Schutzlos vor dem Neo-Extraktivismus

Der Sitz der Fundación del Río, deren Präsident Sie sind, befindet sich jetzt − wie der Großteil der nicaraguanischen Diaspora − in Costa Rica. Was ist nach dem Verlust des Rechtsstatus und der Konfiszierung des Vermögens von der Organisation geblieben?
Die Arbeit der Umweltorganisation wurde willkürlich eingestellt, nachdem sie im Dezember 2018 durch das Ortega-Regime aufgelöst wurde. Einer der Gründe für die Auflösung war, dass die Organisation einen absichtlich gelegten Brand im Naturschutzgebiet Indio Maíz öffentlich angeprangert hatte. Auch im Fall des Interozeanischen Kanalprojekts, das weder aus ökologischer noch aus sozialer Sicht tragfähig war, hat die Stiftung Kritik geäußert. Beide Positionen führten dazu, dass das Regime uns als oppositionelle Akteure betrachtete. Mit der Auflösung haben wir mehr als 22 Grundstücke in Schutzgebieten, Herbergen, Büros und zwei kommunale Radios verloren. Außerdem musste leider auch ich ins Exil gehen, da mir ein Gerichtsverfahren drohte.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit im Exil?
Zunächst begann eine Phase der Reorganisation, um die Arbeit vom Exil aus weiterzuentwickeln. Die Organisation besaß früher drei Büros, verteilt über das gesamte Departement Río San Juan, und verfügte über die Kapazitäten, um bäuerliche, indigene und afro-deszendente Gemeinschaften zu unterstützen und zu begleiten. Durch die Auflösung und die Enteignung unserer Vermögenswerte sind diese Kapazitäten verlorengegangen. Unsere Arbeit wurde neu definiert: Wir sind in den Gebieten nicht mehr so präsent wie früher. Stattdessen sind dort indigene und bäuerliche Gemeinschaften aktiv, die weiterhin an die Arbeit der Organisation glauben. Das bedeutet, dass wir dank ihres Engagements weiterhin überwachen und dokumentieren können, was in Indio Maíz und den anderen indigenen und afro-deszendenten Gebieten geschieht. Mit Hilfe neuer Technologie können wir Waldbrände und das Ausmaß der Abholzung in den Schutzgebieten des Landes überwachen. Diese neue Art zu arbeiten hat es uns ermöglicht, weiterzumachen.
Wir haben auch begonnen, mit den aus Nicaragua vertriebenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften zu arbeiten, die heute im Norden Costa Ricas leben. So können wir die Nicaraguaner unterstützen, die es besonders schwer haben.

Warum sind Naturschutzgebiete und die Lebensräume der indigenen Gemeinschaften heute durch illegale Besiedlung und Ausbeutung ihrer Naturreserven stärker bedroht denn je?
In Nicaragua gibt es sieben indigene Volksgruppen und zwei afro-deszendente Gemeinschaften. Die meisten von ihnen, die ihre Kultur noch bewahren, befinden sich an der Karibikküste. Die Gebiete mit den größten Konflikten liegen in der nördlichen Karibikregion. In der südlichen Region, wo die Rama- und Kriol-Gemeinschaften von Bluefields ansässig sind, gibt es weniger Konflikte. Im Jahr 2011 wurden dort die ersten Vorstöße von Siedlern in indigene Gebiete gemeldet. Aber über die Invasionsprozesse in der nördlichen Karibik, insbesondere in den Gebieten der Miskito und Mayanga, wird schon seit 2005 berichtet. Doch war dieser Prozess nicht so massiv, es wurden nicht so viele Menschen getötet wie heute. Dieses neue Ausmaß ist auf das vom Ortega-Murillo-Regime seit 2007 geförderte neo-extraktivistische Modell zurückzuführen. Es zielt darauf ab, die natürlichen Ressourcen zu gewinnen, die von wirtschaftlichem Interesse sind.
Die indigenen Territorien an der nördlichen und südlichen Karibikküste sind die reichsten Gebiete des Landes. Vor allem, weil die dort lebenden Gemeinschaften sie bewahrt haben: Dort sind die meisten natürlichen Wälder zu finden, es gibt die größte biologische Vielfalt, die Niederschlagsmengen sind höher und es leben weniger Menschen dort. Es besteht ein öffentliches politisches Interesse, den neo-extraktivistischen Prozess in diesen Regionen zu fördern.

Was bedeutet das?
Klassischer Extraktivismus liegt vor, wenn sich ein Unternehmen mit inländischem oder meist ausländischem Kapital in Gebieten niederlässt, um eine natürliche Ressource zu gewinnen, etwa um Ölpalmen anzubauen, Bananen oder Produkte, die auf dem internationalen Markt verkauft werden. Beim klassischen Extraktivismus ist der Einfluss des Staates wie ein Regulierungsorgan. Er greift nicht in das Geschäft ein, sondern versucht, den Geschäftsprozess zu regulieren und zu kontrollieren, damit bestimmte Parameter eingehalten werden. Außerdem werden die Ressourcen ohne jegliche Verarbeitung geplündert. Mit anderen Worten: Die ausgeführten Produkte haben keinen Mehrwert.
Beim Neo-Extraktivismus ist die Beteiligung des Staates oder von Gesellschaften, die mit den Regierenden in Verbindung stehen, wesentlich stärker. Es werden staatliche Unternehmen und öffentlich-private Partnerschaften gegründet, die die ebenfalls Ressourcen ausbeuten. Oder es werden neue Unternehmen gegründet, die mit der Macht oder den Familien verbunden sind, die politische Positionen besetzen. Was wir im Fall Ortega-Murillo sehen, ist der Wechsel vom extraktivistischen Modell der neoliberalen Regierungen zu einem neo-extraktivistischen Modell mit einer Verbindung zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen in diesen Gebieten. Dies hat zu einem großen Druck auf die natürlichen Ressourcen und auf die Schutzgebiete selbst geführt.

Was sind die Hauptursachen für die Gewalt in den indigenen Gebieten?
Der industrielle Bergbau ist auf dem Vormarsch, ebenso der handwerkliche, so dass viele der Konflikte in den indigenen Territorien auf den Bergbau zurückzuführen sind. Siebzig Prozent der Bergbauprodukte werden vom industriellen und dreißig Prozent vom handwerklichen Bergbau produziert. Beide sind jedoch miteinander verbunden, da der Gewinn des Goldes aus dem handwerklichen Bergbau an die Minenunternehmen verkauft wird, die das Gold exportieren. Dies hat viele Menschen dazu gebracht, in diese Gebiete einzudringen, um die Ressourcen zu plündern. An genau solchen Orten entstehen die Konflikte.
Der Staat hat die Verpflichtung, die territoriale Sicherheit der indigenen Gemeinschaften zu garantieren, da es sich um per Rechtstitel anerkannte Territorien handelt. Mindestens 23 Gebiete sind infolge indigener Kämpfe bereits an die Gemeinschaften überschrieben worden. Allerdings hat die Regierung die Legalisierungsphase – die letzte Phase des Titulierungsprozesses – nicht eingehalten. Diese Phase umfasst die Kontrolle der Menschen, die sich in diesen Gebieten aufhalten. Sollte die indigene Gemeinschaft zu dem Schluss kommen, dass Personen sich unbefugt dort aufhalten, dann muss die Regierung dafür sorgen, dass diese das Gebiet verlassen, da sie in ein geschütztes Territorium eindringen. Das ist jedoch nie geschehen.
Daher haben indigene und afro-deszendente Gemeinschaften damit begonnen, ihr Territorium selbst zu verteidigen – natürlich nicht mit den gleichen Möglichkeiten, die der Staat zur Verfügung hat. Das hat dazu geführt, dass die Waldhüter der Gemeinden zu den Hauptangriffszielen wurden, denn sie sind diejenigen, die diese Gebiete überwachen, Verstöße dokumentieren und melden. Seit 2005 haben wir mehr als 75 Morde erlebt. Allein in diesem Jahr wurden acht Waldhüter und Gemeindevorsteher ermordet, die sich Menschen widersetzt haben, die unrechtmäßig in ihr Gebiet eingedrungen sind.

Heißt das, dass die Eindringlinge bewaffnet sind?
Nicht alle sind bewaffnet. Viele dieser Eindringlinge haben sich bewaffnet, um sich mit Gewalt durchzusetzen. Das Regime hat sie als kriminelle Banden bezeichnet, man wollte nicht anerkennen, dass es sich um Paramilitärs handelt, um Leute, die mit Gewalt diese Gebiete besetzen und die natürlichen Ressourcen plündern.

Gibt es noch weitere Akteure in den indigenen Territorien?
Ja, die extensive Viehzucht breitet sich zunehmens aus und führt heute am stärksten zur Entwaldung im Land. Viele dieser Viehzuchtbetriebe haben von einer für sie günstigen öffentlichen Politik profitiert, weil sie neue Märkte erschlossen und Finanzierungen erhalten haben. Dieses Modell hat dazu geführt, dass der Druck auf die Bevölkerung in den indigenen Territorien aufgrund wirtschaftlicher Interessen zu Lasten ihrer Rechte enorm zugenommen hat. Aber nicht nur das, es gibt noch andere Interessen, etwa der illegale Bodenhandel oder der Handel mit nativen Tier- und Pflanzenarten aus diesen Regionen. Da es sich um Gebiete mit hohen Niederschlagsmengen handelt, die die Ölpalme benötigt, spielen auch diese kommerziellen Interessen eine Rolle.

Wie bewerten Sie die Wirtschaftssanktionen der internationalen Gemeinschaft gegen Nicaragua?
Wer Nicaragua wirklich beeinflussen kann, ist der wichtigste Exportmarkt unseres Landes – die USA. Die wichtigsten Produkte sind Gold und Fleisch. Der größte Teil des Fleischmarktes sowie der größte Teil des Goldes geht in die Vereinigten Staaten, der zweitgrößte Goldanteil in die Schweiz, Leder geht nach Europa. Die Maßnahmen sollten entschiedener sein, vor allem bei einigen Produkten der Wertschöpfungsketten in den Händen der Diktatur. Mit einem Viertel der Wirtschaftssanktionen, die sie gegen Russland verhängt haben, hätten sie morgen jedes Abkommen mit Ortega unterzeichnen können. Es besteht also kein wirkliches Interesse daran, eine Diktatur zu stürzen: Auf politischer Ebene kritisiert man zwar die Menschenverletzungen und spricht von einer Diktatur, aber auf Handelsebene macht man gerne Geschäfte mit Ortega. Aus meiner Sicht ist das eine widersprüchliche Politik.

Stich gegen Stichtagsregelung

Demo in Brasilia Indigene verteidigen ihre Rechte (Foto: Hellen Lourdes, mit freundlicher Genehmigung des CIMI, CC BY-ND2.0 DEED))

„Das ist ein großer Sieg für uns. Unser Land repräsentiert das Leben und die Kultur unseres Volkes“, kommentierte Keli Regina Caxias Popó von der indigenen Gemeinschaft der Xokleng öffentlich die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes Brasiliens (STF) zur Stichtagsregelung des Gesetzes „Marco Temporal“. Die Entscheidung des STF war mit allergrößter Spannung erwartet worden. Seit 2021 hatte der Gerichtshof mehrmals zum „Marco Temporal“ getagt. Wiederholt wurde die finale Entscheidung durch mehrmonatige Vertagungen verzögert, nachdem einzelne der Obersten Richter*innen ihr Urteil abgegeben hatten. Doch auf der Doppelsitzung am 20. und 21. September fiel dann ein überraschend deutliches Grundsatzurteil, das politischen und sozialen Sprengstoff für ganz Brasilien birgt: Mit neun zu zwei Stimmen wiesen die Richter*innen des STF die These der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ zurück.

Diese besagte, dass nur jene indigenen Territorien das verfassungsgemäße Recht auf juristische Anerkennung (Demarkation und Homologation) hätten, bei denen bewiesen werde, dass Indigene auf dem Gebiet zum Tag des Inkrafttretens der brasilianischen Verfassung – dem Stichtag 5. Oktober 1988 – lebten. Dieser Nachweis hätte bei vielen der indigenen Territorien und vor allem bei vielen der noch nicht juristisch anerkannten Gebiete nicht beigebracht werden können. In der Konsequenz – so Kritiker*innen des „Marco Temporal“ – hätte die Gefahr bestanden, dass rückwirkend 500 Jahre Landraub und Vertreibung erneut legalisiert würden.

Unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ versuchen die Zusammenschlüsse der indigenen Völker Brasiliens seit Jahren, in der Öffentlichkeit auf die Absurdität der Stichtagsregelung hinzuweisen. So schätzt der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) die juristische These des „Marco Temporal“ als verfassungswidrig ein, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, ignoriert. Darüber hinaus gab es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Denn qua Gesetzbuch standen Indigene unter staatlicher Vormundschaft, der sogenannten tutela, was erst die neue Verfassung von 1988 beendete. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebietes am 5. Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die nicht bewohnt werden, aber eine besondere kulturelle und spirituelle Bedeutung haben.

Im Urteil des STF ging es konkret um das Gebiet Ibirama La Klãnõ der indigenen Xokleng im Bundesstaat Santa Catarina, aus dem diese – infolge der massiven deutschen Einwanderung in den Süden Brasiliens – gewaltsam, äußerst brutal und menschenverachtend ab den 1850er Jahren bis in die 1930er Jahre vertrieben wurden. Die Landesumweltbehörde des Bundesstaates Santa Catarina forderte ab 2009 vor Gericht die Räumung eines 80.000 Quadratmeter großen Gebietes, auf dem heute indigene Xokleng, Kaingang und Guarani leben. Es grenzt an das im Jahre 1958 vom Staat ausgewiesene (aber noch nicht abschließend demarkierte) Gebiet der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ an. Dieses historisch von den Xokleng einerseits sowie von den Kaingang und Guarani andererseits bewohnte Gebiet wurde Ende der 1980er Jahre zusätzlich durch den Bau des Staudamms Barragem Norte beeinträchtigt, so dass die Indigenen wiederum nur ein kleineres Gebiet als ihr traditionelles Territorium beanspruchen konnten.

Die Landesumweltbehörde von Santa Catarina argumentierte in der Klage, das Gebiet stehe unter Naturschutz und müsse daher von den Indigenen geräumt werden. Auf dem Gelände befinden sich heute aber auch Tabakfarmer*innen und es sind dort Holzfirmen aktiv. Laut der Behörde hielten die Indigenen das Gebiet illegal besetzt und die Anerkennung sei als indigenes Territorium nicht rechtens, da die Indigenen am Stichtag, dem 5. Oktober 1988, nicht in dem Gebiet lebten. Daher gelte die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“. Im Jahr 2013 wandte das Bundesgericht der 4. Region (TRF-4) im Bundesstaat Santa Catarina das Kriterium der Stichtagsregelung an, indem es der Landesumwelt- behörde die Entscheidungshoheit über das Gebiet Ibirama La Klãnõ zusprach. Gegen die Entscheidung des TRF-4 legte die Indigenenbehörde des Bundes, FUNAI, beim STF Berufung ein. Im Jahr 2019 entschied der Oberste Richter Alexandre de Moraes, dass dieser Fall „strahlende Rechtskraft grundlegender Natur“ habe, so dass das vom STF zu entscheidende Urteil Grundsatzcharakter für die bis zu 200 noch anstehenden Rechtsentscheidungen in Bezug auf indigene Territorien Brasiliens entfalte.

Die Vertreter*innen der Xokleng argumentieren stets, dass sie gewaltsam aus ihren Gebieten vertrieben wurden, viele ihrer Vorfahren ermordet wurden und ihnen erst die Verfassung von 1988 das Recht auf ihr angestammtes Gebiet garantierte. Erst ab diesem Zeitpunkt konnten sie ihre historischen Territorien einfordern. „Wenn wir 1988 nicht in einem bestimmten Gebiet waren, dann heißt das nicht, dass es Niemandsland war oder dass wir nicht dort waren, weil wir es nicht wollten. Die Stichtagsregelung verfestigt eine historische Gewalt, die bis heute ihre Spuren hinterlässt“, sagte Brasílio Priprá, Sprecher der Xokleng, im Jahr 2020. Dieser Ansicht folgte nun der Oberste Gerichtshof Brasiliens.

