Nummer 596 - Februar 2024 | Venezuela

Reisepässe, aber keine Spur

Venezolanische Migrant*innen verschwinden auf dem Weg nach Nicaragua

Am 21. Oktober 2023 sticht ein Boot mit 39 venezolanischen Migrierenden vor der kolum­bianischen Insel San Andrés ins Karibische Meer. Von den Passagier*innen fehlt bis heute jede Spur.

Von Jonathán Rodriguez & Anna-Lena Hartung
Das Karibische Meer Eine Bootsroute führt von Kolumbien über die Corn Islands nach Nicaragua (Landkarte: Datawrapper.de)

Marian Santaella ist auf der Suche nach ihrem Ehemann Rosmer Alberto Mujimac Parra. Im Oktober 2023 war der 42-Jährige mit 38 anderen Venezolaner*innen auf der kolumbianischen Insel San Andrés in ein Boot gestiegen, das sie unbemerkt bis an die nicaraguanische Isla de Maíz bringen sollte. Innerhalb von 8 Stunden hätte das Boot Nicaragua erreichem sollen. Doch eine Textnachricht am 21. Oktober 2023, in der ihr Ehemann die Abreise bestätigt, ist das letzte Lebenszeichen, das Marian von Rosmer und ihrem Cousin Gonzalo erreicht hat.

Rosmer und Marian hatten schon seit längerer Zeit überlegt, Venezuela zu verlassen, um ihren Kindern in den USA ein besseres Leben zu ermöglichen. Obwohl beide seit Jahren in mehreren Jobs gleichzeitig arbeiten, reicht das Einkommen der Familie nicht aus, um einen Kredit für eine eigene Wohnung aufzunehmen und die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen. In der Region ist es sehr wichtig, ein eigenes Haus zu haben, um bei den Eltern ausziehen und eine Familie gründen zu können, erklärt Marian. Die beiden beschlossen, dass Rosmer in die USA einreisen sollte, um dort nach einer Arbeitsstelle zu suchen und politisches Asyl zu beantragen – keine ungewöhnliche Entscheidung. Mehr als sieben Millionen Menschen sind in den letzten Jahren aus Venezuela geflohen. Ein Verwandter Marians in den USA brachte sie schließlich mit Bootsführern in Kontakt, die Kolumbien heimlich verlassen und Menschen in Nicaragua absetzen, damit sie von dort aus zu Fuß unentdeckt in die USA einreisen können. Von Nicaragua wollte Rosmer möglichst unentdeckt weiter nach Mexiko gelangen. Ein Visum für Mexiko oder die USA zu beantragen, stand für die Familie außer Frage. Für Mexiko etwa kostet ein Visum für Venezolaner*innen derzeit mehrere hundert Euro.

Auf dem Weg in die USA haben 2023 über eine halbe Million Menschen den Darién-Wald zwischen Kolumbien und Panama durchquert. Bewusst entschied sich Rosmer für die Route über die Karibische See und gegen den Fußweg durch Mittelamerika. Der Darién ist ein Streifen von etwa 100 Kilometern unerschlossenen Regenwaldes. Unzählige Berichte beschreiben, wie Migrierende im Darién verschwunden sind, nachdem sie auf Raubtiere und kriminelle Organisationen getroffen waren. Der Familie war bekannt, dass der Weg lebensgefährlich sein kann. Doch auch der Seeweg über San Andrés, den die Bootsführer in kleinen umgebauten Fischerbooten zurücklegen, ist nicht sicher.

Zwischen 900 und 1.400 Dollar kostet ein „Reisepaket” bis an die Grenze der USA. Das Geld der Familie reichte nicht aus, um die Fahrt für 4 Personen zu finanzieren, also reiste Rosmer zunächst allein. Anfang Oktober 2023 brach er mit Marians Cousin, Gonzalo, aus ihrer gemeinsamen Heimatstadt Guanare auf.
Das letzte Mal kommunizierten Rosmer und Marian am Samstag, den 21. Oktober 2023, auf einem geliehenen Telefon. Um 19 Uhr schrieb er auf Whatsapp: „Heute gehen wir auf die Reise, aber ich werde dir später schreiben.“

