Mexiko | Nummer 593 - November 2023

Gläserne Decke durchbrochen?

Zwei Kandidatinnen konkurrieren ums Präsidialamt

Mexiko wählt wie noch nie zuvor: weiblich. Die Herausforderungen für die neue Staatschefin decken sich mit denen der letzten Wahl. Das Land erstickt in Gewalt, Korruption und Ungleichheit. Ein starkes Regierungsbündnis mit einer profillosen Kandidatin tritt gegen eine polarisierende Oppositionsfigur an. Beide könnten unterschiedlicher kaum sein.

Von Moritz Osswald, Mexiko-Stadt
Claudia Sheinbaum im Fokus Wahlkampagne “Kontinuität mit eigenem Stempel” (Foto: Moritz Osswald)

Mexiko probt den Schritt nach vorn: Aller Wahrscheinlichkeit nach bekommt das Land im kommenden Jahr das erste weibliche Staatsoberhaupt. Eine Entwicklung, die an Symbolik nicht zu überbieten ist. Zwei Kandidatinnen wollen an die Spitze der Macht: Claudia Sheinbaum und Xóchitl Gálvez. Dass gleich zwei Frauen um die Präsidentschaft streiten, ist historisch im Macho-Land Mexiko. Sheinbaum gilt als kühle, reservierte Wissenschaftlerin und steht für die Fortführung der Politik des amtierenden Präsidenten und seiner Partei Morena. Kontrahentin Gálvez repräsentiert eine müde Opposition, die nun in einem kuriosen Rechts-Links-Bündnis aufgewacht ist: Sie tritt für die Frente Amplio (Breite Front) an, die die stramm rechte Partido Acción Nacional (PAN), die liberale Partido de la Revolución Democrática (PRD) und die frühere Einheitspartei Partido Revolucionario Institucional (PRI) vereint.

Gálvez besticht durch ihre lockere und fröhliche Art. Sie schöpft gerne mal aus dem reichhaltigen Repertoire mexikanischer Schimpfwörter – wofür sie dann im Fernsehen zensiert wird. Gálvez ist studierte Computeringenieurin. Die 60-Jährige ist Senatorin für die Partei PAN und Unternehmerin. Staatschef Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, attackiert sie dafür gerne: Gálvez sei die Kandidatin der Reichen, der „Oligarchen“ und „Konservativen“. Sie habe nicht die Probleme der normalen Menschen im Sinn. Die Oppositionspolitikerin kontert mit einem Empowerment-Gedanken: Ihr Beispiel zeige, dass es auch eine Frau zur erfolgreichen Unternehmerin bringen könne. Claudia Sheinbaum, die ihren Posten als Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt aufgab, um sich dem Rennen um die Präsidentschaft widmen zu können, ist auserkorene Favoritin AMLOs. Die für die Hauptstadt charakteristischen grün-weißen Minibusse zeigen auf ihrer Rückseite López Obrador und Sheinbaum innig, mit siegessicherem Lächeln, Seite an Seite. Die Motive vermitteln fast den Eindruck, als ob ein alternder Vater sein Vermächtnis an seine Tochter übergeben wolle.

Seit Monaten begleitet aggressive Wahlwerbung der Regierungspartei Morena den Alltag der Mexikaner*innen. Dabei finden die Wahlen erst im Juni 2024 statt. Im Oktober darauf beginnt dann die sechsjährige Legislaturperiode. Mexikos Verfassung verbietet die Wiederwahl eines Staatsoberhaupts. Die Wahlbehörde INE hat den offiziellen Start der Vorwahlkampagne eigentlich auf November dieses Jahres festgelegt. Daher halten sich die Kandidatinnen mit konkreten Versprechungen noch zurück. Harsche Kritik und Anzeigen bei der Wahlbehörde bekommt das Regierungsbündnis ab, das die Vorwahlkampagne einfach nicht so nennt und somit hofft, die Verletzung der Wahlgesetze umgehen zu können.

