territoriale Kontrolle geprägt. Ein Ereignis im Juni dieses Jahres, das sowohl national als auch international für viel Aufmerksamkeit sorgte, waren Schießereien, Straßenblockaden und brennende Autos durch bewaffnete Gruppen in San Cristóbal de Las Casas, die für mehrere Stunden die Kontrolle über verschiedene Straßen der Stadt einnahmen. Als Polizei und Militär endlich in Erscheinung traten, hatten sich die bewaffneten Gruppen, bereits zurückgezogen. Eine Farce angesichts der Tatsache, dass die mexikanische Regierung besonders in Chiapas eine massive Militarisierung und den Einsatz der Nationalgarde vorangetrieben hat. Dies geschah im Namen der Bekämpfung des organisierten Verbrechens und der Pflichten gegenüber der mit den USA vereinbarten Migrationspolitik an der Grenze zu Guatemala, die darauf abzielt, Migrant*innen in ihrem Recht auf Ein- und Durchreise Richtung USA einzuschränken.

Mehr als dreitausend indigene Personen wurden aus ihren Gemeinden zwangsvertrieben


Verschiedene feministische Gruppen und Frauenrechtsorganisationen berichten über die schwerwiegenden Auswirkungen der Militarisierung auf die massive sexualisierte Gewalt mit 11 Feminiziden pro Tag in Mexiko. Laut der Nationalen Erhebung zur Dynamik der Haushaltsbeziehungen (ENDIREH), die zuletzt 2016 vom Nationalen Institut für Statistik und Geografie (INEGI) durchgeführt wurde, wurden allein im Jahr vor der Erhebung rund 97.000 Frauen über 15 Jahre von Soldaten oder Marinesoldaten vergewaltigt. Die Dunkelziffer soll weitaus höher liegen.

Eine weitere gefährdete Gruppe sind Journalist*innen, die in Mexiko durch die Regierung selbst eine massive Kriminalisierung ihrer Arbeit und Bedrohungen erfahren. So wurden von Januar bis Ende August 2022 in Mexiko 15 Journalist*innen ermordet. Die journalistische Arbeit ist in Mexiko durch die verbreitete Korruption und das organisierte Verbrechen bedroht. Die Todesfälle werden gewöhnlich Drogenhändler*innen angelastet, die nicht wollen, dass ihre Geschäfte über die Medien öffentlich werden. Fachleute, die sich der Dokumentation dieser Verbrechen widmen, wie die Organisation Artículo 19, haben jedoch bei zahlreichen Gelegenheiten darauf hingewiesen, dass die meisten Taten von Beamt*innen ausgehen: etwa von Polizeichef*innen oder Politiker*innen, um ihre Verwicklung in Korruption oder ihr Zusammenspiel mit dem Drogenhandel zu schützen, wie die Zeitung El País berichtet. Im Mai mussten zwei Journalist*innen, die in der Stadt Tapachula, im Süden von Chiapas, arbeiteten, aufgrund von Morddrohungen und dem Ausbleiben von Schutzmaßnahmen der Regierung das Land verlassen.

Brutal ermordet Kollektive Trauer um den Menschenrechtsaktivisten Simón Pedro


Zur Kriminalisierung von Seiten des Staates kommt das erschreckend hohe Maß an Straflosigkeit hinzu. Diese beträgt bei der Aufklärung von Morden an Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalistinnen in Mexiko 99 Prozent. Zudem werden im Falle einer Ermittlung häufig unschuldige Personen verhaftet und mittels Folter Geständnisse erpresst.

Angesichts dieses Panoramas wurden 2022 in Chiapas bereits in mindestens 10 Landkreisen von Kirchen und der Zivilgesellschaft Demonstrationen und Kundgebungen für den Frieden organisiert. Im Juli nahmen mindestens 10.000 Personen daran teil. Vergangenes Jahr besuchte eine Delegation des EU-Parlaments Chiapas und prangerte die Menschenrechtsverletzungen an. Die vom EU-Parlament ausgedrückte Besorgnis über die Kriminalisierung der Arbeit von Journalist*innen durch die Regierung und die hohe Rate an Mordopfern nahm der mexikanische Präsident AMLO zum Anlass, um einerseits die Gewalt in Mexiko zu verharmlosen und sich der Verantwortung zu entziehen, und andererseits dem EU-Parlament koloniales Verhalten vorzuwerfen.

Inzwischen stattete die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte Chiapas einen Besuch ab, um die Einhaltung der gewährten Schutzmaßnahmen für die 22 Gemeinden in Aldama, Chalchihuitán und Chenalhó zu überprüfen. Für Anfang September hat auch die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen einen Besuch angekündigt.

Die Intervention internationaler Menschenrechtsorganisationen könnte den Kampf vieler indigener Gruppen für Gerechtigkeit stärken und auch Las Abejas de Acteal wieder Hoffnung schöpfen lassen, dass ihnen im Fall des Massakers in ihrer Gemeinde 1997 sowie der Ermordung von Simón Pedro 2021 Gerechtigkeit widerfährt.

SOG DER GEWALT

Antonia Olivares und Daniel García in Robe of Gems (Foto: © Visit Films)

Bewertung 4 / 5

„Zieh das Zeug aus! Auf der Stelle wirfst du das in den Müll!“ Roberta, der örtlichen Polizeichefin in Robe of Gems, dem mexikanischen Wettbewerbsfilm der Berlinale 2022, passt es gar nicht, wie ihr Sohn Adán so herumläuft. Teure T-Shirts und Marken-Turnschuhe, weite Hosen, glitzernde Ohrringe, Halskettchen aus Gold und Silber – das ist der Look, mit dem sich normalerweise der Nachwuchs der Narcos, also der Drogenmafia, zu erkennen gibt. Deshalb herrscht Roberta Adán an, bis er nur noch in Unterhosen auf dem Vorplatz ihres Hauses herumsteht. Aber der Drogenhandel und die Gewalt, die er mit sich bringt, lassen sich nicht einfach abstreifen wie ein paar Kleidungsstücke. Das wird auch Roberta im Laufe des Filmes noch mehrfach zu spüren bekommen.

Natalia López Gallardo, die Regisseurin von Robe of Gems, ist Bolivianerin, lebt aber seit 15 Jahren selbst im ländlichen Mexiko und musste dort aus nächster Nähe den „fortschreitenden Kollaps der sozialen Struktur“, wie sie es selbst beschreibt, beobachten. Mit ihrem Debütfilm als Regisseurin hat sie nun eine beeindruckende, manchmal rätselhafte, aber ungeheuer wirkmächtige Collage über die alles dominierenden Strukturen der brutalen Gewalt in ihrem Umfeld vorgelegt. Der Film folgt dabei dem Schicksal dreier Frauen: Isabel, selbstbestimmt und undurchschaubar, zieht nach ihrer Scheidung in ein von ihrer Mutter verlassenes und halb verfallenes Anwesen auf dem Land. Maria, ihre Hausangestellte, sucht ihre verschwundene Schwester und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Und Roberta kämpft in der Polizei und in ihrer eigenen Familie gegen die Windmühlen des Drogenhandels, die vor allem Frauen wenig Möglichkeiten lassen, ihr Leben unabhängig und ohne Furcht zu gestalten. Denn was Mercé, Marias Mutter, zu Beginn des Filmes der Outsiderin Isabel sagt, die bei der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter helfen will, bewahrheitet sich im Laufe der Geschichte immer deutlicher: „Bei allem Respekt, aber Sie wissen nicht, dass die Dinge hier bei uns anders laufen.“

Robe of Gems macht es seinen Zuschauer*innen nicht leicht, die Zusammenhänge zu verstehen, die den zähen Sog der Gewalt aufrechterhalten, der die Gemeinschaft der Bewohner*innen in den kleinen Dörfern und Anwesen wie ein unsichtbares Netz verbindet und langsam von innen zerfrisst. Nach außen bewahrt alles den Anschein des Normalen, doch ein Schritt in die falsche Richtung, ein unbedachtes Wort kann fatale Konsequenzen haben. López Gallardo folgt dabei einer ungewöhnlichen Methode: Sie macht das Sichtbare unsichtbar. Was zunächst paradox klingt und beim Betrachten des Films oft anstrengend wirkt, ergibt in der Gesamtschau Sinn. In Dialogen wird das Offensichtliche meist nicht gesagt („Alles in Ordnung, es ist nichts passiert“, wiederholt Maria im Gespräch mit einer Bekannten beispielsweise immer wieder, während ihr Tränen über die Wangen laufen). Die Erzählung folgt Personen, verliert sie, findet sie später in neuen Situationen wieder, ohne zu erklären, wie sie hineingeraten sind. Gesichter sind oft nur schemenhaft oder gar nicht zu erkennen, die Kamera filmt von hinten oder fokussiert auf Gegenstände und Körperteile, die außerhalb des Zentrums der Aktion liegen. Und versetzt das Publikum damit in die ausweglose Situation der Bewohner*innen der von Gewalt beherrschten Umgebung, die ihre verschwundenen Angehörigen suchen und mit bruchstückhaften Informationen und ihrer Verzweiflung oft alleingelassen sind.

Töne und Bilder sind in Robe of Gems häufig wichtiger und aussagekräftiger als das Gesagte. Geräusche wie das Zirpen der Insekten sind laut, manchmal überlaut zu hören und die karge Landschaft, gezeigt in matten Farben, bildet den Hintergrund für eine von Zwängen und unausgesprochenen Regeln beherrschte Lebensrealität, die sich eindeutigen Deutungen entzieht. Das macht den Film streckenweise zu einem harten Brocken, der vermutlich nicht alle Zuschauer*innen befriedigt zurücklassen wird. Sich auf Robe of Gems einzulassen, lohnt sich aber nicht nur aufgrund der beeindruckenden Bilder, die für die große Leinwand wie gemacht sind. Was Kino leisten kann, ist nicht nur, Geschichten zu erzählen, sondern auch Gefühle zu vermitteln. Dieses Potenzial hat Natalia López Gallardo mit ihrem Debüt auf beeindruckende, in ihrem Fall fast beängstigende Weise ausgeschöpft.

