Abholzen für die Energiewende

In der Schlucht des Río Mocoa Soraida Chindoy bei einem Besuch am Fluss (Fotos: Katherine R. Garcia)

Eine grüne Wand zieht sich entlang der hügeligen Landschaft durch eine von vielen Schluchten im Departamento Putumayo. Ein Grün, das zugleich viel saftiger, dunkler und glänzender ist als andernorts. Wer mit der Hand hineinfasst, hat das Gefühl, auf einen vor Wasser triefenden Schwamm aus Blättern, Ästen und moosartigem Bewuchs zu drücken.

Hier bilden zwei dieser grünen, nebeligen Wände eine Schlucht, durch die der Río Mocoa hinabfließt.
Durch diesen Fluss watet Soraida Chindoy mit ihrer Tochter. Es ist kein normaler Spaziergang, eher eine Art Hommage an den Río Mocoa. Deswegen hat sie sich schick gemacht; die Kleidung ihrer Indigenen Gemeinschaft, der Inga angelegt. Ihren Kopf schmückt ein Kranz, von dem grüne, gelbe, rote, blaue und weiße Bänder über ihr langes Haar fallen. Um den Hals trägt sie bunte Perlenketten, um die Armgelenke ein Band aus Perlen in den Farben der Wiphala (Flagge, die Indigene Gemeinschaften aus der Andenregion repräsentiert, Anm. d. Red.) und um die Hüfte ein buntes Stoffband um ihr schwarzes Gewand. Sie singt gemeinsam mit ihrer Tochter. Dazu rauscht der Fluss. Dann erklärt sie: „Das Lied ist auf Inga und der Text bedeutet: Große Mutter Erde, wir Frauen sollten alle voller Stärke aufstehen.“

Heute lebt Chindoys Inga-Gemeinschaft in den Grenzen eines staatlich anerkannten Reservats etwa zehn Kilometer weiter nördlich. Früher lebte sie hier: „Unsere Indigenen Gemeinschaften fischten hier, reinigten und heilten sich hier, sie bekamen sogar ihre Kinder hier. Siehst du die majestätischen Steine dort?“

Große Felsen ragen aus dem Wasser hervor. „Dort haben unsere indigenen Mütter ihre Kinder geboren. Das ist die Energie, die uns dieser Fluss überträgt.“

Soraida Chindoys heutiger Besuch am Río Mocoa hat einen bestimmten Grund: Sie hofft, dass man beim Anblick des Flusses, dem Fühlen des kühlenden Wassers auf den nackten Füßen, dem Ertasten der Heilpflanzen am Flussufer, versteht, was hier auf dem Spiel steht. Denn wenige Meter von hier soll eine der größten Kupferminen Lateinamerikas gebaut werden.

Dann wäre sowohl das Wasser des Río Mocoa bedroht als auch das Inga-Reservat Condagua, in dem Soraida Chindoys Familie lebt. Die Bergbaukonzessionen umfassen nicht nur einen Teil von Condagua, sondern auch ein Waldschutzgebiet.

Hier in Putumayo rund um die Regionalhauptstadt Mocoa treffen sich eine andine Bergkette und der Amazonasregenwald. Es ist heiß, über 30 Grad, und den halben Tag regnet es. Oder besser gesagt, es schüttet. Überall gibt es Wasser. Neben dem Río Mocoa entspringt hier auch der Río Caquetá, einer der größten Flüsse Kolumbiens, der schließlich den Amazonas mit Wasser speist.

Die Region hat einige Wunden, die bis heute schmerzen. Da ist der Kautschukboom Anfang des 20. Jahrhunderts, als europäische Unternehmer Regenwald in Plantagen umwandelten und dort Indigene als Arbeitskräfte versklavten. Im Putumayo wird außerdem in großem Stil Erdöl gefördert.

Trotz all dem gilt das kolumbianische Amazonasgebiet, auch dank Menschen wie Soraida – im Gegensatz zum brasilianischen – als recht gut erhalten. Seit einigen Jahren nimmt aber auch hier die Abholzung enorm schnell zu. Oft werden Bäume für die Rinderzucht oder den Anbau von Koka gefällt. Die hier aktive FARC-Dissidenz kontrolliert große Teile der illegalen Ökonomie und damit auch das Tempo der Abholzung, was sie als Verhandlungsbasis mit der Regierung nutzt.

Unabhängig von der ohnehin schwierigen Lage wäre der Kupferbergbau eine Zäsur: Es wäre die erste große Mine im kolumbianischen Amazonasgebiet. Eröffnen will sie der kanadische Bergbaukonzern Libero Copper. Das Unternehmen gehört einem Geschäftsmann mit guten Verbindungen zum aserbaidschanischen Diktator Alijew und einer einflussreichen Familie aus den USA, die den Republikanern nahesteht – sonst eher keine Verfechter der Energiewende, hier in Kolumbien aber schon. Thyana Alvarez, Sprecherin von Libero Copper, betont die Bedeutung der Kupferförderung rund um Mocoa für das Gelingen der Energiewende: „Unser Projekt befindet sich aktuell unter den landesweit fünf, denen die Bergbauplanungsbehörde die größte Priorität gibt – und zwar wegen der Energiewende. Kupfer ist einer der wichtigsten Rohstoffe für die Energiewende.“

Das stimmt. Kein Solarpanel, kein Windrad kommt ohne Kupfer aus. Wo elektrifiziert wird, ist Kupfer im Spiel. In einem einzigen Elektroauto sind etwa 80 Kilogramm Kupfer verbaut. Schätzungen gehen davon aus, dass sich die globale Nachfrage bis 2030 versechsfachen könnte, verbunden mit einem massiven Preisanstieg.

Kolumbiens erster linker Präsident Gustavo Petro sieht darin eine große Chance. Er will weg von Kohle und Öl, dafür gibt die neue Bergbaustrategie seiner Regierung das Ziel aus, strategisch wichtige Rohstoffe für die Energiewende zu erschließen: Nickel, Lithium, Kobalt – und Kupfer. 2023 erklärte er vor den Staatschef*innen der Orga­nisation Amerikanischer Staaten (OAS): „Wenn wir Lithium- und Kupferländer uns zusammentun, dann merken wir, was Macht bedeutet.“

Im 20. Jahrhundert versklavten Unter­ne­hmer Indigene als Arbeitskräfte

Doch gleichzeitig betont Petro immer wieder, den Amazonas schützen zu wollen, fordert mal eine Gründung einer „Amazonas-NATO“ zur Bekämpfung der Abholzung oder nennt das Ökosystem „eine der Säulen des weltweiten Klimas und des Lebens“.

Nun liegen die größten Kupfervorkommen des Landes allerdings genau hier – im Amazonasgebiet. 105.000 Tonnen Kupfer könnte Libero Copper jährlich fördern und damit das Brutto­inlandsprodukt des Departamentos ver­sechsfachen.

Auch wenn bei der Kupferförderung weniger CO2 ausgestoßen wird, ist sie keineswegs umweltschonend. Beim Abbau entstehen gigantische Mengen an Giftschlämmen, die in Auffangbecken endgelagert werden müssen; massive Wasser- und Luftverschmutzung sowie katastrophale Auswirkungen für das umliegende Ökosystem sind international beim Kupferbergbau dokumentiert.

Grüne Wand im Departamento Putumayo Landschaft rund um die Regionalhauptstadt Mocoa

Deshalb steht Soraida Chindoy an diesem Tag im Fluss und spricht von ihren Indigenen Müttern. Dazu kommt in Mocoa noch ein weiterer guter Grund, um gegen den Bau einer Mine zu sein, die jeden Tag riesige Mengen des Bodens umgräbt: Die Region rund um Mocoa gilt als geologisch instabil. Immer wieder kommt es zu Erdrutschen. So wie am 31. März 2017. Die Indigene Minengegnerin Soraida Chindoy erinnert sich – wie fast alle in Mocoa – an jedes Detail dieser Nacht: „Ich war in der Stadt Mocoa im Haus meines Mannes mit den Kindern. Kurz nach 21 Uhr entschieden wir, nicht mehr nach Condagua zurückzufahren, weil es so stark geregnet hat. Wir wollten einen Film gucken, doch dann – so gegen 23 Uhr – begannen die Fenster zu wackeln.“

Mocoa und umliegende Dörfer wurden überschwemmt und unter Schlammmassen begraben. Soraida Chindoy, ihr Ehemann und ihre Kinder überlebten nur knapp. An ihnen vorbei wurden Leichen geschwemmt. Insgesamt starben mehr als 1.400 Menschen.

Nach der Katastrophe war die Ablehnung der Bergbaupläne groß. Chindoy organisierte gemeinsam mit Umweltaktivist*innen und Frauenorganisationen Demonstrationen, Infoveranstal­tungen und ein eigenes jährliches Festival für das Wasser, das Leben und die Berge. 2022 erreichten sie einen Kommunalbeschluss, der größere Minenaktivitäten in Mocoa verbietet. Ein riesiger Erfolg.
Doch trotz Lawinenkatastrophe, Umweltzerstörung und drohender Vertreibung: Die Allianz gegen die Mine bröckelt. Wie ist das möglich?

Nicht weit von der Stelle, wo Soraida Chindoy im Fluss badet, liegt das Stadtviertel Pueblo Viejo. Es ist eines der ärmsten in Mocoa, der Stadt mit der zweithöchsten Arbeitslosigkeit in Kolumbien. Libero Copper hingegen bietet zumindest für eine gewisse Zeit rund 500 vergleichsweise gut bezahlte Arbeitsplätze.

Der Staat trat in Putumayo über Jahrzehnte fast nur militärisch im Krieg gegen die FARC-Guerilla in Erscheinung; öffentliche Investitionen blieben auf der Strecke.

Juan Carlos Herrera, Präsident des Kommunalrats von Pueblo Viejo spricht das aus, was die Mehrheit der Leute hier denkt: „Ich glaube, das Projekt bringt unserem Viertel Entwicklung. Zum Beispiel hatten wir ein kaputtes, nicht mehr funktionierendes Gesundheitszentrum und die Firma hat es in Stand gesetzt.“

Die Firma mache nun die Dinge, um die sich der Staat nicht kümmert: „Die Politiker versprechen im Wahlkampf immer viel: Wir bauen euch die Sporthalle, asphaltieren eure Straße. Und nach der Wahl vergessen sie die Leute. Also für mich gilt: Wenn hier eine Firma wie Libero Copper kommt und in soziale Dinge in unserem Viertel investiert, dann steht ihnen die Tür offen.“

Dazu betreibt Libero Copper eine aggressive Öffentlichkeitsarbeit, mit tatkräftiger Unterstützung der kommerziellen lokalen Medien. Dieses Jahr finanzierte die Firma den landesweit bekannten Indigenen Carnaval del Perdón („Karneval des Vergebens“) mit und verteilte traditionelle Indigene Musikinstrumente mit der Aufschrift „Libero Copper“.

Aureliano Garreta kann darüber nur den Kopf schütteln. Er ist Vize-Präsident des regionalen Indigenen Dachverbands OZIP, in dessen Haus heute eine feierliche Einführung der neu gewählten Indigenen Autoritäten verschiedenster Gemeinden aus Putumayo stattfindet. Sie schließt mit der kämpferischen Hymne der Guardia Indígena (Indigene Selbstverteidigung, Anm. d. Red.).

Die Guardia Indígena von Condagua war es auch, die Libero Copper illegaler Abholzungsaktivitäten überführte. Bei einem Kontrollgang durch ihr Reservat stieg sie durch den tiefen Wald bis an die Stelle, wo das Bergbauunternehmen mit dem Aufbau eines Camps für Probebohrungen begonnen hatte – ohne dafür eine Erlaubnis eingeholt zu haben. Daraufhin untersagte eine staatliche Umweltbehörde der Firma vorerst weitere Aktivitäten.

Doch Aureliano Garreta berichtet, dass es innerhalb der Indigenen Gemeinden längst keine Einigkeit mehr über die Haltung zum Unternehmen gibt: „Libero Copper sorgt dafür, dass der soziale Zusammenhalt zerstört wird. Es gibt Leute, die waren ihr Leben lang unsere Nachbarn, unsere Freunde, wir haben uns immer gegenseitig geholfen, aber jetzt, seit die Firma da ist, sehen die uns mit ganz anderen Augen. Die Spaltung funktioniert, weil es auch in unseren Gemeinschaften viele Leute gibt, die nicht gut informiert sind und sich dann auf das Unternehmen einlassen.“

Libero Copper verhandelt mit einzelnen Familien, bietet Geld und das Versprechen auf mehr Zugang zu wirtschaftlichem Wohlstand, wie er trotz jahrelanger Öl- und Goldförderung im Putumayo bisher den meisten verwehrt geblieben ist.

Kampf gegen Zerstörung Die Aktivistin Soraida Chindoy hält eine Hommage an den Río Mocoa ab

Die Anti-Bergbau-Aktivistin Soraida Chindoy hält am Fluss mit einem Appell dagegen: „Diese Welt ist wahnsinnig geworden. Noch mehr Zerstörung, das werden wir nicht zulassen.“ Sie fährt mit der Hand durchs Wasser: „Das hier ist Leben. Das hier ist Reichtum. Wir dürfen uns nicht den Kopf verdrehen lassen. Das hier zu bewahren, das ist der Fortschritt, den wir brauchen.“ Doch im Juli kippte ein Gericht den Kommunalbeschluss, der Libero Copper ausgebremst hatte.

Die Augen in Mocoa sind auf die Regierung gerichtet

Nun sind die Augen in Mocoa auf die Regierung gerichtet. In ihren Händen liegt die Entscheidung über die Genehmigung oder den Stopp der Mine. Es ist eine eigentlich ökologisch orientierte Regierung, die die Wahl dank der Stimmen für die Anti-Bergbau-Aktivistin und jetzige Vizepräsidentin Francia Márquez gewonnen hat.

Die Regierungspartei setzt sich zu großen Teilen aus den wichtigsten Vertreter*innen der sozialen Bewegungen zusammen. Aus Putumayo ist der Anti-Minen-Aktivist Andres Cancimance Abgeordneter der Regierungspartei. Beim Gespräch in einem Café in Bogotá blickt er skeptisch auf die eigene Regierung und deren Verbindungen zum Bergbaukonzern Libero Copper. Der ehemalige Vizeminister für Bergbau, Giovanny Franco, war unter anderem Direktor einer Universitätsfakultät, die von Libero Copper mitfinanziert wurde. Cancimance erreichte seinen Rücktritt und trotzdem sagt er: „Die Lobby und der Druck für die Mine sind so groß, dass es manchmal so wirkt, als ob die Regierung die Mine genehmigen wird. Diese Unsicherheit gilt sogar für uns Regierungsabgeordnete. Wir haben mehrmals bei den Ministerien nachgefragt, aber nie eine eindeutige Antwort erhalten.“

Wenn die Regierung am Ende die Mine genehmigt, würde sich der Abgeordnete aus Putumayo dann gegen seine eigene Regierung wenden? „Ja klar. Unsere Mission ist es, die Umwelt vor Zerstörung zu schützen, auch wenn sie von unserer eigenen Regierung ausgeht. Aber das wäre eine riesige Enttäuschung und wir würden uns klar gegen die Regierung positionieren, wenn sie so inkohärent mit ihrem eigenen Diskurs ist.“

Eine klare Position zum Kupferprojekt Mocoa hat auch Energieminister Andres Camacho nicht parat: Im Interview gibt er aber – auf die Frage, ob ein Bau der Mine nicht im Widerspruch zum Diskurs der Regierung stünde – zu: „Natürlich. Und das sollten wir bei unserer Analyse miteinbeziehen.“

Ansonsten sei der Konflikt um die Kupfermine von den Vorgängerregierungen geerbt: „Wir hatten in der Vergangenheit eine Vergabe von Bergbautiteln, die uns jede Menge soziale und ökologische Konflikte beschert hat. Wir werden jetzt genau prüfen, wo Minen eröffnet werden können und wo nicht.“

Ob die Kupfermine in Mocoa in einer dieser Verbotszonen liegt, lässt er aber offen. Den Anti-Bergbau-Aktivist*innen in Putumayo dürfte ein Blick in die Kleinstadt Jericó im Departamento Antioquia Hoffnung machen. Dort wehrt sich eine gut organisierte Zivilgesellschaft seit vielen Jahren gegen den Bau einer Kupfermine. Und zumindest in Jericó stoppt Petro nun das Kupferprojekt mit Verweis auf die drohende Umweltzerstörung. Auch in Putumayo wird Petro entscheiden müssen, was ihm mehr wert ist: Das Kupfer im Boden oder das Wasser und der Wald.


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Leben für die Rechte des eigenen Volkes

Aktiv dabei CRIC-Mitglied bei einer Demonstration in Cali (Foto: Leonard Mikoleit)

Wie lief Ihr Besuch in Berlin? Was waren Ihre Ziele oder Erwartungen?
Dieser Aufenthalt war mein zweiter, das erste Mal kam ich 2020. Ich hatte Kolumbien fast nie verlassen. Aber nach dem Tag, an dem die Paramilitärs das letzte Attentat auf mich verübten — der 27. Dezember 2019 — bin ich 2020 hergekommen. In der Organisation, im CRIC sagte ich meinen Ratskollegen: „Ich muss weggehen, so viele Drohungen wie ich bekomme.”

Nachdem 2016 das Friedensabkommen mit den Guerillas der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo (FARC; dt.: Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee) getroffen wurde, hat der damalige Präsident Juan Manuel Santos einige der Versprechen gegenüber der Guerilla nicht eingehalten. Viele zogen sich daher aus dem Friedensprozess, den sie unterzeichnet hatten, zurück. Eine neue Guerillabewegung entstand, die Dissidenten der FARC. Sie begannen zu töten und viele Minderjährige zu rekrutieren. Es wurden große Versammlungen dagegen organisiert. Das war auch die Ursache dafür, dass ich nun wieder zum militärischen Ziel erklärt wurde. „Guillermo Tenorio“, sagten sie, „er ist Konterrevolutionär, er muss getötet werden.“ So musste ich wieder fliehen.

Mein ganzes Leben habe ich so gelebt, mit der Drohung, dass sie mich töten werden. Eine Genossin meinte zu mir: “Die Rolle des Anführers bedeutet nicht, dass man sich töten lässt, weil man sich als Macho fühlt. Der Anführer lebt, um die Rechte seines Volkes zu verteidigen, nicht um sich töten zu lassen.“ Es ist besser zu leben.

Jetzt habe ich Kontakt zu Sonja und auch zu anderen Kollegen hier in Deutschland. Ich musste mein Leben inmitten des Kriegs zurücklassen, inmitten der Gewalt, in Verteidigung der Menschenrechte, der Kinder, die rekrutiert wurden, der Frauen, die in Bedrohung leben. Darüber zu informieren, ist eine Aufgabe, der ich mich angenommen habe. Ich mache mir Sorgen, weil die Zeit so rennt

Wie ist die Situation im Cauca derzeit?
Es ist sehr schmerzhaft. Als ich ging, haben sie angefangen, meine Familie zu ermorden. Ein Cousin von mir, Enrique Tenorio, wurde getötet. Seine Kinder auch, sie wurden alle Opfer des Konflikts. Das war Rache, weil sie mich nicht töten konnten. Von hier aus bekomme ich Informationen und ich habe permanent Kontakt zu einigen Mitgliedern der Guardia Indígena (autonome Selbstschutzorganisation zur Verteidigung des Territoriums im Cauca, Anm. d. Red.). Jeden Tag berichten sie mir von den Gewalttaten.