Eine Frau an der Macht bedeutet nicht mehr Einsatz für Frauenrechte

Eine erste Präsidentin hätte einen hohen symboli-schen Wert für Mexiko. Doch eine Frau als Staatsoberhaupt bedeutet nicht zwangsläufig eine Verbesserung der prekären Situation für Frauen. „Keine der beiden Kandidatinnen hat die Situation der Frauen wirklich auf der Agenda“, sagt Lizbeth Ortiz Acevedo, Chefredakteurin der feministischen Newsplattform Cimacnoticias. Oppositionskandidatin Gálvez etwa habe sich in ihrer politischen Vergangenheit nicht durch ihren Einsatz für Frauenrechte hervorgetan. Auch Sheinbaum attestiert die Journalistin keine bessere Bilanz: „Zu keinem Zeitpunkt hat Sheinbaum der feministischen Bewegung gedankt“, so Acevedo. Denn diese habe dazu beigetragen, dass die ehemalige Hauptstadt-Bürgermeisterin an Popularität gewann. „Im feministischen Frühling 2019 lehnte sie es ab, den Notstand aufgrund der Gewalt gegen Frauen in Mexiko-Stadt auszurufen“, fügt Acevedo hinzu. Die Autorin Ana María Olabuenaga betont im Interview mit der Mediengruppe Grupo Fórmula, das Frauen-Duell könne zur Normalisierung von Frauen in der Politik beitragen.

Die Probleme ähneln denen der letzten Wahl: Da ist die allgegenwärtige Korruption, die extreme Gewalt, die sich im ganzen Land ausbreitet. Dazu kommen ein marodes Gesundheitssystem und schwierige Arbeitsbedingungen. Makroökonomisch geht es Mexiko gut. Doch die Ungleichheit im Land lässt nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung gut leben. Die Behörde CONEVAL, die regelmäßig die Daten zur Armut im Land misst, hat zwar Erfreuliches feststellen können: Seit Amtsantritt des Präsidenten (2018) schrumpfte die Armutsquote von 42 auf 36 Prozent (2022). Doch viele Probleme belasten die Menschen weiterhin – einige haben sich sogar noch zugespitzt. Über 110.000 gewaltsam Verschleppte zählt Mexiko mittlerweile, der Großteil davon seit 2006. Damals rief Präsident Felipe Calderón den „Drogenkrieg“ aus. Dazu kommen über 52.000 nicht identifizierte Leichen – weshalb zivilgesellschaftliche Organisationen von einer „forensischen Krise“ sprechen.

„AMLO hat es geschafft, den Rassismus und Klassismus innerhalb der Gesellschaft aufzuzeigen“, sagt Dolores Rojas gegenüber LN, die Menschenrechtsaktivistin und Programmkoordinatorin bei der Heinrich-Böll-Stiftung ist. Rojas betont, dass sie nicht im Namen der Stiftung spricht und kritisiert, dass das drängende Problem der ausufernden Gewalt nicht angegangen worden sei. Die Befriedung des Landes sei eines der zentralen Versprechen von López Obrador gewesen.

„Die Opposition kann Morena nur vereint bezwingen“, analysiert Rojas. Alleine seien die einzelnen Parteien zu schwach. Schon länger ist die Opposition in Mexiko kraftlos und fragmentiert. Gálvez ist zwar schon seit vielen Jahren im Senat – doch als mögliche Präsidentin kommt sie für viele Wähler*innen eher als Überraschungskandidatin daher. Die 60-Jährige ist für die meisten ein unbekanntes Gesicht. Sheinbaum hingegen kann als Bürgermeisterin der Hauptstadt viele Jahre konstante Medienpräsenz vorweisen. Zudem setzte sich die Wissenschaftlerin bei einer internen Umfrage der Morena-Partei gegenüber allen anderen Kandidat*innen durch.

Unter der aktuellen Administration López Obradors verschwinden rund 26 Personen täglich. Die Anzahl der Verschleppten erreicht ungeahnte Ausmaße, übersteigt jene vorheriger Regierungen, samt einem neuen Rekord: 10.064 Menschen verschwanden innerhalb nur eines Jahres (Mai 2022 bis Mai 2023), wie Daten des Nationalen Registers verschwundener und nicht lokalisierbarer Personen belegen. Auch die Gewalt gegen Medienschaffende und Menschenrechtsverteidiger*innen ist nach wie vor hoch – und bleibt oft straffrei. Der Fall Lourdes Maldonado bleibt schmerzlich im kollektiven Gedächtnis gespeichert. Die kritische Journalistin wurde am 23. Januar 2022 vor ihrer Haustür in Tijuana ermordet. „Ich habe Angst um mein Leben“, sagte sie zu AMLO bei einer Pressenkonferenz bereits im März 2019. Maldonado war ins staatlichen Schutzprogramm integriert, das Attacken gegen gefährdete Journalist*innen verhindern soll.