DER KRIEG GEHT WEITER: EINE REGIERUNG GEGEN DEN FRIEDEN

Unabhängig Die Selbstschutzorganisation Guardia Indígena gehört zu den vielen autonomen Strukturen der sozialen Bewegung (Foto: Katherine Rodríguez)

An diesem 8. März gab es so viele Gründe auf die Straße zu gehen. Mit vielen Parolen, viel Kraft, viel Musik und viel Liebe wurden landesweit Mobilisierungen organisiert. Mehrere Tausend Frauen sorgten in allen größeren Städten Kolumbiens dafür, dass die normale Dynamik für einen Tag gestoppt wurde, um das zu fordern, was fundamental ist: das Recht auf Leben und Freiheit für Frauen. In Medellín berichteten Demonstrationsteilnehmer*innen von Männern, die am Rande der Demonstration standen und sie belästigten. In der Hauptstadt Bogotá wurde die feministische Demonstration von der Aufstands- bekämpfungseinheit ESMAD angegriffen.

Zwischen Januar und Februar 2021 gab es bereits 106 Feminizide in Kolumbien; in den ersten beiden Monaten des Jahres wurden jeden Tag zwei Frauen ermordet. Viele dieser Feminizide werden von narcoparamilitärischen Strukturen verübt, aber sie sind nicht die Ursache für diese Gewalt. Die 106 Feminizide wurden von Männern begangen: Auftragskiller, Guerilleros, Paramilitärs, Väter, Bekannte, „Freunde“ und „Ex-Freunde“.

Überhaupt sind es die sozialen Bewegungen, die für das Recht auf Leben kämpfen, während der Staat es immer und immer wieder mit den Füßen tritt. Der bewaffnete Konflikt in Kolumbien ist längst nicht mehr auf einige „rote Zonen“ beschränkt; stattdessen erweitert eine Vielzahl von bewaffneten Gruppen ihren Einflussbereich. Die größten bewaffneten Strukturen sind das staatliche Militär, die Guerillagruppe Nationale Befreiungsarmee (ELN), rechte paramilitärische Strukturen sowie Splittergruppen der ehemaligen FARC-Guerilla. Die Paramilitärs sind dabei eine Vielzahl von kleinen, regionalen Gruppierungen; lediglich der „Clan del Golfo“ erreicht nationale Tragweite. Die Splittergruppen der FARC teilen sich im Wesentlichen in zwei Lager. Die größte Allianz bilden die Einheiten von Gentil Duarte, die vor allem im Südwesten des Landes ganze Gebiete unter ihrer Kontrolle haben. Die zweite, mit ihnen verfeindete Gruppe, ist die sogenannte Segunda Marquetalia, um den ehemaligen FARC-Anführer Iván Márquez, die von Venezuela aus Kämpfer*innen für den Aufbau einer neuen Guerrilla rekrutiert. Die Kämpfe um die territoriale Vorherrschaft und die Einnahmen aus illegalem Bergbau und Drogenhandel sorgten Anfang des Jahres dafür, dass sich die Zahl der gewaltsam Vertriebenen in Kolumbien im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt hat.

Der Friedensprozess hängt am seidenen Faden

Der Friedensprozess hängt am seidenen Faden. So kürzte die Regierung für dieses Haushaltsjahr das Budget für die Umsetzung des Friedensvertrags so sehr, dass bei gleichbleibender Summe der Staat nun 43 Jahre bräuchte, um die Opfer des Konflikts zu entschädigen. Damit bleiben auch weitere Punkte des Friedensvertrags wie die Landreform, die politische Beteiligung ehemaliger Kämpfer*innen sowie das Programm zur Ersetzung verbotener Anbaukulturen auf der Strecke.

Die Opfer des Kriegs werden dabei immer jünger. Mehr als 300 Kinder wurden in den vergangenen drei Jahren für den Krieg rekrutiert. So auch in Puerto Cachicamo, wo FARC-Dissident*innen unter dem Kommando von Gentil Duarte mit Plakaten an den Wänden dazu auffordern: „Kommt und kämpft den Krieg der Armen gegen die Reichen der Welt!“. Am 2. März trat die Regierung in der ihr eigenen Art vor die Kameras und verkündete, dass ihr „mit einer Bombardierung ein harter Schlag gegen die Dissidenten in Puerto Cachicamo gelungen“ wäre und sie „13 Mitglieder der FARC-Dissidenten neutralisiert“ habe. Was sie im Fernsehen nicht erwähnten, war dass das bombardierte Lager voll von jungen Menschen war, der jüngste unter ihnen neun und der älteste 19 Jahre alt. Zur Begründung, warum der Staat 13 Jugendliche ermordet, erklärte Verteidigungsminister Diego Molano Folgendes: „Die jungen Leute werden von dieser Organisation in Kriegsmaschinen verwandelt und sind eine Bedrohung für die Gesellschaft.“ 

Die Opfer des Kriegs werden immer jünger


Nicht nur die Splittergruppen der FARC rekrutieren Minderjährige, sondern auch die ELN und die paramilitärischen Strukturen. Sie bieten jungen Leuten einen Sold und Waffen an, einige stimmen zu und diejenigen, die das nicht tun, werden gezwungen und mit der Ermordung ihrer Familien eingeschüchtert, wenn sie aus den Reihen fliehen.

In Kolumbien herrscht Wehrpflicht. Die Jugendlichen, die in der Armee sind, kommen primär aus marginalisierten ländlichen Gebieten, während die Wohlhabenderen sich dem grundsätzlich zu entziehen wissen. Die jungen Militärs sind die „Gegenguerilla“, das Kanonenfutter, sie sind diejenigen, die losziehen, um andere Jugendliche zu töten, die von den Aufständischen rekrutiert werden.

Auch durch die Behinderung der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) arbeitet die Regierung Duque gegen den Friedensprozess. Die JEP ist unbequem, da sie unter anderem die Aufgabe hat, die Verantwortung des kolumbianischen Staates im Konflikt aufzuarbeiten, was auch diverse Mitglieder und Unterstützer*innen der aktuellen Regierung betrifft. So lieferte die JEP im März neue Erkenntnisse über die sogenannten falsos positivos (außergerichtliche Hinrichtungen, Anm. d. Red.). Laut JEP wurden zwischen 2002 und 2008 mindestens 6.402 Zivilist*innen vom Militär ermordet und nachträglich als im Kampf gefallene Guerilleras und Guerilleros ausgegeben. Einige der Opfer waren Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Die falsos positivos waren zentraler Teil der „Politik der demokratischen Sicherheit“ unter der Regierung von Álvaro Uribe Vélez, die heute wieder auflebt. Soldat*innen wurden mit Geld, Urlaubstagen, Medaillen und Beförderungen belohnt, je mehr Guerilleras und Guerilleros sie umbrachten. Die Militärs, die keine Ergebnisse lieferten, wurden aus der Institution entfernt (siehe LN 547).

Der Wahlkampf läuft bereits auf Hochtouren


Die Mütter aus Soacha (Madres de Soacha) und die Bewegung der Opfer staatlicher Verbrechen (MOVICE) sind zwei Organisationen, die für Wahrheit und Gerechtigkeit in Hinblick auf diese Verbrechen kämpfen. Die Mitglieder der Organisationen sind in der Regel die Mütter, Schwestern und Freund*innen der über 6.402 falsos positivos, sie stellen sich den Regierungsstrukturen, die die Ermittlungen behindern und verlangsamen, entgegen.

So stagniert auch der Prozess gegen Ex-Präsident Álvaro Uribe, dem eine wesentliche Verantwortung im Aufbau des Paramilitarismus in Kolumbien nachgesagt wird. In einem von vielen Prozessen gegen Uribe wird ihm Bestechung und Verfahrensbetrug vorgeworfen. Nachdem mehrfach die zuständigen Gerichte und einzelne Richter wechselten, kam es Anfang August 2020 zu einer überraschenden Entscheidung: Uribe wurde wegen Gefahr der Beeinflussung der Ermittlungen zu Hausarrest verurteilt (siehe LN 555/556). Im September 2020 wechselte der Fall in die Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft, die kurz darauf Uribes Hausarrest aufgehoben und im März dieses Jahres die Einstellung des Verfahrens beantragt hat. In den kommenden Wochen wird über die Einstellung des Verfahrens entschieden.

Hoffnung auf Aufklärung nährte darauf ein für den 21. April angesetztes Treffen zwischen dem ehemaligen Paramilitär-Kommandanten Salvatore Mancuso und dem Ex-FARC-Chef Rodrigo Londoño alias Timochenko im Rahmen der JEP. In einer öffentlichen Anhörung wollen sie gemeinsam aussagen, „damit das Land die verschwiegenen Wahrheiten über den bewaffneten Konflikt erfährt“.
Während sich der regierende Uribismo (politische Bewegung um Álvaro Uribe, Anm. d. Red.) also für immer weitere Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen muss, versucht sich Präsident Duque durch eine Wahlreform noch länger an der Macht zu halten. Ein Gesetzesvorschlag zur Änderung der Verfassung und zur Verlängerung der Amtszeit von Bürgermeister*innen, Abgeordneten und der Präsidentschaft wurde allerdings im Kongress abgelehnt, so dass – wie bisher geplant – im Mai 2022 Präsidentschaftswahlen stattfinden werden.