Sie sind schon lange Teil des CRIC. Welche Geschichte steckt hinter der Organisation? Mit welcher Idee wurde der Rat gegründet?
Noch 1968/69 gab es im Cauca überhaupt keine Organisation, wir waren Opfer von so viel Misshandlung und Ausbeutung. In dieser Zeit haben wir zwei Personen hier aufgenommen, die nicht indigen waren, einer war paisa (Person, die aus der Region Antioquía, Caldas, Risaralda oder Quindío kommt, Anm. d. Red.) und einer war ein katholischer Pfarrer namens Pedro León Rodríguez. Fünf Jahre zuvor war auch schon der sehr bekannte, indigene Anführer Manuel Quintín Lame in den Cauca gekommen, aber niemand schenkte ihm Beachtung, nichts passierte. Erst als diese beiden Persönlichkeiten hier auftauchten, wurden die Leute aufmerksam. Alles, was ein Pfarrer von seiner Kanzel aus auf dem Land sagt, findet Gehör.

In diesem Kontext haben wir angefangen Land zu besetzen, denn die meisten Territorien befanden sich in den Händen von Landbesitzern und Siedlern, die hier eingedrungen waren. Dieses Land, das kollektives Eigentum ist, wurde misshandelt. Im Laufe von 53 Jahren haben wir all diese Arbeit gemacht, und jetzt, wo der Tisch gedeckt ist, kommen viele Leute und setzen sich zum Essen. Aber weil sie schon am Esstisch saßen, haben sie sich keine Gedanken darüber gemacht, wie die Gewalt unter Kontrolle gebracht werden könnte. Sie kauften Land und Häuser auf. Aber sie hätten nie gedacht, dass es ein so ernstes Problem mit der Gewalt geben würde, dass fast 70% des indigenen Volkes, der Landarbeiter und der Afro-Bevölkerung davon betroffen sein würden.

Zum Glück ist das Land-Problem teilweise gelöst. Es wurden autonome Gesundheitsvereinigungen, wie die AIC (Asociación Indígena del Cauca), gegründet. Die Bildung gab die Regierung ebenfalls an die cabildos (die administrative Organisationseinheit auf Gemeindeebene des CRIC, Anm.d.Red.) ab, damit sie sie verwalten.

Trotz Morddrohunen Mitglieder des CRIC kämpfen für Frieden in ihrem Territorium (Foto: Leonard Mikoleit)

Welche Bedeutung hat der CRIC mittlerweile?
Der CRIC unterstützt kollektive Widerstandsarbeit (Mingas), die versucht, mit dem Präsidenten Gustavo Petro in Kontakt zu kommen, um diese ganze Gewalt wirklich zu beenden. Sie organisieren viele Mobilisierungen. Vor 15 Tagen zog der CRIC mit tausenden Personen nach Bogotá. Währenddessen wurde im Osten des Cauca der Koordinator der Guardia Indígena Guillermo Alberto Camayo ermordet. Ein großer Anführer – getötet von der Guerilla.

Angesichts all dieser Morde wurde die Schaffung eines Friedensgebiets vorgeschlagen und der Abzug aller bewaffneter Gruppen gefordert. Diese Territorien haben keinen Platz für sie. Ich stehe hinter diesen Vorschlägen, sie sollen gehen und ihre Waffen niederlegen. Wenn sie nicht gehen, müssen sie ins Gefängnis, aber dafür müssten wir die Regierung bitten, sie zu fassen. Dafür gäbe es nicht genug Gefängnisse.

Wie genau sieht die Umsetzung solcher Friedensgebiete denn aus?
In Kolumbien existieren sie schon. Es geht dabei um 50.000 Hektar, die in San José de Apartado abgegrenzt wurden, als die Paramilitärs viele Verbrechen begingen. Sie haben alle aus der Zone abgezogen, die Armee, die Polizei. Es gibt keine bewaffneten Gruppen mehr dort, so wird es keine weiteren Tote mehr geben, keine Entführungen, nichts. In diesem Gebiet widmen sich die Leute ausschließlich der Bewirtschaftung des Landes. Und bis jetzt läuft alles gut.

Natürlich kann so etwas nicht von einem Tag auf den anderen umgesetzt werden, es dauert. Auf einem Kongress, der im November im Cauca stattfinden wird, werden Debatten geführt und Bestimmungen darüber verfasst, wie es funktionieren kann. Frauen, die junge Generation, Studenten müssen miteinbezogen werden. Jeder muss wissen, was auf dem Kongress beschlossen wird.

Was gibt Ihnen Hoffnung? Wie kämpfen Sie weiterhin für eine friedliche Zukunft in Kolumbien?
Ich denke, dass die Realisierung dieser Friedensgebiete das ganze Land beeinflussen wird. Viele Leute werden denken, „auch wir wollen in Frieden leben, auch wir wollen ohne Guerilla existieren.“ Die Regierung von Petro redet über den totalen Frieden, das war sein Vorhaben, aber er hat sich mit niemandem abgesprochen. Deswegen haben wir eigenständig überlegt, diskutiert, vorgeschlagen und die Leute durch die Guardia Indígena geschult.

Vor allem werden die sozialen Anführer bedroht. Man muss etwas unternehmen, um zu verhindern, dass diese Gewalt weitergeht. Niemand kümmert sich darum. Als wir begannen, uns zu versammeln, war ich 18 Jahre alt, ich konnte weder lesen noch schreiben. Mit mir kamen immer mehr junge Leute zusammen, alle Analphabeten. Wir begannen die Grundstücke zu besetzen, bei den Siedlern unser Recht auf unser kollektives Eigentum zu beanspruchen. Sie wollten das Land nicht abgeben, so sind wir zur Regierung gegangen und haben gefordert, dass sie uns die Grundstücke zurückkaufen sollen. Es ist kollektives Land, aber nur einige wenige profitieren davon. Wir erzielten gute Ergebnisse. Deswegen bin ich auch jetzt mit den Vorschlägen zu den Friedensgebieten nicht pessimistisch. Ich denke, wir können das in naher Zukunft erreichen.

Was ist im Moment für Sie die wichtigste Arbeit?
Das Bewusstsein der Menschen zu schärfen. Es wird notwendig sein, viele Bildungsaktivitäten anzubieten.

Sonja (Begleiterin von Guillermo beim Interview): Eine Ratskollegin des CRIC hat uns gegenüber in einer Versammlung betont, den Kampf der indigenen Frau nicht zu vergessen. Denn am Anfang waren es quasi nur Männer und jetzt sind auch viele Frauen beteiligt, das ist sehr wichtig. Sie haben eine andere Perspektive und dieser neue Prozess sollte das Leben der Frau mit einbeziehen. Die tatsächliche Grundlage des indigenen Lebens ist die Mutter Erde. Von ihr kommen noch andere Antworten und es geht nicht nur darum, über sie zu reden, sondern in Verbindung mit ihr zu stehen. Im Rat des CRIC gibt es zwei Frauen. Von zehn Ratsmitgliedern sind zwei Frauen, das ist sehr wenig.

In den Gemeinden gibt es viele Frauen, die ihre Meinung sagen und nicht schüchtern sind. Deshalb hat die Organisation nun Frauen die Möglichkeit gegeben, sich für die Vorstände auszubilden. Aus diesem Grund sind zwei der Vorsitzenden Frauen. Das Wort der Frau ist sehr wertvoll, aber es sind viele Jahre vergangen, in denen die Organisation sie nicht berücksichtigt hat. Die Anführer gingen mit einer sehr sexistischen Ansicht vor. Das ändert sich nach und nach, indem man anfängt, die Rolle der Frau zu analysieren.


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Die Klimavertriebenen der Krabbeninsel

Die Krabbeninsel Gardi Sugdub von oben (Foto: Lupo Cordero / Proyecto Nativo)

Ende Mai gab es reges Medieninteresse für eine kleine Insel in Panama. In vielen Ländern erschienen Artikel und Fernsehberichte zur Umsiedlung des Dorfes Gardi Sugdub („Krabbeninsel“), die von den indigenen Guna bewohnt wird und zuletzt auf einer Größe von fünf Fußballplätzen etwa 1.500 Einwohner*innen hatte. Sie liegt einen guten Kilometer vor der karibischen Küste im Norden des Landes, zwischen dem Panamakanal und Kolumbien. Weitere über 30.000 Guna leben dort, auf einer Länge von 200 km verstreut, auf Dutzenden solcher Inseln.

Das große Interesse rührte auch daher, dass zum ersten Mal auf dem amerikanischen Kontinent Menschen eine Insel unter anderem aufgrund des Klimawandels verlassen haben. Seit Jahren beobachten die Bewohner*innen eine Zunahme extremer Wetterereignisse. Meterhohe Wellen verursachen besonders zwischen November und Februar Zerstörung und führen zu Überschwemmungen. Die Insel Gardi Sugdub erhebt sich nur einen halben Meter über den Meeresspiegel, und laut der Weltorganisation für Meteorologie steigt der Meeresspiegel in Lateinamerika und der Karibik schneller als im weltweiten Durchschnitt.

Am 29. Mai weihte der damalige Präsident Laurentino „Nito“ Cortizo die neue, nahe gelegene Siedlung Isber Yala auf dem Festland mit dreihundert Häusern ein, die jeweils einer Familie 41 Quadratmeter Wohnfläche mit Wasser- und Stromanschluss bieten. Auf der Plattform X schrieb er:„Angesichts des Risikos für die Bewohner hat unsere Regierung vereinbart, eine neue Siedlung zu gründen, um ihre Zukunft zu sichern.“ Zugleich eröffnete er die sanierte Straße zum Dorf und eine Schule.

Isber Yala Die neue Siedlung auf dem Festland (Foto: privat)

Die Umsiedlung der Bewohner*innen von der Insel in ihre neuen Häuser auf dem Festland fand schließlich zwischen dem 3. und dem 8. Juni statt. Dreihundert Familien mit insgesamt etwa 500 Kindern machten vom Angebot der Regierung Gebrauch und erhielten kostenlos ein Haus in der neuen Siedlung. Viele sind mit ihrer neuen Lebensumgebung zufrieden, darunter Dialicia Mendoza, die mit ihrer Schwester nun eines der neuen Häuser bewohnt. Gegenüber Eco News sagte sie nach dem Umzug, sie sei von dem neuen Haus begeistert und sehr stolz darauf.

Es gibt jedoch auch Bewohner*innen, die nicht umgesiedelt wurden, offiziell 32 Familien. Einerseits, weil es nicht genug Häuser für alle gab, aber auch, weil einige es vorzogen, auf der Insel zu bleiben – trotz der Risiken des steigenden Meeresspiegels und obwohl es auf der Insel kein Trinkwasser gibt. Das muss per Boot mit Kanistern aus dem Fluss vom Festland geholt werden. Zu ihnen gehört Ana Herrera (Name von der Red. geändert), die im Gespräch mit LN erzählt: „Mir persönlich gefällt nicht, wie die neue Siedlung errichtet wurde. Wenn ich auf dem Festland leben möchte, würde ich mein Haus gern selbst gestalten.“ Ana spielt darauf an, dass die neuen Häuser auf dem Festland keine traditionellen Hütten sind, sondern Fertigbauhäuser aus Zement, wie man sie auch in den barriadas der Hauptstadt findet. Zudem sind 41 Quadratmeter Wohnfläche für die oft großen Familien der Guna zu klein.

Der moderne Charakter der Häuser war ursprünglich nicht so geplant und ergab sich während eines längeren Prozesses, der bereits im Jahr 2010 begann. Damals beschloss das Dorf, auf das Festland umzuziehen – noch nicht wegen des Klimawandels, sondern aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte auf der kleinen Insel. Die Dorfgemeinschaft gründete eine Kommission für die Umsetzung der Umsiedlung, suchte sich ein geeignetes Grundstück auf dem Festland und rodete den dort befindlichen Wald. Um für alle Dorfmitglieder auf einmal neue Häuser zu bauen, gab es vor Ort jedoch nicht genug traditionelles Baumaterial, wie etwa die Blätter der Weruk-Palme, die die Guna für ihre Dächer verwenden. Die Kommission bat daher die damalige Regierung von Ricardo Martinelli um Hilfe, die auch Unterstützung zusagte – sie sollte allerdings im Rahmen eines bestehenden Häuserbauprogramms erfolgen, anstatt an die Bedürfnisse der indigenen Gemeinschaft angepasst zu sein. Und auch diese Unterstützung erfolgte offenbar nur halbherzig: Die Regierung begann zunächst, eine Krankenstation und eine Schule zu errichten, doch bevor es zum Bau der Wohnhäuser kam, wurden die Mittel plötzlich dringender in anderen Provinzen benötigt. Dann passierte jahrelang nichts, die Ruine der unfertigen Krankenstation steht bis heute nahe der neuen Siedlung. Die Mitglieder der Kommission und die anderen Leute im Dorf diskutierten in dieser Zeit darüber, ob es besser wäre, weiter nach einer zuverlässigeren Finanzierung zu suchen, um die neuen Häuser gemäß ihrer Tradition mit Naturmaterialien bauen zu können. Viele verloren mit der Zeit jedoch die Geduld, und als im Jahr 2019 Nito Cortizo an die Macht kam und die brachliegenden Arbeiten mit Fördermitteln der Weltbank fortsetzen wollte, begrüßten dies viele Bewohner*innen.

Inselwelt Viele Guna aus Gardi Sugdub lassen ihre gewohnte Umgebung zurück, um auf dem Festland zu leben (Foto: Lupo Cordero / Proyecto Nativo)

Immerhin: Die beiden großen, traditionellen Gemeinschaftshäuser als Orte, in denen sich das politische und zeremonielle Dorfleben bei den Guna abspielt, haben die Bewohner*innen auch in der neuen Siedlung errichtet. Sagla José Davies, der Dorfvorsteher, meinte in den Tagen des Umzugs gegenüber Voz de América: „Wir bewahren unsere Gebräuche und Traditionen und haben die Dinge, die dafür wichtig sind, von der Insel hierher mitgebracht, wie das Versammlungshaus mit seinen Hängematten.“ Trotz dieser Versicherung bekommen die Bewohner*innen von Isber Yala dieser Tage auch kritische Kommentare von Guna aus anderen Dörfern, die weiterhin in Hütten leben. Diese befürchten, dass der Umzug in eine Siedlung mit gewöhnlichen Zementhäusern die Kultur und Lebensweise letztlich verändern wird. Evelio López, der aus Gardi Sugdub stammt und auf der Nachbarinsel Miria Ubigandub als Lehrer arbeitet, sieht es dagegen eher wie der Sagla. Für ihn spielt bei solchen Kommentaren auch Neid auf die moderneren Häuser eine Rolle. Er schrieb dazu Ende Juni auf Facebook: „Wenn die Menschen von Gardi Sugdub heute in moderneren Häusern mit westlichem Lebensstil besser eingerichtet sind, bedeutet das nicht, dass sie deswegen ihre Gebräuche oder Kultur ändern“. Und was bedeutet der Umzug für das Leben derjenigen, die auf der Insel Gardi Sugdub geblieben sind, wo nun viel weniger Menschen leben sollten? Für Ana Herrera ist diese Frage im Gespräch mit LN nicht so leicht zu beantworten. Der Grund überrascht, da er in dem breiten Medienecho etwas unterging: „Es ist zu früh, um das zu beurteilen, da die Umgesiedelten noch nicht vollständig umgezogen sind. Im Moment der Umsiedlung gab es in der neuen Siedlung nämlich noch keinen Strom und daher auch noch kein fließendes Wasser. Ich denke, viele werden wohl auf der Insel bleiben, bis alles fertig installiert ist, immerhin wird daran gearbeitet. Innerhalb eines Jahres werden wir sehen, wer dann wirklich umgezogen sein wird. Es sind vor allem junge Paare und Familien, die sich für die Umsiedlung entschieden haben.“

Warum hat die Regierung mit der Umsiedlung nicht gewartet, bis die Bauarbeiten abgeschlossen waren? Blas López*, Soziologe und ehemaliges Mitglied der Umsiedlungskommission, hat es kurz vor dem Umzug für LN so eingeordnet: „Die Regierung ist am Ende ihrer Amtszeit, sie möchte demonstrieren, dass sie die Arbeiten abgeschlossen hat, wie das eben so ist mit Regierungen. Im Grunde wird die Umsiedlung jetzt nur simuliert, tatsächlich wird das ein längerer Prozess sein. Die Gemeinschaft der Guna hat ihre eigene kulturelle Dynamik.“

So könnte das Projekt der Umsiedlung von Gardi Sugdub ingesamt bis zu 15 Jahre in Anspruch nehmen. Diese Erfahrungen sind auch für die Guna der anderen Inseln relevant, die sich angesichts des fortschreitenden Klimawandels in den nächsten Jahrzehnten ebenfalls mit einer möglichen Umsiedlung beschäftigen müssen. Das gleiche gilt für weitere vom Klimawandel bedrohte, vulnerable Gemeinschaften in Lateinamerika. In vielen Fällen werden sie wie die Guna aus Gardi Sugdub nach dem Anstoßen eines Umsiedlungsprozesses auf die Hilfe ihrer Regierungen oder internationaler Organisationen angewiesen sein, die wie die Regierung Panamas oft auch eigene Interessen verfolgen und nicht unbedingt die Bedürfnisse der Betroffenen in den Vordergrund stellen.

* Anmerkung der Redaktion: Blas López ist im Juni 2024 gestorben.


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Trotz aller Hürden ein Erfolg

Von Gewalt und Plünderungen heimgesucht Mayangna auf dem Rio Lakus (Foto: Joe Townsend via Flickr (CC BY-NC-ND 2.0 Deed))

Der Grüne Klimafonds (GCF) geht auf die UN-Klimaschutzkonferenz COP16 im Jahr 2010 zurück. Er ist der Finanzierungsmechanismus des Rahmenabkommens der Vereinten Nationen über Klimaveränderungen, der eingerichtet wurde, um die Bemühungen der Entwicklungsländer zur Bewältigung des Klimawandels zu unterstützen.

Für Nicaragua hatte die Zentralamerikanische Bank für wirtschaftliche Integration (BCIE) den Finanzierungsvorschlag für das Umweltschutzprojekt Bio-Clima beim GCF eingereicht und wurde von diesem im November 2020 genehmigt. Das Projekt sieht integrierte Klimaschutzmaßnahmen zur Verringerung der Entwaldung und Stärkung der Anpassungsfähigkeit in den Biosphärenreservaten Bosawás und Río San Juan vor. Am 12. August 2021 unterzeichneten BCIE und GCF eine entsprechende Finanzierungsvereinbarung über 116,6 Millionen US-Dollar, wovon die BCIE ihrerseits 44,2 Millionen über ihr Armutbekämpfungsprogramm beisteuern sollte.

Am 7. März 2024 kündigte der GCF die endgültige Annullierung des Bio-Clima-Projekts an. Grund dafür seien eine Reihe von Unregelmäßigkeiten und Verstöße gegen die Vertragsvereinbarungen. Zudem hatte es in den indigenen Territorien Bosawás und Indio Maíz, die als Projektgebiete ausgewiesen waren, immer wieder Gewalt durch Siedler gegeben.

Dem vorausgegangen war, dass im Juni 2021 Mitglieder betroffener indigener und afro-deszendenter Gemeinschaften Beschwerde beim unab­hängigen Rechtsbehelfsmechanismus (IRM) des Fonds eingereicht hatten. Die Begründung der Beschwerde stützte sich im Wesentlichen auf drei Punkte: Erstens das Fehlen einer angemessenen Konsultation der betroffenen Gemeinden; zweitens die Wahrscheinlichkeit verstärkter Umweltzerstörung und die Zunahme von Angriffen bewaffneter nicht-indigener Siedler; drittens die wahrscheinliche Nichteinhaltung beziehungsweise Unfähigkeit der akkreditierten und durchführenden Institutionen, die GCF-Richtlinien und -Verfahren sowie die vom GCF-Verwaltungsrat des Projekts auferlegten Bedingungen einzuhalten. Der IRM leitete daraufhin eine Untersuchung ein, deren Ergebnis dazu führte, das Bio-Clima-Projekt dauerhaft auszusetzen. Ausschlaggebend hierfür war die Anerkennung der von den Beschwerdeführer*innen vorgetragenen Argumente, dass davon auszugehen sei, dass Richtlinien und Verfahren zum Umweltschutz nicht eingehalten würden und der Schutz der in diesen Gebieten lebenden Bevölkerung nicht gewährleistet sei.

