Jugend | Nummer 517/518 - Juli/August 2017 | Politik | Venezuela

“VENEZUELA IST EIN AUSWANDERUNGSLAND”

Interview mit dem ehemaligen Leiter der deutschen Schule in Caracas

Die Schüler*innen des Colegio Humboldt in Venezuelas Hauptstadt Caracas leben in einer geschützten Parallelwelt. Doch die angespannte Situation bleibt auch für sie nicht folgenlos. Wie der Schulalltag trotz Abwanderung des Mittelstands aufrecht erhalten wird, davon berichtet Werner Fabisch, der bis vor Kurzem die Schule leitete.

Interview: Jannik Deters

Die Situation in Venezuela scheint prekär und bedrückend. Wie haben Sie die vergangenen Monate erlebt?
Wenn Sie in so einem Land länger leben, dann verändern sich auch die Maßstäbe. Das, was nach deutschem Maßstab ganz fürchterlich erscheint, das wird irgendwo ein Stück Normalität.

Zum Beispiel?
Wir waren häufig sehr kurzfristigen Entscheidungen der Regierung ausgesetzt. Über einen sehr langen Zeitraum hinweg ist, angeblich um Strom zu sparen, der Freitag als Schultag gecancelt worden, sodass wir nur vier Tage Schule machen konnten. Wir haben Notstundenpläne gemacht und versucht, das abzuarbeiten, was man normalerweise an fünf Tagen abarbeiten kann. Wir haben parallel eigentlich mit mehreren Stundenplänen gearbeitet und Woche für Woche entschieden.

Hat das funktioniert?
Im Nachhinein kann ich sagen: Ja. In Caracas hat es dieses Jahr wieder ein Abitur gegeben. Alle, die in die Prüfung gegangen sind, haben diese Prüfung bestanden. Die Schule hat mit 15 bis 30 Schülern immer noch relativ viele, die jedes Jahr das Abitur bestehen. Wer es im bilingualen Zweig bis zur zwölften Klasse geschafft hat, der macht meist auch den Abschluss.

Wie ist es aus Ihrer Sicht zur Schieflage im Land gekommen?
Venezuela hat mal sehr viel Geld eingenommen, als der Ölpreis bei 100 US-Dollar pro Barrel lag. Man hat dieses Geld verteilt, auch in Sozialprojekte. Aber nicht in eine nachhaltige Entwicklung investiert. Man hat so ein Alimentationssystem aufgebaut und den Menschen die Verantwortung für ihr eigenes Leben genommen. Jetzt liegt der Ölpreis bei 40 bis 50 US-Dollar. Der Staat finanziert seinen Haushalt zu 90 Prozent aus den Öleinnahmen. Er hat die gesamte industrielle und landwirtschaftliche Infrastruktur vergammeln lassen. Sie finden große Latifundien, wo keine müde Kuh rumläuft, weil es keine Anreize mehr gibt. Staatliche Lenkungsmechanismen haben überhaupt nicht funktioniert.

In einem Zeitungsbeitrag haben Sie beschrieben, dass der Weg zur Schule zum Teil sehr gefährlich ist. Wenn Sicherheit für junge Menschen so eine besondere Bedeutung bekommt, was macht das mit den Kindern?
Wir haben eine ähnliche Situation wie jetzt schon 2014 gehabt. Da gab es auch über mehrere Wochen Demonstrationen, auch die sogenannten guarimbas, die Straßensperren. Im Prinzip ist das, was sich jetzt abspielt, ganz ähnlich. Aber dieses Mal hält der Protest an. Damals ist er wieder eingeschlafen. Natürlich macht das etwas mit den Jugendlichen, weil sie mitbekommen, was passiert.

Wie hoch sind die Schulgebühren?
Das ist kaum aussagekräftig. Wir haben in Venezuela mehrere Wechselkurse. Als ich gegangen bin, mussten die Gebühren alle zwei, drei Monate angepasst werden, weil die Inflation sich zwischen 500 und 1.000 Prozent bewegt. Zuletzt lagen sie bei 130.000 Bolívares. Nach dem offiziellen Kurs sind das 13.000 Euro, das bezahlt kein Mensch. Zum Schwarzmarktkurs bekommen sie die Schule fast geschenkt. Am Geld kann man es schlecht festmachen. Ob jemand gut oder schlecht lebt, liegt daran, ob er über Devisen verfügt. Man muss sagen, dass die Kinder, die die deutsche Schule besuchen, immer noch Kinder aus privilegierten Schichten sind. Obwohl die Eltern nicht unbedingt aus der Oberschicht stammen, sondern sich auch stark aus dem Mittelstand rekrutieren.

Welche Konflikte gab es unter den Schüler*innen?
Die Mehrheit der Eltern ist sicher nicht der Regierungsseite zuzuordnen. Aber wir haben auch Kinder gehabt von Eltern aus der PSUV (der sozialistischen Regierungspartei; Anm. der Red.), aus der chavistischen Bewegung oder von hochrangigen Regierungsmitgliedern und Funktionären. Wir hatten auch Kinder von Leuten, die politisch verfolgt waren. Das hat sich in der Schule aber nicht gezeigt.

Politisieren sich die Kinder früher als anderswo?
Die Kinder setzen sich schon mit der politischen Lage auseinander. Sie haben auch eine Meinung zu diesen Dingen. Sie blenden es aber in der Schule weitgehend aus. Das ist vielleicht so ein Verdrängungsmechanismus.