Der Wahlkampf dafür läuft bereits auf Hochtouren. Die afrokolumbianische Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Francia Márquez hat ihre Kandidatur angekündigt. Sie kämpft seit vielen Jahren in der Region Cauca gegen den Extraktivismus und organisierte einst mit ihren Mitstreiterinnen einen Marsch von ihrem Wohnort am Rande des Cauca Flusses zum Präsidentensitz in Bogotá, um die Schließung einer Goldmine im Cauca zu fordern.

Ebenfalls im Cauca sorgt eine weitere außerstaatliche Bewegung für Licht im Dunkel. Bereits seit 50 Jahren kämpft dort der Indigene Regionalrat des Cauca (CRIC) für das Recht auf Leben, Autonomie und Territorium und – 500 Jahre nach der spanischen Eroberung – nach wie vor um die Würde der Indigenen.

Rund um den 24. Februar versammelten sich mehr als 30.000 Menschen, um die Autonomie der indigenen Völker zu feiern. Die vielfältige Bewegung baut dabei autonome Strukturen abseits des kolumbianischen Staates auf. Darunter ein eigenes Bildungs- und Gesundheitssystem, sowie neben der politischen Selbstverwaltung auch die indigene Selbstschutzorganisation Guardia Indígena.

Ein weiterer Flügel der Bewegung ist die Befreiung der Mutter Erde. Diese erobert Land zurück, das einst den indigenen Gemeinden gehörte und heute von Großgrundbesitzer*innen zum industriellen Zuckerrohranbau benutzt wird. Die Landbefreier*innen roden das Zuckerrohr, um Lebensmittel anzupflanzen. Der Anspruch: das Land nicht nur für die eigene Nutzung, sondern auch für die Natur, die Tiere und Pflanzen von den Monokulturen zu befreien – alles ohne den Einsatz von Waffen. In mingas (kommunitäre Gemeinschaftsarbeit, Anm. d. Red.) wird danach das befreite Land kollektiv bewirtschaftet.

Innerhalb der indigenen Bewegung gibt es eine Gruppe von Frauen, die für die Anerkennung der Rechte der indigenen Frauen kämpft und gegen die Gewalt, die in ihren Gemeinschaften gegen ihre Körper besteht. Auf dem Jubiläumsevent des CRIC erhoben diese Frauen die Stimme, um mehr Sichtbarkeit für ihren Kampf innerhalb der Bewegung zu fordern.

Es geht um die emanzipatorische Erfahrung von jedem Standpunkt aus, hin zu einer Gesellschaft außerhalb kapitalistischer Dynamiken, die die Indigenen nicht als zu ihnen zugehörig begreifen. Innerhalb des Panoramas von Kolumbien wirkt das wie ein Hoffnungsschimmer: In diesem Moment wird im Cauca die Welt, die weiße Männer erfunden haben, von indigenen Frauen niedergerissen – weit weg vom Lärm des Kapitals; gemeinsam mit ihren Gemeinden, mit ihren Töchtern, mit ihren compañeras.

DER KRIEG GEHT WEITER: EIN DORF HAT ANGST

„Limpieza social“ Soziale Säuberung mit rabiaten Methoden (Illustrationen: Katherine Rodríguez)

Es ist Montag. Heute ist ein freundlicher Tag in Las Cruces. Bewölkt, natürlich, aber es sind helle Wolken und geregnet hat es auch noch nicht. Und dann sind da diese Möwen, die rastlos über das Dorf kreisen; obwohl hier ja gar kein Meer in der Nähe ist. Stattdessen ist das Dorf umgeben von Bergen, grünen Hügeln, auf denen die Kreuze bedrohlich thronen, denn eines ist Las Cruces bis ins tiefste Mark: katholisch.

Ein Kreuz hängt auch um den Hals von Felipe. Es baumelt hin und her, als er mit dem Fahrrad um die Ecke gedüst kommt und dann so stark bremst, dass die Hinterräder zur Seite driften. Freudige Begrüßungsumarmung: „Wow Felipe, seit wann bist du wieder hier?“ „Seit gestern. Und schon habe ich einen Job: Ich bin als Reporter auf der Straße unterwegs, für Telecruces, hab heute schon Visitenkarten verteilt; bei der Feuerwehr, der Stadtverwaltung, der Frau vom Kiosk: Ruft mich an, wenn was ist, dann komme ich mit der Kamera.“ Während er das erzählt, formt Felipe mit seiner Hand einen Hörer und hält die Hand ans Ohr. Felipe strahlt, er wirkt auch nicht mehr ganz so dünn wie früher.

„Aber sag mal Felipe, bist du sicher, dass du wieder hier in Las Cruces sein kannst?“ Die Augen unter seinem Käppi schauen nun etwas nachdenklicher. „Ja, das geht schon. Ich hab vorher in Medellín mit dem Priester geredet und er hat gesagt, dass Gott mich begleitet und ich zurückkommen kann.“

Die Flecken in seinem Gesicht sind noch da. Sie verraten, dass er früher Drogen genommen hat. Vielleicht nimmt er sie auch immer noch; aber er sagt, dass er es nicht mehr tut. Das meiste war billiges Gras, aber nicht nur.

Felipe ist nach wie vor jung, 20 Jahre alt. Aber als er noch viel jünger war, da konsumierte er erst Drogen und weil er und seine Familie immer Geldprobleme haben, verkaufte er sie auch. Auf der Straße im Dorf. Oft auf der Partymeile, wo düstere Diskotheken sind, die eher nach zwielichtiger Großstadt aussehen als nach einem Dorf, umgeben von grünen Bergen, wo Kaffee angebaut wird. Das Verkaufen lief gut. Er nahm viel Geld ein, auch weil seine Freund*innen gute Kund*innen waren. Denjenigen, die das Sagen über das Gras und das Koks in Las Cruces haben, gefiel das. Der Junge schien zuverlässig zu sein. So sehr, dass er auch komplexere Aufgaben übernehmen könnte. Schon bald holte er einen Koffer am Rande des Dorfes ab und brachte ihn im öffentlichen Bus nach Medellín und übergab ihn an den dortigen Händler. Im Koffer: Groß- und kleinkalibrige Waffen; je nach Gebrauch. Ob für die oft minderjährigen Auftragsmörder in den Vierteln Medellíns oder die illegalen Gruppen in den Bergen und Wäldern des ländlichen Kolumbiens. Felipe wurde nie erwischt und er verdiente gutes Geld; konnte seinen Freunden einen ausgeben und für sich sorgen. Ausgerechnet er, an den sie eigentlich nicht geglaubt hatten.

Dann kommt ein Anruf, Nummer unbekannt, aber die Stimme erkennt Felipe. Es ist „der Alte“, wie sie ihn nennen. „Der Alte“ ist nicht aus Las Cruces. Er ist Chef einer der größten paramilitärischen Organisationen im Norden Kolumbiens; aber seine Fühler reichen weit hinein in die Dörfer des Landes. Er sagt, er habe einen besonderen Auftrag für Felipe. In Las Cruces und dem Nachbardorf sei er der Mann für die „limpieza social“, die „soziale Säuberung“. Das heißt: Er soll als Auftragsmörder alle die umbringen, die den Paramilitärs ein Dorn im Auge sind: Junkies, die ihre Schulden nicht bezahlen, Drogenverkäufer*innen, die Geld abzweigen, Verräter*innen, Dieb*innen, Aktivist*innen, die sich gegen die Gewalt im Dorf einsetzen, Schwule, Obdachlose …

Felipe will keine Waffe in die Hand nehmen. Er will raus aus dem Ganzen. Aber das geht nicht so einfach. Er erzählt es einer Freundin. Die kennt jemanden, der bei der UNO arbeitet. Zwei Anrufe später landet Felipe in einem Schutzprogramm. Geheime Evakuierung aus dem Dorf, Unterbringung in einem schicken Hotel in Medellín, Kontaktierung von Verwandten in der Großstadt – eine Woche lang. Danach: Nichts. Keine psychologische Unterstützung, keine ökonomische Unterstützung. Der 16-Jährige hat die Schule noch nicht beendet.

Fast zwei Jahre versucht er es mit der Schule in Medellín. Aber er schafft den Anschluss nicht. Also arbeiten. Wurstverkäufer auf der Straße, dann Burger. Arbeiten und trotzdem nicht genug zum Essen haben.

Es ist die Zeit, in der er sich Gott annähert – oder andersherum. Als dieser ihm sagt, dass er nach Las Cruces zurückkehren kann, da zögert er nicht lange. Dort findet er Arbeit, dort sind seine Eltern und seine Freund*innen und dort zieht nun auch seine neue Freundin hin, die schwanger ist. Aber dort, in Las Cruces, stehen auch immer noch die Männer an den Straßenecken, die alles und jeden im Blick haben. Sie haben seine Ankunft längst registriert und sie wissen, dass er viel weiß. Er kennt Mittelsmänner, Schmuggelrouten, Befehlsketten.

Felipe ist anerkannt als schutzbedürftige Person. Ob er sich nicht bei der Polizei melden sollte, damit sie seinen Schutz gewährleistet? „Das wäre das Schlimmste“, sagt Felipe. „Das sind noch dieselben Polizist*innen wie früher und die stecken mit den Paramilitärs unter einer Decke.“

Es ist Mittwoch, der Tag an dem sich die Bars und Cafés gegen Abend schon etwas füllen. In Las Cruces gibt es eine Bar, die hip ist, so als könnte sie in einem der angesagtesten Viertel der Großstadt beheimatet sein. Tische aus Holz, Craft Beer und Cocktails mit kreativen Namen und so. So richtig lecker schmecken auch die Milchshakes, jeder Schluck fühlt sich so an, als würde man sich 100 Kilometer wegbewegen von der Realität da draußen vor der Tür. Zumindest so lange, bis Laura anfing zu erzählen, wie die Dinge gerade laufen im Dorf. Laura ist so etwas wie das personifizierte Nachrichtenportal von Las Cruces. Was auch immer sich tut im Dorf, sie weiß Bescheid.

