Costa Rica | Nummer 593 - November 2023

“Die Angst ist immer da”

In Puntarenas trotzden indigene Gruppen Drohungen und nehmen sich ihr Land zurück

Im südlichen Costa Rica wehren sich indigene Aktivist*innen gegen die unrechtmäßige Ausbeutung ihres Landes und nehmen ihr Schicksal durch Besetzungen selbst in die Hand. Regierung und staatliche Institutionen machen Stimmung gegen die Proteste und bieten fruchtbaren Boden für die angespannte Atmosphäre, die in den letzten Jahren auch in der Ermordung zweier indigener Aktivisten mündete.

Von Alke Jenss
Gerechtigkeit für Sergio Der Aktivist aus Salitre wurde 2019 erschossen (Foto: Alke Jenss)

Costa Rica steht im deutschsprachigen Raum für Vieles: paradiesisches Tourismusziel, Pionier der erneuerbaren Energien, Land ohne Armee, sichere Zone im zentralamerikanischen Chaos. Die Realität ist, wie immer, komplexer. Was aber die Wenigsten mit dem Land verbinden, sind gewaltvolle Landkonflikte.

Im Süden Costa Ricas, in der Provinz Puntarenas, müsste man die Augen jedoch sehr fest verschließen, um diese Konflikte zu übersehen. Viehzucht und Ananasplantagen prägen die Landschaft um das Städtchen Buenos Aires. Die Plantagen grenzen fast unmittelbar an mehrere indigene Territorien an. Pablo Sibar kommt aus Térraba und gehört zur indigenen Bevölkerungsgruppe der Brörán. Er ist Koordinator des nationalen Zusammenschlusses Indigener Gemeinschaften FRENAPI (Frente Nacional de los Pueblos Indígenas).

Pablo und andere Aktivist*innen haben begonnen, sich gegen jahrzehntelang staatlich geduldete illegale Landnahmen zu wehren. Térraba, eigentlich indigenes Territorium, ist ein Flickenteppich privat bewirtschafteter Fincas und industrieller Viehzucht. Viele Nicht-Indigene bewirtschaften das Land hier seit Jahrzehnten ohne rechtliche Grundlage.

2018 haben Aktivistinnen um Pablo eine Finca besetzt, die den Nutzerinnen als Ferienhaus und Jagdgebiet diente. Die Aktivist*innen ließen sich bisher nicht wieder von dort vertreiben und nutzen die Finca, der sie den Namen Crun Shurin gaben, zur Selbstversorgung. 16 Familien teilen sich die 600 Hektar. Zunächst erreichten sie mit dem zuständigen Staatsanwalt und dem Verwalter die Abmachung, der Fall werde im Rahmen der restaurativen Justiz, einem relativ schnellen Schlichtungsverfahren verhandelt. Doch der vormalige Nutzer „konnte immer nicht teilnehmen, nicht unterschreiben, vergaß angeblich die Termine“, erinnert sich Pablo. „Kurz vor dem ersten Jahrestag, also im Januar 2019, erhielten wir den ersten Räumungsbescheid. Der Richter argumentierte, der vorige, unrechtmäßige Nutzer Eladio Ramírez habe das vorrangige Nießrecht auf den Besitz. Es gelang uns, Berufung einzulegen und so blieben wir hier auf der Finca.“ Im Mai 2019 konnten sie die verbliebenen Arbeiter*innen mit dem Vieh vom Gehen überzeugen. „Und ein Jahr später, im Jahr 2020, kamen die Ramírez, um alles zu holen, die Maschinen, die Zäune, die Tore, die Häuser, alles.“