Aussetzung des Projekts ist Bestätigung für widerständige Gemeinden

Der ins Exil gezwungene nicaraguanische Umweltaktivist Amaru Ruiz, Leiter der renommierten Umweltschutzorganisation Fundación del Río, erklärte hierzu gegenüber der Nachrichtenplattform Confidencial, die Aussetzung des Projekts sei eine enorme Bestätigung für den Widerstand der indigenen und afro-deszendenten Gemeinschaften Nicaraguas. Dies gelte insbesondere für das Mayangna Sauni As-Gebiet, „das am stärksten Widerstand geleistet hat, in dessen Territorium eingedrungen wurde und wo sich die Massaker konzentriert haben”. Die Ablehnung des Projekts stehe im Zusammenhang damit, dass in den vergangenen zehn Jahren in Nicaragua mehr als 70 Miskitos y Mayangnas aufgrund der Invasion von bewaffneten Siedlern in Indigenengebiete ermordet wurden, ohne dass die Eindringlinge für ihre Taten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen würden.

Vizepräsidentin Murillo kommentierte die Ereignisse auf eigene Art: „Wir lehnen das Sekretariat des Grünen Klimafonds ab, das durch intransparente Prozesse und Verfahren und unethische Praktiken die Finanzierung des Bio-Clima-Projekts gestrichen hat, das für den Schutz und die Verteidigung der Biosphärenreservate (…) durch Reduzierung der Abholzung, Steigerung der Wiederaufforstung und die Schaffung von Anpassungsfähigkeit konzipiert wurde”. Zu den Umweltzerstörungen, Überfällen und Morden kein Wort. Für Amaru Ruiz dagegen ist klar, dass der GCF mit seiner Entscheidung der Tatsache Rechnung getragen hat, dass „die Ortega-Murillo-Diktatur nebst ihren Komplizen in der Karibik” in Nicaragua „diejenigen sind, die die meisten natürlichen Ressourcen geplündert haben und plündern (vor allem für Gewinne aus Holz, Gold, Viehzucht und Palmöl)”.

Der nächste Schlag kam mit der Berufung von Gisela Sánchez an die Spitze der BCIE. Diese erklärte am 7. März in einem Interview mit Redacción Regional, einem zentralamerikanischen Medienkonsortium, dass die Bank Nicaragua und El Salvador nur noch begrenzt neue Kredite gewähren könne, da beide Länder „die Grenzen der Kredite, die sie erhalten können, bereits überschritten haben”. Auch ihre Mitteilung, mit der Übernahme der Leitung des Finanzressorts werde sie den Kurs ihres Vorgängers Dante Mossi korrigieren, dürfte bei Ortega und Murillo für Unruhe sorgen. Mossi hatte sich den Ruf erworben, ein Bankier der Diktatoren und finanzieller Loyalist von Daniel Ortega, Nayib Bukele und dem honduranischen Ex-Präsidenten Juan Orlando Hernández, der inzwischen wegen Drogenhandels und Waffendelikten in den USA verurteilt wurde, zu sein. In einem zwei Tage später veröffentlichten „Erläuternden Kommuniqué” kündigte Sánchez an, ihr Darlehensportfolio in Zentralamerika zu diversifizieren „und damit allen Ländern der Region mehr Finanzierungsspielraum zu eröffnen”. Damit wolle sie zum Ausdruck bringen, dass sie allen Ländern besser dienen könne, wenn die BCIE ihre Beteiligung in jenen Ländern erhöhe, in denen das Portfolio mehr Wachstumspotenzial bietet. Im Klartext: mehr Gewinnchancen generiert. Ausgesprochen positiv über die Strategie von Sánchez äußerte sich der ehemalige BCIE-Direktor für Costa Rica, Eduardo Trejos, am 10. März in einem Interview in der Sendung Esta Semana auf dem Confidencial-Youtube-Kanal: „Es ist die richtige Entscheidung. Wir haben uns schon seit zweieinhalb Jahren damit beschäftigt, da sowohl El Salvador als auch Nicaragua ihre Grenzen erreicht hatten. Damals hatte man unter der Leitung von Mossi einige technische Tricks angewandt, damit sich die Darlehensbeschränkungen nicht direkt niederschlugen und man weiterhin Kredite vergeben konnte.”

Der Kurswechsel der BCIE ist also keineswegs der katastrophalen Menschenrechtslage in Nicaragua geschuldet, von daher kein Vorgang, über den sich Regimekritiker*innen freuen könnten. Wie wenig indigene Belange selbst bei internationalen Institutionen und offiziellen Akteur*innen bei der Kanalisierung von Geldern über beteiligte Regierungen tatsächlich zählen, zeigt sich an der Nachlässigkeit oder dem absichtlichen Versagen von Kontrollmechanismen am Beispiel des Bio-Clima-Projekts in Nicaragua besonders deutlich. Unter Missachtung der vertraglichen Vereinbarungen, den Schutz indigener Gemeinschaften sicherzustellen und den weiteren Raubbau an der Natur ihres Lebensraums zu verhindern, hat die Diktatur zugunsten eigener wirtschaftlicher Interessen in den indigenen Gebieten auf die Siedlergewalt nicht reagiert und stattdessen Miskito- und Mayangna-Waldhüter verhaften lassen. Erst im vergangenen Februar wurden vier indigene Mayangna zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Ihnen wurde vorgeworfen, Anführer krimineller Banden zu sein, doch nach Angaben lokaler Autoritäten handelt es sich um anerkannte Waldhüter (entsprechend hiesigen Förstern) des Gebiets Mayangna Sauni As. Es vergeht praktisch kein Monat, ohne dass sich Übergriffe, Überfälle und Morde in den indigenen Dörfern ereignen.

Kein Monat ohne Übergriffe

Die BCIE, per Definition dafür verantwortlich, „sicherzustellen, dass die erste Stufe durch die dem Projekt am nächsten stehenden Akteure mit der nötigen Sorgfaltspflicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde”, hat sich dagegen um Vertuschung bemüht. Die Untersuchung des Grünen Klimafonds durch den IRM ergab, dass wichtige Informationen wie die Situation der systematischen Gewalt gegen die indigene Bevölkerung verschwiegen wurden. Bei mehreren Gelegenheiten erklärte die BCIE − damals unter der Leitung von Dante Mossi − „dass sie mit den Gebieten, in denen das Projekt durchgeführt wird, sehr vertraut ist”. Detaillierte Informationen über das Ausmaß und die Schwere der Gewalt blieb sie jedoch schuldig. Vielmehr zog sich sie darauf zurück, wegen fehlender Datenlage eine um­fassendere Analyse auf eine spätere Phase des Projekts verschieben zu wollen.

Aber auch die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) trifft der Vorwurf der Komplizenschaft, da sie den Finanzierungsvorschlag ausgearbeitet hat, den die BCIE anschließend beim Grünen Klimafonds einreichte. Das Sekretariat des Grünen Klimafonds wurde vom IRM dafür kritisiert, dass es die Unterlagen der BCIE nicht überprüft und vor der Genehmigung des Projekts keinen Kontakt zu den lokalen Gemeinden aufgenommen hatte.

Das Büro der Vereinten Nationen für Projektdienste (UNOPS) und das Welternährungsprogramm (WFP) sind beides Beobachterorganisationen, die an den Konsultationsverfahren mit den indigenen Gemeinschaften beteiligt waren. Sie räumten ein, dass es zwar massive Defizite bei der Durchführung gegeben habe, ihre Beamten, die an den Konsultationen teilnahmen, jedoch trotz dieser Beobachtungen den Prozess positiv bewerteten: „in gutem Glauben, transparent, einvernehmlich, umfassende Information wurde zur Verfügung gestellt”.

Der Ältestenrat der Indigenenregion Moskitia widersprach dieser Version und kritisierte, dass die Versammlungen zu kurz waren und keine Zeit für Debatten zuließen. Zudem habe es auch Drohungen gegen Stimmen gegeben, die sich gegen das Projekt aussprachen, die Rückübertragung ihres Landes forderten oder die Regierungsbehörden in Frage stellten.

Amaru Ruiz bewertet die Entscheidung, das Projekt zu streichen, trotz aller Hürden positiv, denn der Ausgang des Verfahrens stärke den Grünen Klimafonds. Die wichtigste Botschaft sei, dass indigene und lokale Gemeinschaften, Organisationen der Zivilgesellschaft und unabhängige Akteur*innen wissen, dass sie Projekte anfechten können, die ihre Gebiete direkt betreffen.


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Schutzlos vor dem Neo-Extraktivismus

Der Sitz der Fundación del Río, deren Präsident Sie sind, befindet sich jetzt − wie der Großteil der nicaraguanischen Diaspora − in Costa Rica. Was ist nach dem Verlust des Rechtsstatus und der Konfiszierung des Vermögens von der Organisation geblieben?
Die Arbeit der Umweltorganisation wurde willkürlich eingestellt, nachdem sie im Dezember 2018 durch das Ortega-Regime aufgelöst wurde. Einer der Gründe für die Auflösung war, dass die Organisation einen absichtlich gelegten Brand im Naturschutzgebiet Indio Maíz öffentlich angeprangert hatte. Auch im Fall des Interozeanischen Kanalprojekts, das weder aus ökologischer noch aus sozialer Sicht tragfähig war, hat die Stiftung Kritik geäußert. Beide Positionen führten dazu, dass das Regime uns als oppositionelle Akteure betrachtete. Mit der Auflösung haben wir mehr als 22 Grundstücke in Schutzgebieten, Herbergen, Büros und zwei kommunale Radios verloren. Außerdem musste leider auch ich ins Exil gehen, da mir ein Gerichtsverfahren drohte.

Wie gestaltet sich Ihre Arbeit im Exil?
Zunächst begann eine Phase der Reorganisation, um die Arbeit vom Exil aus weiterzuentwickeln. Die Organisation besaß früher drei Büros, verteilt über das gesamte Departement Río San Juan, und verfügte über die Kapazitäten, um bäuerliche, indigene und afro-deszendente Gemeinschaften zu unterstützen und zu begleiten. Durch die Auflösung und die Enteignung unserer Vermögenswerte sind diese Kapazitäten verlorengegangen. Unsere Arbeit wurde neu definiert: Wir sind in den Gebieten nicht mehr so präsent wie früher. Stattdessen sind dort indigene und bäuerliche Gemeinschaften aktiv, die weiterhin an die Arbeit der Organisation glauben. Das bedeutet, dass wir dank ihres Engagements weiterhin überwachen und dokumentieren können, was in Indio Maíz und den anderen indigenen und afro-deszendenten Gebieten geschieht. Mit Hilfe neuer Technologie können wir Waldbrände und das Ausmaß der Abholzung in den Schutzgebieten des Landes überwachen. Diese neue Art zu arbeiten hat es uns ermöglicht, weiterzumachen.
Wir haben auch begonnen, mit den aus Nicaragua vertriebenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften zu arbeiten, die heute im Norden Costa Ricas leben. So können wir die Nicaraguaner unterstützen, die es besonders schwer haben.

Warum sind Naturschutzgebiete und die Lebensräume der indigenen Gemeinschaften heute durch illegale Besiedlung und Ausbeutung ihrer Naturreserven stärker bedroht denn je?
In Nicaragua gibt es sieben indigene Volksgruppen und zwei afro-deszendente Gemeinschaften. Die meisten von ihnen, die ihre Kultur noch bewahren, befinden sich an der Karibikküste. Die Gebiete mit den größten Konflikten liegen in der nördlichen Karibikregion. In der südlichen Region, wo die Rama- und Kriol-Gemeinschaften von Bluefields ansässig sind, gibt es weniger Konflikte. Im Jahr 2011 wurden dort die ersten Vorstöße von Siedlern in indigene Gebiete gemeldet. Aber über die Invasionsprozesse in der nördlichen Karibik, insbesondere in den Gebieten der Miskito und Mayanga, wird schon seit 2005 berichtet. Doch war dieser Prozess nicht so massiv, es wurden nicht so viele Menschen getötet wie heute. Dieses neue Ausmaß ist auf das vom Ortega-Murillo-Regime seit 2007 geförderte neo-extraktivistische Modell zurückzuführen. Es zielt darauf ab, die natürlichen Ressourcen zu gewinnen, die von wirtschaftlichem Interesse sind.
Die indigenen Territorien an der nördlichen und südlichen Karibikküste sind die reichsten Gebiete des Landes. Vor allem, weil die dort lebenden Gemeinschaften sie bewahrt haben: Dort sind die meisten natürlichen Wälder zu finden, es gibt die größte biologische Vielfalt, die Niederschlagsmengen sind höher und es leben weniger Menschen dort. Es besteht ein öffentliches politisches Interesse, den neo-extraktivistischen Prozess in diesen Regionen zu fördern.

Was bedeutet das?
Klassischer Extraktivismus liegt vor, wenn sich ein Unternehmen mit inländischem oder meist ausländischem Kapital in Gebieten niederlässt, um eine natürliche Ressource zu gewinnen, etwa um Ölpalmen anzubauen, Bananen oder Produkte, die auf dem internationalen Markt verkauft werden. Beim klassischen Extraktivismus ist der Einfluss des Staates wie ein Regulierungsorgan. Er greift nicht in das Geschäft ein, sondern versucht, den Geschäftsprozess zu regulieren und zu kontrollieren, damit bestimmte Parameter eingehalten werden. Außerdem werden die Ressourcen ohne jegliche Verarbeitung geplündert. Mit anderen Worten: Die ausgeführten Produkte haben keinen Mehrwert.
Beim Neo-Extraktivismus ist die Beteiligung des Staates oder von Gesellschaften, die mit den Regierenden in Verbindung stehen, wesentlich stärker. Es werden staatliche Unternehmen und öffentlich-private Partnerschaften gegründet, die die ebenfalls Ressourcen ausbeuten. Oder es werden neue Unternehmen gegründet, die mit der Macht oder den Familien verbunden sind, die politische Positionen besetzen. Was wir im Fall Ortega-Murillo sehen, ist der Wechsel vom extraktivistischen Modell der neoliberalen Regierungen zu einem neo-extraktivistischen Modell mit einer Verbindung zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Interessen in diesen Gebieten. Dies hat zu einem großen Druck auf die natürlichen Ressourcen und auf die Schutzgebiete selbst geführt.

Was sind die Hauptursachen für die Gewalt in den indigenen Gebieten?
Der industrielle Bergbau ist auf dem Vormarsch, ebenso der handwerkliche, so dass viele der Konflikte in den indigenen Territorien auf den Bergbau zurückzuführen sind. Siebzig Prozent der Bergbauprodukte werden vom industriellen und dreißig Prozent vom handwerklichen Bergbau produziert. Beide sind jedoch miteinander verbunden, da der Gewinn des Goldes aus dem handwerklichen Bergbau an die Minenunternehmen verkauft wird, die das Gold exportieren. Dies hat viele Menschen dazu gebracht, in diese Gebiete einzudringen, um die Ressourcen zu plündern. An genau solchen Orten entstehen die Konflikte.
Der Staat hat die Verpflichtung, die territoriale Sicherheit der indigenen Gemeinschaften zu garantieren, da es sich um per Rechtstitel anerkannte Territorien handelt. Mindestens 23 Gebiete sind infolge indigener Kämpfe bereits an die Gemeinschaften überschrieben worden. Allerdings hat die Regierung die Legalisierungsphase – die letzte Phase des Titulierungsprozesses – nicht eingehalten. Diese Phase umfasst die Kontrolle der Menschen, die sich in diesen Gebieten aufhalten. Sollte die indigene Gemeinschaft zu dem Schluss kommen, dass Personen sich unbefugt dort aufhalten, dann muss die Regierung dafür sorgen, dass diese das Gebiet verlassen, da sie in ein geschütztes Territorium eindringen. Das ist jedoch nie geschehen.
Daher haben indigene und afro-deszendente Gemeinschaften damit begonnen, ihr Territorium selbst zu verteidigen – natürlich nicht mit den gleichen Möglichkeiten, die der Staat zur Verfügung hat. Das hat dazu geführt, dass die Waldhüter der Gemeinden zu den Hauptangriffszielen wurden, denn sie sind diejenigen, die diese Gebiete überwachen, Verstöße dokumentieren und melden. Seit 2005 haben wir mehr als 75 Morde erlebt. Allein in diesem Jahr wurden acht Waldhüter und Gemeindevorsteher ermordet, die sich Menschen widersetzt haben, die unrechtmäßig in ihr Gebiet eingedrungen sind.

Heißt das, dass die Eindringlinge bewaffnet sind?
Nicht alle sind bewaffnet. Viele dieser Eindringlinge haben sich bewaffnet, um sich mit Gewalt durchzusetzen. Das Regime hat sie als kriminelle Banden bezeichnet, man wollte nicht anerkennen, dass es sich um Paramilitärs handelt, um Leute, die mit Gewalt diese Gebiete besetzen und die natürlichen Ressourcen plündern.

Gibt es noch weitere Akteure in den indigenen Territorien?
Ja, die extensive Viehzucht breitet sich zunehmens aus und führt heute am stärksten zur Entwaldung im Land. Viele dieser Viehzuchtbetriebe haben von einer für sie günstigen öffentlichen Politik profitiert, weil sie neue Märkte erschlossen und Finanzierungen erhalten haben. Dieses Modell hat dazu geführt, dass der Druck auf die Bevölkerung in den indigenen Territorien aufgrund wirtschaftlicher Interessen zu Lasten ihrer Rechte enorm zugenommen hat. Aber nicht nur das, es gibt noch andere Interessen, etwa der illegale Bodenhandel oder der Handel mit nativen Tier- und Pflanzenarten aus diesen Regionen. Da es sich um Gebiete mit hohen Niederschlagsmengen handelt, die die Ölpalme benötigt, spielen auch diese kommerziellen Interessen eine Rolle.

Wie bewerten Sie die Wirtschaftssanktionen der internationalen Gemeinschaft gegen Nicaragua?
Wer Nicaragua wirklich beeinflussen kann, ist der wichtigste Exportmarkt unseres Landes – die USA. Die wichtigsten Produkte sind Gold und Fleisch. Der größte Teil des Fleischmarktes sowie der größte Teil des Goldes geht in die Vereinigten Staaten, der zweitgrößte Goldanteil in die Schweiz, Leder geht nach Europa. Die Maßnahmen sollten entschiedener sein, vor allem bei einigen Produkten der Wertschöpfungsketten in den Händen der Diktatur. Mit einem Viertel der Wirtschaftssanktionen, die sie gegen Russland verhängt haben, hätten sie morgen jedes Abkommen mit Ortega unterzeichnen können. Es besteht also kein wirkliches Interesse daran, eine Diktatur zu stürzen: Auf politischer Ebene kritisiert man zwar die Menschenverletzungen und spricht von einer Diktatur, aber auf Handelsebene macht man gerne Geschäfte mit Ortega. Aus meiner Sicht ist das eine widersprüchliche Politik.


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Stich gegen Stichtagsregelung

Demo in Brasilia Indigene verteidigen ihre Rechte (Foto: Hellen Lourdes, mit freundlicher Genehmigung des CIMI, CC BY-ND2.0 DEED))

„Das ist ein großer Sieg für uns. Unser Land repräsentiert das Leben und die Kultur unseres Volkes“, kommentierte Keli Regina Caxias Popó von der indigenen Gemeinschaft der Xokleng öffentlich die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes Brasiliens (STF) zur Stichtagsregelung des Gesetzes „Marco Temporal“. Die Entscheidung des STF war mit allergrößter Spannung erwartet worden. Seit 2021 hatte der Gerichtshof mehrmals zum „Marco Temporal“ getagt. Wiederholt wurde die finale Entscheidung durch mehrmonatige Vertagungen verzögert, nachdem einzelne der Obersten Richter*innen ihr Urteil abgegeben hatten. Doch auf der Doppelsitzung am 20. und 21. September fiel dann ein überraschend deutliches Grundsatzurteil, das politischen und sozialen Sprengstoff für ganz Brasilien birgt: Mit neun zu zwei Stimmen wiesen die Richter*innen des STF die These der Stichtagsregelung „Marco Temporal“ zurück.