„Also es gibt zwei Gruppen, die den Drogenhandel in Las Cruces kontrollieren und die beiden bekämpfen sich. Aber eine hat eigentlich am meisten Macht und das ist die Gruppe von Angélica Morales. Das ist die Frau, die eine der wertvollsten Minen in der Region besitzt.“

In der Nähe von Las Cruces schlängelt sich ein großer Fluss durch die Berge, der bedeutende Mengen an Gold befördert. Schon immer war der Goldbergbau eine der Haupteinnahmequellen der Bevölkerung von Las Cruces; und meistens hatte er auch seine Schattenseiten. Heute finanziert der illegale Goldbergbau die Waffen der illegalen Gruppen.

„Angélica Morales bewegt sich hier im Dorf nur mit mindestens fünf Leibwächtern. Sie ist super eng mit dem Bürgermeister, der ja hier alles tut, um den Goldbergbau zu fördern, egal ob dabei die Umwelt kaputt geht. Sie hat in jüngster Zeit drei der größten Häuser des Dorfes gekauft und das Hotel Buenavista. Die Frau hat Geld ohne Ende.“

Aber sie hat auch Feinde. Einen davon, einen Jugendlichen, ließ sie am 31. Dezember, als das ganze Dorf sich ins neue Jahr hineintrank, vor aller Augen erschießen. Das sorgte für Unruhe, ja auch für Empörung. Also setzten sich die Dorfpolizei und die Sonderermittlungseinheit DIJIN mit den beiden Para-Gruppen des Dorfes zusammen und schlossen den Pakt, dass sie sich fortan unauffälliger verhalten und keine Menschen mitten im Dorf töten würden.

Zwei Monate später vermisste eine Mutter ihren Sohn schon seit mehreren Tagen. Sie machte sich große Sorgen und beschloss eine öffentliche Suchaktion zu starten. Sie trat im Fernsehen auf, bat um Hilfe, hängte Vermisstenzettel im ganzen Dorf auf und ging zu den Chefs der beiden Para-Gruppen in Las Cruces. Doch beide erklärten, dass sie nichts von ihrem Sohn wüssten. „Wenn wir ihn umgebracht hätten, dann hätten wir das hier mitten im Dorf gemacht“, erklärte einer von beiden.

Doch dann meldete sich ein Kioskbesitzer bei der Mutter, der den Jungen auf den Aufzeichnungen seiner Videokamera entdeckt hatte. Dort am Straßenende, wo Las Cruces aufhört und in einen Wald übergeht, sah man ihn auf dem Video, wie er etwas verwirrt etwas suchte, vielleicht waren es Drogen; der Junge war abhängig. Dann taucht ein zweiter Mann auf und läuft mit dem Jungen aus der Kamera, in Richtung der Finca La Estacada. Etwa zwei Stunden später läuft der zweite Mann erneut durch die Kamera zurück in Richtung Dorf, ohne den Jungen. Diesen Hinweisen folgend machte sich die Polizei auf die Suche nach dem Jungen auf der Finca und fand dort nur die Knochen eines toten Pferdes.

„Aber viele sagen, dass sie den Jungen beim Pferd begraben haben, um ihn dort verschwinden zu lassen“, flüstert Laura. Kurz darauf wurde der Kioskbesitzer, der den Hinweis gegeben hatte, von Unbekannten bedroht und dazu gezwungen, die Videokameras abzunehmen.

Die Zettel mit dem Foto des Jungen hängen noch immer an den Laternen.

„Und wisst ihr, was jetzt passiert ist?“, setzt Laura zur nächsten Neuigkeit an. „Angélica Morales war auch schon länger im Streit mit einem Minenbesitzer von der anderen Seite des Flusses. Jahrelang hatte jede*r seinen beziehungsweise ihren eigenen Bereich, aber dann wollte Angélica Morales mehr haben und ließ den anderen Minenbesitzer umbringen. Nun war der aber ein Verbündeter der ELN, der Guerilla. Und jetzt hat die Guerilla letzte Woche drei große Bergbau-Maschinen von Angélica Morales verbrannt, von der jede 250.000 Euro kostet.“

Außerdem musste Angélica Morales aus Las Cruces flüchten. Ihre Söldner halten noch die Stellung, aber im Dorf rumort die Angst, dass ohne die Chefin bald neue Gewalt um die Vorherrschaft ausbricht – oder dass Angélica Morales mit noch mehr Waffen und Brutalität zurückkehrt.

Es ist Freitagabend und auf einem der Hügel mit Blick auf das Dorf umarmt die Nacht die gelblichen Lichter der Häuser. Irgendwie ist es auch die Zeit, um Tränen fließen zu lassen. Aber vorher fragt Juliana: „Ist es okay, wenn ich kurz etwas Persönliches erzähle?“ Dann kullert eine Träne über die Wange. „Was ist denn passiert, Juliana?“

„Meine Therapeutin will mich wieder für mehrere Monate in die Geschlossene schicken.“ Eine kurze Pause, dann fährt sie fort: „Dabei weiß ich ganz genau, was mit mir passiert. Ich mache mir einfach riesige Sorgen um Isabel. Du kennst die doch, oder?“ „Na klar, Isabel, also noch von damals, als sie in der Theatergruppe mitgemacht hat.“ „Ja genau, sie hat auch gerne gesungen und war eines der aufgewecktesten Mädchen. Wir sind zusammen aufgewachsen, sie war wie eine Schwester für mich und dann ist sie vor einem Jahr zu ihrer Tante nach Siracó gezogen.“ Dort kamen immer wieder bewaffnete Gruppen ins Dorf und eines Tages hat eine Gruppe sie gezwungen, mit ihnen zu gehen. „Sie durfte noch nicht einmal ihren Ausweis mitnehmen.“ Das Ganze geschah vor den Augen des kleinen Bruders, der seiner großen Schwester nicht helfen konnte und dann die Nachricht der Mutter überbringen musste.

Tränen, Schmerz, Ungläubigkeit über das Geschehene. Von einem Moment auf den anderen ändert sich das Leben komplett. Sie fehlt.

„Und dann rief einen Tag später jemand von der Gruppe die Mutter an und sagte, sie solle zu ihrer eigenen Sicherheit das Dorf verlassen, weil sonst die verfeindeten Gruppen Rache an ihr nehmen könnten, da ihre Tochter ja jetzt Teil der Gruppe sei.“ Erst wird der Mutter die 19-jährige Tochter genommen, dann ihre Finca; ihre Tiere und die Erde, die sie ernähren.

Von Isabel erhalten sie lange Monate kein Lebenszeichen. Dann eines Tages ruft sie ihre Mutter von einer unbekannten Nummer an. Ihre Stimme zittert. Sie erzählt, dass sie einen Compañero von ihr im Kampf umgebracht haben und sie sich sein Handy nehmen konnte. Isabel erzählt auch, dass sie ihr in der Gruppe einen neuen Namen gegeben haben und ihr jeglicher Kontakt zur Familie verboten wurde. Isabel will fliehen. Wenn das jemand aus der Gruppe mitbekommt, erschießen sie sie. Und wenn nach der Flucht die Polizei oder das Militär sie findet? „Dann stecken sie sie für viele Jahre in den Knast, weil sie in einer illegalen Gruppe war“, holt Juliana einen von vielen grausamen Gedanken hervor.

Da ist sie nun, die Familie, und sie weiß nicht, wie ihre Tochter zu ihr zurückkehren kann. „Und jetzt sitze ich hier und werde verrückt, weil ich den Klingelton von meinem Handy lautgestellt habe, weil ich jeden Moment auf den Anruf warte, dass Isabel gestorben ist. Und meine Psychologin will mich deswegen wieder in die geschlossene Anstalt schicken, so dass ich meine zwei Kinder nicht mehr sehen kann.“

MEXIKANISCHE HYBRIS

Auch jenseits der nackten Zahlen der Ermordeten und Verschwundenen – 2019 wurden mehr Morde registriert als jemals zuvor – sprengt die Gewalt in Mexiko jede Vorstellungskraft. Denn die Opfer werden häufig erniedrigt, verstümmelt und anschließend öffentlich ausgestellt. Gewalt als demonstrativer Akt, als „Botschaft”, ist längst zur Normalität geworden. Aber wie passt dies zur Solidarität innerhalb der mexikanischen Zivilgesellschaft, als beispielsweise nach dem großen Erdbeben 2017 Tausende tagelang gemeinsam um jedes einzelne verschüttete Menschenleben rangen? Wie ist die Untätigkeit des Staates gegenüber fast 35.000 Morden im Jahr zu erklären, eines Staates, der in anderen gesellschaftlichen Bereichen – von der Regelung des Verkehrs über die Kontrolle von Lebensmitteln bis zur Organisation internationaler Ausstellungen – sehr wohl aktiv ist?

Diesen und anderen Fragen stellt sich Timo Dorsch in seiner Ende 2020 im Mandelbaum-Verlag erschienenen Analyse Nekropolitik. Neoliberalismus, Staat und organisiertes Verbrechen in Mexiko. Ausgangspunkt war die „scheinbar banale Frage, die die militante Akademikerin Raquel Gutiérrez-Aguilar” 2019 auf dem Frankfurter Kongress Geographien der Gewalt stellte: „Was ist das, was sich in Mexiko abspielt?”