Was machen sie sonst?
Sie bewegen sich in Teilgesellschaften: Sie gehen in die Schule, sind am Wochenende in ihren Klubs, bei ihren Familien und Freunden. In Südamerika generell stellen wir fest, dass die Kinder der Mittel- und Oberschicht wenig über die gesellschaftliche Realitäten in den Ländern wissen und viel weniger Erfahrung damit haben, weil sie sich in Parallelwelten bewegen. Hier gibt es 18-, 19-, 20-Jährige, die noch nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren sind und bestimmte Stadtteile noch nie gesehen haben.

Wie lassen sich an der Schule – ohne von der Regierung gemaßregelt zu werden – demokratische Maßstäbe vermitteln?
Die Schule ist eine Privatschule und passt damit nicht in die Bildungsideologie der Regierung. Nach deren Vorstellung sollte man mit Bildung kein Geld verdienen. Das bedeutet, dass die Regierung die Privatschule sehr genau beobachtet. Da wird Druck ausgeübt. Einerseits passt man nicht in die bildungspolitischen Vorstellungen, andererseits schicken aber auch hochrangige Regierungsmitglieder ihre Kinder gerne in solche Schulen. Also Wasser predigen, Wein trinken.

Mit welchen Einschränkungen muss die Schule zurechtkommen?
Jahrelang war die Erhöhung der Schulgelder gedeckelt. Als die Inflation „nur“ 30 bis 100 Prozent betrug, durfte die Schule die Gebühr nur um zehn Prozent erhöhen. Die Gehälter inflationsausgleichend anzuheben, kriege ich dann irgendwann nicht mehr hin. Da entsteht ein erheblicher wirtschaftlicher Druck. Auch werden Supervisoren geschickt, wenn Eltern Anzeigen erheben.. Oder wenn denunziert wird, hat man ganz schnell einen Supervisor im Haus, der sämtliche Bücher kontrolliert und ganz bestimmte Anweisungen gibt.
Denunziert, gegen die Schule oder auch persönlich?
Primär gegen die Einrichtung. Das sind Dinge, die aber auch indirekt gegen Personen gehen. Beispielsweise könnte die venezolanische Schulleiterin durch einen Staatskommissar ersetzt werden. Das wäre die Spitze der Repression. Generell können solche Maßnahmen diese Leute sehr hart treffen, weil sie im öffentlichen Bereich keine Arbeit finden.

Hat es das schon gegeben?
Das hat es in anderen Schulen gegeben, bei uns nicht. Aber als Drohung hat es im Raum gestanden.

Sie meinen, in anderen Schulen in Venezuela?
Ja. Das gibt es vielleicht in anderen Ländern auch, aber nicht in dieser Form. Die Kollegen in Quito empfinden das auch so, aber das ist viel weniger ausgeprägt als in Venezuela. Man hat den Eindruck, das ist ein Stück Klassenkampf auf einem Nebenkriegsschauplatz.

Wie sehr kann der deutsche Staat Einfluss nehmen? Gibt es da Kommunikationskanäle?
Es gibt ein bilaterales Kulturabkommen zwischen Venezuela und Deutschland, das den Status dieser Schule regelt und internationalem Recht unterliegt. Aber dieses Abkommen hat die Regierung weitgehend ignoriert. Das hat auch damit zu tun, dass es in Venezuela üblich geworden ist, Rechtsnormen so auszulegen, wie man sie gerade braucht. Fakt ist, dass der politische Einfluss Deutschlands gegen Null geht. Da gibt es eine relativ große Indifferenz. Die deutschen Diplomaten müssen sich ziemlich abstrampeln, um Termine zu bekommen.

Wollen die Kinder ins Ausland? Was sind deren Träume?
Viele suchen den Weg ins Ausland. Die Schule hat letzthin in jedem Jahr 100 bis 150 Schüler verloren nur durch Abwanderung von Familien. Das sind mehr als zehn Prozent der Schüler. Venezuela ist ein Auswanderungsland, gerade der Mittelstand emigriert. In der Oberschicht hat sich die private Lebenssituation wirtschaftlich betrachtet nicht fürchterlich verändert. Der Mittelstand hat schon erheblich gelitten.

Was sind die Zielländer der Auswanderer*innen?
Die Familien gehen sehr häufig nach Kolumbien, nach Panama, in die USA, nach Europa in die Länder, aus denen zugewandert wurde. Wir hatten im vergangenen Jahr 25 erfolgreiche Abiturienten und von denen sind 22 zum Studium in Deutschland gelandet. Das machen sie aber nicht nur, weil der Studienstandort inzwischen so attraktiv ist, sondern auch weil sie das Land verlassen wollen. Die Perspektive zurückzukehren, ist gar nicht mehr da.

Sie arbeiten jetzt seit gut einem Monat in São Paulo. Wie nehmen sie das Bildungssystem und Brasilien selbst wahr?
Ich kann zum Bildungssystem noch wenig sagen. Ich nehme Brasilien als ein Land wahr, das funktioniert. Brasilien hat zurzeit die Diskussion über Korruption, die alle politischen Richtungen betrifft. Was Brasilien auszeichnet, ist die Tatsache, dass diese Diskussion geführt wird und es offensichtlich so etwas wie eine Gewaltenteilung gibt, bei der die Judikative weitgehend unabhängig agiert. Die Instanzen in Venezuela funktionieren nicht mehr. Der Oberste Gerichtshof trifft die absurdesten Entscheidungen, die mit der Verfassung des Landes kaum noch etwas zu tun haben.

Werner Fabisch war von 2013 – 2017 Direktor der Deutschen Schule Colegio Humboldt in Caracas. Seit Mai dieses Jahres hat er einen Leitungsposten am Colégio Visconde de Porto Seguro in São Paulo.

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