Der Agrobusiness wird sich Enteignungen nicht gefallen lassen

„Wir haben gesiegt!“, jubelte es am 21. September in den sozialen Medien, nachdem beim Stand 5:2 der Oberste Richter Luiz Fux ebenfalls gegen die Stichtagsregelung votierte und damit mit sechs Stimmen die Mehrheit erreicht war.Doch selbst mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung sind die Konflikte nicht beigelegt – vielleicht verschärfen sie sich noch weiter. Denn der STF entschied eine Woche später, dass der Staat Entschädigungen an jene zu enteignenden Grundbesitzer*innen zahlen muss, die in der Vergangenheit in „gutem Glauben“ die Grundstücke von Vorbesitzenden erworben haben. Zudem soll sich die Entschädigung insofern eher am Marktwert orientieren, als nicht nur der bloße Grundbesitz, sondern auch die auf diesem im Lauf von Generationen geleisteten „Aufwertungen“ honoriert werden sollen. Und diese Entschädigungszahlungen sollen sofort und vor der Räumung des Gebietes erfolgen. So befürchten vor allem Indigene, dass es in der Praxis kaum zu Enteignungen kommen wird. Denn wenn es dem brasilianischen Staat im Moment an einem fehlt, sind es finanzielle Spielräume, die durch die große Haushalts- und Schuldenbremse massiv eingeschränkt werden.Dass vor allem Brasiliens Agrobusiness sich eine Enteignung – selbst bei Entschädigung – nicht so einfach gefallen lassen wird, zeigte sich genau am Tag der höchstrichterlichen Entscheidung. Denn bereits wenige Stunden bevor der STF zu seiner entscheidenden Sitzung zum „Marco Temporal“ zusammenkam, debattierte im brasilianischen Senat die Kommission für Verfassung, Justiz und Teilhabe von Bürger*innen über die Gesetzesinitiative PL 2903. Diese war unter dem Kürzel PL 490 im brasilianischen Abgeordnetenhaus am 30. Mai verabschiedet worden und definiert die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ nicht nur in Bezug auf künftige Demarkationen, sondern könnte rückwirkend auch bestehende Demarkationen juristisch angreifbar machen. Zudem beinhalten die PL 2903/PL 490 explizit die Möglichkeit, indigene Territorien gegen die Zahlung von Konzessionen an Indigene wirtschaftlich auszubeuten.

Angesichts der im STF anberaumten Abstimmung beeilten sich die dem Agrobusiness nahestehenden Senator*innen, um möglichst noch vor dem STF zu einer legislativen Entscheidung zu kommen. Dies gelang ihnen zunächst jedoch nicht, da auch im Senat Verzögerungstaktiken wie die Beantragung von Vertagungen üblich sind. Senator Randolfe Rodrigues von der an der Regierungskoalition beteiligten Partei Rede verurteilte diesen Versuch einer legislativen Hauruckaktion scharf: „Nichts rechtfertigt diese Eile, die im Widerspruch zu dem steht, was zwischen den indigenen Anführern und den Senatoren besprochen wurde. Zumal der Oberste Gerichtshof bereits über die Angelegenheit urteilt”, sagte Rodrigues in der Sitzung. Die Entscheidung in der Senatskommission wurde durch den Antrag auf Vertagung seitens der Senatorin Eliziane Gama von der Partei PSD, die ebenfalls der Regierungskoalition Lulas angehört, für sieben Tage unterbrochen. „Es besteht kein Zweifel, dass dieses Gesetz nicht in Kraft treten wird. Wir könnten über ein Gesetz abstimmen, das verfassungswidrig ist”, sagte sie im Hinblick auf die am Nachmittag anstehende Entscheidung im STF.

Doch etliche Senator*innen ließen in der Debatte in der Kommission keinen Zweifel daran, dass sie weiter mit allen Mitteln dafür kämpfen werden, dass es eine Gesetzgebung des Nationalkongresses zu einer Stichtagsregelung indigenen Landes geben werde. So stimmten im Senat genau eine Woche später (wiederum am gleichen Tag wie der STF) sowohl die zuvor vertagte Kommission als auch im Schnellverfahren das Plenum, dass die PL 2903 zum „Marco Temporal“ als Gesetz Gültigkeit habe. Dazu verhalf ihnen die große Mehrheit, die agrobusinessfreundliche Abgeordnete und Senator*innen im Nationalkongress haben. Die parteiübergreifende Fraktion der sogenannten ruralistas der FPA (Frente Parlamentar da Agropecuária) stellt 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus und im Senat zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator*innen. Die ruralistas sind damit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion im Nationalkongress.

Nun muss Präsident Lula entscheiden, ob er das Gesetz PL 2903 zum „Marco Temporal“ unterzeichnet oder ob er sein Veto einlegt. Übt er sein Veto aus und kann der Kongress in einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern das präsidentielle Veto überstimmen, dann würde der „Marco Temporal“ gelten. Etliche Senator*innen erklärten in der Debatte um die PL 2903, dass sie – und nicht der Oberste Gerichtshof – die Herrschaft über die Legislative ausübten. Es scheint, dass die konservativen Abgeordneten und Senator*innen eine schwere Verfassungskrise zwischen den drei Gewalten herbeiführen wollen: Trotz des Grundsatzurteils haben konservative Senator*innen eine Verfassungsänderung eingereicht, die explizit den „Marco Temporal“ mit Stichtag 5. Oktober 1988 als Basis für die Demarkation indigener Territorien in die Verfassung schreiben soll. Allerdings bräuchten sie dafür eine Dreifünftelmehrheit im Nationalkongress. So geht der Kampf der drei Gewalten weiter – aber die indigenen Völker Brasiliens haben gezeigt, dass sie nicht länger nur Zuschauende sein wollen.

“Die Angst ist immer da”

Gerechtigkeit für Sergio Der Aktivist aus Salitre wurde 2019 erschossen (Foto: Alke Jenss)

Costa Rica steht im deutschsprachigen Raum für Vieles: paradiesisches Tourismusziel, Pionier der erneuerbaren Energien, Land ohne Armee, sichere Zone im zentralamerikanischen Chaos. Die Realität ist, wie immer, komplexer. Was aber die Wenigsten mit dem Land verbinden, sind gewaltvolle Landkonflikte.

Im Süden Costa Ricas, in der Provinz Puntarenas, müsste man die Augen jedoch sehr fest verschließen, um diese Konflikte zu übersehen. Viehzucht und Ananasplantagen prägen die Landschaft um das Städtchen Buenos Aires. Die Plantagen grenzen fast unmittelbar an mehrere indigene Territorien an. Pablo Sibar kommt aus Térraba und gehört zur indigenen Bevölkerungsgruppe der Brörán. Er ist Koordinator des nationalen Zusammenschlusses Indigener Gemeinschaften FRENAPI (Frente Nacional de los Pueblos Indígenas).

Pablo und andere Aktivist*innen haben begonnen, sich gegen jahrzehntelang staatlich geduldete illegale Landnahmen zu wehren. Térraba, eigentlich indigenes Territorium, ist ein Flickenteppich privat bewirtschafteter Fincas und industrieller Viehzucht. Viele Nicht-Indigene bewirtschaften das Land hier seit Jahrzehnten ohne rechtliche Grundlage.

2018 haben Aktivistinnen um Pablo eine Finca besetzt, die den Nutzerinnen als Ferienhaus und Jagdgebiet diente. Die Aktivist*innen ließen sich bisher nicht wieder von dort vertreiben und nutzen die Finca, der sie den Namen Crun Shurin gaben, zur Selbstversorgung. 16 Familien teilen sich die 600 Hektar. Zunächst erreichten sie mit dem zuständigen Staatsanwalt und dem Verwalter die Abmachung, der Fall werde im Rahmen der restaurativen Justiz, einem relativ schnellen Schlichtungsverfahren verhandelt. Doch der vormalige Nutzer „konnte immer nicht teilnehmen, nicht unterschreiben, vergaß angeblich die Termine“, erinnert sich Pablo. „Kurz vor dem ersten Jahrestag, also im Januar 2019, erhielten wir den ersten Räumungsbescheid. Der Richter argumentierte, der vorige, unrechtmäßige Nutzer Eladio Ramírez habe das vorrangige Nießrecht auf den Besitz. Es gelang uns, Berufung einzulegen und so blieben wir hier auf der Finca.“ Im Mai 2019 konnten sie die verbliebenen Arbeiter*innen mit dem Vieh vom Gehen überzeugen. „Und ein Jahr später, im Jahr 2020, kamen die Ramírez, um alles zu holen, die Maschinen, die Zäune, die Tore, die Häuser, alles.“

Ein Projekt der Wiederaneignung

Das Projekt der Wiederaneignung ist auch ein Projekt der teilweisen Renaturierung. Aus Viehweiden wird Wald, Wildtiere siedeln sich wieder an. „Aquí hay vida“ („Hier gibt es Leben“), sagt Pablo Síbar. „Man sagt mir, ich sei faul, idiotisch, weil sie sagen, wir hätten die Finca ungenutzt gelassen – tatsächlich lassen wir einen Teil des Landes regenerieren. Weil das Leben etwas wert ist“. Zugleich produziert die Gruppe inzwischen genug Nahrungsmittel auf der Finca, um auch andere zu versorgen. Sie haben Orangen- und Mangobäume gepflanzt, Mais, Maniok und Nutzpflanzen wie Tiquisque. Um die zuvor wegen der Verschmutzung durch Vieh kaum nutzbaren Wasserquellen haben sie Wiederaufforstung betrieben, so dass die Finca mit Wasser versorgt ist. Pablo ist überzeugt davon, dass die langjährige und erfolgreiche Mobilisierung gegen den Diquís-Staudamm (siehe LN 537) einen harten Kern an Leuten zusammengebracht hat. Das costa-ricanische Institut für Elektrizität archivierte das Megaprojekt im Jahr 2018 nach anhaltenden Protesten. Der vorgesehene Stausee hätte an die 10 Prozent der Territorien der Teribe (Brörán) geflutet. Die Aktivist*innen haben jahrzehntelange Erfahrung in der indigenen und Umweltbewegung und kennen die entsprechenden Räume, „sie wissen zu kämpfen”, sagt eine Unterstützerin.

Das Thema der Landkämpfe reicht weit zurück: Im Jahr 1977 hatte das costa-ricanische Parlament das Gesetz zum Schutz der indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes verabschiedet und damit festgeschrieben, dass indigenes Territorium nicht einfach verkauft oder angeeignet werden kann. Die Grenzen der Territorien gelten bereits seit den 1950er Jahren, Térraba erhielt seinen gemeinschaftlichen Landtitel 1956. Keiner der späteren illegitimen Nutzer*innen des Landes kann also behaupten, in gutem Glauben gehandelt zu haben.

Staatliche Maßnahmen, die das Gesetz durchsetzen, gab es jedoch nicht. Im Gegenteil, auch der Staat beschneidet die Territorien. So wurde 2004 der Landtitel Térrabas leicht geändert und verkleinert, ohne Abstimmung mit der dort lebenden Bevölkerung. Besonders problematisch ist Folgendes: Der costa-ricanische Staat vergab die Verwaltung indigener Territorien an die sogenannte Assoziation für indigene Entwicklung ADI (Asociación de Desarrollo Indígena). Die ADI „vertritt“ und „verwaltet“ per Gesetz das indigene Gebiet, untersteht aber faktisch der staatlichen Nationalen Direktion für Entwicklung der Gemeinschaft (DINADECO) und ist somit staatlich eingesetzt. Sie „regiert“ das Territorium also auch dann, wenn eine große Mehrheit der dort Lebenden das ablehnt. In Térraba hat die ADI besonders vehement die staatstreue Idee von Fortschritt und Entwicklung durch Investitionen vertreten und den Bau des Diquís-Staudamms offen befürwortet. „Personen, die den Staudamm stark unterstützen, konnten Machtpositionen in der ADI einnehmen“, heißt es in einem Bericht an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Für die Rückgabe illegitim angeeigneten Landes an die indigene Gemeinschaft hat sich die ADI in Térraba dagegen nie eingesetzt. Ihr Präsident „ist nicht für Kulturinitiativen, er ist nicht für den Schutz der Ressourcen, er ist für nichts, was mit dem Thema Indigene zu tun hat“, sagt Paulino Nájera, der mit seiner Frau Fidelia seit Jahrzehnten Wiederaufforstung betreibt. Offenbar lässt die ADI Viehzüchter*innen auf Landstrichen ihr Vieh weiden, die von Institutionen wie dem staatlichen Wasserversorger oder der Schulverwaltung bezahlt wurden. Sie gilt als korrupt.

Das Recht auf Eigentum setzt der Staat sehr selektiv durch; die Rechte der Indigenen scheinen zweitrangig. Seit den 70er-Jahren versuchen die Gemeinden vor den Gerichten die Durchsetzung des Gesetzes zu erreichen, auch wenn internationale Instrumente wie die ILO-Konvention 169 in der Rechtsprechung zu den Besetzungen langsam Anwendung finden. 2010 hatte die Polizei einige der Aktivist*innen, die heute auf der Finca Crun Shurin leben, aus dem Parlamentsgebäude geworfen, weil sie dieses besetzen wollten bis ein Gesetz für indigene Autonomie verabschiedet würde. „Als der Staat uns aus dem Parlament schleifte, entschieden wir: sollen sie uns doch von unserem Land schleifen, wir holen uns dieses Land zurück“, so Pablo. Eine Räumung von Crun Shurin scheint faktisch noch immer möglich, auch wenn dies eigentlich indigenes Territorium ist: „Die Angst ist immer da.“

Diese Angst ist nicht unbegründet, denn die Aktivist*innen sind immer wieder direkter Gewalt ausgesetzt. 2020 zirkulierte ein Video mit rassistischen Drohungen: „Hoffentlich kommt bald jemand an die Regierung, der die Hosen anhat, um sie zu jagen und ein für alle Mal aus unserem Land zu werfen“, hieß es dort. Am 13. und 14. März 2021 erhielten Pablo und andere Aktivist*innen zum wiederholten Male Morddrohungen und rassistische Verleumdungen. Einer der Accounts, von denen die Drohungen kamen, gehörte einem Mitarbeiter eines Landbesetzers. Im Juli 2020 hatte ein anderer Arbeiter versucht, Pablo umzufahren. Jehry Rivera, ein weiterer Aktivist aus Térraba, war nur ein paar Monate zuvor, am 24. Februar 2020, ermordet worden. Sergio Rojas Ortiz, langjähriger Wegbegleiter von Pablo Síbar aus dem nahen Salitre, wurde am 18. März 2019 in seinem Haus erschossen.

Erst Ende Februar 2023 sprach ein Strafgericht der Region in Pérez Zeledon Juan Eduardo Varela als Mörder von Jehry schuldig. Er habe vorsätzlich gehandelt. Varela hatte im August 2022 öffentlich gesagt: „Ich war es, der ihn umgebracht hat“. Am 17. Juli setzte das Berufungsgericht diesen einzigen Verdächtigen wegen angeblicher Formfehler allerdings wieder auf freien Fuß. Audionachrichten kursierten, in denen Viehzüchter die Annullierung des Urteils feierten. Bei Jehrys Familie und Aktivist*innen wie Pablo Síbar bleibt das Gefühl zurück, dass der costa-ricanische Staat sie nicht vor Gewalt schützt, sondern diese durch Großprojekte eher noch befördert.

Die aktuelle Politik verspricht Verunsicherung

Die aktuelle Regierungspolitik verspricht diese Verunsicherung, die viele Lateinamerikaner*innen teilen, weiter voranzutreiben. Costa Rica durchlebt eine Haushaltskrise, da diverse Schuldenposten 2023 fällig werden. Diese machen über ein Fünftel des Haushaltes aus, für Zinsen ist ein weiteres Fünftel vorgesehen. Präsident Rodrigo Chaves setzt neben Austerität auf liberalisierende Wirtschaftsmaßnahmen. Chaves hat zudem die indigenen Gemeinden dazu aufgerufen, keine Landrücknahmen mehr durchzuführen, da diese eine „feindselige Stimmung schaffen“ würden. Sie „schüren Gewalt“, sagte ausgerechnet der Vizeminister für Gerechtigkeit und Frieden, Sergio Sevilla, im November 2022. Auf einer Reise ins südliche Costa Rica im Februar bestärkte Chaves die ADI als Repräsentationskanal für die indigenen Gemeinden und ignorierte deren Kritik. Der staatliche Plan zur Rückgabe von Land, den es durchaus gibt, hat seit Jahren keine Fortschritte gesehen. Geld gibt es hierfür kaum.

“Morddrohungen gab es im letzten Jahr keine mehr”, sagt Pablo. Er vermutet, die aufgeheizte Stimmung sei etwas abgeflaut, da sie in Térraba keine weiteren Landrücknahmen versucht hätten. Dem Bild von Costa Rica als demokratischer, friedlicher Ausnahmestaat in Zentralamerika verleiht Pablos Geschichte dennoch tiefe Risse.