Diese besagte, dass nur jene indigenen Territorien das verfassungsgemäße Recht auf juristische Anerkennung (Demarkation und Homologation) hätten, bei denen bewiesen werde, dass Indigene auf dem Gebiet zum Tag des Inkrafttretens der brasilianischen Verfassung – dem Stichtag 5. Oktober 1988 – lebten. Dieser Nachweis hätte bei vielen der indigenen Territorien und vor allem bei vielen der noch nicht juristisch anerkannten Gebiete nicht beigebracht werden können. In der Konsequenz – so Kritiker*innen des „Marco Temporal“ – hätte die Gefahr bestanden, dass rückwirkend 500 Jahre Landraub und Vertreibung erneut legalisiert würden.

Unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“ versuchen die Zusammenschlüsse der indigenen Völker Brasiliens seit Jahren, in der Öffentlichkeit auf die Absurdität der Stichtagsregelung hinzuweisen. So schätzt der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) die juristische These des „Marco Temporal“ als verfassungswidrig ein, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, ignoriert. Darüber hinaus gab es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Denn qua Gesetzbuch standen Indigene unter staatlicher Vormundschaft, der sogenannten tutela, was erst die neue Verfassung von 1988 beendete. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebietes am 5. Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die nicht bewohnt werden, aber eine besondere kulturelle und spirituelle Bedeutung haben.

Im Urteil des STF ging es konkret um das Gebiet Ibirama La Klãnõ der indigenen Xokleng im Bundesstaat Santa Catarina, aus dem diese – infolge der massiven deutschen Einwanderung in den Süden Brasiliens – gewaltsam, äußerst brutal und menschenverachtend ab den 1850er Jahren bis in die 1930er Jahre vertrieben wurden. Die Landesumweltbehörde des Bundesstaates Santa Catarina forderte ab 2009 vor Gericht die Räumung eines 80.000 Quadratmeter großen Gebietes, auf dem heute indigene Xokleng, Kaingang und Guarani leben. Es grenzt an das im Jahre 1958 vom Staat ausgewiesene (aber noch nicht abschließend demarkierte) Gebiet der Terra Indígena Ibirama La Klãnõ an. Dieses historisch von den Xokleng einerseits sowie von den Kaingang und Guarani andererseits bewohnte Gebiet wurde Ende der 1980er Jahre zusätzlich durch den Bau des Staudamms Barragem Norte beeinträchtigt, so dass die Indigenen wiederum nur ein kleineres Gebiet als ihr traditionelles Territorium beanspruchen konnten.

Die Landesumweltbehörde von Santa Catarina argumentierte in der Klage, das Gebiet stehe unter Naturschutz und müsse daher von den Indigenen geräumt werden. Auf dem Gelände befinden sich heute aber auch Tabakfarmer*innen und es sind dort Holzfirmen aktiv. Laut der Behörde hielten die Indigenen das Gebiet illegal besetzt und die Anerkennung sei als indigenes Territorium nicht rechtens, da die Indigenen am Stichtag, dem 5. Oktober 1988, nicht in dem Gebiet lebten. Daher gelte die Stichtagsregelung des „Marco Temporal“. Im Jahr 2013 wandte das Bundesgericht der 4. Region (TRF-4) im Bundesstaat Santa Catarina das Kriterium der Stichtagsregelung an, indem es der Landesumwelt- behörde die Entscheidungshoheit über das Gebiet Ibirama La Klãnõ zusprach. Gegen die Entscheidung des TRF-4 legte die Indigenenbehörde des Bundes, FUNAI, beim STF Berufung ein. Im Jahr 2019 entschied der Oberste Richter Alexandre de Moraes, dass dieser Fall „strahlende Rechtskraft grundlegender Natur“ habe, so dass das vom STF zu entscheidende Urteil Grundsatzcharakter für die bis zu 200 noch anstehenden Rechtsentscheidungen in Bezug auf indigene Territorien Brasiliens entfalte.

Die Vertreter*innen der Xokleng argumentieren stets, dass sie gewaltsam aus ihren Gebieten vertrieben wurden, viele ihrer Vorfahren ermordet wurden und ihnen erst die Verfassung von 1988 das Recht auf ihr angestammtes Gebiet garantierte. Erst ab diesem Zeitpunkt konnten sie ihre historischen Territorien einfordern. „Wenn wir 1988 nicht in einem bestimmten Gebiet waren, dann heißt das nicht, dass es Niemandsland war oder dass wir nicht dort waren, weil wir es nicht wollten. Die Stichtagsregelung verfestigt eine historische Gewalt, die bis heute ihre Spuren hinterlässt“, sagte Brasílio Priprá, Sprecher der Xokleng, im Jahr 2020. Dieser Ansicht folgte nun der Oberste Gerichtshof Brasiliens.

Der Agrobusiness wird sich Enteignungen nicht gefallen lassen

„Wir haben gesiegt!“, jubelte es am 21. September in den sozialen Medien, nachdem beim Stand 5:2 der Oberste Richter Luiz Fux ebenfalls gegen die Stichtagsregelung votierte und damit mit sechs Stimmen die Mehrheit erreicht war.Doch selbst mit dieser höchstrichterlichen Entscheidung sind die Konflikte nicht beigelegt – vielleicht verschärfen sie sich noch weiter. Denn der STF entschied eine Woche später, dass der Staat Entschädigungen an jene zu enteignenden Grundbesitzer*innen zahlen muss, die in der Vergangenheit in „gutem Glauben“ die Grundstücke von Vorbesitzenden erworben haben. Zudem soll sich die Entschädigung insofern eher am Marktwert orientieren, als nicht nur der bloße Grundbesitz, sondern auch die auf diesem im Lauf von Generationen geleisteten „Aufwertungen“ honoriert werden sollen. Und diese Entschädigungszahlungen sollen sofort und vor der Räumung des Gebietes erfolgen. So befürchten vor allem Indigene, dass es in der Praxis kaum zu Enteignungen kommen wird. Denn wenn es dem brasilianischen Staat im Moment an einem fehlt, sind es finanzielle Spielräume, die durch die große Haushalts- und Schuldenbremse massiv eingeschränkt werden.Dass vor allem Brasiliens Agrobusiness sich eine Enteignung – selbst bei Entschädigung – nicht so einfach gefallen lassen wird, zeigte sich genau am Tag der höchstrichterlichen Entscheidung. Denn bereits wenige Stunden bevor der STF zu seiner entscheidenden Sitzung zum „Marco Temporal“ zusammenkam, debattierte im brasilianischen Senat die Kommission für Verfassung, Justiz und Teilhabe von Bürger*innen über die Gesetzesinitiative PL 2903. Diese war unter dem Kürzel PL 490 im brasilianischen Abgeordnetenhaus am 30. Mai verabschiedet worden und definiert die Stichtagsregelung „Marco Temporal“ nicht nur in Bezug auf künftige Demarkationen, sondern könnte rückwirkend auch bestehende Demarkationen juristisch angreifbar machen. Zudem beinhalten die PL 2903/PL 490 explizit die Möglichkeit, indigene Territorien gegen die Zahlung von Konzessionen an Indigene wirtschaftlich auszubeuten.

Angesichts der im STF anberaumten Abstimmung beeilten sich die dem Agrobusiness nahestehenden Senator*innen, um möglichst noch vor dem STF zu einer legislativen Entscheidung zu kommen. Dies gelang ihnen zunächst jedoch nicht, da auch im Senat Verzögerungstaktiken wie die Beantragung von Vertagungen üblich sind. Senator Randolfe Rodrigues von der an der Regierungskoalition beteiligten Partei Rede verurteilte diesen Versuch einer legislativen Hauruckaktion scharf: „Nichts rechtfertigt diese Eile, die im Widerspruch zu dem steht, was zwischen den indigenen Anführern und den Senatoren besprochen wurde. Zumal der Oberste Gerichtshof bereits über die Angelegenheit urteilt”, sagte Rodrigues in der Sitzung. Die Entscheidung in der Senatskommission wurde durch den Antrag auf Vertagung seitens der Senatorin Eliziane Gama von der Partei PSD, die ebenfalls der Regierungskoalition Lulas angehört, für sieben Tage unterbrochen. „Es besteht kein Zweifel, dass dieses Gesetz nicht in Kraft treten wird. Wir könnten über ein Gesetz abstimmen, das verfassungswidrig ist”, sagte sie im Hinblick auf die am Nachmittag anstehende Entscheidung im STF.

Doch etliche Senator*innen ließen in der Debatte in der Kommission keinen Zweifel daran, dass sie weiter mit allen Mitteln dafür kämpfen werden, dass es eine Gesetzgebung des Nationalkongresses zu einer Stichtagsregelung indigenen Landes geben werde. So stimmten im Senat genau eine Woche später (wiederum am gleichen Tag wie der STF) sowohl die zuvor vertagte Kommission als auch im Schnellverfahren das Plenum, dass die PL 2903 zum „Marco Temporal“ als Gesetz Gültigkeit habe. Dazu verhalf ihnen die große Mehrheit, die agrobusinessfreundliche Abgeordnete und Senator*innen im Nationalkongress haben. Die parteiübergreifende Fraktion der sogenannten ruralistas der FPA (Frente Parlamentar da Agropecuária) stellt 300 der 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus und im Senat zählt die FPA nach eigenen Angaben 47 der 81 Senator*innen. Die ruralistas sind damit die mächtigste parteiübergreifende Fraktion im Nationalkongress.

Nun muss Präsident Lula entscheiden, ob er das Gesetz PL 2903 zum „Marco Temporal“ unterzeichnet oder ob er sein Veto einlegt. Übt er sein Veto aus und kann der Kongress in einer gemeinsamen Sitzung beider Kammern das präsidentielle Veto überstimmen, dann würde der „Marco Temporal“ gelten. Etliche Senator*innen erklärten in der Debatte um die PL 2903, dass sie – und nicht der Oberste Gerichtshof – die Herrschaft über die Legislative ausübten. Es scheint, dass die konservativen Abgeordneten und Senator*innen eine schwere Verfassungskrise zwischen den drei Gewalten herbeiführen wollen: Trotz des Grundsatzurteils haben konservative Senator*innen eine Verfassungsänderung eingereicht, die explizit den „Marco Temporal“ mit Stichtag 5. Oktober 1988 als Basis für die Demarkation indigener Territorien in die Verfassung schreiben soll. Allerdings bräuchten sie dafür eine Dreifünftelmehrheit im Nationalkongress. So geht der Kampf der drei Gewalten weiter – aber die indigenen Völker Brasiliens haben gezeigt, dass sie nicht länger nur Zuschauende sein wollen.


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“Die Angst ist immer da”

Gerechtigkeit für Sergio Der Aktivist aus Salitre wurde 2019 erschossen (Foto: Alke Jenss)

Costa Rica steht im deutschsprachigen Raum für Vieles: paradiesisches Tourismusziel, Pionier der erneuerbaren Energien, Land ohne Armee, sichere Zone im zentralamerikanischen Chaos. Die Realität ist, wie immer, komplexer. Was aber die Wenigsten mit dem Land verbinden, sind gewaltvolle Landkonflikte.

Im Süden Costa Ricas, in der Provinz Puntarenas, müsste man die Augen jedoch sehr fest verschließen, um diese Konflikte zu übersehen. Viehzucht und Ananasplantagen prägen die Landschaft um das Städtchen Buenos Aires. Die Plantagen grenzen fast unmittelbar an mehrere indigene Territorien an. Pablo Sibar kommt aus Térraba und gehört zur indigenen Bevölkerungsgruppe der Brörán. Er ist Koordinator des nationalen Zusammenschlusses Indigener Gemeinschaften FRENAPI (Frente Nacional de los Pueblos Indígenas).

Pablo und andere Aktivist*innen haben begonnen, sich gegen jahrzehntelang staatlich geduldete illegale Landnahmen zu wehren. Térraba, eigentlich indigenes Territorium, ist ein Flickenteppich privat bewirtschafteter Fincas und industrieller Viehzucht. Viele Nicht-Indigene bewirtschaften das Land hier seit Jahrzehnten ohne rechtliche Grundlage.

2018 haben Aktivistinnen um Pablo eine Finca besetzt, die den Nutzerinnen als Ferienhaus und Jagdgebiet diente. Die Aktivist*innen ließen sich bisher nicht wieder von dort vertreiben und nutzen die Finca, der sie den Namen Crun Shurin gaben, zur Selbstversorgung. 16 Familien teilen sich die 600 Hektar. Zunächst erreichten sie mit dem zuständigen Staatsanwalt und dem Verwalter die Abmachung, der Fall werde im Rahmen der restaurativen Justiz, einem relativ schnellen Schlichtungsverfahren verhandelt. Doch der vormalige Nutzer „konnte immer nicht teilnehmen, nicht unterschreiben, vergaß angeblich die Termine“, erinnert sich Pablo. „Kurz vor dem ersten Jahrestag, also im Januar 2019, erhielten wir den ersten Räumungsbescheid. Der Richter argumentierte, der vorige, unrechtmäßige Nutzer Eladio Ramírez habe das vorrangige Nießrecht auf den Besitz. Es gelang uns, Berufung einzulegen und so blieben wir hier auf der Finca.“ Im Mai 2019 konnten sie die verbliebenen Arbeiter*innen mit dem Vieh vom Gehen überzeugen. „Und ein Jahr später, im Jahr 2020, kamen die Ramírez, um alles zu holen, die Maschinen, die Zäune, die Tore, die Häuser, alles.“

Ein Projekt der Wiederaneignung

Das Projekt der Wiederaneignung ist auch ein Projekt der teilweisen Renaturierung. Aus Viehweiden wird Wald, Wildtiere siedeln sich wieder an. „Aquí hay vida“ („Hier gibt es Leben“), sagt Pablo Síbar. „Man sagt mir, ich sei faul, idiotisch, weil sie sagen, wir hätten die Finca ungenutzt gelassen – tatsächlich lassen wir einen Teil des Landes regenerieren. Weil das Leben etwas wert ist“. Zugleich produziert die Gruppe inzwischen genug Nahrungsmittel auf der Finca, um auch andere zu versorgen. Sie haben Orangen- und Mangobäume gepflanzt, Mais, Maniok und Nutzpflanzen wie Tiquisque. Um die zuvor wegen der Verschmutzung durch Vieh kaum nutzbaren Wasserquellen haben sie Wiederaufforstung betrieben, so dass die Finca mit Wasser versorgt ist. Pablo ist überzeugt davon, dass die langjährige und erfolgreiche Mobilisierung gegen den Diquís-Staudamm (siehe LN 537) einen harten Kern an Leuten zusammengebracht hat. Das costa-ricanische Institut für Elektrizität archivierte das Megaprojekt im Jahr 2018 nach anhaltenden Protesten. Der vorgesehene Stausee hätte an die 10 Prozent der Territorien der Teribe (Brörán) geflutet. Die Aktivist*innen haben jahrzehntelange Erfahrung in der indigenen und Umweltbewegung und kennen die entsprechenden Räume, „sie wissen zu kämpfen”, sagt eine Unterstützerin.

Das Thema der Landkämpfe reicht weit zurück: Im Jahr 1977 hatte das costa-ricanische Parlament das Gesetz zum Schutz der indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes verabschiedet und damit festgeschrieben, dass indigenes Territorium nicht einfach verkauft oder angeeignet werden kann. Die Grenzen der Territorien gelten bereits seit den 1950er Jahren, Térraba erhielt seinen gemeinschaftlichen Landtitel 1956. Keiner der späteren illegitimen Nutzer*innen des Landes kann also behaupten, in gutem Glauben gehandelt zu haben.

Staatliche Maßnahmen, die das Gesetz durchsetzen, gab es jedoch nicht. Im Gegenteil, auch der Staat beschneidet die Territorien. So wurde 2004 der Landtitel Térrabas leicht geändert und verkleinert, ohne Abstimmung mit der dort lebenden Bevölkerung. Besonders problematisch ist Folgendes: Der costa-ricanische Staat vergab die Verwaltung indigener Territorien an die sogenannte Assoziation für indigene Entwicklung ADI (Asociación de Desarrollo Indígena). Die ADI „vertritt“ und „verwaltet“ per Gesetz das indigene Gebiet, untersteht aber faktisch der staatlichen Nationalen Direktion für Entwicklung der Gemeinschaft (DINADECO) und ist somit staatlich eingesetzt. Sie „regiert“ das Territorium also auch dann, wenn eine große Mehrheit der dort Lebenden das ablehnt. In Térraba hat die ADI besonders vehement die staatstreue Idee von Fortschritt und Entwicklung durch Investitionen vertreten und den Bau des Diquís-Staudamms offen befürwortet. „Personen, die den Staudamm stark unterstützen, konnten Machtpositionen in der ADI einnehmen“, heißt es in einem Bericht an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Für die Rückgabe illegitim angeeigneten Landes an die indigene Gemeinschaft hat sich die ADI in Térraba dagegen nie eingesetzt. Ihr Präsident „ist nicht für Kulturinitiativen, er ist nicht für den Schutz der Ressourcen, er ist für nichts, was mit dem Thema Indigene zu tun hat“, sagt Paulino Nájera, der mit seiner Frau Fidelia seit Jahrzehnten Wiederaufforstung betreibt. Offenbar lässt die ADI Viehzüchter*innen auf Landstrichen ihr Vieh weiden, die von Institutionen wie dem staatlichen Wasserversorger oder der Schulverwaltung bezahlt wurden. Sie gilt als korrupt.

Das Recht auf Eigentum setzt der Staat sehr selektiv durch; die Rechte der Indigenen scheinen zweitrangig. Seit den 70er-Jahren versuchen die Gemeinden vor den Gerichten die Durchsetzung des Gesetzes zu erreichen, auch wenn internationale Instrumente wie die ILO-Konvention 169 in der Rechtsprechung zu den Besetzungen langsam Anwendung finden. 2010 hatte die Polizei einige der Aktivist*innen, die heute auf der Finca Crun Shurin leben, aus dem Parlamentsgebäude geworfen, weil sie dieses besetzen wollten bis ein Gesetz für indigene Autonomie verabschiedet würde. „Als der Staat uns aus dem Parlament schleifte, entschieden wir: sollen sie uns doch von unserem Land schleifen, wir holen uns dieses Land zurück“, so Pablo. Eine Räumung von Crun Shurin scheint faktisch noch immer möglich, auch wenn dies eigentlich indigenes Territorium ist: „Die Angst ist immer da.“

Diese Angst ist nicht unbegründet, denn die Aktivist*innen sind immer wieder direkter Gewalt ausgesetzt. 2020 zirkulierte ein Video mit rassistischen Drohungen: „Hoffentlich kommt bald jemand an die Regierung, der die Hosen anhat, um sie zu jagen und ein für alle Mal aus unserem Land zu werfen“, hieß es dort. Am 13. und 14. März 2021 erhielten Pablo und andere Aktivist*innen zum wiederholten Male Morddrohungen und rassistische Verleumdungen. Einer der Accounts, von denen die Drohungen kamen, gehörte einem Mitarbeiter eines Landbesetzers. Im Juli 2020 hatte ein anderer Arbeiter versucht, Pablo umzufahren. Jehry Rivera, ein weiterer Aktivist aus Térraba, war nur ein paar Monate zuvor, am 24. Februar 2020, ermordet worden. Sergio Rojas Ortiz, langjähriger Wegbegleiter von Pablo Síbar aus dem nahen Salitre, wurde am 18. März 2019 in seinem Haus erschossen.

