Raus aus dem Teufelskreis
Neue Hoffnung für Binnengeflüchtete in Honduras
„Meine Tochter war ein glückliches 15-jähriges Mädchen, bis es vom Bürgermeister der Nachbarstadt vergewaltigt wurde.“ So nüchtern wie krude beginnt der Bericht von Sofía Sánchez (Name geändert). Sofía lebte mit ihrem Partner und fünf Kindern in einem Dorf in den Bergen im Osten von Honduras, über drei Stunden mit dem Bus bis zur nächstgrößeren Stadt.
„Wir besaßen ein kleines Haus aus Lehmsteinen und ein Feld, auf dem wir Zwiebeln, Tomaten und Chili anbauten. Manchmal ernteten wir auch Kaffee auf verschiedenen Plantagen. Meine Tochter war in der fünften Klasse, als eine Bekannte sie bat, ihr Kind in der Stadt zu hüten: Eine Woche für 4.500 Lempiras, knapp 170 Euro. Das ist viel Geld für uns, deshalb war ich einverstanden. Aber als meine Tochter – ohne Geld – zurückkam, weinte sie oft und war sehr schweigsam. Erst einige Zeit später vertraute sie einer Freundin an, dass sie von der Bekannten gezwungen wurde, Medikamente einzunehmen und danach vom Bürgermeister in einem Stundenhotel mehrfach vergewaltigt wurde.“
Sexuelle Gewalt ist nur ein Grund für die Binnenflucht. Dazu kommen weitere Gründe, wie Schutzgelderpressung, Zwangsrekrutierungen durch kriminelle Banden, Klima- und Wetterereignisse, Vertreibung durch Landinvasion und Morddrohungen. Dass es oft nicht bei Drohungen bleibt, zeigt die aktuelle Statistik der nationalen Universität UNAH am Beispiel der Femizide. Alle 22 Stunden wird in Honduras eine Frau umgebracht, 95 Prozent dieser Morde bleiben straffrei.
Sofía wollte nicht, dass der Vergewaltiger ihrer Tochter, eine einflussreiche und wohlhabende Person der Nationalpartei, straffrei bleibt. „Ich möchte verhindern, dass weitere Mädchen Opfer dieses Perversen werden. Einige Wochen später rief mich die Bekannte an und sagte, meine Tochter solle in die Stadt kommen, um ihren Lohn abzuholen. Als ich mich weigerte und erklärte, ich würde den Bürgermeister anzeigen, lachte sie mich aus. Nach einiger Zeit ging ich zur Polizei und schließlich zur Staatsanwaltschaft. Kurz darauf begannen die telefonischen Drohungen nach dem Muster ‘Wir werden euer Haus anzünden und euch alle erschießen.‘ Daraufhin flohen wir im Morgengrauen nach Tegucigalpa, ins Haus eines Cousins. Wir konnten nichts mitnehmen außer unseren Kleidern.“
Binnengeflüchtete stehen oft ganz plötzlich vor dem Nichts. Karen Valladares ist die nationale Koordinatorin von Cristosal Honduras, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte der internen Vertriebenen einsetzt und sie bei Behördengängen, aber auch ganz praktisch mit Lebensmitteln, Kleidern und einer Unterkunft unterstützt. „Oft werden intern Vertriebene in ihrem neuen Umfeld mit Argwohn betrachtet und ausgestoßen, was ihre Lage zusätzlich erschwert“, erläutert Karen Valladares. Binnenflucht bedeutet, dass der Kontakt zum gewohnten Umfeld abbricht, der Bildungsprozess oft für lange Zeit unterbrochen wird und, dass Kinder und Erwachsene dringend psychologische Unterstützung benötigen, um ihre Traumata zu behandeln.
Sofía wohnt jetzt in einem Stadtviertel Tegucigalpas mit einer hohen Kriminalitätsrate. „Wir sind hier praktisch gefangen. Als ich zum ersten Mal die Sonderstaatsanwaltschaft für Kinder und Jugendliche suchte, verirrte ich mich, aber ich gab nie auf. Besonders als klar wurde, dass meine Tochter schwanger war. Durch die Kinderschutzbehörde wurde sie gegen meinen Willen in ein Heim eingewiesen, als ich dort die Vergewaltigung anzeigte. Sechs Wochen lang wusste ich nicht, wo sie war. Als das Baby auf die Welt kam, sah ich sie im Krankenhaus wieder. Aber erst nach der Festnahme des Bürgermeisters wurde sie aus dem Kinderheim entlassen, mit der Auflage, das Haus nicht zu verlassen.“
Nach einigen Tagen in einer Militärbasis kam der Bürgermeister jedoch auf Kaution frei. Seine Komplizin, Sofías Bekannte, ist wegen Menschenhandels noch im Gefängnis, denn sie soll Geld für Sofías Tochter erhalten haben. Sofía glaubt, dass drei weitere Mädchen aus ihrem Dorf Opfer des Bürgermeisters wurden, ihre Eltern jedoch aus Furcht schweigen – oder Geld erhalten. Sofía erzählt, dass auch ihr ein Unbekannter Geld für ein neues Haus angeboten habe, um im Gegenzug die Anzeige zurückzuziehen. Das habe sie abgelehnt.
Sofías Mut ist groß, reicht jedoch für die Rückkehr in ihr Dorf nicht aus. Die Gefahr, dass sie oder ihre Familie erneut Gewalt erfahren, ist zu groß. Ihr Haus verfällt, das Feld ist schon verdorrt. Jetzt lebt die Familie vom bescheidenen Gehalt von Sofías Partner und der Hilfe einiger Angehöriger. In der Zukunft möchte die 41-Jährige zu Hause Tortillas und Mittagessen verkaufen und ihrer Tochter eine Lehre als Kosmetikerin ermöglichen.