Gemeindeversammlung im Schatten der Konzerne

Amtsantritt mit Ansage Der neue Gemeinderat übt harsche Kritik an den Konzernen (Foto: Rita Trautmann)

Noch vor Sonnenaufgang treffe ich an einem Sonntag im März dieses Jahres vier Kolleg*innen von MADJ, eine der wichtigsten sozialen und politischen Menschenrechtsbewegungen in Honduras. Gemeinsam fahren wir mit einem Pick-up in die Gemeinde San Francisco de Locomapa der indigenen Tolupanes. Die bergige und waldreiche Region liegt im Distrikt Yoro im nördlichen Honduras. Vor allem aber ist sie sehr abgelegen und nicht einfach zu erreichen. MADJ hat mich als Vertreterin des Menschenrechtskollektivs CADEHO gebeten, sie bei der Fahrt zu einer Gemeindeversammlung als Menschenrechtsbeobachterin zu begleiten. Ich bin zum ersten Mal in Honduras, seitdem die linksgerichtete Partei LIBRE die Narco-Diktatur von Juan Orlando Hernández abgelöst hat und sehr gespannt auf die Veränderungen im Land unter der Präsidentin Xiomara Castro.

Nach einer Stunde Fahrt verlassen wir die asphaltierte Straße. Eine holprige Schotterpiste beginnt, die sich in Serpentinen die Berge hochschlängelt. Unterwegs durchqueren wir mehrere Flussläufe. An der ersten Flussdurchfahrt halten wir kurz an. Estefany Contreras, Anwältin der MADJ, zeigt auf die Berge: „Hier beginnt das Territorium der Tolupanes gemäß des bis heute gültigen Landtitels von 1864. Doch Anfang der 1990er Jahre, während der Regierung von Callejas, hat das nationale Agrarinstitut INA das Gebiet neu vermessen und es einfach verkleinert.“

Die Berghänge waren einst komplett von Kiefernwäldern bedeckt, jetzt sind sie mit entwaldeten Schneisen überzogen. „Das Holz ist begehrt und die Unternehmen dringen immer weiter in das indigene Territorium ein, um Holz zu schlagen“, erklärt Estefany weiter.

Doch nicht nur wegen der Holzvorkommen weckt das Gebiet der Tolupanes Begehrlichkeiten, es gibt auch Gold, Eisen und Antimon. Umso wichtiger ist eine juristische Vertretung der Gemeinden, die für den Schutz der natürlichen Ressourcen eintritt. Genau darum geht es in der heutigen Gemeindeversammlung. Nach zwölf Jahren soll endlich ein neuer Gemeinderat, der Consejo Directivo, für San Francisco de Locomapa gewählt werden.

Jede der 31 Tolupan-Gemeinden hat einen Consejo Directivo als legale Vertretung. Alle Tolupan-Gemeinden zusammen werden von der Föderation der Tolupanes, Fetrixy, repräsentiert.

Zur Gemeinde Locomapa gehören 22 Dörfer, die verstreut in den Bergen liegen. Wir kommen durch einige der Dörfer, die Ladefläche des Pick-up füllt sich schnell mit Menschen. Die Straße ist gesäumt von Menschengruppen, die sich auf den Weg zur Versammlung gemacht haben – häufig mit der ganzen Familie.

Würdevoll und rebellisch! Transparent der Versammlung für die Gerechtigkeit Tolupan (Foto: Rita Trautmann)

Als wir ankommen, werden wir bereits erwartet. Ramón Matute aus Locomapa ist erleichtert, dass MADJ mit mehreren Personen anwesend ist. Er ist einer der Kandidat*innen für den neuen Gemeinderat und betont die Notwendigkeit der Wahl. Die Mitglieder des bisherigen Gemeinderates hätten sich von den Unternehmen korrumpieren lassen. Gegen Geld gaben sie den Unternehmen die Erlaubnis zum Raubbau an der Natur. Das Geld sei jedoch nie der Gemeinde zugutegekommen. „Die Mitglieder des alten Consejo hatten kein Interesse, eine Gemeindeversammlung für eine neue Wahl einzuberufen. Aber damit muss Schluss sein, wir dürfen nicht unsere Lebensgrundlage verlieren“, sagt Ramón entschieden.

Die Gemeinden der Tolupanes gehören zu den ärmsten in Honduras. Die Menschen in den Gemeinden leben von dem wenigen, was der karge Boden hergibt. Mehr als 72 Prozent der Haushalte leben in extremer Armut, fast 40 Prozent der Häuser haben nicht einmal einen Wasseranschluss. Die Analphabet*innenrate ist höher als im restlichen Land. Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sind in einem schlechten Zustand und nicht für alle Dörfer gut erreichbar.

Viele Bewohner*innen der Gemeinde Locomapa wollten seit längerem einen neuen Gemeinderat. Doch diejenigen, die sich gegen den alten Consejo stellten, wurden bedroht und eingeschüchtert. Es war ein langer und schwieriger Weg bis zur heutigen Versammlung. Denn offen gegen Unternehmen Stellung zu beziehen, ist gefährlich. Ramón Matute weiß dies. Im Februar 2019 wurden sein Vater und sein Bruder ermordet. Beide waren Landrechtsverteidiger*innen und gehörten MADJ an.

Den alten Gemeinderat abzulösen, ist eine klare Ablehnung der Machenschaften der Unternehmen. Deshalb hat die MADJ zwei weitere Menschenrechtsbeobachter*innen von Peace Watch Switzerland nach Locomapa gebeten. Dies zeigt, wie angespannt die Situation ist. Auf die staatlichen Sicherheitsorgane ist kein Verlass. Zwar wurden 18 Familien aus San Francisco Locomapa bereits 2013 von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Schutzmaßnahmen zugesprochen, darunter fast allen Kandidat*innen. Doch meist hat die Polizei bei schweren Menschenrechtsverletzungen weggesehen und die Interessen der Unternehmen geschützt. Zur heutigen Gemeindeversammlung ist allerdings sogar die Polizei gekommen. Sie hält sich abseits und beobachtet das Geschehen.

Wer auf den Platz des Gemeindehauses will, wird vom Organisationsteam der Versammlung kontrolliert. Es wird befürchtet, dass Gegner*innen der Wahl bewaffnet zur Versammlung kommen und gewalttätig werden. Bei großer Mittagshitze beginnt die Versammlung. Es sind mehr als einhundert Menschen, die auf dem Vorplatz des Gemeindezentrums stehen, sich Luft zufächeln oder ihre Regenschirme gegen die Sonne aufgespannt haben. Die neuen Kandidat*innen, drei Frauen und fünf Männer, stellen sich vor. Es wird abgestimmt. Die Mehrheit stimmt für den neuen Consejo Directivo. Die Versammlung geht erstaunlich schnell und zum Glück reibungslos vonstatten. Anwältin Estefany Contreras von MADJ sorgt dafür, dass alle Dokumente der Wahl vollständig sind, damit der neue Consejo staatlich anerkannt wird.

„Wir unterstützen die Gemeinden aber nicht nur juristisch. Von großer Bedeutung ist die Aufklärung der Gemeinden über ihre Möglichkeiten gegen Korruption und Landgrabbing vorzugehen“ berichtet Estefany nach der Wahl. Dennoch ist es für viele Tolupanes schwierig, von ihren Rechten Gebrauch zu machen. Das geringe Bildungsniveau, aber auch die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung sind Hindernisse. Wer nicht lesen und schreiben kann, darf Ämter wie die im Gemeinderat nicht einnehmen, egal wie engagiert die Person ist.

Nachdem alle Neugewählten das Protokoll unterschrieben haben, sind sie offiziell für die nächsten zwei Jahre im Amt. Ramón Matute ist jetzt Präsident des Gemeinderates. Doch glücklich wirkt er nicht. Ebenso wenig wie Rosa Adilia Vieda, die Vizepräsidentin und die weiteren sechs neuen Ratsmitglieder. Sie alle wissen, was ihre neue Funktion mit sich bringen kann. Dennoch haben sie sich zur Wahl gestellt und ihr Amt angetreten. Ihr Mut beeindruckt mich sehr.

Zum Abschied sagt Ramón: „Ich weiß, wie gefährlich es für uns ist. Ich habe erst gestern noch an einige der bereits Ermordeten gedacht und weiß, dass wir auf dem gleichen Weg sind. Aber wir können nicht aufgeben, wir wollen unser Territorium verteidigen.“ Mit gemischten Gefühlen machen wir uns auf den Rückweg, wieder mit einer Ladefläche voller Menschen. Die meisten von ihnen steigen in San Francisco Campo aus, einem symbolischen Ort für die Tolupanes. Im Jahre 2013 wurden hier drei Aktivist*innen ermordet. Gegenüber des Gedenksteins für die Toten soll ein kommunales Radio entstehen, ein Vorhaben des neuen Consejo. Zurück geht es wieder durch mehrere Flussläufe und Staub weht durch die offenen Fenster. Nach einem langen Tag mit intensiven Begegnungen kommen wir müde in San Pedro Sula an.

Bereits weniger als einen Monat nach der Wahl kommt es zu einem ersten Zwischenfall. Der Eigentümer des Holzunternehmen INMARE, Wilder Dominguez, versucht einen Teil der Bevölkerung von Locomapa dazu zu bringen, einen anderen, ihm genehmen Gemeinderat zu wählen, um weiterhin Holz schlagen zu können.

Der Plan des INMARE-Eigentümer scheitert, aber er spaltet die Gemeinde. Von Dominguez korrumpierte Gemeindemitglieder greifen Ramón Matute und Rosa Adilia Vieda gewaltsam an. Zur Sicherheit muss Rosa Adilia nach diesem Vorfall für einige Zeit außerhalb der Gemeinde leben. Ihre drei Kinder müssen solange bei den Nachbarn bleiben. Dennoch steht sie zu ihrer Entscheidung, sich wählen zu lassen: „Für mich ist es wichtig, dass auch Frauen im Consejo sind. Das ist ein Zeichen an alle anderen, dass wir Frauen auch für unser Land kämpfen können.“

Ein weiterer Monat vergeht, dann erhält Ramón Morddrohungen, als er mit dem Gemeinderat das Gebiet inspizierte, indem die Bergbaufirma Lachansa illegal operiert. Und leider ist davon auszugehen, dass dies nicht die letzte Morddrohung ist, die er in seinem neuen Amt erhalten wird. Denn seit den 1980er Jahren sind mehr als 100 Landrechtsverteidiger*innen der Tolupanes ermordet worden. Das ist eine erschütternde Bilanz. Die indigenen Gemeinden der Tolupanes fühlen sich in einer ausweglosen Situation, denn auf den Staat können sie nicht zählen und die Aktivist*innen werden bedroht und ermordet. Leider hat sich die Lage unter der Regierung von Xiomara Castro nicht geändert – für mich war dies ein ernüchternder Besuch vor Ort.

Eine Krise jagt die nächste

Chaco Salteño Wichí-Frauen im Protestcamp von Misión Chaqueña und Carboncito (Foto: Naomi Henning)

Das Waldstück, in dem sich das Protestcamp befindet, wurde im vergangenen Jahr ohne Konsultation mit den indigenen Gemeinden verkauft. Der „sogenannte Eigentümer“ (supuesto dueño), wie ihn die Wichí-Frauen nennen, versucht seither, mit dem Holzverkauf Geld zu verdienen. Mithilfe eines Anwalts soll aufgeklärt werden, woher dieser neue Landnutzer mit einem Besitztitel wie aus dem Nichts erscheinen konnte.

„Wir wollen vor allem verhindern, dass er den Wald einzäunt“ ,so Lucy Gutierrez, eine der Initiator*innen des Protestcamps. Denn das Einzäunen ist der erste sichtbare Schritt hin zur Privatisierung gemeinschaftlich genutzter Ressourcen. Die Frauen des Protestcamps erklären, warum die verschiedenen Bäume und Pflanzen des Waldes und der freie Zugang zu ihnen so existenziell wichtig sind: Das Hartholz wird für den Möbelbau benötigt, das Brennholz zum Kochen. Aus der Chaguar-Pflanze fertigen die Weber*innen der Wichí kunstvolle Textilprodukte. Bäume wie der Mistól und der Algarrobo sind eine wichtige Nahrungsquelle für die indigene Bevölkerung dieses Gebiets, die bis vor wenigen Generationen nomadisch im und vom Wald lebte. Diese Praktiken sind bis heute wichtiger Teil der kulturellen und materiellen Existenz der Wichí. „Der Wald ist unsere Apotheke“, erklärt Lucío Palavesino und zeigt auf verschiedene Büsche und Bäume, deren Blätter gegen Verdauungskrankheiten oder Fieber helfen. Doch diese Ressourcen des Waldes verschwinden nach und nach. Das Wissen über die Pflanzen und Tiere und die nachhaltige Nutzung des Waldes gehe immer weiter verloren, da die jüngere Generation kein Interesse mehr daran habe. Trotzdem würden sie alles tun, um die Zerstörung des Waldes aufzuhalten – wenn nötig mit direkter Aktion und Körpereinsatz.„Wir wollen hier keine Finca, die alles abholzt und uns mit Agrargiften besprüht“, erklärt Lucy. „Wir sehen das in der Umgebung in den anderen Dörfern, wo es Menschen mit Hautproblemen oder Missbildungen gibt.“

Der Einsatz von Pestiziden führt bei Kindern zu Durchfall und Erbrechen

Allein seit dem Jahr 2000 wurde ein Viertel der Waldflächen des Gran Chaco abgeholzt. Ab 2007 trat in Argentinien zwar ein nationales Waldschutzgesetz in Kraft, doch die Abholzung schreitet weiter voran, wenn auch etwas verlangsamt. Was auf den Verlust des gemeinschaftlich genutzten Waldes folgt, lässt sich in der comunidad La Esperanza, einige Kilometer weiter westlich beobachten. Bis hier ist die Abholzungswelle entlang der Nationalstraße 53 vorgedrungen. Das war vor etwa 15 Jahren, berichtet Mario Molina, cacique (indigener Anführer) der kleinen Wichí-Gemeinde. Auf mehreren Seiten seien sie heute von Soja-, Mais- und Erbsenfeldern umgeben. Während der Saatperiode werden hier, nur wenige Meter von der Siedlung entfernt, Pestizide versprüht, die vor allem bei den Kindern zu Reaktionen wie Durchfall und Erbrechen führen. Die Bewohner*innen von La Esperanza leiden unter Haut- und Atemwegsproblemen. In dieser kleinen Siedlung von nur 30 Familien gibt es sieben Fälle von Missbildungen bei Kindern. Immer wieder hätten sie die Pestizidvergiftungen angezeigt, doch bisher habe die Justiz nicht reagiert.

In der kleinen Gemeinde gibt es so gut wie keine medizinische Versorgung und die Familien fühlen sich mit den teils schweren Gesundheitsproblemen völlig allein gelassen. Ihnen sei mit dem Wald auch die Bewegungsfreiheit und ein Teil ihrer Grundversorgung genommen worden, so Molina. Heute seien sie weitaus mehr auf Geld für Lebensmittel und Medikamente angewiesen, doch es gibt keine Arbeit in der industriellen Landwirtschaft. Viele an Ortschaften angrenzende Fincas sind dazu übergegangen, die Pestizide im Schutz der Dunkelheit auf den Feldern auszubringen. Das berichten auch die Bewohner*innen der comunidades O KaPukie und Quebracho am Rand der weiter nördlich gelegenen Stadt Tartagal. Vor Kurzem stellten sich die Menschen hier einem Sprühfahrzeug in den Weg, nachdem der Chemikalien-Gestank vom benachbarten Sojafeld sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Viele der Beteiligten litten danach unter Erbrechen und Schwindel. Auch aus den comunidades in der Umgebung wird immer häufiger über Hautprobleme, Krebskrankheiten sowie Fehl- und Frühgeburten berichtet.

An der Ruta 34 Ein von der Abholzung verschonter Palo Borracho (Foto: Naomi Henning)

Die tropische Stadt Tartagal liegt am Rand der Chaco-Ökoregion, das zweitgrößte Waldgebiet Südamerikas und ein sogenannter Entwaldungs-Hotspot. Knapp 60 Kilometer von der Grenze zu Bolivien entfernt, ist Tartagal eine Durchgangszone für eine Vielzahl legaler und illegaler Güter und zugleich ein Ort von immenser kultureller Vielfalt. Hier leben Nachfahren unterschiedlicher Gruppen von Einwander*innen zusammen mit Menschen aus sieben verschiedenen indigenen Völkern. Die nordsüdlich verlaufende Ruta 34 und die nach Osten aus der Stadt führende Ruta 86 sind zugleich die Achsen, entlang derer sich die Abholzung und das System des Monokulturanbaus in den vergangenen Jahrzehnten vorangeschoben hat. Hier lassen sich der argentinische Agrarextraktivismus,die export- und profitgetriebene Produktion für den Weltmarkt wie unter einem Brennglas beobachten. Entlang der Ausfallstraßen siedeln sich die an, die aus dem Zentrum der Stadt und den traditionell genutzten Territorien im Hinterland verdrängt wurden. So wachsen die informellen Siedlungen um Tartagal, viele ohne Anschluss an die städtische Infrastruktur und Zugriff auf sauberes Trinkwasser, im Zustand einer fortgesetzten Ernährungs -und Gesundheitskrise. Hier folgt eine Krise auf die nächste, berichtet Araceli Gorgal, eine junge Ärztin aus der Provinz Buenos Aires, die in Tartagal ihren sozial-medizinischen Praxisaufenthalt absolviert. Vor allem das Thema Ernährung müsse als erstes angegangen werden.