Erst Ende Februar 2023 sprach ein Strafgericht der Region in Pérez Zeledon Juan Eduardo Varela als Mörder von Jehry schuldig. Er habe vorsätzlich gehandelt. Varela hatte im August 2022 öffentlich gesagt: „Ich war es, der ihn umgebracht hat“. Am 17. Juli setzte das Berufungsgericht diesen einzigen Verdächtigen wegen angeblicher Formfehler allerdings wieder auf freien Fuß. Audionachrichten kursierten, in denen Viehzüchter die Annullierung des Urteils feierten. Bei Jehrys Familie und Aktivist*innen wie Pablo Síbar bleibt das Gefühl zurück, dass der costa-ricanische Staat sie nicht vor Gewalt schützt, sondern diese durch Großprojekte eher noch befördert.

Die aktuelle Politik verspricht Verunsicherung

Die aktuelle Regierungspolitik verspricht diese Verunsicherung, die viele Lateinamerikaner*innen teilen, weiter voranzutreiben. Costa Rica durchlebt eine Haushaltskrise, da diverse Schuldenposten 2023 fällig werden. Diese machen über ein Fünftel des Haushaltes aus, für Zinsen ist ein weiteres Fünftel vorgesehen. Präsident Rodrigo Chaves setzt neben Austerität auf liberalisierende Wirtschaftsmaßnahmen. Chaves hat zudem die indigenen Gemeinden dazu aufgerufen, keine Landrücknahmen mehr durchzuführen, da diese eine „feindselige Stimmung schaffen“ würden. Sie „schüren Gewalt“, sagte ausgerechnet der Vizeminister für Gerechtigkeit und Frieden, Sergio Sevilla, im November 2022. Auf einer Reise ins südliche Costa Rica im Februar bestärkte Chaves die ADI als Repräsentationskanal für die indigenen Gemeinden und ignorierte deren Kritik. Der staatliche Plan zur Rückgabe von Land, den es durchaus gibt, hat seit Jahren keine Fortschritte gesehen. Geld gibt es hierfür kaum.

“Morddrohungen gab es im letzten Jahr keine mehr”, sagt Pablo. Er vermutet, die aufgeheizte Stimmung sei etwas abgeflaut, da sie in Térraba keine weiteren Landrücknahmen versucht hätten. Dem Bild von Costa Rica als demokratischer, friedlicher Ausnahmestaat in Zentralamerika verleiht Pablos Geschichte dennoch tiefe Risse.


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Gemeindeversammlung im Schatten der Konzerne

Amtsantritt mit Ansage Der neue Gemeinderat übt harsche Kritik an den Konzernen (Foto: Rita Trautmann)

Noch vor Sonnenaufgang treffe ich an einem Sonntag im März dieses Jahres vier Kolleg*innen von MADJ, eine der wichtigsten sozialen und politischen Menschenrechtsbewegungen in Honduras. Gemeinsam fahren wir mit einem Pick-up in die Gemeinde San Francisco de Locomapa der indigenen Tolupanes. Die bergige und waldreiche Region liegt im Distrikt Yoro im nördlichen Honduras. Vor allem aber ist sie sehr abgelegen und nicht einfach zu erreichen. MADJ hat mich als Vertreterin des Menschenrechtskollektivs CADEHO gebeten, sie bei der Fahrt zu einer Gemeindeversammlung als Menschenrechtsbeobachterin zu begleiten. Ich bin zum ersten Mal in Honduras, seitdem die linksgerichtete Partei LIBRE die Narco-Diktatur von Juan Orlando Hernández abgelöst hat und sehr gespannt auf die Veränderungen im Land unter der Präsidentin Xiomara Castro.

Nach einer Stunde Fahrt verlassen wir die asphaltierte Straße. Eine holprige Schotterpiste beginnt, die sich in Serpentinen die Berge hochschlängelt. Unterwegs durchqueren wir mehrere Flussläufe. An der ersten Flussdurchfahrt halten wir kurz an. Estefany Contreras, Anwältin der MADJ, zeigt auf die Berge: „Hier beginnt das Territorium der Tolupanes gemäß des bis heute gültigen Landtitels von 1864. Doch Anfang der 1990er Jahre, während der Regierung von Callejas, hat das nationale Agrarinstitut INA das Gebiet neu vermessen und es einfach verkleinert.“

Die Berghänge waren einst komplett von Kiefernwäldern bedeckt, jetzt sind sie mit entwaldeten Schneisen überzogen. „Das Holz ist begehrt und die Unternehmen dringen immer weiter in das indigene Territorium ein, um Holz zu schlagen“, erklärt Estefany weiter.

Doch nicht nur wegen der Holzvorkommen weckt das Gebiet der Tolupanes Begehrlichkeiten, es gibt auch Gold, Eisen und Antimon. Umso wichtiger ist eine juristische Vertretung der Gemeinden, die für den Schutz der natürlichen Ressourcen eintritt. Genau darum geht es in der heutigen Gemeindeversammlung. Nach zwölf Jahren soll endlich ein neuer Gemeinderat, der Consejo Directivo, für San Francisco de Locomapa gewählt werden.

Jede der 31 Tolupan-Gemeinden hat einen Consejo Directivo als legale Vertretung. Alle Tolupan-Gemeinden zusammen werden von der Föderation der Tolupanes, Fetrixy, repräsentiert.

Zur Gemeinde Locomapa gehören 22 Dörfer, die verstreut in den Bergen liegen. Wir kommen durch einige der Dörfer, die Ladefläche des Pick-up füllt sich schnell mit Menschen. Die Straße ist gesäumt von Menschengruppen, die sich auf den Weg zur Versammlung gemacht haben – häufig mit der ganzen Familie.

Würdevoll und rebellisch! Transparent der Versammlung für die Gerechtigkeit Tolupan (Foto: Rita Trautmann)

Als wir ankommen, werden wir bereits erwartet. Ramón Matute aus Locomapa ist erleichtert, dass MADJ mit mehreren Personen anwesend ist. Er ist einer der Kandidat*innen für den neuen Gemeinderat und betont die Notwendigkeit der Wahl. Die Mitglieder des bisherigen Gemeinderates hätten sich von den Unternehmen korrumpieren lassen. Gegen Geld gaben sie den Unternehmen die Erlaubnis zum Raubbau an der Natur. Das Geld sei jedoch nie der Gemeinde zugutegekommen. „Die Mitglieder des alten Consejo hatten kein Interesse, eine Gemeindeversammlung für eine neue Wahl einzuberufen. Aber damit muss Schluss sein, wir dürfen nicht unsere Lebensgrundlage verlieren“, sagt Ramón entschieden.

Die Gemeinden der Tolupanes gehören zu den ärmsten in Honduras. Die Menschen in den Gemeinden leben von dem wenigen, was der karge Boden hergibt. Mehr als 72 Prozent der Haushalte leben in extremer Armut, fast 40 Prozent der Häuser haben nicht einmal einen Wasseranschluss. Die Analphabet*innenrate ist höher als im restlichen Land. Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sind in einem schlechten Zustand und nicht für alle Dörfer gut erreichbar.

Viele Bewohner*innen der Gemeinde Locomapa wollten seit längerem einen neuen Gemeinderat. Doch diejenigen, die sich gegen den alten Consejo stellten, wurden bedroht und eingeschüchtert. Es war ein langer und schwieriger Weg bis zur heutigen Versammlung. Denn offen gegen Unternehmen Stellung zu beziehen, ist gefährlich. Ramón Matute weiß dies. Im Februar 2019 wurden sein Vater und sein Bruder ermordet. Beide waren Landrechtsverteidiger*innen und gehörten MADJ an.

Den alten Gemeinderat abzulösen, ist eine klare Ablehnung der Machenschaften der Unternehmen. Deshalb hat die MADJ zwei weitere Menschenrechtsbeobachter*innen von Peace Watch Switzerland nach Locomapa gebeten. Dies zeigt, wie angespannt die Situation ist. Auf die staatlichen Sicherheitsorgane ist kein Verlass. Zwar wurden 18 Familien aus San Francisco Locomapa bereits 2013 von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Schutzmaßnahmen zugesprochen, darunter fast allen Kandidat*innen. Doch meist hat die Polizei bei schweren Menschenrechtsverletzungen weggesehen und die Interessen der Unternehmen geschützt. Zur heutigen Gemeindeversammlung ist allerdings sogar die Polizei gekommen. Sie hält sich abseits und beobachtet das Geschehen.

Wer auf den Platz des Gemeindehauses will, wird vom Organisationsteam der Versammlung kontrolliert. Es wird befürchtet, dass Gegner*innen der Wahl bewaffnet zur Versammlung kommen und gewalttätig werden. Bei großer Mittagshitze beginnt die Versammlung. Es sind mehr als einhundert Menschen, die auf dem Vorplatz des Gemeindezentrums stehen, sich Luft zufächeln oder ihre Regenschirme gegen die Sonne aufgespannt haben. Die neuen Kandidat*innen, drei Frauen und fünf Männer, stellen sich vor. Es wird abgestimmt. Die Mehrheit stimmt für den neuen Consejo Directivo. Die Versammlung geht erstaunlich schnell und zum Glück reibungslos vonstatten. Anwältin Estefany Contreras von MADJ sorgt dafür, dass alle Dokumente der Wahl vollständig sind, damit der neue Consejo staatlich anerkannt wird.

„Wir unterstützen die Gemeinden aber nicht nur juristisch. Von großer Bedeutung ist die Aufklärung der Gemeinden über ihre Möglichkeiten gegen Korruption und Landgrabbing vorzugehen“ berichtet Estefany nach der Wahl. Dennoch ist es für viele Tolupanes schwierig, von ihren Rechten Gebrauch zu machen. Das geringe Bildungsniveau, aber auch die Diskriminierung der indigenen Bevölkerung sind Hindernisse. Wer nicht lesen und schreiben kann, darf Ämter wie die im Gemeinderat nicht einnehmen, egal wie engagiert die Person ist.

Nachdem alle Neugewählten das Protokoll unterschrieben haben, sind sie offiziell für die nächsten zwei Jahre im Amt. Ramón Matute ist jetzt Präsident des Gemeinderates. Doch glücklich wirkt er nicht. Ebenso wenig wie Rosa Adilia Vieda, die Vizepräsidentin und die weiteren sechs neuen Ratsmitglieder. Sie alle wissen, was ihre neue Funktion mit sich bringen kann. Dennoch haben sie sich zur Wahl gestellt und ihr Amt angetreten. Ihr Mut beeindruckt mich sehr.

Zum Abschied sagt Ramón: „Ich weiß, wie gefährlich es für uns ist. Ich habe erst gestern noch an einige der bereits Ermordeten gedacht und weiß, dass wir auf dem gleichen Weg sind. Aber wir können nicht aufgeben, wir wollen unser Territorium verteidigen.“ Mit gemischten Gefühlen machen wir uns auf den Rückweg, wieder mit einer Ladefläche voller Menschen. Die meisten von ihnen steigen in San Francisco Campo aus, einem symbolischen Ort für die Tolupanes. Im Jahre 2013 wurden hier drei Aktivist*innen ermordet. Gegenüber des Gedenksteins für die Toten soll ein kommunales Radio entstehen, ein Vorhaben des neuen Consejo. Zurück geht es wieder durch mehrere Flussläufe und Staub weht durch die offenen Fenster. Nach einem langen Tag mit intensiven Begegnungen kommen wir müde in San Pedro Sula an.

Bereits weniger als einen Monat nach der Wahl kommt es zu einem ersten Zwischenfall. Der Eigentümer des Holzunternehmen INMARE, Wilder Dominguez, versucht einen Teil der Bevölkerung von Locomapa dazu zu bringen, einen anderen, ihm genehmen Gemeinderat zu wählen, um weiterhin Holz schlagen zu können.

Der Plan des INMARE-Eigentümer scheitert, aber er spaltet die Gemeinde. Von Dominguez korrumpierte Gemeindemitglieder greifen Ramón Matute und Rosa Adilia Vieda gewaltsam an. Zur Sicherheit muss Rosa Adilia nach diesem Vorfall für einige Zeit außerhalb der Gemeinde leben. Ihre drei Kinder müssen solange bei den Nachbarn bleiben. Dennoch steht sie zu ihrer Entscheidung, sich wählen zu lassen: „Für mich ist es wichtig, dass auch Frauen im Consejo sind. Das ist ein Zeichen an alle anderen, dass wir Frauen auch für unser Land kämpfen können.“

Ein weiterer Monat vergeht, dann erhält Ramón Morddrohungen, als er mit dem Gemeinderat das Gebiet inspizierte, indem die Bergbaufirma Lachansa illegal operiert. Und leider ist davon auszugehen, dass dies nicht die letzte Morddrohung ist, die er in seinem neuen Amt erhalten wird. Denn seit den 1980er Jahren sind mehr als 100 Landrechtsverteidiger*innen der Tolupanes ermordet worden. Das ist eine erschütternde Bilanz. Die indigenen Gemeinden der Tolupanes fühlen sich in einer ausweglosen Situation, denn auf den Staat können sie nicht zählen und die Aktivist*innen werden bedroht und ermordet. Leider hat sich die Lage unter der Regierung von Xiomara Castro nicht geändert – für mich war dies ein ernüchternder Besuch vor Ort.


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Eine Krise jagt die nächste

Chaco Salteño Wichí-Frauen im Protestcamp von Misión Chaqueña und Carboncito (Foto: Naomi Henning)

Das Waldstück, in dem sich das Protestcamp befindet, wurde im vergangenen Jahr ohne Konsultation mit den indigenen Gemeinden verkauft. Der „sogenannte Eigentümer“ (supuesto dueño), wie ihn die Wichí-Frauen nennen, versucht seither, mit dem Holzverkauf Geld zu verdienen. Mithilfe eines Anwalts soll aufgeklärt werden, woher dieser neue Landnutzer mit einem Besitztitel wie aus dem Nichts erscheinen konnte.

„Wir wollen vor allem verhindern, dass er den Wald einzäunt“ ,so Lucy Gutierrez, eine der Initiator*innen des Protestcamps. Denn das Einzäunen ist der erste sichtbare Schritt hin zur Privatisierung gemeinschaftlich genutzter Ressourcen. Die Frauen des Protestcamps erklären, warum die verschiedenen Bäume und Pflanzen des Waldes und der freie Zugang zu ihnen so existenziell wichtig sind: Das Hartholz wird für den Möbelbau benötigt, das Brennholz zum Kochen. Aus der Chaguar-Pflanze fertigen die Weber*innen der Wichí kunstvolle Textilprodukte. Bäume wie der Mistól und der Algarrobo sind eine wichtige Nahrungsquelle für die indigene Bevölkerung dieses Gebiets, die bis vor wenigen Generationen nomadisch im und vom Wald lebte. Diese Praktiken sind bis heute wichtiger Teil der kulturellen und materiellen Existenz der Wichí. „Der Wald ist unsere Apotheke“, erklärt Lucío Palavesino und zeigt auf verschiedene Büsche und Bäume, deren Blätter gegen Verdauungskrankheiten oder Fieber helfen. Doch diese Ressourcen des Waldes verschwinden nach und nach. Das Wissen über die Pflanzen und Tiere und die nachhaltige Nutzung des Waldes gehe immer weiter verloren, da die jüngere Generation kein Interesse mehr daran habe. Trotzdem würden sie alles tun, um die Zerstörung des Waldes aufzuhalten – wenn nötig mit direkter Aktion und Körpereinsatz.„Wir wollen hier keine Finca, die alles abholzt und uns mit Agrargiften besprüht“, erklärt Lucy. „Wir sehen das in der Umgebung in den anderen Dörfern, wo es Menschen mit Hautproblemen oder Missbildungen gibt.“

Der Einsatz von Pestiziden führt bei Kindern zu Durchfall und Erbrechen

Allein seit dem Jahr 2000 wurde ein Viertel der Waldflächen des Gran Chaco abgeholzt. Ab 2007 trat in Argentinien zwar ein nationales Waldschutzgesetz in Kraft, doch die Abholzung schreitet weiter voran, wenn auch etwas verlangsamt. Was auf den Verlust des gemeinschaftlich genutzten Waldes folgt, lässt sich in der comunidad La Esperanza, einige Kilometer weiter westlich beobachten. Bis hier ist die Abholzungswelle entlang der Nationalstraße 53 vorgedrungen. Das war vor etwa 15 Jahren, berichtet Mario Molina, cacique (indigener Anführer) der kleinen Wichí-Gemeinde. Auf mehreren Seiten seien sie heute von Soja-, Mais- und Erbsenfeldern umgeben. Während der Saatperiode werden hier, nur wenige Meter von der Siedlung entfernt, Pestizide versprüht, die vor allem bei den Kindern zu Reaktionen wie Durchfall und Erbrechen führen. Die Bewohner*innen von La Esperanza leiden unter Haut- und Atemwegsproblemen. In dieser kleinen Siedlung von nur 30 Familien gibt es sieben Fälle von Missbildungen bei Kindern. Immer wieder hätten sie die Pestizidvergiftungen angezeigt, doch bisher habe die Justiz nicht reagiert.

In der kleinen Gemeinde gibt es so gut wie keine medizinische Versorgung und die Familien fühlen sich mit den teils schweren Gesundheitsproblemen völlig allein gelassen. Ihnen sei mit dem Wald auch die Bewegungsfreiheit und ein Teil ihrer Grundversorgung genommen worden, so Molina. Heute seien sie weitaus mehr auf Geld für Lebensmittel und Medikamente angewiesen, doch es gibt keine Arbeit in der industriellen Landwirtschaft. Viele an Ortschaften angrenzende Fincas sind dazu übergegangen, die Pestizide im Schutz der Dunkelheit auf den Feldern auszubringen. Das berichten auch die Bewohner*innen der comunidades O KaPukie und Quebracho am Rand der weiter nördlich gelegenen Stadt Tartagal. Vor Kurzem stellten sich die Menschen hier einem Sprühfahrzeug in den Weg, nachdem der Chemikalien-Gestank vom benachbarten Sojafeld sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Viele der Beteiligten litten danach unter Erbrechen und Schwindel. Auch aus den comunidades in der Umgebung wird immer häufiger über Hautprobleme, Krebskrankheiten sowie Fehl- und Frühgeburten berichtet.

An der Ruta 34 Ein von der Abholzung verschonter Palo Borracho (Foto: Naomi Henning)

Die tropische Stadt Tartagal liegt am Rand der Chaco-Ökoregion, das zweitgrößte Waldgebiet Südamerikas und ein sogenannter Entwaldungs-Hotspot. Knapp 60 Kilometer von der Grenze zu Bolivien entfernt, ist Tartagal eine Durchgangszone für eine Vielzahl legaler und illegaler Güter und zugleich ein Ort von immenser kultureller Vielfalt. Hier leben Nachfahren unterschiedlicher Gruppen von Einwander*innen zusammen mit Menschen aus sieben verschiedenen indigenen Völkern. Die nordsüdlich verlaufende Ruta 34 und die nach Osten aus der Stadt führende Ruta 86 sind zugleich die Achsen, entlang derer sich die Abholzung und das System des Monokulturanbaus in den vergangenen Jahrzehnten vorangeschoben hat. Hier lassen sich der argentinische Agrarextraktivismus,die export- und profitgetriebene Produktion für den Weltmarkt wie unter einem Brennglas beobachten. Entlang der Ausfallstraßen siedeln sich die an, die aus dem Zentrum der Stadt und den traditionell genutzten Territorien im Hinterland verdrängt wurden. So wachsen die informellen Siedlungen um Tartagal, viele ohne Anschluss an die städtische Infrastruktur und Zugriff auf sauberes Trinkwasser, im Zustand einer fortgesetzten Ernährungs -und Gesundheitskrise. Hier folgt eine Krise auf die nächste, berichtet Araceli Gorgal, eine junge Ärztin aus der Provinz Buenos Aires, die in Tartagal ihren sozial-medizinischen Praxisaufenthalt absolviert. Vor allem das Thema Ernährung müsse als erstes angegangen werden.