Dorsch definiert Nekropolitik als Ausdruck der strukturellen Gewalt des Kapitalismus

Bereits in der Einleitung räumt er mit der Kategorie des „Krieges gegen den Drogenhandel” auf, mit der die Situation in Mexiko meist beschrieben wird: „… allein der Begriff des Krieges (ist) bereits irreführend, setzt er doch zwei klar voneinander trennbare bewaffnete Akteure voraus, die einander in einem klar abgrenzbaren Raum und Verhältnis bekriegen. Vielmehr existiert in Mexiko eine Parallelität chaotischer Abläufe (…). Während der Staat einen Teil des organisierten Verbrechens aufreibt und militärisch bekämpft, nimmt der Wettbewerb zwischen bewaffneten kriminellen Organisationen genauso zu wie die Verschmelzung staatlicher Strukturen mit jenen der organisierten Kriminalität.”

„In Mexiko existiert eine Parallelität chaotischer Abläufe“

Das Resultat dieses Verschmelzungsprozesses bezeichnet Dorsch als „Hybris”, als neue gesellschaftliche Struktur jenseits der Gegensätze Rechtsstaat/Gesetzlosigkeit oder Normalzustand/Ausnahmezustand. Dabei sei der mexikanische Staat nicht mit der organisierten Kriminalität deckungsgleich, auch wenn „Gewaltexzesse (…) in Mexiko gleichermaßen von staatlichen wie kriminellen Akteuren – von dieser Hybris – begangen” werden. Nekropolitik, also die „Souveränität” darüber zu entscheiden, „wer leben darf und wer sterben muss”, sei Ausdruck dieser Hybris. Den Begriff Nekropolitik und seine Definition übernimmt er von dem postkolonialen Theoretiker Achille Mbembe, der diesen 2003 in seinem Aufsatz Necropolitics geprägt und 2019 weiterentwickelt hat. Mbembe geht es dabei nicht nur um den Tötungsakt an sich, sondern auch um die Omnipräsenz der Drohung, das Recht, Andere zu versklaven und Formen politischer Gewalt.

Timo Dorsch definiert Nekropolitik aber nicht als Ausdruck einer völlig neuen Machtkonstellation, sondern der strukturellen Gewalt des Kapitalismus: „Diese Macht wird uns abstoßend vorkommen im Verhältnis zur uns bekannten westeuropäischen Realität. Und doch ist sie nur die konsequenteste Zuspitzung der auch bei uns vorherrschenden Gesellschaftsverhältnisse.” Und an anderer Stelle heißt es im einleitenden Kapitel: „Demokratie, Kapitalismus und Gewalt sind zwei Seiten einer Medaille. Die mexikanische Wirklichkeit legt dieses Verhältnis offen. Sie demaskiert.”

Als Ausgangsbedingungen für die Entstehung der „Hybris” und der daraus folgenden Nekropolitik benennt der Autor drei strukturelle Veränderungen in Mexiko: Die Fragmentierung staatlicher Macht in den 1990er Jahren (als die Macht der PRI, der Revolutionären Institutionellen Partei, nach 60 Jahren ununterbrochener Herrschaft auf der Ebene der Bundesstaaten und später auf nationaler Ebene zu bröckeln begann), die Neoliberalisierung der Gesellschaft seit den 1980er Jahren sowie das veränderte Verhältnis zwischen Staat und organisierter Kriminalität seit den 2000er Jahren. Im weiteren Verlauf seiner Analyse betrachtet er diese Bedingungen auf der nationalen Ebene und anschließend im Bundesstaat Michoacán.

In Mexiko ist Gewalt als demonstrativer Akt längst zur Normalität geworden


Doch während Dorsch recht schlüssig die Folgen des faktischen „Einparteiensystems” auf der politischen Ebene sowie die historisch gewachsene Allianz zwischen Staat und organisierter Kriminalität darstellt, bietet seine ökonomische Analyse wenig Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Entstehung der „Hybris”. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Zahlenfülle zur Neoliberalisierung, gelingt es ihm nicht, die ökonomischen Entwicklungen in einer Form zu systematisieren, die seine These zur „Hybris” untermauern würde.

Es ist daher gut, dass auf die makroökonomische Analyse die „Fallstudie” des Bundesstaates Michoacán folgt. Nach einer kurzen Einführung in die politische und ökonomische Geschichte Michoacáns und seiner strategischen Bedeutung sowie einen Überblick über Teile des organisierten Verbrechens wird überdeutlich, um wie viele verschiedene Akteure es sich in diesem Bereich handelt. Akteure, die Bündnisse schließen – auch mit größeren Einheiten wie dem Sinaloa-Kartell, diese wieder auflösen, Unterorganisationen bilden und dabei auf verschiedenste Art und Weise mit politischen Kräften und der legalen wirtschaftlichen Sphäre verbunden sind.

Timo Dorsch verfolgt dies anhand zweier Wirtschaftsbereiche in Michoacán: Bergbau und Avocado-Produktion. Hier kann er die Gleichzeitigkeit von legalem und illegalem Abbau im Bereich Bergbau belegen, bei der die illegale Mine La Nuez im Windschatten des internationalen Unternehmens Ternium segelt. Aus dem illegalen Abbau werden 300 Tonnen Erz und Gestein pro Tag, vermutlich als Eigentum von Ternium deklariert, im Hafen von Manzanilla gelagert, ohne dass Ternium protestiert hätte. Auch Zahlungen an die sogenannten Tempelritter (Los Caballeros Templarios), die von 2011 bis 2015 die organisierte Kriminalität in Michoacán dominierten, wurden von Ternium geleistet, ihr Repräsentant von den Tempelrittern zeitweise entführt. Der Transport des Erzes fand laut Augenzeugen unter Beobachtung von Soldaten von Armee und Marine statt, auch das Dynamit soll von Soldaten geliefert worden sein. Dem Gewaltregime der Tempelritter setzten Polizei und Militär kaum etwas entgegen, währendessen eine Bewegung der Selbstverteidigung der Bevölkerung (autodefensa) 2013 kurzfristig erfolgreich war. Ihre Protagonisten wurden anschließend juristisch verfolgt, während Beweise gegen die Tempelritter für Ermittlungen nicht genutzt wurden. Die Avocado-Produktion wurde von den Tempelrittern wcaeitgehend unter Mithilfe staatlicher Strukturen übernommen „… indem über einen amtlich beglaubigten Notar Avocadogärten lokaler Produzierender unter Gewaltandrohung auf Mitglieder der organisierten Kriminalität übertragen wurden.“

So aufschlussreich das Beispiel von Michoacán auch ist – der Autor verliert sich hier leider in der „Parallelität chaotischer Abläufe”, seine Darstellung ist weder chronologisch noch geographisch stringent, oft journalistisch statt analytisch. Am Ende ist Nekropolitik weitestgehend so, wie Timo Dorsch die Analyse selbst verstanden wissen wollte: „… als Versuch und als Suche, als mögliche Deutung der Gewalt, als Beitrag zur Debatte.”

EINGESCHLOSSEN UND RECHTLOS

Keine weniger Wir wollen uns lebend

Illustration: Agustina Di Mario, @aguslapiba

Nahomy Otero durchlebt einen neuen Lebensabschnitt. Sie ist 41 Jahre alt und betrachtet sich selbst als Überlebende. La Nahomy, wie sie von ihren engen Freund*innen genannt wird, ist seit über 15 Jahren Menschenrechtsverteidigerin und setzt sich in ihrem Geburtsland Honduras insbesondere für die Rechte von trans Frauen und HIV-infizierten Menschen ein. Seit Beginn der Covid-19-Ausgangssperre in Spanien, wo sie aktuell lebt, konnte sie nicht mehr gut schlafen. Seitdem sie erfuhr, dass die Pandemie Honduras erreicht hat, ist sie noch besorgter darüber, was dort passiert. Dort, wo das Gesundheitssystem schon seit vielen Jahren zusammengebrochen ist, waren trans Frauen bereits vor Covid-19 gefährdet, in ihrer Geschlechtsidentität nicht anerkannt und wurden in der Gesundheitsversorgung benachteiligt.

Kurz vor der Schließung der Grenzen bereitete Otero sich auf den Empfang mehrerer Kolleg*innen und Freund*innen vor, die wegen der Gewalt in Honduras Ende März 2020 das Land verlassen wollten. Sie ist beunruhigt, da die Europäische Union monatelang keine Flüge aus Mittelamerika zugelassen hat, und befürchtet, dass es angesichts der wirtschaftlichen Lage nach monatelangem Eingesperrtsein in den casas de seguridad (Frauenhäuser) für einige ihrer compañeras fast unmöglich sein wird, das Land zu verlassen.

Zwischen Juni 2009 und März 2020 wurden in Honduras 111 Transfemizide gemeldet. Das Alter der ermordeten Frauen liegt zwischen 12 und 34 Jahren, so ein Bericht über gewaltsame Todesfälle in der LGBTIQ*-Gemeinschaft, der vom Lesbischen Netzwerk Cattrachas (Red Lésbica Cattrachas) verfasst wurde. Dies ist eine der wenigen Organisationen, die die gewaltsamen Todesfälle innerhalb der LGBTIQ*-Bevölkerung auflistet. In der letzten Aktualisierung gab das Netzwerk an, dass allein im Jahr 2020 bisher sieben trans Frauen getötet wurden.