Noch immer sterben jedes Jahr Kinder in den indigenen comunidades im Norden Saltas an der Kombination von Mangelernährung und Durchfallerkrankungen. Dies geschieht vor allem in der Regenzeit im Januar und Februar, wenn die Belastung durch Krankheitserreger hoch ist. Die Wasserkrise scheint im dritten und besonders extremen Dürre-Sommer Anfang 2023 auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt. Das betrifft nicht nur die indigene Bevölkerung Saltas, sondern alle Menschen in der Region, die in prekären Konditionen leben und von den staatlichen Institutionen im Stich gelassen werden. Auch die Criollo-Bevölkerung – Nachfahren der aus Europa eingewanderten Siedler*innen – kämpft um den Zugang zu grundlegenden Infrastrukturen wie Trinkwasser, Elektrizität und sichere Landtitel. Die Konstruktion der indigenen Bevölkerung als alleiniges Opfer sehe sie daher kritisch, betont Gorgal.

Zugleich muss jedoch deren besondere Situation in den Blick genommen werden. Viele der Menschen aus den indigenen comunidades im Norden Argentiniens sind mit einem radikalen und plötzlichen kulturellen Wandel durch die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft und den Verlust des Waldes als Subsistenzgrundlage konfrontiert. Die Veränderung in Lebensweise und Ernährung, die damit einherging, bildet den Hintergrund der Gesundheitskrise, die die Menschen in Tartagal und im Umland täglich begleitet.

Entlang der Ruta 86 und in den barrios, in denen Araceli Gorgal unterwegs ist, um den Gesundheitszustand in den comunidades zu dokumentieren, sehe sie viele Kinder mit Übergewicht und gleichzeitig Symptome fortschreitender chronischer Unterernährung. Dies sind überregionale Phänomene von Armut und eines grundlegenden Nährstoffmangels, der oft mit dem übermäßigen Konsum von fett-, zucker- und kohlehydratreicher Ernährung zusammenfällt. „Erst nehmen sie uns das Land weg und jetzt killen sie uns mit Zucker“, so formuliert es Lucy Gutierrez. Die Folgen zeigen sich in einer starken Zunahme von Diabetes Typ 2 und Entzündungen des Verdauungstraktes. Dahinter stehen andere Prozesse wie die Zunahme von häuslicher Gewalt, Schwangerschaften bei Teenagern und eine Welle von Alkohol- und Drogenkonsum, die viele der Jugendlichen mit sich reißt.

Die Regierung von Präsident Fernández befindet sich in einer Zwangssituation

Die Provinz beschränkt sich vor allem darauf, Symptome zu bekämpfen. Lastwagen mit Trinkwasser und Nahrungspaketen rattern über die Landstraßen, um die Grundversorgung der ärmsten Teile der Bevölkerung sicherzustellen. In umgekehrter Richtung werden die gemästeten Rinder des Agrarkonzerns Desdelsur tagtäglich in Richtung Schlachthof abtransportiert. Während der Erntezeit verlassen mit Sojabohnen gefüllte LKWs bei Tag und bei Nacht diese Zone. Ein hochentwickelter und technisierter Agrarsektor produziert hier Proteine für den Weltmarkt, während der Hunger in der argentinischen Bevölkerung allein zwischen 2019 und 2021 um 30 Prozent zugenommen hat. 43 Prozent der Argentinier*innen leben unter der Armutsgrenze. Hier im äußersten Norden des Landes fallen diese immanenten Widersprüche des argentinischen Rohstoff-Exportsystems besonders krass ins Auge.

Die peronistische Regierung von Alberto Fernández befindet sich in einer Zwangssituation. Eine Inflation von 104 Prozent und die erdrückende Dollar-Schuldenlast machen es nicht leichter, ein Agrarsystem zu reformieren, das sich so effizient zur Beschaffung von Devisen ausnutzen lässt. Zum anderen zementieren die seit jeher konservativen lokalen Machtstrukturen die eklatanten Mängel in der strukturellen Versorgung und die soziale Ungleichheit.

Der durch die Dürre verursachte Einbruch der Agrarexporte in der aktuellen Saison zeigt jedoch die Fragilität eines solchen Entwicklungsmodells auf. Eine systematische Förderung der kleinbäuerlichen Produktion, öffentliche Investitionen und die Eindämmung der ökologischen und sozialen Lasten durch die industrielle Landwirtschaft wären dringend notwendig, um den multiplen Krisen im Chaco Salteño zu begegnen. Die Kontinuität der kolonialen Enteignung der ursprünglichen Bevölkerung der Region und die historischen Widersprüche in der argentinischen Klassengesellschaft wären damit jedoch noch lange nicht aufgelöst.

„Wir dekolonisieren die Technologie“

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Kenntnisse, die ermächtigen Carlos Doviaza gibt eine Fortbildung zu geografischen Informationssystemen (Foto: Carlos Doviaza)

Wie ist allgemein die rechtliche Situation indigener Gebiete in Panama heute?

Es gibt zwei Arten offizieller indigener Gebiete: Neben den comarcas, die meist den Status von Provinzen haben, gibt es seit 2008 so genannte Kollektivgebiete, durch die auch indigene Gemeinschaften außerhalb der comarcas anerkannt werden.
Die Behörden auf Gemeinde- und Landesebene haben trotzdem immer noch die Vorstellung, dass es zwar indigene Gemeinschaften gibt, aber kein indigenes Land. Bis zur Erlangung eines Landtitels haben Kollektivgebiete keine Rechtssicherheit. Die Gemeinschaften legen vor Ort ihre Wege an, aber das bedeutet nicht, dass sie von nicht-indigenen Menschen respektiert werden. Selbst in der comarca der Emberá und Wounaan gibt es jetzt ein Problem mit Invasionen. Wenn die Gemeinschaften nicht organisiert sind und sich jede nur ihrer eigenen Landwirtschaft, ihrem Überleben widmet, wird die territoriale Grenze immer bedroht sein.

Sie setzen moderne Technik wie Drohnen ein, um indigene Gebiete besser zu schützen. Was ist die Idee dahinter?

Meine Arbeit besteht darin, die technischen Fähigkeiten der indigenen Gemeinschaften zu stärken. Es begann 2015 mit einem Projekt zur Waldüberwachung per Fernerkundung, das die Dachorganisation der indigenen Gemeinschaften in Panama (COONAPIP) gemeinsam mit der Welternährungsorganisation (FAO) entwickelt hat, um für die in COONAPIP organisierten Gruppen eigene Techniker auszubilden. Das waren damals acht Personen, darunter ich.
Die FAO schulte uns im Umgang mit Drohnen, GPS und geografischen Informationssystemen, in der Erstellung von Karten und in der Satellitenüberwachung. So können wir indigenen Autoritätspersonen Werkzeuge an die Hand geben, wenn sie illegalen Holzeinschlag, Abholzung, Brandrodung usw. anzeigen. Die staatlichen Behörden wie das Umweltministerium und die Staatsanwaltschaft schenken diesen Beschwerden leider keine Beachtung, wenn sie nur mündlich vorgebracht werden. Ziel war es also, diese Lücke jeweils durch einen technischen Bericht mit Koordinaten, Drohnenfotos und Karten zu schließen, den die Autoritätspersonen bei der Anzeige von Umweltverbrechen den Regierungsbehörden übergeben können.

Wie sieht eine typische Situation vor Ort aus, wenn Sie hinkommen?

Panama ist nicht wie Brasilien, Ecuador oder Peru, wo bei illegalem Holzeinschlag Zerstörung in großem Ausmaß herrscht. Hier geht es eher um Holzdiebstahl, bei dem man keine großen Schäden am Wald bemerkt. Aber wenn wir unsere Satellitenkarten betrachten, kann man die Spuren oder Narben der Veränderung der Waldbedeckung sehen.
Vor einigen Wochen waren wir etwa in einer Wounaan-Gemeinschaft namens Aruza in der Provinz Darién. Dort lief bereits ein Verfahren zur Erlangung eines offiziellen Landtitels, aber etwa 70 Siedler kamen, haben sich einen Anwalt genommen und ausgenutzt, dass die indigene Seite einige Verfahrensschritte ausgelassen hatte. So konnten sie das Verfahren letztes Jahr stoppen, sich Land aneignen und Wald abholzen, sogar mit Genehmigung vom Ministerium.
Die Mitglieder der Gemeinschaft meinten, nichts gegen die Abholzung unternehmen zu können, da die Siedler Besitzrechte hätten und die lokalen Behörden sie nicht unterstützten. Wir sind also zu dem betreffenden Gebiet hin, haben die Drohnenflüge programmiert und durchgeführt (die Drohne überfliegt dabei nach einem bestimmten Muster das Gebiet und macht Fotos, die später zu einer größeren Satellitenkarte zusammengesetzt werden, Anm. d. Red.). Dadurch haben wir gemerkt, dass es bei der Abholzung mehrere Gesetzesverstöße gab, Mindestabstände zwischen gefällten Bäumen oder zu Wasserläufen wurden etwa nicht eingehalten. Wir fuhren weiter auf einem anderen Weg, der gar nicht mehr zu dem genehmigten Gebiet gehörte, und auch dort war abgeholzt worden. Die Siedler mit ihrem Anwalt waren ziemlich überrascht und sehr erschrocken über diese Situation. Sie erschrecken mittlerweile, sobald sie mich nur sehen, weil sie unsere Fähigkeiten kennen, solche Situationen zu analysieren. Die Gemeinschaft von Aruza wehrt sich jetzt mit rechtlichen Mitteln, im Moment muss ich die Karten für die Staatsanwaltschaft zusammenstellen, damit diese den Fall untersuchen kann. Sie sieht uns als sehr wichtig an für all diese Situationen, in denen es um Holzeinschlag geht.

Wie hat die Regierung auf Ihre Arbeit reagiert?

Für das anfängliche Projekt bekam COONAPIP eine Förderung direkt von der FAO. Als die Regierung sah, dass es Gemeinschaften gibt, die sich mit Wissen zu GPS und Drohnen ermächtigten, blockierte sie die Finanzierung für die FAO. Dafür gibt es zwar keine Beweise, aber ich habe keine Zweifel daran. Als die FAO keine Mittel mehr zur Verfügung stellte, wurde die Finanzierung sehr bürokratisch. Das Team der acht Techniker löste sich auf, nur ich und mein Partner Eliseo Quintero blieben übrig. Wir haben dann später GeoIndígena gegründet, selbstständig weitergearbeitet und dafür von der Rainforest Foundation Mittel bekommen, um die Arbeit mit den Gemeinschaften der COONAPIP weiterzuführen und das erworbene Wissen nicht zu verlieren.

Der Regierung ist es letztlich aber nicht gelungen, Ihre Arbeit zu unterbinden…

Ein Schlüsselereignis war 2018 ein Zusammentreffen mit dem Umweltminister Emilio Sempris, nachdem Hunderte Wounaan aus dem Osten der Provinz Panamá, einem sehr konfliktreichen und unzugänglichen Niemandsland, den Eingang des Umweltministeriums blockiert hatten. Es ging um Protest gegen das Eindringen von Siedlern in ihr Gebiet und darum, dass das Ministerium die Genehmigung für ihren Landtitel erteilen sollte. Den Titel vergibt die Nationale Landbehörde ANATI, aber das Umweltministerium muss dazu zunächst eine Stellungnahme abgeben, da sich fragliche Gebiete häufig mit einem Schutzgebiet überschneiden. Seit 2011 hatte sich das Ministerium einfach nicht mehr geäußert, sondern immer nur verschoben, alles stagnierte. Schließlich sagte der Minister, „Okay, lasst uns mit den indigenen Völkern reden, um zu sehen, was sie wollen”. Er setzte sich mit den Autoritätspersonen der COONAPIP zusammen, denn er wollte wissen, welche indigenen Gebiete sich mit Schutzgebieten überlappten. Ich zeigte es ihm mit meinem Computer, aber er begann mir lauter Fragen zu stellen: „Zeigen Sie mir die Wassereinzugsgebiete auf nationaler Ebene”, „Zeigen Sie mir das Wassernetz”, „Wo sind die Provinzen?” Ich zeigte ihm alles und er wartete darauf, dass wir irgendeinen Fehler machen würden, was aber nicht passierte. Schließlich sagte er: „Ok, wir werden die Resolution unterschreiben”, in der er zwar noch nicht die finale Zustimmung gab, aber die Analyse der Akten zur Landtitelvergabe anordnete, was den jahrelangen Stillstand auflöste. Der Minister bat mich noch um meinen Lebenslauf, um zu sehen, ob ich für ihn arbeiten könnte – der Staat will dich auf seine Seite ziehen, damit du nichts tust. Damals hat die Regierung verstanden, dass die indigenen Gemeinschaften Spezialisten haben, die sich um die Landfrage kümmern, auch vor Ort zur Waldüberwachung.

Hat dies auch den indigenen Autoritätspersonen gezeigt, wie wichtig Ihre Arbeit ist?

Ja, bei diesem Treffen haben sie erkannt, wie wichtig es ist, ein technisches Team an der Seite zu haben, wenn es um Landfragen geht. Das war ein wichtiger Meilenstein für uns als Techniker, denn am Anfang wurden wir von unseren Autoritätspersonen nicht anerkannt, wir waren nur Teil eines Projekts. Seitdem wissen sie unsere Fähigkeiten zu schätzen und rufen uns, damit wir ihnen sagen, was wir bei der Territorialverteidigung tun können. Wir als Jugend haben uns der Technologie ermächtigt. Sehr wichtig bei all dem ist aber: Auch wenn ich technisch versiert bin, muss ich politische Fähigkeiten im Umgang mit den traditionellen Autoritätspersonen haben.

Kam es bei Ihrer Arbeit schon zu riskanten Situationen?

Wir waren einmal für technische Begleitung im Kollektivgebiet einer anderen Wounaan-Gemeinschaft unterwegs – Majé Chimán im Osten der Provinz Panamá – das die lokale Gemeindeverwaltung aber nicht anerkannte. Sie sah sich befugt, einen Teil des Landes an einen Siedler zu vergeben, ohne das Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung der indigenen Gemeinschaften zu achten.
Man gelangt nur mit dem Boot dorthin, es sind zwei, drei Stunden von der Panamericana aus. Wir stiegen arglos in das Boot des Gemeindevertreters ein und fuhren los. Während der Fahrt fragten sie uns aus: „Wer seid ihr eigentlich? Und wie viele seid ihr?”. Ich dachte mir, es ist zweifelhaft, wenn man mich so etwas mitten im Nirgendwo fragt. Wir sagten dann, dass wir insgesamt 40 Leute seien, die in ständigem Kontakt stehen. Dann gaben sie Ruhe. Aber wenn ich ihm gesagt hätte, dass in dem Moment nur Eliseo und ich diese Arbeit machten? Sie hätten uns wohl etwas angetan, denn beim Thema Land verstehen sie keinen Spaß.
Nach unserer Ankunft konnten wir den Siedler dabei aufnehmen, als er sagte: “Dieses Land gehört niemandem, der Bürgermeister hat es mir gegeben und es kann nicht sein, dass man mich wegholen will, nur weil diese Indigenen hier sind“. Für ein Treffen mit Vertretern des Ministeriums und des Bürgermeisters haben wir dann schnell ein Video vorbereitet und damit gezeigt, wie der Siedler die Behörden einbezogen hat und dass diese verantwortlich sind. Sie waren sehr beeindruckt, dass wir so schnell ein Video vorbereiten konnten, denn sie dachten immer noch, dass die indigenen Gemeinschaften keine wesentlichen Fähigkeiten haben, um so einer Situation gegenüberzutreten.

Sehr viel scheint von Ihnen und Ihrem Team bei GeoIndigena abzuhängen. Geben Sie Ihre Fähigkeiten auch weiter?

Ja, wir wollen sie an Menschen vor Ort weitergeben, damit sich das von selbst trägt. Vor einem Jahr hing noch alles von uns ab. Wir machten Schulungen. Inzwischen gibt es etwa im Volk der Naso ein eigenes technisches Team. Das Führungsgremium der Naso kümmert sich um die interne Ausbildung und Logistik, und wir als GeoIndígena bilden neue Ausbilder aus. Im Moment machen wir hauptsächlich Bürokram, aber von Zeit zu Zeit gehen wir auch ins Feld.