Noch immer sterben jedes Jahr Kinder in den indigenen comunidades im Norden Saltas an der Kombination von Mangelernährung und Durchfallerkrankungen. Dies geschieht vor allem in der Regenzeit im Januar und Februar, wenn die Belastung durch Krankheitserreger hoch ist. Die Wasserkrise scheint im dritten und besonders extremen Dürre-Sommer Anfang 2023 auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angelangt. Das betrifft nicht nur die indigene Bevölkerung Saltas, sondern alle Menschen in der Region, die in prekären Konditionen leben und von den staatlichen Institutionen im Stich gelassen werden. Auch die Criollo-Bevölkerung – Nachfahren der aus Europa eingewanderten Siedler*innen – kämpft um den Zugang zu grundlegenden Infrastrukturen wie Trinkwasser, Elektrizität und sichere Landtitel. Die Konstruktion der indigenen Bevölkerung als alleiniges Opfer sehe sie daher kritisch, betont Gorgal.

Zugleich muss jedoch deren besondere Situation in den Blick genommen werden. Viele der Menschen aus den indigenen comunidades im Norden Argentiniens sind mit einem radikalen und plötzlichen kulturellen Wandel durch die Ausbreitung der industriellen Landwirtschaft und den Verlust des Waldes als Subsistenzgrundlage konfrontiert. Die Veränderung in Lebensweise und Ernährung, die damit einherging, bildet den Hintergrund der Gesundheitskrise, die die Menschen in Tartagal und im Umland täglich begleitet.

Entlang der Ruta 86 und in den barrios, in denen Araceli Gorgal unterwegs ist, um den Gesundheitszustand in den comunidades zu dokumentieren, sehe sie viele Kinder mit Übergewicht und gleichzeitig Symptome fortschreitender chronischer Unterernährung. Dies sind überregionale Phänomene von Armut und eines grundlegenden Nährstoffmangels, der oft mit dem übermäßigen Konsum von fett-, zucker- und kohlehydratreicher Ernährung zusammenfällt. „Erst nehmen sie uns das Land weg und jetzt killen sie uns mit Zucker“, so formuliert es Lucy Gutierrez. Die Folgen zeigen sich in einer starken Zunahme von Diabetes Typ 2 und Entzündungen des Verdauungstraktes. Dahinter stehen andere Prozesse wie die Zunahme von häuslicher Gewalt, Schwangerschaften bei Teenagern und eine Welle von Alkohol- und Drogenkonsum, die viele der Jugendlichen mit sich reißt.

Die Regierung von Präsident Fernández befindet sich in einer Zwangssituation

Die Provinz beschränkt sich vor allem darauf, Symptome zu bekämpfen. Lastwagen mit Trinkwasser und Nahrungspaketen rattern über die Landstraßen, um die Grundversorgung der ärmsten Teile der Bevölkerung sicherzustellen. In umgekehrter Richtung werden die gemästeten Rinder des Agrarkonzerns Desdelsur tagtäglich in Richtung Schlachthof abtransportiert. Während der Erntezeit verlassen mit Sojabohnen gefüllte LKWs bei Tag und bei Nacht diese Zone. Ein hochentwickelter und technisierter Agrarsektor produziert hier Proteine für den Weltmarkt, während der Hunger in der argentinischen Bevölkerung allein zwischen 2019 und 2021 um 30 Prozent zugenommen hat. 43 Prozent der Argentinier*innen leben unter der Armutsgrenze. Hier im äußersten Norden des Landes fallen diese immanenten Widersprüche des argentinischen Rohstoff-Exportsystems besonders krass ins Auge.

Die peronistische Regierung von Alberto Fernández befindet sich in einer Zwangssituation. Eine Inflation von 104 Prozent und die erdrückende Dollar-Schuldenlast machen es nicht leichter, ein Agrarsystem zu reformieren, das sich so effizient zur Beschaffung von Devisen ausnutzen lässt. Zum anderen zementieren die seit jeher konservativen lokalen Machtstrukturen die eklatanten Mängel in der strukturellen Versorgung und die soziale Ungleichheit.

Der durch die Dürre verursachte Einbruch der Agrarexporte in der aktuellen Saison zeigt jedoch die Fragilität eines solchen Entwicklungsmodells auf. Eine systematische Förderung der kleinbäuerlichen Produktion, öffentliche Investitionen und die Eindämmung der ökologischen und sozialen Lasten durch die industrielle Landwirtschaft wären dringend notwendig, um den multiplen Krisen im Chaco Salteño zu begegnen. Die Kontinuität der kolonialen Enteignung der ursprünglichen Bevölkerung der Region und die historischen Widersprüche in der argentinischen Klassengesellschaft wären damit jedoch noch lange nicht aufgelöst.


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„Wir dekolonisieren die Technologie“

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Kenntnisse, die ermächtigen Carlos Doviaza gibt eine Fortbildung zu geografischen Informationssystemen (Foto: Carlos Doviaza)

Wie ist allgemein die rechtliche Situation indigener Gebiete in Panama heute?

Es gibt zwei Arten offizieller indigener Gebiete: Neben den comarcas, die meist den Status von Provinzen haben, gibt es seit 2008 so genannte Kollektivgebiete, durch die auch indigene Gemeinschaften außerhalb der comarcas anerkannt werden.
Die Behörden auf Gemeinde- und Landesebene haben trotzdem immer noch die Vorstellung, dass es zwar indigene Gemeinschaften gibt, aber kein indigenes Land. Bis zur Erlangung eines Landtitels haben Kollektivgebiete keine Rechtssicherheit. Die Gemeinschaften legen vor Ort ihre Wege an, aber das bedeutet nicht, dass sie von nicht-indigenen Menschen respektiert werden. Selbst in der comarca der Emberá und Wounaan gibt es jetzt ein Problem mit Invasionen. Wenn die Gemeinschaften nicht organisiert sind und sich jede nur ihrer eigenen Landwirtschaft, ihrem Überleben widmet, wird die territoriale Grenze immer bedroht sein.

Sie setzen moderne Technik wie Drohnen ein, um indigene Gebiete besser zu schützen. Was ist die Idee dahinter?

Meine Arbeit besteht darin, die technischen Fähigkeiten der indigenen Gemeinschaften zu stärken. Es begann 2015 mit einem Projekt zur Waldüberwachung per Fernerkundung, das die Dachorganisation der indigenen Gemeinschaften in Panama (COONAPIP) gemeinsam mit der Welternährungsorganisation (FAO) entwickelt hat, um für die in COONAPIP organisierten Gruppen eigene Techniker auszubilden. Das waren damals acht Personen, darunter ich.
Die FAO schulte uns im Umgang mit Drohnen, GPS und geografischen Informationssystemen, in der Erstellung von Karten und in der Satellitenüberwachung. So können wir indigenen Autoritätspersonen Werkzeuge an die Hand geben, wenn sie illegalen Holzeinschlag, Abholzung, Brandrodung usw. anzeigen. Die staatlichen Behörden wie das Umweltministerium und die Staatsanwaltschaft schenken diesen Beschwerden leider keine Beachtung, wenn sie nur mündlich vorgebracht werden. Ziel war es also, diese Lücke jeweils durch einen technischen Bericht mit Koordinaten, Drohnenfotos und Karten zu schließen, den die Autoritätspersonen bei der Anzeige von Umweltverbrechen den Regierungsbehörden übergeben können.

Wie sieht eine typische Situation vor Ort aus, wenn Sie hinkommen?

Panama ist nicht wie Brasilien, Ecuador oder Peru, wo bei illegalem Holzeinschlag Zerstörung in großem Ausmaß herrscht. Hier geht es eher um Holzdiebstahl, bei dem man keine großen Schäden am Wald bemerkt. Aber wenn wir unsere Satellitenkarten betrachten, kann man die Spuren oder Narben der Veränderung der Waldbedeckung sehen.
Vor einigen Wochen waren wir etwa in einer Wounaan-Gemeinschaft namens Aruza in der Provinz Darién. Dort lief bereits ein Verfahren zur Erlangung eines offiziellen Landtitels, aber etwa 70 Siedler kamen, haben sich einen Anwalt genommen und ausgenutzt, dass die indigene Seite einige Verfahrensschritte ausgelassen hatte. So konnten sie das Verfahren letztes Jahr stoppen, sich Land aneignen und Wald abholzen, sogar mit Genehmigung vom Ministerium.
Die Mitglieder der Gemeinschaft meinten, nichts gegen die Abholzung unternehmen zu können, da die Siedler Besitzrechte hätten und die lokalen Behörden sie nicht unterstützten. Wir sind also zu dem betreffenden Gebiet hin, haben die Drohnenflüge programmiert und durchgeführt (die Drohne überfliegt dabei nach einem bestimmten Muster das Gebiet und macht Fotos, die später zu einer größeren Satellitenkarte zusammengesetzt werden, Anm. d. Red.). Dadurch haben wir gemerkt, dass es bei der Abholzung mehrere Gesetzesverstöße gab, Mindestabstände zwischen gefällten Bäumen oder zu Wasserläufen wurden etwa nicht eingehalten. Wir fuhren weiter auf einem anderen Weg, der gar nicht mehr zu dem genehmigten Gebiet gehörte, und auch dort war abgeholzt worden. Die Siedler mit ihrem Anwalt waren ziemlich überrascht und sehr erschrocken über diese Situation. Sie erschrecken mittlerweile, sobald sie mich nur sehen, weil sie unsere Fähigkeiten kennen, solche Situationen zu analysieren. Die Gemeinschaft von Aruza wehrt sich jetzt mit rechtlichen Mitteln, im Moment muss ich die Karten für die Staatsanwaltschaft zusammenstellen, damit diese den Fall untersuchen kann. Sie sieht uns als sehr wichtig an für all diese Situationen, in denen es um Holzeinschlag geht.

Wie hat die Regierung auf Ihre Arbeit reagiert?

Für das anfängliche Projekt bekam COONAPIP eine Förderung direkt von der FAO. Als die Regierung sah, dass es Gemeinschaften gibt, die sich mit Wissen zu GPS und Drohnen ermächtigten, blockierte sie die Finanzierung für die FAO. Dafür gibt es zwar keine Beweise, aber ich habe keine Zweifel daran. Als die FAO keine Mittel mehr zur Verfügung stellte, wurde die Finanzierung sehr bürokratisch. Das Team der acht Techniker löste sich auf, nur ich und mein Partner Eliseo Quintero blieben übrig. Wir haben dann später GeoIndígena gegründet, selbstständig weitergearbeitet und dafür von der Rainforest Foundation Mittel bekommen, um die Arbeit mit den Gemeinschaften der COONAPIP weiterzuführen und das erworbene Wissen nicht zu verlieren.

Der Regierung ist es letztlich aber nicht gelungen, Ihre Arbeit zu unterbinden…

Ein Schlüsselereignis war 2018 ein Zusammentreffen mit dem Umweltminister Emilio Sempris, nachdem Hunderte Wounaan aus dem Osten der Provinz Panamá, einem sehr konfliktreichen und unzugänglichen Niemandsland, den Eingang des Umweltministeriums blockiert hatten. Es ging um Protest gegen das Eindringen von Siedlern in ihr Gebiet und darum, dass das Ministerium die Genehmigung für ihren Landtitel erteilen sollte. Den Titel vergibt die Nationale Landbehörde ANATI, aber das Umweltministerium muss dazu zunächst eine Stellungnahme abgeben, da sich fragliche Gebiete häufig mit einem Schutzgebiet überschneiden. Seit 2011 hatte sich das Ministerium einfach nicht mehr geäußert, sondern immer nur verschoben, alles stagnierte. Schließlich sagte der Minister, „Okay, lasst uns mit den indigenen Völkern reden, um zu sehen, was sie wollen”. Er setzte sich mit den Autoritätspersonen der COONAPIP zusammen, denn er wollte wissen, welche indigenen Gebiete sich mit Schutzgebieten überlappten. Ich zeigte es ihm mit meinem Computer, aber er begann mir lauter Fragen zu stellen: „Zeigen Sie mir die Wassereinzugsgebiete auf nationaler Ebene”, „Zeigen Sie mir das Wassernetz”, „Wo sind die Provinzen?” Ich zeigte ihm alles und er wartete darauf, dass wir irgendeinen Fehler machen würden, was aber nicht passierte. Schließlich sagte er: „Ok, wir werden die Resolution unterschreiben”, in der er zwar noch nicht die finale Zustimmung gab, aber die Analyse der Akten zur Landtitelvergabe anordnete, was den jahrelangen Stillstand auflöste. Der Minister bat mich noch um meinen Lebenslauf, um zu sehen, ob ich für ihn arbeiten könnte – der Staat will dich auf seine Seite ziehen, damit du nichts tust. Damals hat die Regierung verstanden, dass die indigenen Gemeinschaften Spezialisten haben, die sich um die Landfrage kümmern, auch vor Ort zur Waldüberwachung.

Hat dies auch den indigenen Autoritätspersonen gezeigt, wie wichtig Ihre Arbeit ist?

Ja, bei diesem Treffen haben sie erkannt, wie wichtig es ist, ein technisches Team an der Seite zu haben, wenn es um Landfragen geht. Das war ein wichtiger Meilenstein für uns als Techniker, denn am Anfang wurden wir von unseren Autoritätspersonen nicht anerkannt, wir waren nur Teil eines Projekts. Seitdem wissen sie unsere Fähigkeiten zu schätzen und rufen uns, damit wir ihnen sagen, was wir bei der Territorialverteidigung tun können. Wir als Jugend haben uns der Technologie ermächtigt. Sehr wichtig bei all dem ist aber: Auch wenn ich technisch versiert bin, muss ich politische Fähigkeiten im Umgang mit den traditionellen Autoritätspersonen haben.

Kam es bei Ihrer Arbeit schon zu riskanten Situationen?

Wir waren einmal für technische Begleitung im Kollektivgebiet einer anderen Wounaan-Gemeinschaft unterwegs – Majé Chimán im Osten der Provinz Panamá – das die lokale Gemeindeverwaltung aber nicht anerkannte. Sie sah sich befugt, einen Teil des Landes an einen Siedler zu vergeben, ohne das Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung der indigenen Gemeinschaften zu achten.
Man gelangt nur mit dem Boot dorthin, es sind zwei, drei Stunden von der Panamericana aus. Wir stiegen arglos in das Boot des Gemeindevertreters ein und fuhren los. Während der Fahrt fragten sie uns aus: „Wer seid ihr eigentlich? Und wie viele seid ihr?”. Ich dachte mir, es ist zweifelhaft, wenn man mich so etwas mitten im Nirgendwo fragt. Wir sagten dann, dass wir insgesamt 40 Leute seien, die in ständigem Kontakt stehen. Dann gaben sie Ruhe. Aber wenn ich ihm gesagt hätte, dass in dem Moment nur Eliseo und ich diese Arbeit machten? Sie hätten uns wohl etwas angetan, denn beim Thema Land verstehen sie keinen Spaß.
Nach unserer Ankunft konnten wir den Siedler dabei aufnehmen, als er sagte: “Dieses Land gehört niemandem, der Bürgermeister hat es mir gegeben und es kann nicht sein, dass man mich wegholen will, nur weil diese Indigenen hier sind“. Für ein Treffen mit Vertretern des Ministeriums und des Bürgermeisters haben wir dann schnell ein Video vorbereitet und damit gezeigt, wie der Siedler die Behörden einbezogen hat und dass diese verantwortlich sind. Sie waren sehr beeindruckt, dass wir so schnell ein Video vorbereiten konnten, denn sie dachten immer noch, dass die indigenen Gemeinschaften keine wesentlichen Fähigkeiten haben, um so einer Situation gegenüberzutreten.

Sehr viel scheint von Ihnen und Ihrem Team bei GeoIndigena abzuhängen. Geben Sie Ihre Fähigkeiten auch weiter?

Ja, wir wollen sie an Menschen vor Ort weitergeben, damit sich das von selbst trägt. Vor einem Jahr hing noch alles von uns ab. Wir machten Schulungen. Inzwischen gibt es etwa im Volk der Naso ein eigenes technisches Team. Das Führungsgremium der Naso kümmert sich um die interne Ausbildung und Logistik, und wir als GeoIndígena bilden neue Ausbilder aus. Im Moment machen wir hauptsächlich Bürokram, aber von Zeit zu Zeit gehen wir auch ins Feld.

Gibt es ähnliche Initiativen auch in anderen Ländern?

Ich war beispielsweise mehrmals im Petén, Guatemala, und habe dort Erfahrungen mit Gemeinschaften (von der Asociación de Comunidades Forestales de Petén, Anm. d. Red.) ausgetauscht, die über Waldkonzessionen verfügen. Dadurch können sie den Waldüberwachern ein Gehalt zahlen. In Panama ist dies nicht der Fall; wir sind auf internationale Zusammenarbeit angewiesen.Im Moment teilen wir unser Wissen mit dem Volk der Miskito in Honduras und dem Volk der Mayangna in Nicaragua. Für die Arbeit dort bekommen wir Mittel von der Ford-Stiftung. Wir wollen, dass GeoIndígena die regionale Plattform für Wissensaustausch in Mittelamerika wird. Die indigenen Gemeinschaften brauchen diese Stimme der Ermutigung, dass wir etwas tun und uns selbst mit Technologie befähigen können. Mit den Worten eines befreundeten Anthropologen, wir dekolonisieren die Technologie.


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Der Nicaragua-Kanal dient als Drohkulisse

„Der größte Pirat und Vaterlandsverkäufer – Daniel Ortega“ Protest gegen den interozeanischen Kanal in Nicaragua (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr, CC BY 2.0)

Es hat lange gedauert: Zwischen 2013 und 2020 hatten die vom interozeanischen Kanal betroffenen afro-indigenen Behörden der Territorialregierung der Rama und Kriol sowie der Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields (Indigenen Gemeinschaft der Schwarzen Kreolen von Bluefields) bereits 19 Schutzanträge gestellt, von denen keiner vom nicaraguanischen Obersten Gerichtshof (CSJ) bearbeitet wurde. Danach wurde der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) aktiv. Bei der ersten Anhörung am 2. Februar 2023 bewies Nicaraguas Regierung durch ihre Abwesenheit abermals, dass die Forderungen der indigenen Gemeinschaften sie nicht interessieren, deren Klage verhandelt wurde. Der nicaraguanische Staat hat auf die Aufforderung des IACHR nicht reagiert und zu der Anhörung nicht einmal eine*n Bevollmächtigte*n entsandt.

Die Klage bezieht sich auf die fehlende Zustimmung seitens der indigenen Gemeinschaften zur Konzessionierung ihres Landes für den Bau eines interozeanischen Schifffahrtskanals (siehe LN 337/338). Obwohl 52 Prozent der Strecke des interozeanischen Kanals durch ihre Gebiete verlaufen würden, habe die Regierung sie nicht konsultiert. Weder zu dem Zeitpunkt, als sie im Juli 2012 das Gesetz 800 über die rechtliche Regelung des Kanals und die Einrichtung einer Kanalbehörde verabschiedete, noch ein Jahr später, als sie die Konzession für den Bau und die Verwaltung des Projekts an den chinesischen Investor Wang Jing für einen Zeitraum von bis zu 100 Jahren vergab, so die Kläger. Den Plänen nach soll der Kanal im Süden des Landes das Karibische Meer mit dem Pazifischen Ozean verbinden.