Kathryn Lo, Repräsentantin des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Honduras, ist nicht überrascht, dass die Binnengeflüchteten in erster Linie Hilfe bei ihren Familien suchen. „Viele sind auch nach der Flucht im Inland in Gefahr und wollen möglichst unsichtbar bleiben. Sie sind traumatisiert von Gewalt und brauchen Zeit und Unterstützung für einen Neuanfang.“
Dabei soll den Betroffenen das „Gesetz zur Prävention, Betreuung und Schutz der Binnengeflüchteten“ helfen. Dieses wurde bereits im Dezember 2022 vom Nationalkongress verabschiedet und befindet sich jetzt in der Umsetzungsphase. In einem breit angelegten Konsultationsprozess arbeiten 28 staatliche Stellen mit der Zivilgesellschaft zusammen, um die Gewalt, die der Hauptgrund der Binnenflucht ist, zu bekämpfen. Der Schutz und die Betreuung von Opfern ist ein weiteres Ziel. Eine riesige Aufgabe, denn Honduras gehört trotz einer signifikanten Verringerung der Mordrate noch immer zu den gefährlichsten Ländern Lateinamerikas. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zählte zwischen 2004 und 2018 über 247.000 Binnenvertriebene in Honduras. Das entspricht fast fünf Prozent aller Haushalte.
Familien, die wegen der Bandengewalt fliehen müssen, hinterlassen Stadtbezirke, in denen leere Häuser und geschlossene Geschäfte das Straßenbild prägen. Die wenigen Bewohner*innen sind Alte und Kinder, ständig beobachtet von jungen Spähern der Gangs, die an strategischen Stellen sitzen und per Handy alles melden, was auf den Straßen passiert. Die leerstehenden Häuser werden von den Kriminellen besetzt und im schlimmsten Fall als casas locas (verrückte Häuser) benutzt, in denen die Banden foltern und morden. Die Polizei beschränkt sich darauf die Fälle in den Medien öffentlich zu machen. Strafverfolgung gibt es praktisch nicht. Schließlich leben viele Polizist*innen selbst in Gegenden mit Gang-Präsenz. Kinder ab 10 Jahren sind in Gefahr schleichend in Banden rekrutiert zu werden und junge Erwachsene aus diesen Stadtbezirken bekommen oft keine Arbeit, weil sie wegen ihres Wohnorts stigmatisiert sind. Ein Teufelskreis, aus dem oft nur die Flucht hilft.
Im Rahmen des 81 Artikel umfassenden Gesetzes wurde das Nationale Auffangsystem für Binnenflucht gebildet. Es soll sicherstellen, dass die Betroffenen einen rechtlich abgesicherten Weg finden, um Schutz und Unterstützung durch den honduranischen Staat zu erhalten. Binnenvertriebene haben explizit das Recht auf Vorzugsbehandlung in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Unterkunft und Arbeit sowie auf die Rückgabe ihres Eigentums und die Verlängerung von Kreditlaufzeiten. Das Auffangsystem verfügt laut Gesetz über ein jährliches Budget von umgerechnet sechs Millionen Euro. Bisher wurde jedoch kein Cent davon ausgegeben. Wie so oft fehlt es am politischen Willen.
„Leider lässt der Staat bisher seine Bürger allein, das Gesetz muss dringend umgesetzt werden“, bringt es Clarissa Caballero auf den Punkt. Sie ist Anwältin und Sachbearbeiterin für intern Vertriebene von Conadeh, der staatlichen Menschrechtskommission von Honduras. „Allein 2021 erhielten wir 917 Anzeigen wegen interner Vertreibung, welche 2.529 Personen betraf. Viele von ihnen stammen aus Gebieten mit hoher Banden-Präsenz. Mithilfe von Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen helfen wir ihnen mit einer temporären Unterkunft, Jobs und juristischer Beratung.“
Sofía Sánchez kennt den Prozess um das neue Gesetz nicht. Sie glaubt aber, dass der Staat die Aufgabe hat, vertriebene Personen wie sie zu schützen und ihnen zu helfen, ein neues Leben in Honduras zu beginnen. Illegal Honduras zu verlassen ist bisher keine Option für sie, aber sie kann sich vorstellen, im Ausland Asyl zu beantragen. „Die Perspektivlosigkeit der Binnengeflüchteten und die komplizierten Prozesse führen dazu, dass ein Teil von ihnen die Hoffnung verliert und illegal emigriert“, fasst Karen Valladares von Cristosal Honduras zusammen.
Sind Binnengeflüchtete Kandidat*innen für Asyl im Ausland? Ja, sagt Clarissa Caballero von Conadeh, die Gewaltopfer beim Asylgesuch in Ländern wie Guatemala, Mexiko und den USA begleitet und Notpässe beantragt. Mittlerweile ist Honduras das Land mit den meisten Asylsuchenden in Mexiko, über 40.000. Der Vorteil dabei ist, dass sie während des Verfahrens nicht ausgewiesen werden können. Das Ziel der meisten bleiben die USA.
Die Gewalt ist in Honduras auf kriegsähnlichem Niveau. Mädchen, Frauen, Familien in Gebieten unter der Kontrolle von kriminellen Banden, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen leben besonders gefährlich. Die Dynamik der Flucht vor der Gewalt – sei es im Inland oder ins Ausland – ist unaufhaltsam. Die Umsetzung des Gesetzes zur Prävention, Betreuung und Schutz der Binnengeflüchteten wird ein wichtiger Schritt sein, um Tausenden von Gewaltopfern eine Perspektive in Honduras zu geben und zu zeigen, dass sich der Staat um die Menschenwürde seiner verletzlichsten Bürger*innen sorgt.