Gibt es ähnliche Initiativen auch in anderen Ländern?

Ich war beispielsweise mehrmals im Petén, Guatemala, und habe dort Erfahrungen mit Gemeinschaften (von der Asociación de Comunidades Forestales de Petén, Anm. d. Red.) ausgetauscht, die über Waldkonzessionen verfügen. Dadurch können sie den Waldüberwachern ein Gehalt zahlen. In Panama ist dies nicht der Fall; wir sind auf internationale Zusammenarbeit angewiesen.Im Moment teilen wir unser Wissen mit dem Volk der Miskito in Honduras und dem Volk der Mayangna in Nicaragua. Für die Arbeit dort bekommen wir Mittel von der Ford-Stiftung. Wir wollen, dass GeoIndígena die regionale Plattform für Wissensaustausch in Mittelamerika wird. Die indigenen Gemeinschaften brauchen diese Stimme der Ermutigung, dass wir etwas tun und uns selbst mit Technologie befähigen können. Mit den Worten eines befreundeten Anthropologen, wir dekolonisieren die Technologie.

Der Nicaragua-Kanal dient als Drohkulisse

„Der größte Pirat und Vaterlandsverkäufer – Daniel Ortega“ Protest gegen den interozeanischen Kanal in Nicaragua (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr, CC BY 2.0)

Es hat lange gedauert: Zwischen 2013 und 2020 hatten die vom interozeanischen Kanal betroffenen afro-indigenen Behörden der Territorialregierung der Rama und Kriol sowie der Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields (Indigenen Gemeinschaft der Schwarzen Kreolen von Bluefields) bereits 19 Schutzanträge gestellt, von denen keiner vom nicaraguanischen Obersten Gerichtshof (CSJ) bearbeitet wurde. Danach wurde der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) aktiv. Bei der ersten Anhörung am 2. Februar 2023 bewies Nicaraguas Regierung durch ihre Abwesenheit abermals, dass die Forderungen der indigenen Gemeinschaften sie nicht interessieren, deren Klage verhandelt wurde. Der nicaraguanische Staat hat auf die Aufforderung des IACHR nicht reagiert und zu der Anhörung nicht einmal eine*n Bevollmächtigte*n entsandt.

Die Klage bezieht sich auf die fehlende Zustimmung seitens der indigenen Gemeinschaften zur Konzessionierung ihres Landes für den Bau eines interozeanischen Schifffahrtskanals (siehe LN 337/338). Obwohl 52 Prozent der Strecke des interozeanischen Kanals durch ihre Gebiete verlaufen würden, habe die Regierung sie nicht konsultiert. Weder zu dem Zeitpunkt, als sie im Juli 2012 das Gesetz 800 über die rechtliche Regelung des Kanals und die Einrichtung einer Kanalbehörde verabschiedete, noch ein Jahr später, als sie die Konzession für den Bau und die Verwaltung des Projekts an den chinesischen Investor Wang Jing für einen Zeitraum von bis zu 100 Jahren vergab, so die Kläger. Den Plänen nach soll der Kanal im Süden des Landes das Karibische Meer mit dem Pazifischen Ozean verbinden.

Der Fall ist ein beredtes Beispiel für die Schwerfälligkeit des interamerikanischen Systems, denn die Klage wurde bereits 2014 bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) eingereicht, da diese nach der Amerikanischen Konvention für Menschenrechte vor dem IACHR allein klagebefugt ist. Von neun indigenen Rama- und Kriol-Gemeinden sowie der Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields eingereicht, verweist die Klage auf die Verletzung der Eigentumsrechte, der politischen Rechte, des gleichen Schutzes vor dem Gesetz, des Rechtsschutzes und -garantien sowie des Rechts auf eine gesunde Umwelt.

„Die Verantwortlichen der Territorialregierung der Rama-Kriol hatten seinerzeit angezeigt, dass der Staat Nicaragua den Präsidenten der Regionalregierung kooptiert und ihn gezwungen hat, ein vermeintliches Abkommen mit der Kanalbehörde zu unterzeichnen, das ihr unrechtmäßig einen unbefristeten Pachtvertrag über 263 Quadratkilometer Land im Herzen ihres angestammten Territoriums einräumt”, so die Anwältin María Luisa Acosta vom Zentrum für Rechtshilfe für indigene Völker (CALPI), die die Opfer vertritt. Die Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields warf der Regierung unter anderem vor, dass der nicaraguanische Staat eine Parallelregierung zu der von der Gemeinschaft rechtmäßig gebildeten Regierung eingesetzt und den Prozess der Rechtstitelvergabe über ihr angestammtes Territorium abgebrochen hat. Zudem sei Dolene Miller, ihre Vertreterin in der Conadeti (Nationale Kommission für Demarkation und Titulierung), rechtswidrig entlassen und nur sieben Prozent des beanspruchten Landes der Parallelregierung übertragen worden, so dass die restlichen 93 Prozent außen vor blieben.

Miller erklärte vor dem IACHR, dass der nicaraguanische Staat ihrer Gemeinde durch ihre willkürliche Entfernung aus ihrem Amt einen enormen Schaden zugefügt habe, da diese seitdem vom Prozess der Gebietsabgrenzung abgekoppelt sei. Diese Situation habe letztlich zur Abtrennung ihrer angestammten Gebiete geführt. Darüber hinaus beklagte sie sich über Repression: „Bei mehreren Gelegenheiten wurde ich Opfer von Verfolgung und mein Haus war von der Polizei umstellt. Wir mussten uns bei vielen Gelegenheiten mit verschiedenen politischen Stellen auseinandersetzen; in meiner Stadt Bluefields wurde uns auf Anordnung politischer Organe der Zutritt zu einigen öffentlichen Gebäuden untersagt und ehrlich gesagt fühlen wir uns nicht mehr sicher.”

Rupert Allen Clair, Führungspersönlichkeit des Kriol-Volkes von Monkey Point, sagte vor dem Gerichtshof aus, dass er vom nicaraguanischen Staat zum Schweigen gebracht worden sei, weil er die Art und Weise der Durchführung des Kanalprojekts kritisiert habe. Gegenüber der Internetzeitung Confidencial betonte Clair, dass die Kanalbehörden zunächst davon gesprochen hätten, die gesetzlich vorgeschriebene Konsultation durchzuführen. „Ich ging dorthin, und als wir (die städtischen Behörden) ihnen unsere Richtlinien vorlegten, sahen sie sich diese an und sagten: ‘Ok, damit werden wir nicht arbeiten’. Sie haben aus den Richtlinien das herausgenommen, was sie wollten, und neue erstellt. Für mich überraschend war, dass das für uns Wichtigste, nämlich die Einbeziehung eines Beraters und eines internationalen Beobachters, gestrichen wurde. Sie wollten nicht, dass wir einen Berater haben, sondern sagten, wir könnten mit einem Berater aus Bluefields zusammenarbeiten, den sie uns zur Verfügung stellen würden”, so Clair.

Seit der offiziellen Bekanntgabe des Kanalprojekts 2013 sind zehn Jahre ins Land gegangen, ohne dass irgendwelche Fortschritte zum Bau dieses Megaprojekts bekannt geworden wären. Experten*innen haben in Zeitungsartikeln wiederholt die fehlende Anwendung einer Klausel des „Kanal-Rahmenabkommens” von Seiten der Regierung gerügt, wonach die Teilprojekte ab dem Zeitpunkt der offiziellen Bekanntgabe der Bauarbeiten innerhalb von sechs Jahren abgeschlossen sein müssen. Neben dem Kanal handelt es sich bei den Teilprojekten unter anderen um zwei Flughäfen, zwei Tiefseehäfen, zwei künstliche Seen, zwei Schiffsschleusen, eine Freihandelszone, umfangreiche Infrastrukturprojekte und Tourist*innenzentren.

Die hochfliegenden Pläne scheiterten jedoch, da sich das Firmenimperium des inzwischen insolventen chinesischen Investors Wang Jing als ein „Geflecht von 23 in der ganzen Welt registrierten Scheinfirmen” erwies „Diese Unternehmen, die über keinerlei finanzielle oder technische Rückendeckung verfügten, wurden nur wenige Wochen vor der Vergabe der Mega-Konzession gegründet”, heißt es in dem im März in Costa Rica vorgestellten Libro de ruta mafiosa. Obwohl das Kanalprojekt in den ersten sechs Jahren nicht wie geplant realisiert wurde, bleiben die Gesetze 800 und 840, das Sondergesetz für die Entwicklung der nicaraguanischen Infrastruktur, des Verkehrs und der Freihandelszonen in Kraft. Es gibt keinerlei Garantien für die Grundbesitzer*innen entlang der Kanaltrasse, denen weiterhin Enteignung und Umsiedlung droht.

Im Gegenteil, die indigenen Gemeinschaften, die sich dem Projekt widersetzen, leben in einem „belastenden Umfeld”, zitiert Confidencial den Experten Pau Pérez Sale. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften seien Opfer der Zerstörung ihres Lebensraums, willkürlicher Entlassungen, Prekarisierung, angstauslösender Maßnahmen, polizeilicher Überwachung und Stigmatisierung wegen der Auswirkungen auf ihre Familien. Es handelt sich um „eine Reihe von kontextuellen Elementen, Bedingungen und Praktiken, die darauf abzielen, den Willen der Opfer oder der Gemeinschaften zu brechen”, so Pérez Sale.

Becky McCray, Vertreterin des Volkes der Rama, erklärte vor dem IACHR: „Wir sind von weit hergekommen, um Gerechtigkeit zu suchen, weil wir sie in Nicaragua nicht haben. Es war ein ständiger Kampf, deshalb bitte ich dieses ehrenwerte Gericht, den Staat Nicaragua aufzufordern, das Regulierungsverfahren (zur Gebietsabgrenzung, Anm. d. Red.) unverzüglich umzusetzen und die Aufhebung des Gesetzes 840 zu fordern, weil die betroffenen Völker nicht konsultiert wurden. Das Gleiche gilt für die Aufhebung der Zustimmungsvereinbarung, durch die sie sich ein Gebiet von 263 Quadratkilometern Land aneignen”.

„Wir sind von weit hergekommen, um Gerechtigkeit zu suchen, weil wir sie in Nicaragua nicht haben“

Anstatt die Annullierung des Projekts geltend zu machen, hat Ortega offensichtlich die sprudelnden Geldquellen im Auge, die sich durch den zunehmenden globalen Rohstoffhunger und sich ausweitenden Handelsverkehr auftun, was dem Projekt noch einmal Auftrieb geben könnte. Er findet daher gute Gründe, die Reanimation des Kanalprojekts in Aussicht zu stellen. Zuletzt im September 2022 versicherte Ortega im Rahmen seiner Rede zum Nationalfeiertag: „Irgendwann wird ein Kanal hier in Nicaragua Wirklichkeit werden.” Zwar räumte er ein, dass „es einen Kanal durch Panama gibt, der erweitert wurde. Aber die Anforderungen des internationalen Verkehrs sind so groß, dass ein Kanal durch Nicaragua notwendig sein wird.” Ortega liegt damit gar nicht so falsch wie es scheint, denn vor dem Hintergrund der steigenden Nachfrage nach kürzeren Transportwegen, neuen Wasserstraßen und zusätzlichen Hafenanlagen für die Beförderung von Rohstoffen kann Ortega die geopolitische Konfrontation zwischen den Großmächten nutzen und den Kanal als alternative Handelsroute ins Spiel bringen. Das hätte nicht nur für die betroffenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften verheerende Folgen, sondern für die gesamte nicaraguanische Bevölkerung, indem grundlegende Gemeingüter des Staates wie der Große Cocibolca-See und unschätzbare Schutzgebiete privatisiert oder zerstört würden. Riesige Landstriche drohen vernichtet zu werden.

Die Konstruktion eines Schifffahrtskanals lastet wie ein Fluch auf der Geschichte Nicaraguas, schon zu Kolonialzeiten hat er eine große Rolle gespielt und Begehrlichkeiten geweckt. Es waren schließlich die Vereinigten Staaten, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Bau eines Kanals verhinderten, da sie kein Konkurrenzprojekt zu dem von ihnen vorangetriebenen Bau des Panamakanals (1904 bis 1914) duldeten.

„Kein Megaprojekt, sondern ein Gigaprojekt“

Worum geht es beim Interozeanischen Korridor?

Der Interozeanische Korridor soll Atlantik und Pazifik durch eine Güterzugstrecke verbinden. Damit wäre ein neuer, schneller Warentransportweg geschafften, der dem Wasserweg des Panamakanals klar überlegen wäre. Ein Schiff braucht dort mindestens eine Woche für die Überquerung. Mit dem Korridor hingegen läge die Transportzeit inklusive Be- und Entladen nach technischen Berechnungen bei nur 14 Stunden.

Eigentlich handelt es sich aber bei dem Projekt um ein Paket von zwölf Megaprojekten, zu denen der Bau von Windparks, der Ausbau zweier petrochemischer Anlagen, eine neue Raffinerie in Dos Bocas (Tabasco) und zehn Industrieparks gehören. In letzteren sollen sich Autofabriken, Mineralaufbereitungsanlagen und maquiladoras (Billiglohnfabriken) aller Art ansiedeln. Hinzu kommen noch die Öko- bzw. Elitetourismusprojekte der multinationalen Konzerne.

Wer profitiert davon?

All diese Projekte gehen an multinationale Unternehmen, die vor allem in den USA ansässig sind. Die mexikanische Regierung bietet ausländischen Investoren Steuerbefreiungen und stellt ihnen auch die nötige Infrastruktur zur Verfügung. Der Interozeanische Korridor ist kein Mega-, sondern ein Gigaprojekt.

Sie bezeichnen den Interozeanischen Korridor als „recyceltes Projekt“, warum?

Konkret wurde das Projekt, das heute den Namen Interozeanischer Korridor trägt, 1996 vom PRI-Präsidenten Ernesto Zedillo vorgestellt. Er nannte es „Programm zur Integralen Entwicklung des Isthmus von Tehuantepec“, was mit dem aktuellen Projekt identisch ist. Mexikos heutiger Präsident Andrés Manuel López Obrador erweiterte das Projekt von 10 auf nun 13 Megastrukturprojekte. Hinzugekommen sind die Windparks sowie Bergbau- und Wasserkraftprojekte.

Hier in Deutschland wird zwar das Megaprojekt Tren Maya (siehe LN 567) langsam bekannter. Wieso ist der Inter­ozeanischen Korridor fast unbekannt?

Der achte Abschnitt des Tren Maya führt von Palenque zum Hafen in Coatzacoalcos an der Atlantikküste. Damit ist er direkt mit dem Inter­ozeanischen Korridor verbunden. Manchmal denke ich, dass der Tren Maya ein Ablenkungsmanöver der Regierung ist. Ich meine damit nicht, dass er keine katastrophale Auswirkungen hat. Schließlich haben die Schäden an den archäologischen Städten, die Abholzung des Regenwaldes und die Zerstörung der unterirdischen Flüsse und Cenoten durch das Zugprojekt auch international Aufmerksamkeit erregt. Aber diese Aufmerksamkeit verdeckt die folgenschweren Interessen hinter dem Interozeanischen Korridor.

Welche Folgen meinen Sie?

Wenn das Gigaprojekt im geplanten Ausmaß fertiggestellt wird, verändert das nicht nur den Isthmus, sondern auch den gesamten Südosten des Landes auf brutale Weise. Der Isthmus von Tehuantepec ist das biologisch vielfältigste Gebiet Mexikos, er vereint alle Klimazonen des Landes bis auf Wüsten und Eiswüsten. Die Region ist der größte Produzent von Wasser und Sauerstoff, indem sie Kohlendioxid auffängt, umwandelt und somit das klimatische Gleichgewicht aufrechterhält. Der Interozeanische Korridor beeinträchtigt nicht nur alle Ökosysteme direkt negativ, sondern wird auf den Südosten Mexikos und den gesamten Planeten nachteilige Auswirkungen haben. Die Verwüstung wird zunehmen und eine brutale Umwandlung der gegenwärtigen Ökosysteme stattfinden.

Welche Probleme sehen Sie neben den schwerwiegenden Folgen für die Umwelt?

Mexiko ist zum einen das Land mit der fünftgrößten biologischen Vielfalt der Welt. Zum anderen steht es im Ländervergleich an sechster Stelle bei der kulturellen Vielfalt, also der Anzahl indigener Völker mit eigener Kultur und Sprache. Innerhalb Mexikos nimmt Oaxaca bei der biologischen und kulturellen Vielfalt den ersten Platz ein. Erstens ist also die Natur direkt betroffen. Zweitens zerstört das Projekt damit auch die Lebensgrundlage der indigenen Gemeinschaften und der Schwarzen Bevölkerung. Es wird also nicht nur einen Ökozid, sondern gleichzeitig einen Ethnozid an 13 indigenen Bevölkerungsgruppen geben, die in der Region leben. Drittens ist die nationale Souveränität bedroht, denn dieser Korridor sichert vor allem die Wirtschaftsinteressen multinationaler Konzerne und die geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten ab.