Xóchitl Gálvez kritisiert die Morena-Partei für deren Umgang mit der grassierenden Gewalt scharf. Ihr Motto, das sie gebetsmühlenartig wiederholt, lautet: „Mexiko verdient mehr.“ Claudia Sheinbaum tritt mit dem Slogan „Kontinuität mit eigenem Stempel“ an. Tatsächlich kritisieren Expert*innen und Analyst*innen die Kandidatin für besagten Stempel. Ihr fehle ein Profil. Im Gespräch mit der Zeitung El Financiero Bloomberg konstatiert Kommunikationsberater Luis Espino, dass die Kandidatin einen „kopierten Diskurs“ an den Tag lege. Es sei ein Diskurs „von jemandem, der eine gänzlich andere Persönlichkeit“ habe. Das funktioniere schlicht nicht und sei, „als würde man Windows auf einem Mac-Computer installieren wollen“, so der Experte Espino. Sheinbaum fehlt ein eigener Charakter – mitunter passt sie sogar ihren Sprechstil an den Slang des jeweiligen Bundesstaats an, was zu einem viralen Video führte, als Sheinbaum im südmexikanischen Tabasco plötzlich mit veränderter Stimme die Wählergunst auf der Bühne zu gewinnen versuchte. Ihre größte Herausforderung wird es sein, mehr als der Schatten ihres Mentors AMLO zu sein.

Beide Kandidatinnen sind Frauen mit bewegter Vergangenheit und einer langen politischen Karriere. Morena-Kandidatin Sheinbaum ist Tochter jüdischer Einwander:innen aus Osteuropa. Sie ist Physikerin und machte ihren Doktortitel in Berkeley in den USA. Oppositionskandidatin Xóchitl Gálvez betont stets ihre indigenen Wurzeln. Ihr Vater sei Alkoholiker gewesen, die Familie habe es schwer gehabt. Gálvez möchte das Tellerwäscher-zum-Millionär-Image verkaufen: In Interviews erzählt sie immer wieder, wie sie in der Sekundarschule Gelatine-Pudding verkaufte, um ihrer Familie wirtschaftlich unter die Arme zu greifen. Die Unternehmerin mit dem Dauerlächeln im Gesicht eckt gerne an. Im Dezember vergangenen Jahres erschien sie im Senat, eingehüllt in ein Dinosaurierköstum, um so gegen eine Wahlrechtsreform des Präsidenten zu protestieren. Darin zeigt sich ironischerweise eine Gemeinsamkeit zwischen Gálvez und López Obrador: Beide polarisieren, beide haben eine rhetorische Leichtigkeit – beide schaffen es, die Menschen zu erreichen. Sheinbaum wird eher als kühle Technokratin mit fehlendem Charme wahrgenommen. Beide, Gálvez und Sheinbaum, waren linke Aktivistinnen in ihrer Jugend – Gálvez war sogar Mitglied der trotzkistischen Liga Obrera Marxista.

„Dass eine Frau an die Macht kommt, bedeutet nicht automatisch eine Frauenperspektive. Doch es ist symbolisch und hilft immens, die gläserne Decke ein stückweit zu durchbrechen“, resümiert die feministische Journalistin Lizbeth Ortiz Acevedo die Vorwahlkampagne. Dolores Rojas von der Heinrich-Böll-Stiftung betont, dass „keine der beiden Kandidatinnen“ eine Feministin sei. Dennoch sei es eine „noch nie dagewesene“ Errungenschaft, dass eine Frau in Mexiko Präsidentin werde. Dieses Jahr feiert Mexiko 70 Jahre Frauenwahlrecht. Eine bessere Zementierung dieses Rechts als eine erste Präsidentin könnte es nicht geben.

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