Der Fall ist ein beredtes Beispiel für die Schwerfälligkeit des interamerikanischen Systems, denn die Klage wurde bereits 2014 bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) eingereicht, da diese nach der Amerikanischen Konvention für Menschenrechte vor dem IACHR allein klagebefugt ist. Von neun indigenen Rama- und Kriol-Gemeinden sowie der Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields eingereicht, verweist die Klage auf die Verletzung der Eigentumsrechte, der politischen Rechte, des gleichen Schutzes vor dem Gesetz, des Rechtsschutzes und -garantien sowie des Rechts auf eine gesunde Umwelt.

„Die Verantwortlichen der Territorialregierung der Rama-Kriol hatten seinerzeit angezeigt, dass der Staat Nicaragua den Präsidenten der Regionalregierung kooptiert und ihn gezwungen hat, ein vermeintliches Abkommen mit der Kanalbehörde zu unterzeichnen, das ihr unrechtmäßig einen unbefristeten Pachtvertrag über 263 Quadratkilometer Land im Herzen ihres angestammten Territoriums einräumt”, so die Anwältin María Luisa Acosta vom Zentrum für Rechtshilfe für indigene Völker (CALPI), die die Opfer vertritt. Die Comunidad Negra Creole Indígena de Bluefields warf der Regierung unter anderem vor, dass der nicaraguanische Staat eine Parallelregierung zu der von der Gemeinschaft rechtmäßig gebildeten Regierung eingesetzt und den Prozess der Rechtstitelvergabe über ihr angestammtes Territorium abgebrochen hat. Zudem sei Dolene Miller, ihre Vertreterin in der Conadeti (Nationale Kommission für Demarkation und Titulierung), rechtswidrig entlassen und nur sieben Prozent des beanspruchten Landes der Parallelregierung übertragen worden, so dass die restlichen 93 Prozent außen vor blieben.

Miller erklärte vor dem IACHR, dass der nicaraguanische Staat ihrer Gemeinde durch ihre willkürliche Entfernung aus ihrem Amt einen enormen Schaden zugefügt habe, da diese seitdem vom Prozess der Gebietsabgrenzung abgekoppelt sei. Diese Situation habe letztlich zur Abtrennung ihrer angestammten Gebiete geführt. Darüber hinaus beklagte sie sich über Repression: „Bei mehreren Gelegenheiten wurde ich Opfer von Verfolgung und mein Haus war von der Polizei umstellt. Wir mussten uns bei vielen Gelegenheiten mit verschiedenen politischen Stellen auseinandersetzen; in meiner Stadt Bluefields wurde uns auf Anordnung politischer Organe der Zutritt zu einigen öffentlichen Gebäuden untersagt und ehrlich gesagt fühlen wir uns nicht mehr sicher.”

Rupert Allen Clair, Führungspersönlichkeit des Kriol-Volkes von Monkey Point, sagte vor dem Gerichtshof aus, dass er vom nicaraguanischen Staat zum Schweigen gebracht worden sei, weil er die Art und Weise der Durchführung des Kanalprojekts kritisiert habe. Gegenüber der Internetzeitung Confidencial betonte Clair, dass die Kanalbehörden zunächst davon gesprochen hätten, die gesetzlich vorgeschriebene Konsultation durchzuführen. „Ich ging dorthin, und als wir (die städtischen Behörden) ihnen unsere Richtlinien vorlegten, sahen sie sich diese an und sagten: ‘Ok, damit werden wir nicht arbeiten’. Sie haben aus den Richtlinien das herausgenommen, was sie wollten, und neue erstellt. Für mich überraschend war, dass das für uns Wichtigste, nämlich die Einbeziehung eines Beraters und eines internationalen Beobachters, gestrichen wurde. Sie wollten nicht, dass wir einen Berater haben, sondern sagten, wir könnten mit einem Berater aus Bluefields zusammenarbeiten, den sie uns zur Verfügung stellen würden”, so Clair.

Seit der offiziellen Bekanntgabe des Kanalprojekts 2013 sind zehn Jahre ins Land gegangen, ohne dass irgendwelche Fortschritte zum Bau dieses Megaprojekts bekannt geworden wären. Experten*innen haben in Zeitungsartikeln wiederholt die fehlende Anwendung einer Klausel des „Kanal-Rahmenabkommens” von Seiten der Regierung gerügt, wonach die Teilprojekte ab dem Zeitpunkt der offiziellen Bekanntgabe der Bauarbeiten innerhalb von sechs Jahren abgeschlossen sein müssen. Neben dem Kanal handelt es sich bei den Teilprojekten unter anderen um zwei Flughäfen, zwei Tiefseehäfen, zwei künstliche Seen, zwei Schiffsschleusen, eine Freihandelszone, umfangreiche Infrastrukturprojekte und Tourist*innenzentren.

Die hochfliegenden Pläne scheiterten jedoch, da sich das Firmenimperium des inzwischen insolventen chinesischen Investors Wang Jing als ein „Geflecht von 23 in der ganzen Welt registrierten Scheinfirmen” erwies „Diese Unternehmen, die über keinerlei finanzielle oder technische Rückendeckung verfügten, wurden nur wenige Wochen vor der Vergabe der Mega-Konzession gegründet”, heißt es in dem im März in Costa Rica vorgestellten Libro de ruta mafiosa. Obwohl das Kanalprojekt in den ersten sechs Jahren nicht wie geplant realisiert wurde, bleiben die Gesetze 800 und 840, das Sondergesetz für die Entwicklung der nicaraguanischen Infrastruktur, des Verkehrs und der Freihandelszonen in Kraft. Es gibt keinerlei Garantien für die Grundbesitzer*innen entlang der Kanaltrasse, denen weiterhin Enteignung und Umsiedlung droht.

Im Gegenteil, die indigenen Gemeinschaften, die sich dem Projekt widersetzen, leben in einem „belastenden Umfeld”, zitiert Confidencial den Experten Pau Pérez Sale. Die Mitglieder dieser Gemeinschaften seien Opfer der Zerstörung ihres Lebensraums, willkürlicher Entlassungen, Prekarisierung, angstauslösender Maßnahmen, polizeilicher Überwachung und Stigmatisierung wegen der Auswirkungen auf ihre Familien. Es handelt sich um „eine Reihe von kontextuellen Elementen, Bedingungen und Praktiken, die darauf abzielen, den Willen der Opfer oder der Gemeinschaften zu brechen”, so Pérez Sale.

Becky McCray, Vertreterin des Volkes der Rama, erklärte vor dem IACHR: „Wir sind von weit hergekommen, um Gerechtigkeit zu suchen, weil wir sie in Nicaragua nicht haben. Es war ein ständiger Kampf, deshalb bitte ich dieses ehrenwerte Gericht, den Staat Nicaragua aufzufordern, das Regulierungsverfahren (zur Gebietsabgrenzung, Anm. d. Red.) unverzüglich umzusetzen und die Aufhebung des Gesetzes 840 zu fordern, weil die betroffenen Völker nicht konsultiert wurden. Das Gleiche gilt für die Aufhebung der Zustimmungsvereinbarung, durch die sie sich ein Gebiet von 263 Quadratkilometern Land aneignen”.

„Wir sind von weit hergekommen, um Gerechtigkeit zu suchen, weil wir sie in Nicaragua nicht haben“

Anstatt die Annullierung des Projekts geltend zu machen, hat Ortega offensichtlich die sprudelnden Geldquellen im Auge, die sich durch den zunehmenden globalen Rohstoffhunger und sich ausweitenden Handelsverkehr auftun, was dem Projekt noch einmal Auftrieb geben könnte. Er findet daher gute Gründe, die Reanimation des Kanalprojekts in Aussicht zu stellen. Zuletzt im September 2022 versicherte Ortega im Rahmen seiner Rede zum Nationalfeiertag: „Irgendwann wird ein Kanal hier in Nicaragua Wirklichkeit werden.” Zwar räumte er ein, dass „es einen Kanal durch Panama gibt, der erweitert wurde. Aber die Anforderungen des internationalen Verkehrs sind so groß, dass ein Kanal durch Nicaragua notwendig sein wird.” Ortega liegt damit gar nicht so falsch wie es scheint, denn vor dem Hintergrund der steigenden Nachfrage nach kürzeren Transportwegen, neuen Wasserstraßen und zusätzlichen Hafenanlagen für die Beförderung von Rohstoffen kann Ortega die geopolitische Konfrontation zwischen den Großmächten nutzen und den Kanal als alternative Handelsroute ins Spiel bringen. Das hätte nicht nur für die betroffenen bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften verheerende Folgen, sondern für die gesamte nicaraguanische Bevölkerung, indem grundlegende Gemeingüter des Staates wie der Große Cocibolca-See und unschätzbare Schutzgebiete privatisiert oder zerstört würden. Riesige Landstriche drohen vernichtet zu werden.

Die Konstruktion eines Schifffahrtskanals lastet wie ein Fluch auf der Geschichte Nicaraguas, schon zu Kolonialzeiten hat er eine große Rolle gespielt und Begehrlichkeiten geweckt. Es waren schließlich die Vereinigten Staaten, die Anfang des 20. Jahrhunderts den Bau eines Kanals verhinderten, da sie kein Konkurrenzprojekt zu dem von ihnen vorangetriebenen Bau des Panamakanals (1904 bis 1914) duldeten.


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„Kein Megaprojekt, sondern ein Gigaprojekt“

Worum geht es beim Interozeanischen Korridor?

Der Interozeanische Korridor soll Atlantik und Pazifik durch eine Güterzugstrecke verbinden. Damit wäre ein neuer, schneller Warentransportweg geschafften, der dem Wasserweg des Panamakanals klar überlegen wäre. Ein Schiff braucht dort mindestens eine Woche für die Überquerung. Mit dem Korridor hingegen läge die Transportzeit inklusive Be- und Entladen nach technischen Berechnungen bei nur 14 Stunden.

Eigentlich handelt es sich aber bei dem Projekt um ein Paket von zwölf Megaprojekten, zu denen der Bau von Windparks, der Ausbau zweier petrochemischer Anlagen, eine neue Raffinerie in Dos Bocas (Tabasco) und zehn Industrieparks gehören. In letzteren sollen sich Autofabriken, Mineralaufbereitungsanlagen und maquiladoras (Billiglohnfabriken) aller Art ansiedeln. Hinzu kommen noch die Öko- bzw. Elitetourismusprojekte der multinationalen Konzerne.

Wer profitiert davon?

All diese Projekte gehen an multinationale Unternehmen, die vor allem in den USA ansässig sind. Die mexikanische Regierung bietet ausländischen Investoren Steuerbefreiungen und stellt ihnen auch die nötige Infrastruktur zur Verfügung. Der Interozeanische Korridor ist kein Mega-, sondern ein Gigaprojekt.

Sie bezeichnen den Interozeanischen Korridor als „recyceltes Projekt“, warum?

Konkret wurde das Projekt, das heute den Namen Interozeanischer Korridor trägt, 1996 vom PRI-Präsidenten Ernesto Zedillo vorgestellt. Er nannte es „Programm zur Integralen Entwicklung des Isthmus von Tehuantepec“, was mit dem aktuellen Projekt identisch ist. Mexikos heutiger Präsident Andrés Manuel López Obrador erweiterte das Projekt von 10 auf nun 13 Megastrukturprojekte. Hinzugekommen sind die Windparks sowie Bergbau- und Wasserkraftprojekte.

Hier in Deutschland wird zwar das Megaprojekt Tren Maya (siehe LN 567) langsam bekannter. Wieso ist der Inter­ozeanischen Korridor fast unbekannt?

Der achte Abschnitt des Tren Maya führt von Palenque zum Hafen in Coatzacoalcos an der Atlantikküste. Damit ist er direkt mit dem Inter­ozeanischen Korridor verbunden. Manchmal denke ich, dass der Tren Maya ein Ablenkungsmanöver der Regierung ist. Ich meine damit nicht, dass er keine katastrophale Auswirkungen hat. Schließlich haben die Schäden an den archäologischen Städten, die Abholzung des Regenwaldes und die Zerstörung der unterirdischen Flüsse und Cenoten durch das Zugprojekt auch international Aufmerksamkeit erregt. Aber diese Aufmerksamkeit verdeckt die folgenschweren Interessen hinter dem Interozeanischen Korridor.

Welche Folgen meinen Sie?

Wenn das Gigaprojekt im geplanten Ausmaß fertiggestellt wird, verändert das nicht nur den Isthmus, sondern auch den gesamten Südosten des Landes auf brutale Weise. Der Isthmus von Tehuantepec ist das biologisch vielfältigste Gebiet Mexikos, er vereint alle Klimazonen des Landes bis auf Wüsten und Eiswüsten. Die Region ist der größte Produzent von Wasser und Sauerstoff, indem sie Kohlendioxid auffängt, umwandelt und somit das klimatische Gleichgewicht aufrechterhält. Der Interozeanische Korridor beeinträchtigt nicht nur alle Ökosysteme direkt negativ, sondern wird auf den Südosten Mexikos und den gesamten Planeten nachteilige Auswirkungen haben. Die Verwüstung wird zunehmen und eine brutale Umwandlung der gegenwärtigen Ökosysteme stattfinden.

Welche Probleme sehen Sie neben den schwerwiegenden Folgen für die Umwelt?

Mexiko ist zum einen das Land mit der fünftgrößten biologischen Vielfalt der Welt. Zum anderen steht es im Ländervergleich an sechster Stelle bei der kulturellen Vielfalt, also der Anzahl indigener Völker mit eigener Kultur und Sprache. Innerhalb Mexikos nimmt Oaxaca bei der biologischen und kulturellen Vielfalt den ersten Platz ein. Erstens ist also die Natur direkt betroffen. Zweitens zerstört das Projekt damit auch die Lebensgrundlage der indigenen Gemeinschaften und der Schwarzen Bevölkerung. Es wird also nicht nur einen Ökozid, sondern gleichzeitig einen Ethnozid an 13 indigenen Bevölkerungsgruppen geben, die in der Region leben. Drittens ist die nationale Souveränität bedroht, denn dieser Korridor sichert vor allem die Wirtschaftsinteressen multinationaler Konzerne und die geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten ab.

Warum führt der Ökozid zum Ethnozid?

Ein konkretes Beispiel: An der Pazifikküste im Süden des Isthmus leben die Huave, die Bevölkerungsgruppe ist auch unter dem Namen Mareños bekannt. Sie besteht aus fünf Gemeinden, die vom Fischfang leben. Sie fischen aber nicht auf hoher See, sondern in den zwei Lagunen der Binnenmeere. Diese beiden Lagunen werden sowohl durch das Salzwasser aus dem Meer als auch durch die Flüsse aus dem Chimalapas-Regenwald gespeist. Diese Mischung aus Salz- und Süßwasser verleiht den Lagunen die Eigenschaften eines Mangroven-Ökosystems mit einer immensen Vielfalt an Meeresbewohnern. Die Huave fischen dort mit einem wirklich beeindruckenden traditionellen System und verkaufen Fisch, Garnelen und andere Meeresfrüchte in der Region. Wenn das Megaprojekt zur Modernisierung vom Hafen von Salina Cruz umgesetzt wird, werden Millionen Tonnen von Sand aus der Bucht ausgebaggert, damit große Schiffe in Salina Cruz einlaufen können. Das gesamte marine Ökosystem einschließlich der beiden Lagunen würde sich verändern und das Verschwinden der Huave-Kultur zur Folge haben. Dies ist ein klassisches Beispiel für kombinierten Öko- und Ethnozid.

In der Regenwaldregion Chimalapas leben 13 indigene Gemeinschaften. Hat das Projekt Auswirkungen auf sie alle?

Eigentlich leben mit der Schwarzen Bevölkerung in der Region sogar 14 indigene Bevölkerungsgruppen. Diese Menschen wurden als Sklaven für die Zuckerrohrplantagen nach Coatzalcualcos und Salina Cruz gebracht und sind im mexikanischen Recht bereits als eigene Bevölkerungsgruppe anerkannt. Sie werden jedoch immer noch sehr stark diskriminiert. Auch sie wären betroffen, da sie ähnlich wie die indigenen Gemeinden leben, die seit tausenden von Jahren eine starke Verbindung zur Natur haben, sie betrachten die Natur als Mutter. Und wenn Mutter Erde zerstört wird, werden die Menschen ebenfalls zerstört, sie werden vertrieben und verlieren ihre Lebensgrundlage. Außerdem entstehen mit der urban-industriellen Entwicklung zahlreiche soziale Probleme: Alkoholismus, Drogensucht, häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen und Feminizide. Das sind Erfahrungen, die man schon an vielen anderen Orten der Welt mit dieser Form der „Entwicklung“ gemacht hat.

Was können Sie uns über die Militarisierung durch die Projekte sagen?

Der Präsident hat die Verantwortung für Teilstrecken des Tren Maya an die Armee übergeben. Den Interozeanischen Korridor hat er der Marine mit der Begründung überlassen, dass er die Verbindung zwischen zwei Ozeanen herstellt.

Forschende am Observatorium für Geopolitik der UNAM (Nationale Autonome Universität von Mexiko) haben in einer Studie darauf hingewiesen, dass der Isthmus von Tehuantepec das am stärksten militarisierte Gebiet des Landes ist. Dort ist mehr Marine, Armee und Nationalgarde präsent als in den Hauptgebieten der Drogenkartelle und sogar mehr als an der Grenze zu Guatemala und Belize.
Seit 2018, als der Interozeanischen Korridor wiederbelebt wurde, sprechen wir in der Region von einer „grünen Mauer”. Diese Mauer ist nicht grün, weil sie ökologisch ist, sondern weil das Militär mit ihren grünen Uniformen vor Ort ist, um Migrant*innen aufzuhalten. Das Militär werde diese mit allen Mitteln stoppen, hat López Obrador seinem US-Amtskollegen Biden versprochen. Abgesehen von der Abschreckung durch das Militär bietet das Giga-Strukturprojekt den Migrant*innen 30.000 Arbeitsplätze an, um sie in der Region zu binden. Das Versprechen, Arbeitsplätze in einer armen Region an Migrant*innen zu vergeben, wird außerdem die Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung schüren.

Wie sehen Sie die Region in 10 bis 15 Jahren?

Ich sehe die Region und besonders den Isthmus von Oaxaca im Kampf und im Widerstand. Denn der Isthmus hat seit Jahrhunderten, in spanischer und sogar in vorspanischer Zeit organisierten Widerstand gegen Eroberung und Kolonisierung geleistet. Auch 1996 gab es gegen das Projekt von Zedillo einen sehr gut artikulierten, kongruenten Widerstand. Ich glaube also, dass sich die Region auch in Zukunft im Kampf um eine Neuordnung befinden wird.

Eine traditionelle Form des Kampfes in der Region sind Straßenblockaden. Stellen Sie sich vor, dass die indigenen zapotekischen Genoss*innen aus Donaji oder Juchitán die interozeanischen Züge blockieren könnten. Dabei würde der Weltkapitalismus jede Minute Geld verlieren und wird versuchen, den Protest dem Erdboden gleichmachen. Deshalb müssen wir sehr wachsam und solidarisch mit der gesamten Bewegung sein.