Warum führt der Ökozid zum Ethnozid?

Ein konkretes Beispiel: An der Pazifikküste im Süden des Isthmus leben die Huave, die Bevölkerungsgruppe ist auch unter dem Namen Mareños bekannt. Sie besteht aus fünf Gemeinden, die vom Fischfang leben. Sie fischen aber nicht auf hoher See, sondern in den zwei Lagunen der Binnenmeere. Diese beiden Lagunen werden sowohl durch das Salzwasser aus dem Meer als auch durch die Flüsse aus dem Chimalapas-Regenwald gespeist. Diese Mischung aus Salz- und Süßwasser verleiht den Lagunen die Eigenschaften eines Mangroven-Ökosystems mit einer immensen Vielfalt an Meeresbewohnern. Die Huave fischen dort mit einem wirklich beeindruckenden traditionellen System und verkaufen Fisch, Garnelen und andere Meeresfrüchte in der Region. Wenn das Megaprojekt zur Modernisierung vom Hafen von Salina Cruz umgesetzt wird, werden Millionen Tonnen von Sand aus der Bucht ausgebaggert, damit große Schiffe in Salina Cruz einlaufen können. Das gesamte marine Ökosystem einschließlich der beiden Lagunen würde sich verändern und das Verschwinden der Huave-Kultur zur Folge haben. Dies ist ein klassisches Beispiel für kombinierten Öko- und Ethnozid.

In der Regenwaldregion Chimalapas leben 13 indigene Gemeinschaften. Hat das Projekt Auswirkungen auf sie alle?

Eigentlich leben mit der Schwarzen Bevölkerung in der Region sogar 14 indigene Bevölkerungsgruppen. Diese Menschen wurden als Sklaven für die Zuckerrohrplantagen nach Coatzalcualcos und Salina Cruz gebracht und sind im mexikanischen Recht bereits als eigene Bevölkerungsgruppe anerkannt. Sie werden jedoch immer noch sehr stark diskriminiert. Auch sie wären betroffen, da sie ähnlich wie die indigenen Gemeinden leben, die seit tausenden von Jahren eine starke Verbindung zur Natur haben, sie betrachten die Natur als Mutter. Und wenn Mutter Erde zerstört wird, werden die Menschen ebenfalls zerstört, sie werden vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage. Außerdem entstehen mit der urban-industriellen Entwicklung zahlreiche soziale Probleme: Alkoholismus, Drogensucht, häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen und Feminizide. Das sind Erfahrungen, die man schon an vielen anderen Orten der Welt mit dieser Form der „Entwicklung“ gemacht hat.

Was können Sie uns über die Militarisierung durch die Projekte sagen?

Der Präsident hat die Verantwortung für Teilstrecken des Tren Maya an die Armee übergeben. Den Interozeanischen Korridor hat er der Marine mit der Begründung überlassen, dass er die Verbindung zwischen zwei Ozeanen herstellt.

Forschende am Observatorium für Geopolitik der UNAM (Nationale Autonome Universität von Mexiko) haben in einer Studie darauf hingewiesen, dass der Isthmus von Tehuantepec das am stärksten militarisierte Gebiet des Landes ist. Dort ist mehr Marine, Armee und Nationalgarde präsent als in den Hauptgebieten der Drogenkartelle und sogar mehr als an der Grenze zu Guatemala und Belize.
Seit 2018, als der Interozeanischen Korridor wiederbelebt wurde, sprechen wir in der Region von einer „grünen Mauer”. Diese Mauer ist nicht grün, weil sie ökologisch ist, sondern weil das Militär mit ihren grünen Uniformen vor Ort ist, um Migrant*innen aufzuhalten. Das Militär werde diese mit allen Mitteln stoppen, hat López Obrador seinem US-Amtskollegen Biden versprochen. Abgesehen von der Abschreckung durch das Militär bietet das Giga-Strukturprojekt den Migrant*innen 30.000 Arbeitsplätze an, um sie in der Region zu binden. Das Versprechen, Arbeitsplätze in einer armen Region an Migrant*innen zu vergeben, wird außerdem die Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung schüren.

Wie sehen Sie die Region in 10 bis 15 Jahren?

Ich sehe die Region und besonders den Isthmus von Oaxaca im Kampf und im Widerstand. Denn der Isthmus hat seit Jahrhunderten, in spanischer und sogar in vorspanischer Zeit organisierten Widerstand gegen Eroberung und Kolonisierung geleistet. Auch 1996 gab es gegen das Projekt von Zedillo einen sehr gut artikulierten, kongruenten Widerstand. Ich glaube also, dass sich die Region auch in Zukunft im Kampf um eine Neuordnung befinden wird.

Eine traditionelle Form des Kampfes in der Region sind Straßenblockaden. Stellen Sie sich vor, dass die indigenen zapotekischen Genoss*innen aus Donaji oder Juchitán die interozeanischen Züge blockieren könnten. Dabei würde der Weltkapitalismus jede Minute Geld verlieren und wird versuchen, den Protest dem Erdboden gleichmachen. Deshalb müssen wir sehr wachsam und solidarisch mit der gesamten Bewegung sein.

Protestkarawane „El Sur Resiste“ – „Der Süden leistet Widerstand!“

Vom 25. April bis 5. Mai 2023 laden der landesweite indigene Kongress CNI und der indigene Regierungsrat CIG zu einer Rundreise in die vom Tren Maya und dem Interozeanischen Korridor betroffenen Gebiete im Südsüdosten Mexikos ein. Die internationale Karawane „Der Süden leistet Widerstand!“ soll die indigenen, kleinbäuerlichen, feministischen, gewerkschaftlichen und zivil­gesellschaftlichen Organisationen, die sich im Widerstand gegen verschiedene Formen von Raub und Enteignung durch Staat und globales Kapital befinden, besuchen und vernetzen. Zum Abschluss der Rundreise wird es am 6. und 7. Mai im zapatistischen Caracol Jacinto Canek in San Cristóbal ein internationales Treffen geben, um sich über Schmerzen und Hoffnungen sowie entwickelte Strategien auszutauschen. Das Ziel ist es, von Kämpfen in anderen Regionen zu lernen und starke weltweite solidarische Netzwerke des Widerstands und der Rebellionen zu knüpfen. Mehr Infos zur Karawane gibt es auf den Twitter-Kanälen von TrenMayaStoppen und AgRecherche sowie auf deinebahn.com und netz-der-rebellion.org/aktuelles/. // Recherche-AG

IN GUNA YALA

Mola-Kunsthandwerk der Guna Tradition und Tourismus verbinden – eine der Herausforderungen für autonome indigene Strukturen (Foto: Lupo Cordero für Proyecto Nativo)

In Panama gibt es sechs indigene Autonomiegebiete, die zusammen etwa ein Viertel des Staatsgebietes einnehmen. Drei davon gehören zur Gruppe der Guna, je eines zu den Gruppen der Ngäbe-Buglé, der Emberá und der Naso. Das älteste Autonomiegebiet ist Guna Yala, ein etwa 200 Kilometer langer Streifen der karibischen Küste Panamas mit vorgelagerten Inseln, der erst seit einigen Jahren durch eine Straße mit dem Rest des Landes verbunden ist.

Bereits Kolumbien hatte 1870 ein ausgedehntes Autonomiegebiet der Guna anerkannt, dessen Status aber mit der Unabhängigkeit Panamas 1903 zunächst wieder erlosch. Im Jahr 1925 gab es nach territorialen Konflikten sowie Diskriminierungen und Misshandlungen seitens der vor Ort stationierten Polizeikräfte einen bewaffneten Aufstand der Guna, der schließlich zur offiziellen Anerkennung des Guna-Territoriums führte.
Kern der Selbstverwaltung sind zwei Versammlungen: der allgemeine, politische Kongress (Congreso general guna, CGG) sowie der spirituelle Kulturkongress (Congreso general de la cultura guna). Der CGG besteht aus Abgesandten aller Gemeinden und trifft politische Entscheidungen, die für alle Gemeinden verbindlich sind. Jedem Dorf sowie dem Gebiet als Ganzes stehen ein Sagla bzw. mehrere Saglagan (Plural) als politische und spirituelle Autoritäten vor. Der CGG hat einen Generalsekretär sowie verschiedene Sekretariate, etwa für die Verteidigung des Territoriums, für Information oder für Tourismus. Jede Gemeinde hat zusätzlich eigene Regeln.

Wirtschaftliche Interessen haben wie in vielen indigenen Gebieten stets zu Konflikten mit Staat und Unternehmen geführt. Ihre Autonomie und die geographische Abgeschiedenheit haben den Guna bisher jedoch dabei geholfen, sich erfolgreich gegen Großprojekte wie Staudämme oder Minen zu wehren. Herausforderungen für die Autonomie gibt es trotzdem. Der Bau der ersten Straße in das Gebiet wurde von den Einheimischen etwa mit dem Ziel vorangetrieben, Panama-Stadt schneller erreichen zu können. Mit der Straße kamen viele Tourist*innen, die zwar neue Verdienstmöglichkeiten, aber auch Müll und Umweltschäden brachten und auch die traditionelle Selbstversorger*innenwirtschaft störten. Ein Gleichgewicht zwischen Landwirtschaft und Tourismus wurde hier nicht von Anfang an mitgedacht.

Der Staat investiert zwar in Infrastruktur wie Schulen, Krankenstationen oder Wasserleitungen, für Projekte zur Stärkung ihrer Autonomie oder Kultur sind die Guna jedoch meist auf das Einwerben zusätzlicher Mittel angewiesen, etwa bei Entwicklungsbanken oder Botschaften. Gelungen ist ihnen dies etwa für die derzeit ablaufende, schrittweise Einführung zweisprachigen Unterrichts an den Schulen.

Junge Guna nehmen die Struktur des CGG zuweilen als anfällig für Korruption wahr, zudem sind politische Entscheidungsfindungen bei den Guna traditionell Männersache. Es werden Stimmen laut, die dies nicht mehr als zeitgemäß empfinden. Der Wandel braucht vermutlich etwas Zeit.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

MAPUCHE UND INDIGENE AUTONOMIE

Foto: Periódico Resumen via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Innerhalb der Mapuche-Gemeinden auf chilenischem Staatsgebiet gibt es verschiedene Konzepte rund um das Thema Autonomie. All diese können jedoch aufgrund der restriktiven chilenischen Gesetzgebung, die jeden Anflug von Autonomie im Rahmen eines zentralistischen Einheitsstaates unterdrückt, in der Praxis nur schwer umgesetzt werden. Da es keine einheitliche Vertretung der Mapuche gibt, gibt es auch keinen Konsens wie Autonomie umgesetzt werden sollte.

Im Rahmen der Verfassungsdebatte wurde auch in der chilenischen Öffentlichkeit über das Konzept der Plurinationalität diskutiert. Diese Debatte war jedoch für viele Mapuche lebensfern und wurde darüber hinaus an den Wahlurnen abgelehnt. Das Konzept stellte lediglich einen institutionellen Ausweg dar, um das Recht der indigenen Bevölkerungen anzuerkennen, ihr Schicksal als „Nation“ zu bestimmen.

Ein weiterer Vorschlag stammt von der Organisation Wallmapuwen, die in der Vergangenheit versucht hat, sich als politische Partei zu etablieren. Wallmapuwen schlägt regionale Autonomien vor, in denen die Mapuche auf der Grundlage von Regionalparlamenten vertreten sein könnten. Der Versuch eine politische Kraft zu werden scheiterte jedoch.

Gänzlich außerhalb staatlicher Institutionen verfolgen Organisationen wie die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM) de-facto-Landrückgewinnungs-Prozesse mittels Besetzungen von angestammten Territorien, die von Unternehmen bewirtschaftet, bzw. von Siedlern bewohnt waren. Dieses Vorgehen bedeutet, über die Ausübung „territorialer Kontrolle“, das Land in einen produktiven Raum zu verwandeln, der auf den Traditionen der Mapuche basiert und somit die „Entwicklung“ des Territoriums neu definiert. Zusammengefasst argumentiert die CAM, dass es ohne Territorium keine echte Autonomie geben kann.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

KRIEG UM LAND VERSCHÄRFT SICH

Proteste gegen die von Siedlern provozierten Brände in dem Biosphärenreservat, Foto: Jorge Mejía Peralte (CC BY 2.0)

Die Küstenregion der nicaraguanischen Karibik wird von 304 Gemeinschaften bewohnt: den indigenen Mayangna, Miskito, Rama, Garífuna und afrodescendientes, deren Vorfahren aus Afrika verschleppt wurden. Sklav*innen, die sich während des transatlantischen Sklavenhandels nach Schiffshavarien und Sklavenrevolten auf der Karibikinsel Jamaika an die Küste retteten. 2002 verabschiedete das Parlament unter der liberal-konservativen Regierung von Enrique Bolaños das Gesetz 445, wodurch 36.000 Quadratkilometer Land in den Besitz der indigenen Gemeinschaften übergingen, die sich fortan durch eigene lokale Autoritäten selbst verwalteten. Zu dem Gebiet zählen die Biosphärenreservate Bosawás im Norden, das die größten, noch intakten Waldflächen des Landes beherbergt, und Indio Maíz Río San Juan im Süden. Die UNESCO verlieh Bosawás 1997 und Rió San Juan 2003 den Status als Biosphärenreservat, die seitdem zum Welterbe gehören.

Seit mehr als 10 Jahren leiden die indigenen Gemeinschaften unter der Invasion ihres Territoriums durch Siedler*innen, die sich mit Waffengewalt ihr Land aneignen. Hauptaktivitäten der Siedler*innen sind die Abholzung und Brandrodung der Wälder zur Gewinnung von Weideland und Anbauflächen. Der zerstörerische Umgang mit den Ressourcen der Reservate bedroht nicht nur die Artenvielfalt, sondern hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit der dort lebenden Gemeinschaften. Beispielsweise hat die Nichtregierungsorganisation Proyecto Tapir Nicaragua im Reservat Indio Maíz herausgefunden, dass die Siedler*innen verschiedene Arten von Chemikalien zum Fischen verwenden, wobei giftige Substanzen die Flüsse kontaminieren und über Krustentiere und Fische in die Nahrungskette gelangen. Die Einwohner*innen befürchten langfristige gesundheitliche Folgen wie Krebs, Schädigungen des Gehirns oder Hautinfektionen.

Die Coronapandemie hat die Landnahme in indigenen Territorien verschärft

Selmira Flores, Sozialwissenschaftlerin und Forscherin am Institut für Forschung und Entwicklung der Zentralamerikanischen Universität (UCA), weist in einem Beitrag für die Monatszeitschrift Revista Envío darauf hin, dass zu der ohnehin schon drei Jahre anhaltenden Wirtschaftskrise jetzt noch die Auswirkungen der Corona-Pandemie hinzukämen. „Wir haben festgestellt, dass Kleinbauern und -bäuerinnen ihr Land verkaufen, um Schulden zu begleichen oder um Gesundheitskosten zu decken, wenn sie sich um eine chronische Krankheit oder eine Operation kümmern müssen. Ländliche Familien investieren viel in die Gesundheit, weil das öffentliche System nicht alles für sie löst.” Die Verarmung der Bevölkerung hat sich mit der Covid-19-Krise verschärft und eine massive Bewegung auf der Suche nach Land ausgelöst. Flores zufolge machen sich immer mehr Menschen in dem Glauben auf, es gäbe noch verfügbares Land, wo sie Nahrungsmittel produzieren und Einkommen erzielen könnten. „Aber was es in den Biosphärenreservaten gibt, ist Land, das seit Urzeiten den indigenen Völkern und afrodescendientes gehört, das per Gesetz ‘unveräußerlich, nicht verjährt und unpfändbar’ ist.” Die Landnahme indigenen Gebietes durch die Siedler*innen habe sich jedoch Jahr für Jahr beschleunigt und gehe mit Morden, dem Niederbrennen von Häusern und Parzellen einher − Zerstörungen, welche die indigenen Familien mit nichts zurücklassen.