Nahomy Otero ist nach Spanien geflohen, um der Gefahr zu entkommen, in diese Statistik aufgenommen zu werden. Vor zwanzig Jahren, als Mitglieder einer mara (Jugendgang, Anm. d. Red.) sie entführten, um sie zu vergewaltigen und zu ermorden, überlebte sie. Danach versuchte sie, in Honduras zu bleiben, aber die Gewalt verfolgte sie. „Sie steckten mich in einen Raum, in der Nähe einer Pferdekoppel. Ich versuchte zu entkommen, aber dort bekam ich den ersten Messerstich. Ich fühlte, wie meine Seele aus meinem Körper entwich, ich fühlte diese Luft, diesen Seufzer, der aus mir herauskam, aber ich hörte auch eine Stimme, die mir sagte, dass ich so nicht sterben würde, dass ich aufstehen sollte. Und ich weiß nicht, wie, aber meine Füße waren losgebunden, als ich aufstand. Danach entschied ich mich, Teil der Veränderung zu werden. Ich wollte anderen Menschen helfen, Gott gab mir eine weitere Chance zu leben“, sagt sie und ergänzt, dass ihr diese Ereignisse eindeutig zeigten, was fortan ihren Lebenszweck ausmachen sollte.

Otero trat ein Jahr später einer Menschenrechtsorganisation bei. Im Jahr 2014 meldete sie der Staatsanwaltschaft den Mangel an antiretroviralen Medikamenten (diese kommen in der HIV-Therapie zum Einsatz, Anm. d. Red.) in den staatlichen Zentren zur Gesundheitsversorgung. Zu dieser Zeit arbeitete sie in der Betreuung HIV-Kranker. Im Nachgang zu dieser Beschwerde sagt sie, dass sie belästigt, verfolgt und aufgefordert wurde, nicht mehr darüber zu sprechen.

Jetzt ist es eine ihrer Freund*innen, die in Gefahr ist. Marlene (Name geändert) ist eine 37 Jahre alte Menschenrechtsverteidigerin, Erzieherin und Buchhalterin. Sie definiert sich außerhalb des Heteronormativen und kleidet sich gerne so, wie sie sich wohl fühlt, ohne sich an Schönheitsstandards irgendwelcher Art zu halten. Sie ist eine der Freund*innen, auf die Nahomy Otero Ende März in Spanien gewartet hat. Auch Marlene wurde Opfer eines transfeindlichen Angriffs. „Ich habe sechs Tage im Krankenhaus verbracht, ziemlich schlimm, 85 Stiche im Kopf“, schildert sie mit fester Stimme. Der Angriff auf Marlene schockierte ihre compañeras wegen der Brutalität des Geschehens. Sie reichten Beschwerde ein und beantragten Schutzmaßnahmen bei einer Gruppe verschiedener staatlicher Institutionen in Koordination mit Vertreter*innen der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft, die sich der Entwicklung von Strategien zur Prävention und zum Schutz derjenigen widmen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit einsetzen.

Nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Freundin Ende 2019 brutal zusammengeschlagen und beinahe gestorben wäre, begann Nahomy Otero, sie zu unterstützen, damit sie nach Spanien kommen könne. Pläne, die die Pandemie bislang verhinderte. „Sie sagten mir, dass mein Fall abgelehnt wurde”, bemerkt Marlene. „Ich bin gerade dabei, internationale Hilfe zu suchen. Aufgrund der Covid-19-Situation war es nicht möglich, die Reise, die ich für den 31. März geplant hatte, anzutreten. Ich habe mich wirklich entschlossen, das Land zu verlassen, weil ich mein Leben riskiert habe und eine neue Lebensperspektive in einem anderen Land suchen wollte.“ Nach sieben Monaten des Wartens hat Marlene die Hoffnung verloren, im Jahr 2020 noch ausreisen zu können. Sie und andere trans Frauen versuchen, über Organisationen Asyl zu beantragen, um der Diskriminierung in Honduras zu entgehen. Sie erhalten jedoch keine Antworten. „Es scheint, dass man einen Teil seines Körpers verloren haben muss, um Asyl zu bekommen, man muss körperlich angegriffen worden sein, wobei manchmal auch verbale Aggression ausreicht. Der soziale Schaden und das psychologische Trauma, das die Gesellschaft ihnen in diesem Land zufügt und der Mangel an Möglichkeiten ist, wie lebendig begraben zu sein“, gibt Cristina Portillo, eine Freundin von Nahomy Ortero, zu bedenken.

Ein ähnlicher Fall ereignete sich mit Grey Anahí, einer trans Frau, die in San José de Comayagua, im Zentrum des Landes mit einer Machete angegriffen wurde. Die Behörden wollten ihrer Beschwerde nicht nachgehen. Diese Tatsache wurde bekannt, nachdem Luis Almendares, ein lokaler Journalist, den Fall veröffentlicht hatte. Die Nachricht ging viral und die Behörden reagierten mit der Veröffentlichung einer Klarstellung, in der sie den Vorfall dementierten und erklärten, Anahí wolle nur dem Ansehen der Institution schaden. Almendares wurde zwei Wochen nach dieser Äußerung ermordet und ist der dritte Journalist, der 2020 während der Quarantäne in Honduras getötet wurde. Nun fürchtet auch Anahí Repressalien.

In Honduras gibt es keine Gesetze, die die Menschenrechte der LGBTIQ*-Bevölkerung garantieren. Im Leitfaden der Empfehlungen für eine umfassende Gesundheitsversorgung für trans Frauen in Lateinamerika und der Karibik heißt es, die Lebenserwartung einer trans Frau in der Region betrage 35 Jahre. Portillo ist überzeugt, dass die einzige Möglichkeit, länger zu leben, darin besteht, das Land zu verlassen.

Wir schaffen Gerechtigkeit Keine mehr!

Illustration: Paulyna Ardilla, @paulyna_ardilla

Die aktuelle Ausgangssperre befördert die Gewalt. Die LGBTIQ*-Gemeinschaft ist von jeher mit dem endemischen Problem der Ausgrenzung und Unsichtbarkeit konfrontiert. Strukturelle Gewalt ist an der Tagesordnung. „Die Besorgnis ist groß, denn die Pandemie hat uns in einen Zustand größerer Verwundbarkeit versetzt. Während der Quarantäne haben die Menschenrechtsverletzungen zugenommen“, sagt Donny Reyes, Direktor der Asociación Arcoiris (NGO für die Rechte der LGBTIQ*-Gemeinschaft in Honduras) und Mitglied des honduranischen Komitees für sexuelle Vielfalt (CDSH). Die Restriktionsmaßnahmen, die der Staat während der Pandemie erließ, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, unterbinden, dass Menschenrechtsverteidiger*innen sich frei zu den Orten bewegen können, an denen Vorfälle und Aggressionen gemeldet werden. Die Überprüfung der Fälle und die formelle Anzeige bei der Staatsanwaltschaft werden erschwert. In einer aktuellen Studie über LGBTIQ*-Personen dokumentierte das CDSH in Einzelinterviews Fälle von trans Frauen, die im Land während der Ausgangssperren Sexarbeit leisteten. Oftmals ist das die einzige Einkommensquelle der Betroffenen. „Sie gehen hinaus, um ihr Hotelzimmer oder ihre Unterkunft bezahlen zu können, um Essen zu bekommen. Viele von ihnen haben die Verantwortung für ihre Großmütter oder Neffen, die von ihnen abhängen und von dem leben, was sie beschaffen“, sagt Donny Reyes. Die Studie zeigte außerdem, dass 34 Prozent der befragten Personen das Militär als ihre Aggressoren identifizierten, während der Rest die National-, Verkehrs- und Gemeindepolizei angaben. Nur drei Prozent von ihnen haben formell eine Beschwerde eingereicht. Damit einhergehend sind Verhaftungen mit übermäßiger Gewalt durch Polizei und Militär zu verzeichnen.

Diese Realität ist eine Konstante im Leben vieler Frauen. Nahomy Otero erinnert daran, dass die Schläge, Demütigungen und Drohungen der Polizeibehörden Teil ihres Lebens und des Lebens ihrer Freund*innen waren, mit denen sie die Transition begann.

Seit Jahren setzt sich die LGBTIQ*-Community dafür ein, dass das Gesetz zur Geschlechtsidentität (Ley de Identidad de Género) und das Antidiskriminierungsgesetz vom Nationalkongress diskutiert und verabschiedet werden. Das erste Gesetz ist der Schlüssel zur Senkung der Sterblichkeitsrate von trans Frauen im Land, denn mit diesem Gesetz ist der Staat verpflichtet, der Pathologisierung der Betroffenen entgegenzuwirken und ihre soziale Anerkennung zu erleichtern. Die fehlende Anerkennung durch den Staat verschärft die Situation der LGBTIQ*-Bevölkerung. Ungeachtet der Tatsache, dass verschiedene nationale Organisationen und internationale Gremien wie der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) den honduranischen Staat wiederholt aufgefordert haben, internationale Vereinbarungen zur Gleichberechtigung aller Personen einzuhalten und ihnen infolgedessen auch ihre verfassungsmäßigen Rechte zu gewähren, macht der Staat Honduras sie weiterhin unsichtbar. Unter anderem aus Gründen, die durch religiöse Doktrinen gerechtfertigt werden. Ein Bericht über den säkularen Staat und religiöse Fundamentalismen, der vom Netzwerk Cattrachas erstellt wurde, hält verschiedene Erklärungen hochrangiger staatlicher Behörden der Exekutive und Legislative gegen die Rechte der LGBTIQ*-Community fest, die auf religiöser Moral basieren.