Protestkarawane „El Sur Resiste“ – „Der Süden leistet Widerstand!“

Vom 25. April bis 5. Mai 2023 laden der landesweite indigene Kongress CNI und der indigene Regierungsrat CIG zu einer Rundreise in die vom Tren Maya und dem Interozeanischen Korridor betroffenen Gebiete im Südsüdosten Mexikos ein. Die internationale Karawane „Der Süden leistet Widerstand!“ soll die indigenen, kleinbäuerlichen, feministischen, gewerkschaftlichen und zivil­gesellschaftlichen Organisationen, die sich im Widerstand gegen verschiedene Formen von Raub und Enteignung durch Staat und globales Kapital befinden, besuchen und vernetzen. Zum Abschluss der Rundreise wird es am 6. und 7. Mai im zapatistischen Caracol Jacinto Canek in San Cristóbal ein internationales Treffen geben, um sich über Schmerzen und Hoffnungen sowie entwickelte Strategien auszutauschen. Das Ziel ist es, von Kämpfen in anderen Regionen zu lernen und starke weltweite solidarische Netzwerke des Widerstands und der Rebellionen zu knüpfen. Mehr Infos zur Karawane gibt es auf den Twitter-Kanälen von TrenMayaStoppen und AgRecherche sowie auf deinebahn.com und netz-der-rebellion.org/aktuelles/. // Recherche-AG


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IN GUNA YALA

Mola-Kunsthandwerk der Guna Tradition und Tourismus verbinden – eine der Herausforderungen für autonome indigene Strukturen (Foto: Lupo Cordero für Proyecto Nativo)

In Panama gibt es sechs indigene Autonomiegebiete, die zusammen etwa ein Viertel des Staatsgebietes einnehmen. Drei davon gehören zur Gruppe der Guna, je eines zu den Gruppen der Ngäbe-Buglé, der Emberá und der Naso. Das älteste Autonomiegebiet ist Guna Yala, ein etwa 200 Kilometer langer Streifen der karibischen Küste Panamas mit vorgelagerten Inseln, der erst seit einigen Jahren durch eine Straße mit dem Rest des Landes verbunden ist.

Bereits Kolumbien hatte 1870 ein ausgedehntes Autonomiegebiet der Guna anerkannt, dessen Status aber mit der Unabhängigkeit Panamas 1903 zunächst wieder erlosch. Im Jahr 1925 gab es nach territorialen Konflikten sowie Diskriminierungen und Misshandlungen seitens der vor Ort stationierten Polizeikräfte einen bewaffneten Aufstand der Guna, der schließlich zur offiziellen Anerkennung des Guna-Territoriums führte.
Kern der Selbstverwaltung sind zwei Versammlungen: der allgemeine, politische Kongress (Congreso general guna, CGG) sowie der spirituelle Kulturkongress (Congreso general de la cultura guna). Der CGG besteht aus Abgesandten aller Gemeinden und trifft politische Entscheidungen, die für alle Gemeinden verbindlich sind. Jedem Dorf sowie dem Gebiet als Ganzes stehen ein Sagla bzw. mehrere Saglagan (Plural) als politische und spirituelle Autoritäten vor. Der CGG hat einen Generalsekretär sowie verschiedene Sekretariate, etwa für die Verteidigung des Territoriums, für Information oder für Tourismus. Jede Gemeinde hat zusätzlich eigene Regeln.

Wirtschaftliche Interessen haben wie in vielen indigenen Gebieten stets zu Konflikten mit Staat und Unternehmen geführt. Ihre Autonomie und die geographische Abgeschiedenheit haben den Guna bisher jedoch dabei geholfen, sich erfolgreich gegen Großprojekte wie Staudämme oder Minen zu wehren. Herausforderungen für die Autonomie gibt es trotzdem. Der Bau der ersten Straße in das Gebiet wurde von den Einheimischen etwa mit dem Ziel vorangetrieben, Panama-Stadt schneller erreichen zu können. Mit der Straße kamen viele Tourist*innen, die zwar neue Verdienstmöglichkeiten, aber auch Müll und Umweltschäden brachten und auch die traditionelle Selbstversorger*innenwirtschaft störten. Ein Gleichgewicht zwischen Landwirtschaft und Tourismus wurde hier nicht von Anfang an mitgedacht.

Der Staat investiert zwar in Infrastruktur wie Schulen, Krankenstationen oder Wasserleitungen, für Projekte zur Stärkung ihrer Autonomie oder Kultur sind die Guna jedoch meist auf das Einwerben zusätzlicher Mittel angewiesen, etwa bei Entwicklungsbanken oder Botschaften. Gelungen ist ihnen dies etwa für die derzeit ablaufende, schrittweise Einführung zweisprachigen Unterrichts an den Schulen.

Junge Guna nehmen die Struktur des CGG zuweilen als anfällig für Korruption wahr, zudem sind politische Entscheidungsfindungen bei den Guna traditionell Männersache. Es werden Stimmen laut, die dies nicht mehr als zeitgemäß empfinden. Der Wandel braucht vermutlich etwas Zeit.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.


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MAPUCHE UND INDIGENE AUTONOMIE

Foto: Periódico Resumen via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Innerhalb der Mapuche-Gemeinden auf chilenischem Staatsgebiet gibt es verschiedene Konzepte rund um das Thema Autonomie. All diese können jedoch aufgrund der restriktiven chilenischen Gesetzgebung, die jeden Anflug von Autonomie im Rahmen eines zentralistischen Einheitsstaates unterdrückt, in der Praxis nur schwer umgesetzt werden. Da es keine einheitliche Vertretung der Mapuche gibt, gibt es auch keinen Konsens wie Autonomie umgesetzt werden sollte.

Im Rahmen der Verfassungsdebatte wurde auch in der chilenischen Öffentlichkeit über das Konzept der Plurinationalität diskutiert. Diese Debatte war jedoch für viele Mapuche lebensfern und wurde darüber hinaus an den Wahlurnen abgelehnt. Das Konzept stellte lediglich einen institutionellen Ausweg dar, um das Recht der indigenen Bevölkerungen anzuerkennen, ihr Schicksal als „Nation“ zu bestimmen.

Ein weiterer Vorschlag stammt von der Organisation Wallmapuwen, die in der Vergangenheit versucht hat, sich als politische Partei zu etablieren. Wallmapuwen schlägt regionale Autonomien vor, in denen die Mapuche auf der Grundlage von Regionalparlamenten vertreten sein könnten. Der Versuch eine politische Kraft zu werden scheiterte jedoch.

Gänzlich außerhalb staatlicher Institutionen verfolgen Organisationen wie die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM) de-facto-Landrückgewinnungs-Prozesse mittels Besetzungen von angestammten Territorien, die von Unternehmen bewirtschaftet, bzw. von Siedlern bewohnt waren. Dieses Vorgehen bedeutet, über die Ausübung „territorialer Kontrolle“, das Land in einen produktiven Raum zu verwandeln, der auf den Traditionen der Mapuche basiert und somit die „Entwicklung“ des Territoriums neu definiert. Zusammengefasst argumentiert die CAM, dass es ohne Territorium keine echte Autonomie geben kann.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.


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KRIEG UM LAND VERSCHÄRFT SICH

Proteste gegen die von Siedlern provozierten Brände in dem Biosphärenreservat, Foto: Jorge Mejía Peralte (CC BY 2.0)

Die Küstenregion der nicaraguanischen Karibik wird von 304 Gemeinschaften bewohnt: den indigenen Mayangna, Miskito, Rama, Garífuna und afrodescendientes, deren Vorfahren aus Afrika verschleppt wurden. Sklav*innen, die sich während des transatlantischen Sklavenhandels nach Schiffshavarien und Sklavenrevolten auf der Karibikinsel Jamaika an die Küste retteten. 2002 verabschiedete das Parlament unter der liberal-konservativen Regierung von Enrique Bolaños das Gesetz 445, wodurch 36.000 Quadratkilometer Land in den Besitz der indigenen Gemeinschaften übergingen, die sich fortan durch eigene lokale Autoritäten selbst verwalteten. Zu dem Gebiet zählen die Biosphärenreservate Bosawás im Norden, das die größten, noch intakten Waldflächen des Landes beherbergt, und Indio Maíz Río San Juan im Süden. Die UNESCO verlieh Bosawás 1997 und Rió San Juan 2003 den Status als Biosphärenreservat, die seitdem zum Welterbe gehören.

Seit mehr als 10 Jahren leiden die indigenen Gemeinschaften unter der Invasion ihres Territoriums durch Siedler*innen, die sich mit Waffengewalt ihr Land aneignen. Hauptaktivitäten der Siedler*innen sind die Abholzung und Brandrodung der Wälder zur Gewinnung von Weideland und Anbauflächen. Der zerstörerische Umgang mit den Ressourcen der Reservate bedroht nicht nur die Artenvielfalt, sondern hat auch Auswirkungen auf die Gesundheit der dort lebenden Gemeinschaften. Beispielsweise hat die Nichtregierungsorganisation Proyecto Tapir Nicaragua im Reservat Indio Maíz herausgefunden, dass die Siedler*innen verschiedene Arten von Chemikalien zum Fischen verwenden, wobei giftige Substanzen die Flüsse kontaminieren und über Krustentiere und Fische in die Nahrungskette gelangen. Die Einwohner*innen befürchten langfristige gesundheitliche Folgen wie Krebs, Schädigungen des Gehirns oder Hautinfektionen.

Die Coronapandemie hat die Landnahme in indigenen Territorien verschärft

Selmira Flores, Sozialwissenschaftlerin und Forscherin am Institut für Forschung und Entwicklung der Zentralamerikanischen Universität (UCA), weist in einem Beitrag für die Monatszeitschrift Revista Envío darauf hin, dass zu der ohnehin schon drei Jahre anhaltenden Wirtschaftskrise jetzt noch die Auswirkungen der Corona-Pandemie hinzukämen. „Wir haben festgestellt, dass Kleinbauern und -bäuerinnen ihr Land verkaufen, um Schulden zu begleichen oder um Gesundheitskosten zu decken, wenn sie sich um eine chronische Krankheit oder eine Operation kümmern müssen. Ländliche Familien investieren viel in die Gesundheit, weil das öffentliche System nicht alles für sie löst.” Die Verarmung der Bevölkerung hat sich mit der Covid-19-Krise verschärft und eine massive Bewegung auf der Suche nach Land ausgelöst. Flores zufolge machen sich immer mehr Menschen in dem Glauben auf, es gäbe noch verfügbares Land, wo sie Nahrungsmittel produzieren und Einkommen erzielen könnten. „Aber was es in den Biosphärenreservaten gibt, ist Land, das seit Urzeiten den indigenen Völkern und afrodescendientes gehört, das per Gesetz ‘unveräußerlich, nicht verjährt und unpfändbar’ ist.” Die Landnahme indigenen Gebietes durch die Siedler*innen habe sich jedoch Jahr für Jahr beschleunigt und gehe mit Morden, dem Niederbrennen von Häusern und Parzellen einher − Zerstörungen, welche die indigenen Familien mit nichts zurücklassen.

„Wir müssen verstehen, warum es so viele bewaffnete Menschen gibt”, wird Lottie Cunningham, Miskita und Präsidentin des Zentrums für Gerechtigkeit und Menschenrechte der Atlantikküste Nicaraguas (CEJUDHCAN), in einem Bericht der Online-Zeitung 100%Noticias zitiert. „Das sind keine armen Leute, keine einfachen Bauern. (…) Die meisten Siedler sind ehemalige Militärangehörige, die von Regierungsbeamten unterstützt werden; sie handeln gewaltsam, um ihre Präsenz auszuweiten und indigenes Land zu besetzten.” Cunningham räumt ein, dass sich unter den Siedler*innen möglicherweise auch Familien befinden, die von den Anführer*innen nur angestiftet und missbraucht würden. Dies zu regeln sei aber die Verantwortung des Staates, denn sämtliche Verbrechen blieben bisher straflos.

CEJUDHCAN hat seit 2015 vierzig von Siedler*innen verübte Morde, fünfzig Verletzte, vierundvierzig Entführte und vier Verschwundene in den indigenen Gemeinden sowie tausende Fälle gewaltsam von ihrem Land Vertriebener dokumentiert (Stand Februar 2020). Angaben der Organisation zufolge sind bis März 2020 allein in den Miskito-Gebieten aufgrund der Siedleraktivität 23.243 Hektar Ernten verloren gegangen, was in den betroffenen Gemeinschaften zu einer beispiellosen Nahrungsmittelkrise geführt hat.

„Wir sprechen von Menschen, die sterben, die sich in einem Zustand ständiger Alarmbereitschaft befinden, die nicht schlafen können, die nichts zu essen haben und die Angst haben, angesichts der Möglichkeit bewaffneter Angriffe auf ihre Parzellen zu gehen, um Lebensmittel zu holen. Die größte Angst, die die indigenen Völker haben, ist der Ethnozid”, warnte Cunningham während einer öffentlichen Anhörung zur Untersuchung der Risikosituation der indigenen Miskito-Bevölkerung in der Karibik Nicaraguas, die vom Zentrum für Justiz und Völkerrecht (CEJIL) am 13. März dieses Jahres in der costa-ricanischen Hauptstadt San José veranstaltet wurde.

Allein die Zusammenstellung einiger exemplarischer Ereignisse aus diesem Jahr illustriert eindrucksvoll die existentielle Gefahr, in der sich die indigenen Gemeinschaften Nicaraguas befinden: Am 29. Januar überfielen etwa 80 bewaffnete Siedler*innen eine Gruppe der indigenen Mayangnas, als diese im Biosphärenreservat Bosawás jagten und fischten. Danach drangen sie in das Dorf der Gemeinde Alal ein, wo sie zwölf Häuser niederbrannten und das Feuer auf die Dorfbewohner eröffneten: Sechs Menschen kamen bei dem Angriff ums Leben.

Am 18. Februar berichtete 100%Noticias über einen Angriff Bewaffneter auf die Gemeinde Santa Clara im Gebiet Wangki Twi Tasba Raya in Waspam, einem von Miskitos bewohnten Gebiet. Gegenüber Voz de América schilderte Susana Marley, indigenes Oberhaupt dieser Gemeinde, einen brutalen Überfall, bei dem eine Familie, die im Fluss badete, unter Maschinengewehrfeuer genommen wurde. Eine Kugel traf eine Jugendliche mitten ins Gesicht und zerschlug ihren Kiefer. „Sie (die Siedler*innen, Anm.d.Red.) haben sich im Bergland niedergelassen und Gemeinschaften mit großen Weideflächen gegründet. Sie nennen ihren Ort Araguas. Von dort aus kommen sie mit ihren Waffen: Sie haben Häuser, Kirchen, Schulen niedergebrannt und Haustiere getötet”, erklärte Marley.

Am 28. Februar beklagte der Menschenrechtsverteidiger Joshwel Martínez einen weiteren Angriff auf die Miskito-Gemeinde Santa Clara. „In den frühen Morgenstunden dieses Freitagmorgens wurde die indigene Gemeinschaft Opfer eines neuen Angriffs, der von den Siedlern mit Kriegswaffen verübt wurde” und versicherte, dass sich die Angreifer*innen wie Paramilitärs verhielten. Mit „Der Krieg hat begonnen” ist auch ein Drohbrief überschrieben, der einen Tag zuvor in der indigenen Miskito-Gemeinschaft in Wisconsin aufgefunden wurde. Am 26. März bestätigten die lokalen Führer der Mayagnas eine Siedler*inneninvasion in der Wasakin-Gemeinde, bei der drei Gemeindemitglieder ermordet und vier durch Schussverletzungen schwer verletzt wurden.

Schon Tausende Indigene wurden gewaltsam von ihrem Land vertrieben

Über das digitale Portal PortaVoz Ciudadano richtete sich Lamberto Chows, indigener Anführer der Gemeinde und Gemeinderichter von Waspam am 12. März mit einem verzweifelten Appell an die internationale Gemeinschaft. „Sämtliche Gemeinden von Waspam werden überfallen. Wir Indigenen können uns nirgendwohin wenden, weil die regionalen Regierungsvertreter und die Polizei die Eindringlinge schützen, die uns töten und unser Land an sich reißen. Wir können nicht einmal pflanzen; wir leben im Chaos und leiden sogar unter Hunger”, sagte Chow.

Angesichts dieser Entwicklung könnten Schicksale wie das der indigenen Sangni Laya-Gemeinschaft zu einem alltäglichen Bild werden: Mit Rucksäcken voller Kleider und Habseligkeiten auf den Schultern, die Kinder an der Hand und ein paar Säcken mit Lebensmitteln flohen am 2. September mehr als dreißig Familien der Sangni Laya im nordkaribischen Twi Yahbra-Gebiet vor der Androhung eines Angriffs durch bewaffnete Siedler*innen.

Juan Carlos Ocampo, Gemeindeführer der Sangni Laya, erklärte gegenüber der Internetzeitung Confidencial, dass die Untätigkeit der Polizeibehörden sowie der regionalen und territorialen Regierung ein Beweis für eine Komplizenschaft des Staates sei. Ihm zufolge gibt es keinen Grund, nicht zu handeln und die Siedler*innen, die in ihr Gebiet eindringen, nicht räumen zu lassen.

Regionale Behörden und die Polizei schützen die Siedler*innen

Neben der ungeheuren humanitären Katastrophe hat die Invasion indigenen Landes auch dramatische ökologische Konsequenzen: Durch die Rodung und Plünderung der Wälder hat eine Verschiebung der Ackerbaugrenze bis weit in die Schutzzonen hinein stattgefunden. Eine vom Ministerium für Umwelt und natürliche Ressourcen (MARENA) veröffentlichte Karte zeigt, welches Ausmaß der Verlust an Waldfläche in diesen Gebieten angenommen hat. Die Abholzung der Wälder ist Nicaraguas drängendstes Umweltproblem. Die Waldfläche ist von 76 Prozent im Jahr 1969 auf 25 Prozent im Jahr 2020 zurückgegangen. Selmira Flores findet, dass es in diesem Zusammenhang angezeigt sei, die „Nationale Strategie zur Verringerung der Treibhausgasemissionen durch Entwaldung und Waldschädigung“ einer Überprüfung zu unterziehen. Das Projekt hatte die nicaraguanische Regierung im Juli 2019 beim Kohlenstofffonds der Weltbank zur Förderung eingereicht, für das 55 Millionen Dollar in Aussicht gestellt wurden. Der Fonds ist eine Initiative, der neben Kanada und anderen europäischen Staaten auch Deutschland angehört. Für die Umsetzung des Projekts hat Nicaraguas Regierung 23 indigene Gebiete in der nördlichen und südlichen Karibik ausgewiesen, zu denen auch die beiden Biosphärenreservate Indio Maíz und Bosawás gehören. Für die Regierung scheint jedoch eher der finanzielle Aspekt im Vordergrund zu stehen, als das Interesse an einer Lösung der bestehenden Landkonflikte in den Schutzgebieten, die der Erhaltung dieser wertvollen, ursprünglichen Ökosysteme und Wälder dienen.

Für Selmira Flores geht es bei den Konflikten an der Karibikküste jedoch nicht allein um den Umgang mit Ressourcen. Ihrer Ansicht nach sind es auch kulturelle Konflikte zwischen zwei Weltanschauungen, bei denen es um die gegenseitige Wahrnehmung geht. „Da die Ureinwohner der Karibik ihrer Bevölkerungszahl nach in der Minderheit sind, glauben wir, dass sie nicht denkfähig, dass sie rückständig sind, dass sie faul sind, dass sie gerne leben, ohne zu arbeiten.” Der an jene Vorurteile geknüpfte traditionelle Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft befeuert nicht zuletzt auch die Gewalt in den indigenen Territorien. Ein weiterer grundlegender Widerspruch besteht in der Einstellung zum Besitz: Der indigene Grundbesitz ist Gemeinschaftsbesitz, die größten Landflächen sind kommunal und nicht privat.

Rassismus und Konflikte über unterschiedlichen Verhältnisse zum Grundbesitz heizen die Gewalt an

„Die Konflikte zwischen diesen beiden Nicaraguas werden fortbestehen, solange die offizielle Politik die Kosmovision der autochthonen Völker nicht respektiert, für die nicht so sehr Dokumente und Geschriebenes zählen, sondern mündliche Überlieferung und die in der Gemeinschaft vereinbarten Normen”, so Selmira Flores in Revista Envío.

Gehör finden die Indigenen in ihrer Not bislang nur bei Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen und ihren Organisationen. Diese sind sich einig in der Bewertung der Rolle des Staates, der Polizei, der Justiz, deren Untätigkeit die Präsenz von Siedler*innen und Unternehmer*innen in den indigenen Gebieten weiter fördert und die Korruption unter Staatsbeamt*innen in der Küstenregion deckt, die in die illegalen Aktivitäten und den Verkauf von indigenem Land verwickelt sind.


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