„Wir müssen verstehen, warum es so viele bewaffnete Menschen gibt”, wird Lottie Cunningham, Miskita und Präsidentin des Zentrums für Gerechtigkeit und Menschenrechte der Atlantikküste Nicaraguas (CEJUDHCAN), in einem Bericht der Online-Zeitung 100%Noticias zitiert. „Das sind keine armen Leute, keine einfachen Bauern. (…) Die meisten Siedler sind ehemalige Militärangehörige, die von Regierungsbeamten unterstützt werden; sie handeln gewaltsam, um ihre Präsenz auszuweiten und indigenes Land zu besetzten.” Cunningham räumt ein, dass sich unter den Siedler*innen möglicherweise auch Familien befinden, die von den Anführer*innen nur angestiftet und missbraucht würden. Dies zu regeln sei aber die Verantwortung des Staates, denn sämtliche Verbrechen blieben bisher straflos.

CEJUDHCAN hat seit 2015 vierzig von Siedler*innen verübte Morde, fünfzig Verletzte, vierundvierzig Entführte und vier Verschwundene in den indigenen Gemeinden sowie tausende Fälle gewaltsam von ihrem Land Vertriebener dokumentiert (Stand Februar 2020). Angaben der Organisation zufolge sind bis März 2020 allein in den Miskito-Gebieten aufgrund der Siedleraktivität 23.243 Hektar Ernten verloren gegangen, was in den betroffenen Gemeinschaften zu einer beispiellosen Nahrungsmittelkrise geführt hat.

„Wir sprechen von Menschen, die sterben, die sich in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft befinden, die nicht schlafen können, die nichts zu essen haben und die Angst haben, angesichts der Möglichkeit bewaffneter Angriffe auf ihre Parzellen zu gehen, um Lebensmittel zu holen. Die größte Angst, die die indigenen Völker haben, ist der Ethnozid”, warnte Cunningham während einer öffentlichen Anhörung zur Untersuchung der Risikosituation der indigenen Miskito-Bevölkerung in der Karibik Nicaraguas, die vom Zentrum für Justiz und Völkerrecht (CEJIL) am 13. März dieses Jahres in der costa-ricanischen Hauptstadt San José veranstaltet wurde.

Allein die Zusammenstellung einiger exemplarischer Ereignisse aus diesem Jahr illustriert eindrucksvoll die existentielle Gefahr, in der sich die indigenen Gemeinschaften Nicaraguas befinden: Am 29. Januar überfielen etwa 80 bewaffnete Siedler*innen eine Gruppe der indigenen Mayangnas, als diese im Biosphärenreservat Bosawás jagten und fischten. Danach drangen sie in das Dorf der Gemeinde Alal ein, wo sie zwölf Häuser niederbrannten und das Feuer auf die Dorfbewohner eröffneten: Sechs Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben.

Am 18. Februar berichtete 100%Noticias über einen Angriff Bewaffneter auf die Gemeinde Santa Clara im Gebiet Wangki Twi Tasba Raya in Waspam, einem von Miskitos bewohnten Gebiet. Gegenüber Voz de América schilderte Susana Marley, indigenes Oberhaupt dieser Gemeinde, einen brutalen Überfall, bei dem eine Familie, die im Fluss badete, unter Maschinengewehrfeuer genommen wurde. Eine Kugel traf eine Jugendliche mitten ins Gesicht und zerschlug ihren Kiefer. „Sie (die Siedler*innen, Anm.d.Red.) haben sich im Bergland niedergelassen und Gemeinschaften mit großen Weideflächen gegründet. Sie nennen ihren Ort Araguas. Von dort aus kommen sie mit ihren Waffen: Sie haben Häuser, Kirchen, Schulen niedergebrannt und Haustiere getötet”, erklärte Marley.

Am 28. Februar beklagte der Menschenrechtsverteidiger Joshwel Martínez einen weiteren Angriff auf die Miskito-Gemeinde Santa Clara. „In den frühen Morgenstunden dieses Freitagmorgens wurde die indigene Gemeinschaft Opfer eines neuen Angriffs, der von den Siedlern mit Kriegswaffen verübt wurde” und versicherte, dass sich die Angreifer*innen wie Paramilitärs verhielten. Mit „Der Krieg hat begonnen” ist auch ein Drohbrief überschrieben, der einen Tag zuvor in der indigenen Miskito-Gemeinschaft in Wisconsin aufgefunden wurde. Am 26. März bestätigten die lokalen Führer der Mayagnas eine Siedler*inneninvasion in der Wasakin-Gemeinde, bei der drei Gemeindemitglieder ermordet und vier durch Schussverletzungen schwer verletzt wurden.

Schon Tausende Indigene wurden gewaltsam von ihrem Land vertrieben

Über das digitale Portal PortaVoz Ciudadano richtete sich Lamberto Chows, indigener Anführer der Gemeinde und Gemeinderichter von Waspam am 12. März mit einem verzweifelten Appell an die internationale Gemeinschaft. „Sämtliche Gemeinden von Waspam werden überfallen. Wir Indigenen können uns nirgendwohin wenden, weil die regionalen Regierungsvertreter und die Polizei die Eindringlinge schützen, die uns töten und unser Land an sich reißen. Wir können nicht einmal pflanzen; wir leben im Chaos und leiden sogar unter Hunger”, sagte Chow.

Angesichts dieser Entwicklung könnten Schicksale wie das der indigenen Sangni Laya-Gemeinschaft zu einem alltäglichen Bild werden: Mit Rucksäcken voller Kleider und Habseligkeiten auf den Schultern, die Kinder an der Hand und ein paar Säcken mit Lebensmitteln flohen am 2. September mehr als dreißig Familien der Sangni Laya im nordkaribischen Twi Yahbra-Gebiet vor der Androhung eines Angriffs durch bewaffnete Siedler*innen.

Juan Carlos Ocampo, Gemeindeführer der Sangni Laya, erklärte gegenüber der Internetzeitung Confidencial, dass die Untätigkeit der Polizeibehörden sowie der regionalen und territorialen Regierung ein Beweis für eine Komplizenschaft des Staates sei. Ihm zufolge gibt es keinen Grund, nicht zu handeln und die Siedler*innen, die in ihr Gebiet eindringen, nicht räumen zu lassen.

Regionale Behörden und die Polizei schützen die Siedler*innen

Neben der ungeheuren humanitären Katastrophe hat die Invasion indigenen Landes auch dramatische ökologische Konsequenzen: Durch die Rodung und Plünderung der Wälder hat eine Verschiebung der Ackerbaugrenze bis weit in die Schutzzonen hinein stattgefunden. Eine vom Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen (MARENA) veröffentlichte Karte zeigt, welches Ausmaß der Verlust an Waldfläche in diesen Gebieten angenommen hat. Die Abholzung der Wälder ist Nicaraguas drängendstes Umweltproblem. Die Waldfläche ist von 76 Prozent im Jahr 1969 auf 25 Prozent im Jahr 2020 zurückgegangen. Selmira Flores findet, dass es in diesem Zusammenhang angezeigt sei, die „Nationale Strategie zur Verringerung der Treibhausgasemissionen durch Entwaldung und Waldschädigung“ einer Überprüfung zu unterziehen. Das Projekt hatte die nicaraguanische Regierung im Juli 2019 beim Kohlenstofffonds der Weltbank zur Förderung eingereicht, für das 55 Millionen Dollar in Aussicht gestellt wurden. Der Fonds ist eine Initiative, der neben Kanada und anderen europäischen Staaten auch Deutschland angehört. Für die Umsetzung des Projekts hat Nicaraguas Regierung 23 indigene Gebiete in der nördlichen und südlichen Karibik ausgewiesen, zu denen auch die beiden Biosphärenreservate Indio Maíz und Bosawás gehören. Für die Regierung scheint jedoch eher der finanzielle Aspekt im Vordergrund zu stehen, als das Interesse an einer Lösung der bestehenden Landkonflikte in den Schutzgebieten, die der Erhaltung dieser wertvollen, ursprünglichen Ökosysteme und Wälder dienen.

Für Selmira Flores geht es bei den Konflikten an der Karibikküste jedoch nicht allein um den Umgang mit Ressourcen. Ihrer Ansicht nach sind es auch kulturelle Konflikte zwischen zwei Weltanschauungen, bei denen es um die gegenseitige Wahrnehmung geht. „Da die Ureinwohner der Karibik ihrer Bevölkerungszahl nach in der Minderheit sind, glauben wir, dass sie nicht denkfähig, dass sie rückständig sind, dass sie faul sind, dass sie gerne leben, ohne zu arbeiten.” Der an jene Vorurteile geknüpfte traditionelle Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft befeuert nicht zuletzt auch die Gewalt in den indigenen Territorien. Ein weiterer grundlegender Widerspruch besteht in der Einstellung zum Besitz: Der indigene Grundbesitz ist Gemeinschaftsbesitz, die größten Landflächen sind kommunal und nicht privat.

Rassismus und Konflikte über unterschiedlichen Verhältnisse zum Grundbesitz heizen die Gewalt an

„Die Konflikte zwischen diesen beiden Nicaraguas werden fortbestehen, solange die offizielle Politik die Kosmovision der autochthonen Völker nicht respektiert, für die nicht so sehr Dokumente und Geschriebenes zählen, sondern mündliche Überlieferung und die in der Gemeinschaft vereinbarten Normen”, so Selmira Flores in Revista Envío.

Gehör finden die Indigenen in ihrer Not bislang nur bei Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen und ihren Organisationen. Diese sind sich einig in der Bewertung der Rolle des Staates, der Polizei, der Justiz, deren Untätigkeit die Präsenz von Siedler*innen und Unternehmer*innen in den indigenen Gebieten weiter fördert und die Korruption unter Staatsbeamt*innen in der Küstenregion deckt, die in die illegalen Aktivitäten und den Verkauf von indigenem Land verwickelt sind.

„IHR TRAUM IST UNSER ALPTRAUM“

Foto: Verena Glass

Der von Brasiliens Präsidenten dem Nationalkonkongress vorgelegte Gesetzesentwurf zur Änderung der möglichen wirtschaftlichen Aktivitäten in indigenen Territorien wurde von Jair Bolsonaro am 5. Februar in einer feierlichen Zeremonie anlässlich der ersten 400 Tage seiner Regierung unterzeichnet. Er bezeichnete das Gesetzesvorhaben als „Traum“. Bisher wurde der Entwurf der Presse nicht übergeben, sondern lediglich an den brasilianischen Nationalkongress weitergeleitet. Die endgültige Genehmigung der Gesetzesvorlage werden die beiden Kammern des Kongresses, Abgeordnetenhaus und Senat, treffen.

Laut Medienberichten sieht der Gesetzentwurf vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Erschließung von Erdöllagerstätten: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei bis zu einem Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden 50 Prozent des Wertes der finanziellen Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gemacht.

Die Reaktion einer der Sprecher*innen der indigenen Gemeinden in Brasilien, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker unterzeichnet hat, gibt der Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölerschließung geht es nur um Konsultationen ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen bei den indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.
Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er sich in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Dazu soll die nun vorgelegte Gesetzesinitiative ihren Teil beitragen, so es nach Bolsonaro geht. Das Agrarbusiness und die Bergbaukonzerne werden den Rest übernehmen.

„UNSERE STIMME NACH EUROPA BRINGEN“

Indigenes Protestcamp 2019 Jedes Jahr findet mit dem Acampamento Terra Livre die größte indigene Versammlung mit tausenden Teilnehmer*innen in Brasilia statt // Foto: Edu Marin / Flickr (CC BY 2.0)

Es sind nun sechs Monate vergangen, seitdem Jair Bolsonaro die Präsidentschaft übernommen hat – hat sich in dieser Zeit die Lebenssituation der Guarani Kaiowá verändert?
Alenir Ximendes: Diese Veränderung findet seit der Regierung des vorherigen Präsidenten Temer statt. Temer hat begonnen, was Bolsonaro jetzt fortsetzt. In den sechs Monaten, in denen Bolsonaro an der Macht ist, haben wir das Gefühl, dass er die Rechte der Guarani Kaiowá zerstört. Und nicht nur unsere Rechte, sondern auch die Rechte der ganzen Gesellschaft mit seinen präsidialen Initiativen zu Bildung, Gesundheit und Altersversorgung.
Janete Ferreira: Die brasilianische Politik war gegenüber indigenen Angelegenheiten niemals wohlwollend. Um etwas zu erreichen, mussten wir indigenen Völker immer Druck auf die Regierungen ausüben und auf die Straße gehen. Auch wenn wir nicht parteipolitisch orientiert sind, sind wir doch ein Volk, das wählt, wir haben Ideen, wir schaffen Neues und wir verteidigen, was uns wichtig ist. Wir machen unsere Politik, die unserer Art zu leben entspringt. Wir sind nicht verpflichtet, die Politik anzunehmen, die von den brasilianischen Politikern kommt, wir haben unsere eigene. Und meistens wird das, was wir wollen, von der brasilianischen Politik nicht akzeptiert, für sie ist das ohne Bedeutung: das Recht auf Land, die Verteidigung der Natur. Sie übersehen dabei, dass wir die Humanität verteidigen, das Leben. Weil ihnen das nichts bedeutet.

Was ist das Ziel Ihrer Reise durch Europa?
A.X.: Wir können uns mit unseren Anliegen nicht an die politischen Repräsentanten wenden, sei es der Präsident, der Gouverneur oder lokale Abgeordnete. Im April sind wir zum jährlichen Protestcamp Acampamento Terra Livre nach Brasília gefahren, wir haben demonstriert, Gespräche mit Politikern geführt und ein gemeinsames Dokument übergeben. Bisher haben wir keine Antwort erhalten, nichts hat sich geändert.
Ende letzten Jahres hat uns eine Delegation der Euopäischen Union besucht. Seitdem haben wir nichts mehr von der EU gehört und es ist kein Bericht erschienen, der unseren Präsidenten unter Druck setzen könnte. Es beunruhigt uns sehr, dass dieser Prozess so langsam ist, denn während wir warten, bleiben die großen Landbesitzer nicht untätig. Wir wollen die Stimme der Indigenen nach Europa bringen, um zu erreichen, dass das Ausland sich ebenfalls dafür verantwortlich fühlt, dass die Rechte der Indigenen in Brasilien respektiert werden.

Denken Sie da zum Beispiel an einen Boykott von brasilianischem Soja, solange die Rechte der Indigenen verletzt werden?
A. X.: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber deutsche Firmen exportieren Pestizide in unsere Region, die in Deutschland verboten sind. Sie sagen, dass sie für den Einsatz nicht verantwortlich sind, aber das stimmt nicht. Denn immerhin geht es um die Gesundheit von Menschen. Sie verkaufen in Mato Grosso, was sie in der EU nicht mehr verkaufen dürfen.
J.F.: Die Politik der Regierung Bolsonaro, jetzt noch mehr Pestizide zu erlauben, wird viele Indigene aus unseren Gemeinden töten. Schon jetzt verursachen die Pestizide viele Krankheiten, auch in meiner Familie: Hautausschläge, Übelkeit und Erbrechen, verschiedene Formen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Und wir wissen nicht, welche Heilmittel gegen die Vergiftungen helfen, deshalb müssen wir dann ins Krankenhaus. Gleichzeitig ist unser Land durch die Ackergifte wie eine Wüste, so dass wir gar keine Heilkräuter mehr sammeln können. Also müssen wir auch bei anderen Krankheiten ins Krankenhaus. Und es gibt in unseren sieben Gemeinden nur ein einziges Auto, das Kranke dorthin bringen kann. Es dauert lange, bis es kommt, wenn wir es brauchen, denn die Gemeinden liegen alle zehn Kilometer von einander entfernt.

Foto: Wolfgang Günzel, Weltkulturen Museum Frankfurt

ALENIR XIMENDES TEHOKÁ UND JANETE FERREIRA
Alenir Ximendes Tehoká (rechts) ist Repräsentantin der vier Versammlungen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul und Lehrerin in der Gemeinde Antonio João. Jenete Ferreira (links) ist eine der Führungspersönlichkeiten der Kaiowá aus Guapo’Y Amombai in Mato Grosso do Sul. Beide sind in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv. 

 

Hat die Repression gegen die indigenen Gemeinden in ihrer Region in den letzten sechs Monaten zugenommen?
A.X.: Die Situation war schon vorher sehr schlecht, es gibt sehr viel Gewalt in unserer Region. Viele Guarani Kaiowá werden ermordet und es wird als „Unfall“ getarnt. Meistens sind es Viehtransporter, die die Menschen auf der Straße einfach überfahren. Das ist wirklich sehr schmerzhaft für die Familien, weil sie die Körper ihrer Angehörigen meistens nicht einmal mehr sehen können und die Blutflecken auf den Straßen nicht beseitigt werden. Sie werden getötet wie Tiere. Und wir haben niemanden, an den wir uns wenden und um Hilfe bitten können.
J.F.: Das sind keine „Unfälle“, in den retomadas (s. Infokasten, Anm. d. Red.) werden viele Menschen aus Hass oder Wut getötet. Wenn sie alleine auf der Straße sind – umso besser. In den Medien heißt es dann, die Opfer wären betrunken gewesen oder hätten Drogen genommen. Aber wenn wir uns die Fälle anschauen, dann ist das sehr unwahrscheinlich. Und die staatlichen Organe interessiert das überhaupt nicht. Ohne konkrete Fakten wie ein Foto oder ein Handyvideo können wir gar nichts machen. Die Polizei untersucht die Fälle nicht, denn meistens sind sie Familienangehörige, Freunde oder sonstwie mit den Mördern verbandelt.