Zu den juristischen Empfehlungen internationaler Organisationen, die vom Staat Honduras ignoriert wurden, gehören unter anderen die Streichung jeglicher Normen aus dem Rechtssystem, die eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechts-*identität darstellen, sowie das Verbot der Diskriminierung im öffentlichen und privaten Bereich. Für Nahíl Zerón vom Netzwerk Cattrachas ist das Vorgehen des honduranischen Staates widersprüchlich, da er sich nicht an die eigens unterzeichneten Empfehlungen und Abkommen hält, während die betroffenen Menschen noch leben, wohl aber, wenn sie getötet wurden. „Es ist überaus paradox, dass sie zwar unseren Tod anerkennen, aber nicht unsere Orientierungen und Identitäten, wenn wir noch am Leben sind. Damit bezieht sich Zerón auf die Tatsache, dass es in der Abteilung für gewaltsame Tode bei der Staatsanwaltschaft eine Einheit für Tode von Personen sozial schwacher Gruppen gibt. „Diese Einheit arbeitet nicht mit einem differenzierten Ansatz, sodass das Unverständnis zu sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität die Arbeit offensichtlich ineffizient macht. Auch die Rücknahme des Hassverbrechens als erschwerender Faktor im Strafgesetzbuch war für uns ein wenig beunruhigend, weil man beispielsweise den Mord, der aufgrund von Hass gegenüber einer LGBTIQ*-Person verübt wurde, nun nicht mehr damit begründen kann“, führt Zerón weiter aus. Der ambivalente Diskurs des Staates durch die Unterzeichnung und Ratifizierung internationaler Abkommen zu Menschenrechtsfragen einerseits und die legislative Realität im Land andererseits sind per se schon ein Gewaltakt gegenüber vieler LGBTIQ*-Personen.

Nahomy Otero träumt davon, zusammen mit anderen compañeras, die nach Spanien geflohen sind, ein Haus der Zuflucht zu eröffnen, um anderen Menschen zu helfen, die sich in ihrem Land nicht frei entfalten dürfen. Vorerst hofft sie, dass ihre Freundinnen Marlene und Cristina Honduras verlassen können, um an einen sicheren Ort zu gelangen.

 

GEWALT UND GESETZ: VENEZUELA

Illustration: Paulyna Ardilla, @paulyna_ardilla

In der Nacht vom 3. September 2018 wurde die 29-Jährige Mayell Hernández in ihrer Wohnung ermordet. Freund*innen und Familie berichteten, dass der mutmaßliche Täter ihr Ex-Partner war. Er wurde von der Polizei festgenommen und gleich darauf wieder freigelassen. Die Straflosigkeit und Untätigkeit der Justiz im Fall von Hernández’ Ermordung brachten mehrere feministische Basisgruppen zusammen, um öffentlich Gerechtigkeit zu fordern.

Seit 2007 hat Venezuela ein dem Anschein nach progressives Gesetz für das Recht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt. Das Gesetz benennt 21 Arten von Gewalt und soll Frauen dabei unterstützen, Fälle zur Anklage zu bringen. Im Jahr 2014 wurde das Gesetz reformiert, um Femizid als Straftat einzuschließen. Trotzdem mangelt es an der Durchsetzung des Gesetzes im Justizsystem, bei der Polizei und den Regierungsbehörden. Die Polizei hindert Frauen oft daran, Anzeige zu erstatten, wenn sie zum Beispiel die „falsche Kleidung“ tragen. Zudem gibt es keine begleitenden Richtlinien, so dass Entscheidungen oft willkürlich getroffen werden und Betroffene nicht die Unterstützung bekommen, die ihnen das Gesetz zusichert.

Eine weitere Kritik an der Gesetzgebung und der Situation im Land ist die fehlende Erwähnung von LGBTQ+ Personen, die grundsätzlich aus dem Justizsystem herausfallen. Trans Frauen dürfen keine Anzeige aufgrund des Gesetzes von 2007 stellen. Ihre einzige legale Möglichkeit ist, auf die Artikel 20 und 21 der Verfassung zurückzugreifen, die jegliche Form der Diskriminierung verbieten.

2016 war das letzte Jahr, in der die venezolanische Regierung offizielle Zahlen zu Femiziden veröffentlicht hat: 122 Fälle waren es damals. Die sinkende Transparenz zeigt einen starken Rückschritt seit dem Gesetz von 2007. Für aktuelle Daten hat die Anthropologin Aimee Zambrano einen Femizid-Monitor gegründet, der Zahlen zu Femiziden auf Grundlage von Medienberichten sammelt. Ihre Statistik zählt 167 Femizide im Jahr 2019, davon drei Transfemizide. Von Januar bis Juni 2020 zählte sie bereits 137 Femizide. Die Zahlen sind nicht vollständig, da nicht alle Fälle in den Medien vorkommen. Daher geht es ihr darum, nicht nur die Zahlen zu dokumentieren, sondern auch die Geschichten der Personen, die sich dahinter verbergen. Mayell Hernández ist eine von den ermordeten Frauen. Nach den Protesten, die in ihrem Namen stattgefunden haben, wurde ihr Ex-Partner zu einer 30-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die Höchststrafe in Venezuela. Eine Ausnahme, denn viele Femizide bleiben weiterhin straflos (siehe Text auf Seite 34).

GEWALT UND GESETZ: URUGUAY

Illustration: Magda Castría, @magdacastria

Im Jahr 2017 wurde in Uruguay eine Änderung des Strafgesetzbuches durchgesetzt, die Femizid als erschwerenden Straftatbestand zum Mord einführte (Gesetz Nr. 19.538). Im selben Jahr wurde auch ein integrales Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen (19.580) verabschiedet. Kritisiert wird allerdings die mangelhafte Umsetzung des letzteren, da es nicht mit angemessenem Budget ausgestattet ist und es noch keine entsprechenden Instanzen in der Justiz gibt, die auf die Rechtsprechung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Gewalt spezialisiert sind. Darüber hinaus bemängelt die Organisation Red Uruguaya contra la Violencia Doméstica y Sexual eine Reviktimisierung der Frauen, die Fälle zur Anzeige bringen. Sie kritisieren, dass oftmals polizeiliche Schutzmaßnahmen dazu führen, dass die betroffenen Frauen zu „Gefangenen in ihren eigenen Häusern“ würden, während ihre Aggressoren frei herumlaufen können.

Im Jahr 2018 wurde die juristische Figur des Femizids erstmals in einem Urteilsspruch angewendet, da Verachtung, Geringschätzung und Hass auf Frauen im Tatmotiv durch psychologische Gutachten nachgewiesen werden konnten. Ein „historisches“ Urteil, so die Aktivistin Andrea Tuana, angesichts des tief in der Kultur verwurzelten Machismus. Sie und andere Feministinnen drängen auf einen „kulturellen Wandel“ durch Bildung und die konsequente Aufnahme von Geschlechtergerechtigkeit in die Lehrpläne. „Natürlich kann ein Gesetz das Problem von geschlechtsspezifischer Gewalt nicht lösen; es ist eine notwendige Voraussetzung, aber das reicht nicht aus“, so die Anwältin Alicia Deus. Denn trotz umfassender Gesetzgebung gehört Uruguay laut UN Women zu den Ländern mit den höchsten Zahlen häuslicher Gewalt in der Region.

Seit 2015 zählen feministische Organisationen 35 bis 39 Feminizide jährlich bei dreieinhalb Millionen Einwohner*innen. Als Reaktion auf die hohen Fallzahlen geschlechtsspezifischer Gewalt rief der damalige Präsident Tabaré Vázquez Ende 2019 einen nationalen Notstand aus – was von der Zivilgesellschaft längst eingefordert worden war. Zudem führen feministische Organisationen wie Minervas oder die Coordinadora de Feminismos sogenannte Alertas Feministas („Feministische Alarme“) durch. Kurz nach Bekanntwerden neuer Feminizide gehen sie in die Öffentlichkeit mit Schildern mit den Namen und Fotos der ermordeten Frauen, mit Performances, bei denen sich die Teilnehmer*innen symbolisch für jede getötete Frau auf den Boden legen und wo die Namen aller im Jahr getöteten Frauen verlesen werden. So wird immer wieder die Aufmerksamkeit auf die andauernde tödliche Gewalt gegen Frauen gerichtet.

GEWALT UND GESETZ: PERU

 

Zusammen sind wir die Flamme
Illustration: Valeria Araya, @onreivni

Laut dem peruanischen Ministerium für Frauen und schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen wurden von Januar bis August 2020 85 Femizide registriert. In Peru wurde Femizid im Jahr 2011 dem Artikel 107 des Strafgesetzbuchs hinzugefügt, jedoch erst im Jahr 2013 mit dem Gesetz Nr. 30068 als eigener Straftatbestand eingeführt. Im Kontext häuslicher Gewalt, Nötigung, sexueller Belästigung, Machtmissbrauch oder jeder anderen Art der Diskriminierung aufgrund des Frauseins beträgt die Gefängnisstrafe für Femizide mindestens 20 Jahre. Im Kontext schwerer Straftaten wie Missbrauch von Minderjährigen, Schwängerung, sexueller Ausbeutung mit vorheriger Vergewaltigung oder Verstümmelung beträgt die Strafe mindestens 30 Jahre. Das Kollektiv vereinigter Familien für die Gerechtigkeit: Nicht eine Ermordete mehr ist in diesem Kontext die wichtigste Organisation. Sie wurde im September 2019 gegründet und setzt sich aus Familien von Opfern von Femiziden zusammen, die fortwährend Gerechtigkeit einfordern. Eine ihrer größten Errungenschaften ist der Erlass des Notfalldekrets 005-2020, welches hinterbliebenen Kindern oder abhängigen Familienangehörigen alle zwei Monate eine finanzielle Unterstützung von 600 Soles (ca. 145 Euro, Anm. d. Red.) gewährt.