Ein Projekt der Wiederaneignung

Das Projekt der Wiederaneignung ist auch ein Projekt der teilweisen Renaturierung. Aus Viehweiden wird Wald, Wildtiere siedeln sich wieder an. „Aquí hay vida“ („Hier gibt es Leben“), sagt Pablo Síbar. „Man sagt mir, ich sei faul, idiotisch, weil sie sagen, wir hätten die Finca ungenutzt gelassen – tatsächlich lassen wir einen Teil des Landes regenerieren. Weil das Leben etwas wert ist“. Zugleich produziert die Gruppe inzwischen genug Nahrungsmittel auf der Finca, um auch andere zu versorgen. Sie haben Orangen- und Mangobäume gepflanzt, Mais, Maniok und Nutzpflanzen wie Tiquisque. Um die zuvor wegen der Verschmutzung durch Vieh kaum nutzbaren Wasserquellen haben sie Wiederaufforstung betrieben, so dass die Finca mit Wasser versorgt ist. Pablo ist überzeugt davon, dass die langjährige und erfolgreiche Mobilisierung gegen den Diquís-Staudamm (siehe LN 537) einen harten Kern an Leuten zusammengebracht hat. Das costa-ricanische Institut für Elektrizität archivierte das Megaprojekt im Jahr 2018 nach anhaltenden Protesten. Der vorgesehene Stausee hätte an die 10 Prozent der Territorien der Teribe (Brörán) geflutet. Die Aktivist*innen haben jahrzehntelange Erfahrung in der indigenen und Umweltbewegung und kennen die entsprechenden Räume, „sie wissen zu kämpfen”, sagt eine Unterstützerin.

Das Thema der Landkämpfe reicht weit zurück: Im Jahr 1977 hatte das costa-ricanische Parlament das Gesetz zum Schutz der indigenen Bevölkerungsgruppen des Landes verabschiedet und damit festgeschrieben, dass indigenes Territorium nicht einfach verkauft oder angeeignet werden kann. Die Grenzen der Territorien gelten bereits seit den 1950er Jahren, Térraba erhielt seinen gemeinschaftlichen Landtitel 1956. Keiner der späteren illegitimen Nutzer*innen des Landes kann also behaupten, in gutem Glauben gehandelt zu haben.

Staatliche Maßnahmen, die das Gesetz durchsetzen, gab es jedoch nicht. Im Gegenteil, auch der Staat beschneidet die Territorien. So wurde 2004 der Landtitel Térrabas leicht geändert und verkleinert, ohne Abstimmung mit der dort lebenden Bevölkerung. Besonders problematisch ist Folgendes: Der costa-ricanische Staat vergab die Verwaltung indigener Territorien an die sogenannte Assoziation für indigene Entwicklung ADI (Asociación de Desarrollo Indígena). Die ADI „vertritt“ und „verwaltet“ per Gesetz das indigene Gebiet, untersteht aber faktisch der staatlichen Nationalen Direktion für Entwicklung der Gemeinschaft (DINADECO) und ist somit staatlich eingesetzt. Sie „regiert“ das Territorium also auch dann, wenn eine große Mehrheit der dort Lebenden das ablehnt. In Térraba hat die ADI besonders vehement die staatstreue Idee von Fortschritt und Entwicklung durch Investitionen vertreten und den Bau des Diquís-Staudamms offen befürwortet. „Personen, die den Staudamm stark unterstützen, konnten Machtpositionen in der ADI einnehmen“, heißt es in einem Bericht an die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Für die Rückgabe illegitim angeeigneten Landes an die indigene Gemeinschaft hat sich die ADI in Térraba dagegen nie eingesetzt. Ihr Präsident „ist nicht für Kulturinitiativen, er ist nicht für den Schutz der Ressourcen, er ist für nichts, was mit dem Thema Indigene zu tun hat“, sagt Paulino Nájera, der mit seiner Frau Fidelia seit Jahrzehnten Wiederaufforstung betreibt. Offenbar lässt die ADI Viehzüchter*innen auf Landstrichen ihr Vieh weiden, die von Institutionen wie dem staatlichen Wasserversorger oder der Schulverwaltung bezahlt wurden. Sie gilt als korrupt.