Sie sind beide in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv, wie ist die Situation der Frauen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul?
J. F.: Es ist für Frauen besonders schwierig an den Orten, an denen sie keinen Zugang zu irgendetwas haben, zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung oder Bildung. Dort, wo sie keine Form der Unterstützung erhalten, auch nicht für ihre Kinder. Oft werden sie auch in Krankenhäusern nicht richtig behandelt und sterben. Indigene Frauen aus den retomadas werden als Invasorinnen betrachtet, sie verdienen keine Aufmerksamkeit und keine Unterstützung.
Und viele Frauen verstehen es nicht, für sich zu sprechen, zu diskutieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie bleiben in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrem Haus, sie sprechen nicht öffentlich. Kuñangue Aty Guasu ist eine Gruppe von Frauen, die andere Frauen dabei unterstützt, lauter zu sprechen, Mut zu haben und mit allem fertig zu werden.

Sie leben in zwei unterschiedlichen Regionen, die rund 200 Kilometer von einander entfernt sind. Wie verläuft jeweils in Ihrer Region der Prozess der Anerkennung der indigenen Territorien? Welche Erwartungen haben Sie in Bezug auf die Politik von Bolsonaro, wird er alle Demarkierungen stoppen können?
A.X.: Der Prozess der Demarkierung ist in unserer Region doch schon gestoppt worden! Seit 2005 passiert gar nichts. Und in vielen indigenen Gemeinden ist es genauso. Insofern erwarten wir gar nichts von diesem Präsidenten. Bolsonaro hat ja sehr deutlich gemacht, dass er nicht vorhat, irgendetwas zu tun. Aber das kann sich auch ändern – durch Druck aus dem Ausland. Wenn sie in den ausländischen Medien darüber berichten, wie er die Indigenen behandelt, wie er die Guarani Kaiowá in ihrem eigenen Bundesstaat abwertet, dann ist das schlecht für ihn. Deshalb bitten wir hier um Hilfe.
J.F.: Wir erwarten keinen guten Willen von Bolsonaro, um unser Land zu demarkieren. Die Anerkennung der indigenen Territorien war immer ein sehr langsamer Prozess und so haben sie uns dazu gebracht, selbst die Demarkierung durchzuführen. Eigentlich haben sie die retomadas provoziert. Sie sprechen über „Eindringen in Privatbesitz“, aber eigentlich hätten die Behörden die Probleme mit den lokalen Landbesitzern lösen  müssen. In vielen Fällen haben die Behörden die Konflikte zwischen den Indigenen und den lokalen Landwirten erst entstehen lassen. Sie nähren Streit und Hass in allen nicht-indigenen Familien. Das Interesse an den Demarkierungen ist indigen, es ist kein staatliches Interesse. Das Land sichert unser Überleben, wir nehmen uns nur das, was uns gehört. Wir fordern von diesem Präsidenten, dass er uns endlich die Dokumente über unser traditionelles Land ausstellt.

 

DER RUF DES WALDES

Fotos: Pororoca.red

Es ist Donnerstagabend. Morgen früh beginnt das achte Panamazonische Sozialforum (FOSPA) auf dem Gelände der Universität von Tarapoto, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten Perus. Auf dem Campus wird noch eifrig gewerkelt: Bühnenbauer*innen verlegen Drainagen, streuen säckeweise Sägespäne und schimpfen auf den Klimawandel. Nach zwei Tagen tropischem Dauerregen steht im großen Veranstaltungszelt knöcheltief das Wasser. Techniker*innen verlegen trotzdem mutig Internetkabel. Internationale Freiwillige rücken Plastikstühle zurecht und machen die Scheinwerfer der Hauptbühne wasserdicht. Nun kann es eigentlich losgehen.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, müssen noch die Geister des Dschungels beschwichtigt werden. Es darf auf keinen Fall wieder regnen! Wie gut, dass das diesjährige FOSPA mit einem spirituellen Eröffnungsritual beginnt. Dieses findet nicht im doch recht lauten Tarapoto statt, sondern im benachbarten Dörfchen Lamas. Hier versammeln sich am Freitagvormittag etwa zweihundert Menschen. Die Aktivist*innen kommen aus Peru, aber auch aus den Nachbarstaaten Bolivien oder Brasilien. Und manch einer hat sogar eine weite Reise auf sich genommen und ist aus dem Kongo oder Haiti zum Forum angereist, um den internationalen Erfahrungsaustausch anzuregen. Europäer*innen sieht man hingegen kaum.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, zu der parkähnlichen Plaza, auf der die Zeremonie stattfindet. Es geht einen Hügel hinab und einen anderen wieder hinauf, mit spektakulärem Ausblick auf die nebelverhangenen Bergketten von Lamas. Als alle Kinder der Pachamama (Quechua: Mutter Erde) angekommen sind, werden sie herzlich begrüßt, um dann der Erde ihren Dank auszusprechen. Verbunden natürlich mit der Bitte, für gute Energie und gutes Wetter in den kommenden Tagen zu sorgen.

„Die Politiker sollten den Begriff ‚Gutes Leben‘ nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Und das hat gut geklappt! Auf dem Universitätsgelände von Tarapoto, dem Ort des eigentlichen Geschehens, strahlt am nächsten Morgen die Sonne vor einem wolkenlosen Himmel. Unter dem grünen Blätterdach eines großen Baumes steht ein weißes Zelt. Hier befindet sich das mobile Studio von La Nave Radio, einem Zusammenschluss von Medienmachenden aus dem Amazonasgebiet. In den Sendungen sollen Besucher*innen und Akteur*innen des Forums frei und ehrlich erzählen: was ihnen politisch wichtig ist, warum sie überhaupt hier sind oder welche Konflikte sich gerade in ihren Dörfern und Städten abspielen. La Nave Radio sendet live vom Forum, ist aber auch im Internet zu hören.

Gerade moderieren der Musiker Lucho und der Geschichtenerzähler Leonardo. Beide kommen aus Peru. Ihre Gemeinden Nieva und Nauta liegen am gleichen Fluss, dem Río Marañón, einem Quellfluss des Amazonas. Mit dem Mikrofon kämpfen sie seit Jahren gegen Ölförderung, Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte in ihren Gebieten. Themen, die auch ihren heutigen Studiogästen Domingo und Elvia vom ecuadorianischen Indigenen-Dachverband CONFENIAE unter den Nägeln brennen: „Wir entwickeln gerade das Projekt ‚Cuencas Sagradas‘“, verrät Domingo dem Publikum. Übersetzt heißt das die ‚Heiligen Quellflüsse‘. Für ihren Schutz setzt sich CONFENIAE ein. Denn im Río Napo und Río Marañón liege der Ursprung der gesamten Artenvielfalt der Region. „Alle Bodenschätze dort müssen unangetastet bleiben!“, fordert Domingo. So neu klingt das nicht, sondern eher nach Yasuní. Bereits im Jahr 2010 erklärte sich Ecuador dazu bereit, kein Erdöl im Yasuní-Nationalpark zu fördern. Wenn, so die Bedingung, die internationale Staatengemeinschaft dafür Kompensationszahlungen leistete. Doch am Ende fehlte es an willigen Spendern, um die 3,5 Milliarden Euro zusammenzubekommen. Und die ecuadorianische Regierung vollzog eine Kehrtwende: Zwar wird offiziell weiter das „Buen Vivir“ gepredigt, das „Gute Leben“, bei dem Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Tatsächlich verkauft der Staat jedoch seit 2013 auch Förderlizenzen im Yasuní-Park. Die Indigenen sind nicht länger Verbündete. Domingos Mitstreiterin Elvia ist empört: „Von welchem Guten Leben spricht die Regierung, wenn Mutter Erde zerstört wird? Die Politiker sollten diesen Begriff nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Vor dem Radio-Zelt von La Nave hat sich eine Menge gebildet, die gebannt zuhört. Auch nach der Sendung diskutieren die Zuhörer*innen mit Elvia und Domingo noch lange auf der Straße über den Vorschlag weiter: Würde sich China wirklich auf einen Schuldenschnitt mit Ecuador einlassen und so der Regierung Handlungsspielraum verschaffen? Was ist der im vergangenen Jahr von der UNO geschaffene Klima-Topf wert, wenn am Ende doch niemand einzahlt? Alles Fragen, über die in den kommenden Tagen noch zu reden sein wird.

Starke Frauen: Die Teilnehmerinnen verschaftten sich lautstark Gehör

Rund 1.500 Aktivist*innen, in der Mehrzahl Indigene, haben es zum Sozialforum nach Tarapoto geschafft. Auf die Beine gestellt wird das FOSPA von Vertreter*innen der Basisgruppen und NGOs aus allen teilnehmenden Ländern. Sie schicken Hilfskräfte und bringen so gut wie möglich ihre finanzielle Unterstützung ein. Wen man hier wenig sieht, sind Vertreter*innen aus den größeren Medien. Mitorganisatorin Leslie bedauert das. Zur FOSPA-Pressekonferenz, die im Vorfeld in Lima stattgefunden hat, seien wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ gekommen: „Es ist sehr schwer, andere Medienvertreter für unsere Sache zu gewinnen,“ sagt sie und hofft, dass die peruanische Presse vielleicht in Zukunft auch mal gesellschaftspolitisch ambitioniertere Themen auf die Titelseite bringt, als den täglichen Einheitsbrei aus Korruption und Gewalt in den Städten. Doch bis es soweit ist, bleibt die Berichterstattung des FOSPA vor allem in den Händen von Community-Medien, allen voran La Nave Radio, mit ihren Moderator*innen aus dem Amazonasgebiet.

Im weißen Radiozelt macht derweil die Kolumbianerin Dora Muñoz von den indigenen Nasa die Situation in der südwestlichen Provinz Cauca zum Thema. Dora, selbst seit fünfzehn Jahren Medienmacherin, unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Indigene selbst über ihre Realitäten berichteten – denn nur so würden Zusammenhänge klarer. Für die Nasa etwa habe sich seit den Friedensverträgen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla vieles geändert: „Einerseits wurde es ruhiger: Man hört keine Flugzeuge mehr, keine Bomben und keine Schießereien.“ Allerdings sei es zu früh, um von einem wirklichen Frieden zu sprechen. Für Dora handelt es sich eher um eine fragile Art von Befriedung. „Es gibt immer noch Morde und Morddrohungen. Auch in diesem Jahr sind bereits fünfzehn soziale Aktivisten ums Leben gekommen. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen werden bedroht. Für die Regierung sind das Einzelfälle; doch es steckt ein System dahinter”.

Starke Frauen wie Dora sind auf dem Forum überall präsent.

Erst Mitte April ist Gerson Acosta, ein Sprecher der Nasa, an seinem Wohnort erschossen worden. Seine Gemeinde war bereits 2001 von Paramilitärs angegriffen und vertrieben worden. Es gibt Hinweise, denen zufolge diese bei ihrer Aktion von der kolumbianischen Armee unterstützt wurden. Und die Armee wiederum soll von rechten Unternehmer*innenkreisen dafür bezahlt worden sein. Alles, um sich das ressourcenreiche Gebiet der Indigenen unter den Nagel zu reißen: ein in Kolumbien nicht unüblicher Vorgang. Aktivist Acosta, der immer wieder Ermittlungen zu den Drahtzieher*innen gefordert hatte, war schon mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Schließlich hatte er sogar Personenschutz von der Regierung erhalten – und bezahlte doch mit dem Leben. Radiomacherin Dora Muñoz erzählt anschaulich von der Lage in den zuvor von den FARC (der größten kolumbianischen Guerilla) kontrollierten Gebieten, in denen sich jetzt Paramilitärs und Rebellen-Splittergruppen ungehindert breit machen. Doch die indigenen Nasa seien jetzt dabei, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im April hat eine Vollversammlung in Corinto stattgefunden. Dort haben die indigenen Gemeinden und Bäuerinnen und Bauern die Guardia Indígena wieder aktiviert, „mit dem Ziel, keine bewaffneten Gruppen mehr auf ihr Gebiet zu lassen“.

Starke Frauen wie Dora – sie sind auf dem FOSPA überall präsent. Am dritten Tag des Forums findet diesbezüglich noch mal ein Höhepunkt statt: „El Tribunal de las mujeres“ – das Tribunal der Frauen. Auf dem Podium in dem voll besetzten Hörsaal sitzen vier Feministinnen. Heute sind sie Richterinnen. Sie hören sich die Geschichten von kämpferischen lateinamerikanischen Frauen an, die ermordet wurden, deren Täter aber straflos bleiben – wie im Fall der honduranischen Umwelt-Aktivistin Berta Cáceres. Oder die akut vom Tode bedroht sind – wie die Kleinbäuerin Máxima Acuña. Ihre Ackerfläche liegt in der Provinz Cajamarca, im Nordwesten Perus. Mitten in einem Gebiet, in dem die Mega-Goldmine Conga entstehen soll. Wäre da nicht Máxima, die sich weigert zu gehen und ihr Land den Interessen des Extraktivismus zu opfern. Die Gewalt, der sie seitdem unterworfen ist, hat viele Gesichter: Zerstörung ihres Hauses und ihrer Anbauflächen, körperliche Angriffe auf sie und ihre Familie, sexualisierte Gewalt, Hetzkampagnen in der Presse und den sozialen Medien, und schließlich juristische Prozesse, die sie mürbe machen sollen. Zwar haben alle Instanzen bislang zugunsten der Campesina Máxima entschieden. Und für die Richterinnen des Tribunals ist klar: Der Staat muss Máxima vor den Interessen des Unternehmens schützen. Ob die Entscheidungsträger*innen das gehört haben? Vielleicht. Jedenfalls entschied der Oberste Gerichtshof einige Tage nach Ende des Forums im Interesse der Kleinbäuerin. Conga Ade! (siehe Kurznachricht in dieser Ausgabe) Vorerst jedenfalls.

Überzeugend: Interview mit indigener Aktivistin

Am 1. Mai ist Tag der Arbeit und zugleich der letzte Tag des Panamazonischen Sozialforums. Geregnet hat es in den ganzen Tagen kaum einen Tropfen, und auch die Energie der Teilnehmenden ist weiterhin gut. Im Hauptzelt werden vormittags die Beschlüsse der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und die „Charta von Tarapoto“ verlesen. Darin steht, dass der Kapitalismus, welcher sich aktuell in rücksichtslosem Rohstoffabbau und „grüner Ökonomie“ ausdrücke, im Amazonas die Rechte der Bevölkerung und der Natur in Frage stelle. Er bedrohe die Nachhaltigkeit indigener Territorien und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. In dem Abschlussdokument des diesjährigen FOSPA wird einmal mehr das „Gute Leben“ als neues Paradigma des Zusammenlebens angepriesen. In mehr als zwanzig Unterpunkten werden konkrete Ideen und ehrgeizige Forderungen formuliert: vom Ende der Monokulturen, über die bessere Verwirklichung von Minderheiten- und Frauenrechten bis hin zu einer neuen Beziehung zwischen ländlichen und urbanen Räumen.

Bei den Besucher*innen und auch bei La Nave Radio stehen die Uhren auf Abschied. Die letzten Sendungen werden gefahren, dann soll das Zelt abgebaut und eingepackt werden, bis zum nächsten Jahr. Dann soll das Forum in Kolumbien stattfinden. Da taucht Domingo von der CONFENIAE noch mal auf. Er lächelt für ein Gruppenfoto. Und erzählt von den Schritten, die er in den letzten Tagen unternommen hat, um das Schutzprojekt der Cuencas Sagradas auf die Beine zu stellen: „Wir haben hier mit vielen peruanischen Basisgruppen gesprochen. Anfang Juli werden wir uns in San Lorenzo, Peru, noch einmal alle zusammenfinden.“ Und bereits vorher soll es ein Treffen mit der ecuadorianischen Regierung geben. Im Herbst, bei dem Weltklimagipfel in Bonn, wird dann auch in Deutschland von den heiligen Quellflüssen und dem Schutz der Amazonas-Region die Rede sein. Gerade wegen der vielfältigen Probleme sei es unerlässlich, Ideen und Perspektiven zu entwickeln, die über nationalstaatliche Initiativen hinausgingen, sagt Domingo: “Wir müssen unsere Kräfte vereinen, uns die Hände reichen und endlich die Grenzen zwischen den Ländern vergessen. Das ist das Wichtigste.”

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