Einige emblematische Fälle sind die von Solsiret Rodríguez, Mutter und feministische Aktivistin, die im Jahr 2016 verschwand und 2020 ermordet aufgefunden wurde. Sheyla Torres, eine neunzehnjährige angehende Hebamme, wurde von ihrem Ex-Partner erstochen. Und Eyvi Ágreda, eine 22-jährige wurde in einem Bus von ihrem Stalker lebendig verbrannt. Der wohl aktuellste Fall ist der von Lesly Vicente, einer 19-Jährigen, die nach Tingo María gekommen war, um dort Bauingenieurswesen zu studieren und in einem gemieteten Zimmer wohnte. Sie wurde am Morgen des 15. Juli dieses Jahres ermordet. An diesem Tag drangen eine oder mehrere Personen in ihr Zimmer ein, schlugen sie mit einem Vorschlaghammer, stachen mehrmals auf sie ein, schnitten ihren Hals und Teile ihres Gesichts durch. Bis heute gibt es weder Verdächtige noch Verurteilte.

Transfemizide werden bisher nicht als eigenständige Straftat eingestuft. Das ist alarmierend, da dieses Jahr bereits vier trans Frauen gewaltsam ermordet wurden. Das waren Angie Mimbela del Águila (26 Jahre alt und auf offener Straße enthauptet); die 52-Jährige Cristal Romero, die geschlagen und erstochen wurde; Brenda Venegas, ebenfalls 52 Jahre alt und erhängt, und die 46-Jährige Gabriela Cruz, die mit Handschellen auf dem Rücken gefesselten Armen aufgefunden und vor ihrem Tod gefoltert wurde. Leider respektiert der Staat auch im Tod nicht ihre Geschlechtsidentität, sondern bezeichnet sie weiterhin als Männer.

Femizide und Transfemizide sind zwar etwas Alltägliches, jedoch ist es wichtig einzugrenzen, dass sie nicht in allen sozialen Klassen geschehen. Meist sind die Opfer prekarisierte und rassifizierte Frauen, die die Konsequenzen einer frauenfeindlichen, rassistischen und kapitalistischen Gesellschaft erleiden, in der die Familienangehörigen jahrelang unermüdlich für Gerechtigkeit und gegen die Gleichgültigkeit des Frauenministeriums und der Justiz kämpfen müssen. Wir werden weiterhin für eine bessere Zukunft für unsere Schwestern kämpfen, damit morgen nicht eine weitere von ihnen fehlt. Für unsere Toten, nicht eine Minute des Schweigens, sondern ein ganzes Leben des Kampfes!

GEWALT UND GESETZ: PANAMA

Wir sind vereinigt! Mein Körper, meine Entscheidung
Illustration: Paulyna Ardilla, @paulyna_ardilla

Nach mehreren Anläufen im panamaischen Parlament wurde Feminizid im Jahr 2013 durch das Gesetz Nr. 82 als eigener Tatbestand eingeführt. Das Mindeststrafmaß liegt mit 25 bis 30 Jahren Haft höher als das für Mord.

Seitdem sind Feminizide laut offizieller Statistik auf landesweit etwa 20 bis 30 im Jahr zurückgegangen. Feministinnen beklagen eine höhere Dunkelziffer und dass Feminizide zuletzt grausamer geworden sind: In diesem Jahr wurde die 33-jährige schwangere Bellin Flores zusammen mit sechs Kindern von einer evangelikalen Sekte entführt und ermordet. In einem weiteren Fall wurde die 38-jährige Karen Velásquez von ihrem ehemaligen Partner in einem mit Benzin präparierten Auto angezündet.

Stehen die Täter später vor Gericht, kommt es mit der Staatsanwaltschaft oft zu Absprachen über das Strafmaß. Ein neuer Gesetzesentwurf versucht nun, dies zu verbieten.

Als weiteres Problem benennen feministische Organisationen, dass die meisten Opfer von Feminiziden Mütter sind und der Staat ihre traumatisierten Kinder weder systematisch erfasst, noch unterstützt.

Mehrere staatliche Organisationen wie die Ombudsstelle (Defensoría del Pueblo) oder das 2008 gegründete nationale Fraueninstitut bieten betroffenen Frauen rechtliche, psychologische und soziale Hilfe an. Darüber hinaus verfügt das Gesetz von 2013, dass es in jeder Provinz ein staatliches Frauenhaus geben müsse, in der Hauptstadtprovinz sogar vier – tatsächlich wurden jedoch landesweit erst zwei eingerichtet. Auch weitere gesetzliche Bestimmungen, wie die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften, Sicherheitsmaßnahmen für bedrohte Frauen sowie eine Sensibilisierung für das Thema im Schulunterricht werden bisher nicht oder nur unzureichend umgesetzt. Feministische Aktivistinnen beklagen zudem eine chronische Unterfinanzierung von Institutionen und Programmen zum Schutz von Frauen.

Transfemizide werden in der offiziellen Statistik nicht gesondert aufgeführt. In der machistisch geprägten Gesellschaft Panamas fehlt es bislang nicht nur an einem Bewusstsein für Feminizide, sondern auch an Sensibilität gegenüber trans Personen. Das zeigte sich auch an der während der Covid-19-Pandemie verhängten monatelangen Ausgangssperre nach Geschlecht, die vielfach zu Diskriminierung führte.

Immer wieder gibt es feministische Protestaktionen in Panama, Demonstrationen mit hunderten Teilnehmer*innen finden regelmäßig statt. Bewegungen wie #NiUnaMenos haben dort auch ihre Ableger. In der neuesten Protestbewegung #LasOllasVacías („Die leeren Töpfe“) protestieren Frauen symbolisch gegen ihre in der Pandemie noch verstärkte strukturelle Benachteiligung. Neben Aktionen zum 8. März fand in den letzten Jahren außerdem die Solidaritätskampagne Abrazo feminista für Frauenrechte oder die von der Künstlerin Elina Chauvet aus dem mexikanischen Ciudad Juárez übernommene Installation roter Schuhe auf öffentlichen Plätzen statt.

GEWALT UND GESETZ: NICARAGUA

Schwangerschaftsabbrüche legalisieren
Illustration: Paulyna Ardilla, @paulyna_ardilla

Zu Beginn der 1990er Jahre war der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen zentrales Thema der damaligen feministischen Bewegung, die im Laufe der Zeit nicht nur Aufmerksamkeit für das Thema generierte, sondern heute auch auf institutionelle Errungenschaften blicken kann. So wurden staatliche Kommissionen für Frauen und Kinder gegründet, Richter*innen für geschlechtsspezifische Gewalt sensibilisiert und 2012 trat schließlich auf Druck der Zivilgesellschaft ein umfassendes Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen, das Gesetz 779, in Kraft. Insgesamt ein vergleichsweises umfangreiches und progressives Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt. Das Gesetz 779 führt unter anderem Femizide als eigenen Straftatbestand, die mit bis zu 30 Jahren Haft geahndet werden können. Darin war ein Femizid zunächst definiert als die Ermordung von Frauen im Kontext asymmetrischer Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen sowie die Verletzung der physischen, sexuellen, psychischen und patrimonialen Integrität von Frauen. Somit ist es juristisch möglich, im Falle einer Tötung von einer Frau, die Umstände der Tat und den Kontext der Beziehung von Opfer und Täter stärker einzubeziehen.

Mit einer Gesetzesreform wurde die Definition von Femiziden 2014 geändert, in einen Mord an einer Frau durch ihren Ehemann oder Partner. Damit bezieht sich der Straftatbestand nur auf häusliche Gewalt, obwohl durchschnittlich bei etwa der Hälfte aller in Nicaragua registrierten Femizide kein persönliches Verhältnis zwischen Täter und Opfer vorliegt. 2019 wurden in Nicaragua offiziell 63 Femizide registriert.Viele der Fälle wurden bisher nicht aufgeklärt. Straflosigkeit ist wie in vielen anderen Ländern das zentrale Problem bei der Bekämpfung sexualisierter Gewalt.
Das Gesetz 779 ist auch heute noch gültig, wenngleich es aufgrund einiger einschneidender Reformen deutlich regressiver ist als noch vor einigen Jahren. Feminist*innen kritisieren, dass seit der Wiederwahl des aktuellen Präsidenten Daniel Ortega und seiner Ehefrau, der Vizeministerin Rosario Murillo, im Jahr 2006 Initiativen für Schutz und Selbstbestimmung von Frauen deutlich geschwächt wurden.

Denn bereits 2013 kam es zu einer Gesetzesreform, die im Falle sexualisierter Gewalt in privaten Beziehungen eine Mediation vorsieht, bei der Betroffene ihren Tätern gegenübertreten müssen. Frauenorganisationen geben an, dass Mediationen heute ein zentraler Grund sind, dass Frauen keine Anzeige erstatten, wenn sie sexualisierte Gewalt erleben. Mediationen waren zuvor explizit verboten, da solche Situationen nicht nur zu einer Reviktimisierung führen können, sondern die Ursachen von sexualisierter Gewalt verkennen. Denn eine Mediation suggeriert, dass es einen individuellen Konflikt zu lösen gäbe, wohingegen sexualisierte Gewalt auf Machtstrukturen basiert, die nicht einfach durch Aussprachen zwischen Täter und betroffener Person überwunden werden können. Es scheint als diene das noch vor acht Jahren so fortschrittliche Gesetz weniger dem Schutz von Frauen vor Gewalt als der Stärkung der traditionellen Kleinfamilie, so die zentrale Kritik daran.

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