Das Recht auf Eigentum setzt der Staat sehr selektiv durch; die Rechte der Indigenen scheinen zweitrangig. Seit den 70er-Jahren versuchen die Gemeinden vor den Gerichten die Durchsetzung des Gesetzes zu erreichen, auch wenn internationale Instrumente wie die ILO-Konvention 169 in der Rechtsprechung zu den Besetzungen langsam Anwendung finden. 2010 hatte die Polizei einige der Aktivist*innen, die heute auf der Finca Crun Shurin leben, aus dem Parlamentsgebäude geworfen, weil sie dieses besetzen wollten bis ein Gesetz für indigene Autonomie verabschiedet würde. „Als der Staat uns aus dem Parlament schleifte, entschieden wir: sollen sie uns doch von unserem Land schleifen, wir holen uns dieses Land zurück“, so Pablo. Eine Räumung von Crun Shurin scheint faktisch noch immer möglich, auch wenn dies eigentlich indigenes Territorium ist: „Die Angst ist immer da.“

Diese Angst ist nicht unbegründet, denn die Aktivist*innen sind immer wieder direkter Gewalt ausgesetzt. 2020 zirkulierte ein Video mit rassistischen Drohungen: „Hoffentlich kommt bald jemand an die Regierung, der die Hosen anhat, um sie zu jagen und ein für alle Mal aus unserem Land zu werfen“, hieß es dort. Am 13. und 14. März 2021 erhielten Pablo und andere Aktivist*innen zum wiederholten Male Morddrohungen und rassistische Verleumdungen. Einer der Accounts, von denen die Drohungen kamen, gehörte einem Mitarbeiter eines Landbesetzers. Im Juli 2020 hatte ein anderer Arbeiter versucht, Pablo umzufahren. Jehry Rivera, ein weiterer Aktivist aus Térraba, war nur ein paar Monate zuvor, am 24. Februar 2020, ermordet worden. Sergio Rojas Ortiz, langjähriger Wegbegleiter von Pablo Síbar aus dem nahen Salitre, wurde am 18. März 2019 in seinem Haus erschossen.

Erst Ende Februar 2023 sprach ein Strafgericht der Region in Pérez Zeledon Juan Eduardo Varela als Mörder von Jehry schuldig. Er habe vorsätzlich gehandelt. Varela hatte im August 2022 öffentlich gesagt: „Ich war es, der ihn umgebracht hat“. Am 17. Juli setzte das Berufungsgericht diesen einzigen Verdächtigen wegen angeblicher Formfehler allerdings wieder auf freien Fuß. Audionachrichten kursierten, in denen Viehzüchter die Annullierung des Urteils feierten. Bei Jehrys Familie und Aktivist*innen wie Pablo Síbar bleibt das Gefühl zurück, dass der costa-ricanische Staat sie nicht vor Gewalt schützt, sondern diese durch Großprojekte eher noch befördert.

Die aktuelle Politik verspricht Verunsicherung

Die aktuelle Regierungspolitik verspricht diese Verunsicherung, die viele Lateinamerikaner*innen teilen, weiter voranzutreiben. Costa Rica durchlebt eine Haushaltskrise, da diverse Schuldenposten 2023 fällig werden. Diese machen über ein Fünftel des Haushaltes aus, für Zinsen ist ein weiteres Fünftel vorgesehen. Präsident Rodrigo Chaves setzt neben Austerität auf liberalisierende Wirtschaftsmaßnahmen. Chaves hat zudem die indigenen Gemeinden dazu aufgerufen, keine Landrücknahmen mehr durchzuführen, da diese eine „feindselige Stimmung schaffen“ würden. Sie „schüren Gewalt“, sagte ausgerechnet der Vizeminister für Gerechtigkeit und Frieden, Sergio Sevilla, im November 2022. Auf einer Reise ins südliche Costa Rica im Februar bestärkte Chaves die ADI als Repräsentationskanal für die indigenen Gemeinden und ignorierte deren Kritik. Der staatliche Plan zur Rückgabe von Land, den es durchaus gibt, hat seit Jahren keine Fortschritte gesehen. Geld gibt es hierfür kaum.

“Morddrohungen gab es im letzten Jahr keine mehr”, sagt Pablo. Er vermutet, die aufgeheizte Stimmung sei etwas abgeflaut, da sie in Térraba keine weiteren Landrücknahmen versucht hätten. Dem Bild von Costa Rica als demokratischer, friedlicher Ausnahmestaat in Zentralamerika verleiht Pablos Geschichte dennoch tiefe Risse.


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