Mehr als sieben Millionen Menschen sind in den letzten Jahren aus Venezuela geflohen

Zeug*innen zufolge ist die Gruppe schließlich gegen 21 Uhr in See gestochen. Als Marian und ihre Familie auch nach Sonntag keine Nachricht von ihren Verwandten erhielten, schrieben sie erneut Nachrichten an dieselbe Whatsapp-Nummer, die nicht mehr ankamen. Schließlich erreichten sie Nachrichten aus Kolumbien. Zwei Boote seien in San Andrés verloren gegangen, von denen eines sehr voll mit Menschen gewesen sei, was die Behörden im Nachhinein bestätigten.

Inzwischen hat die kolumbianische Behörde für die Verteidigung der Menschenrechte eine Kommission aufgestellt, die den Fall untersuchen soll. Sie forscht nach dem Verbleib von mindestens 4 weiteren Booten, die zwischen 2022 und 2023 verschwunden sind. Die Zahl der Vermissten erreicht mindestens hundert Personen, etwa 900 mussten im selben Zeitraum aus einem Schiffbruch gerettet werden.

Fortwährende Ungewissheit über die Schicksale der Verwandten

Im Oktober 2023 haben die USA Venezuela zum „sicheren Herkunftsland“ erklärt. Caracas und Washington hatten dieses Übereinkommen gefunden, nachdem einige der US-Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela aufgehoben worden waren. Mit dem Argument, Geflüchteten eine Rückkehr in ein sicheres Land zu ermöglichen, hat Caracas von Washington in der Folge einige Unterstützungszahlungen erhalten. Schon seit_Mai führt das Ministerium für Innere Sicherheit wieder direkte Abschiebeflüge nach Caracas durch, über 13.000 Menschen sind bis zum Dezember 2023 deportiert worden. Auch Kolumbien und Peru haben kürzlich Übereinkommen zu beschleunigten Abschiebeverfahren für Venezolaner*innen mit Caracas getroffen. Beispielsweise können venezolanische Staatsangehörige aus Peru nun innerhalb von 48 Stunden abgeschoben werden. 263.000 Venezo­laner*innen überquerten 2023 die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Sie fliehen vor Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt und organisierter Kriminalität. Menschenrechtsorganisationen wie Alerta Venezuela erklären, dass Venezuela alles andere als ein sicheres Herkunftsland ist.

Marian Santaella hat zu Redaktionsschluss noch immer keine Lebenszeichen von ihrem Mann erhalten. Sie wartet auf eine Nachricht der kolumbianischen oder nicaraguanischen Behörden. Inzwischen wurde ein Beutel mit_8 venezolanischen Pässen vor der Küste Nicaraguas angespült. Auch die Pässe von Rosmer Alberto Mujimac Parra und Gonzalo de Jesus Mendez Torres waren darin. Eine weitere seltsame Begebenheit ereignete sich nach dem Verschwinden des Bootes. Marians Familie verfolgte den Online-Status ihrer Verwandten und schrieb Nachrichten auf Facebook. „Mein Mann hat nicht geantwortet, aber mein Cousin schon, und er hat nur mit Emojis auf unsere Fragen geantwortet, nie mit echten Worten“, sagt Marian.

Im Dezember deckten die kolumbianischen Behörden ein Schleppernetzwerk in San Andrés auf, das Migrierenden Überfahrt und Einreise nach Nicaragua organisierte. Dem Netzwerk La Agencia gehörten auch verschiedene Grenzbeamt*innen in Nicaragua und Kolumbien an.

„Wir schließen aus, dass es ein Schiffsunglück gab“, erklärt Marian, „Das Meer spuckt immer aus, was es verschluckt hat. Und wenn es dort Haie gegeben hätte, würden wir mehr Spuren von ihnen finden, ihre Schwimmwesten oder vielleicht weitere Taschen.” Wenn es ein Schiffsunglück gegeben hat und die Telefone ins Wasser gefallen sind, warum war Gonzalo de Jesus dann online und hat mit Emojis auf Nachrichten geantwortet? Was ist mit Rosmer und Gonzalo passiert?

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