DRECKIGER STROMDEAL IM HINTERZIMMER

Wasserkraftwerk Itaipú Schlägt auf beiden Seiten der Grenze politische Wellen // Foto: Deni Williams CCBY 2.0

Das Wasserkraftwerk Itaipú sorgt wieder für Streit. Der Rücktritt des paraguayischen Chefs der Energiebehörde ANDE, Pedro Ferreira, hat die Regierung Paraguays Ende Juli in eine handfeste politische Krise gestürzt. Ferreira begründete seinen Schritt mit der Missbilligung des neuen Vertrages zwischen Brasilien und Paraguay, in dem die Mechanismen und die Preise für den Verkauf von Strom aus dem Kraftwerk festgelegt wurden. Insbesondere die kolportierten Regeln für den Verkauf von Energieüberschüssen erhitzen dabei die Gemüter in Paraguay. Denn die neuen Regeln sind – laut Perreira – höchst unvorteilhaft für das kleine Land im Vergleich zum großen Nachbarn Brasilien. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der Vertrag in Geheimverhandlungen zwischen den beiden Regierungen geschlossen wurde.
Seit die Verhandlungen über den Bau des – gemessen an der installierten Kapazität – zweitgrößten Staudamms der Welt in den 1960er Jahren begannen, haben die Diskussionen über das Projekt nie aufgehört. Insbesondere in der paraguayischen Öffentlichkeit war Itaipú immer umstritten. Im Jahr 2016 präsentierte sich das binationale Betreiberunternehmen voller Stolz mit dem Titel „weltweit größter Energieproduzent“, nachdem das Kraftwerk in seiner bisherigen Laufzeit 103.098.366 Megawattstunden erzeugt hatte. Doch verschiedene soziale Bewegungen, Politiker*innen und Intellektuelle ziehen die Vorteile, die das Kraftwerk Paraguay angeblich bringt, in Zweifel. Hauptpunkt der Kritik ist, dass Itaipú vor allem Brasilien einseitige Vorteile biete. Aus diesem Grund verlangen Politiker*innen und Aktivist*innen immer wieder eine Neuverhandlung des Vertrages von Itaipú. Der ehemalige Präsident Fernando Lugo (2008-2012), der einzige Präsident Paraguays seit 1947, der nicht der Partei der Colorados angehörte, strebte ebenfalls eine Neuverhandlung an, bevor er 2012 in einem umstrittenen Verfahren des Amtes enthoben wurde (siehe LN 457/458).
Itaipú war das wichtigste Symbol für den Fortschritt der Militärdiktatur unter Alfredo Stroessner (1954-1989). Im Jahr 1973 unterzeichneten Stroessner und der brasilianische Diktator Emilio Garrastazú Medici den Vertrag von Itaipú, der den Bau des gemeinsamen Kraftwerks vorsah. Dabei spielte der US-amerikanische Einfluss eine große Rolle: Im Kontext des Kalten Krieges boten die USA den Ländern Südamerikas günstige Kredite für Entwicklungsprojekte an, um der Einflussnahme der Sowjetunion vorzubeugen. Die kurz nach Unterzeichnung des Vertrages eingetretene Ölkrise war ein zusätzlicher Anreiz, das Projekt schnell auf den Weg zu bringen. Tatsächlich entwickelte sich Itaipú zum ambitioniertesten Entwicklungsprojekt beider Länder. Doch spätere Studien zeigten, dass das Projekt zahlreiche negative soziale und ökologische Folgen hatte: Tausende Indigene und Kleinbäuerinnen und -bauern wurden umgesiedelt, teilweise unter Anwendung von Gewalt. Angemessene Entschädigung wurde nicht geleistet.

Gerät unter Druck Paraguays Präsident Mario Abdo Benítez // Foto: Cesar Itiberé PR CCBY 2.0

Der riesige Staudamm stellt einen schweren Eingriff in die Flussökologie des Paraná dar und zog das gesamte Flussbecken in Mitleidenschaft, da die natürlichen Fischmigrationen unterbrochen wurden. Zudem wurden atlantische Regenwälder überflutet und zerstört, die wieder aufgeforsteten Wälder erscheinen eher wie Plantagen und verfügen längst nicht über eine so große Biodiversität.

Die Kritik prangert den „Verrat des Staatschefs an der Guaraní-Nation“ an


Paraguays damaliger Diktator Stroessner nutzte das Itaipú-Projekt zur Stabilisierung seines Regimes. Er versorgte damit seine Klientelnetzwerke, um sich deren Loyalität zu versichern. Ganze Familien wie etwa die Papalardo, Wasmoy und Debernardy wurden reich, indem sie Baumaterialien an das Megaprojekt lieferten. Die gesamten Baumaßnahmen waren von starker Korruption gezeichnet, an der sich die engen Verbündeten Stroessners bereicherten.
Der amtierende Präsident Paraguays, Mario Abdo Benítez von der Colorado-Partei, sieht sich nun ebenfalls schweren Verdächtigungen ausgesetzt, die Interessen des Landes für seine eigenen verraten zu haben. Sein Vater (ebenfalls Mario Abdo) war seinerzeit ein enger Vertrauter und persönlicher Sekretär von Stroessner. Präsident Abdo wird aktuell beschuldigt, in den geheimen Neuverhandlungen einen skandalösen Vertrag unterzeichnet zu haben. Darin soll er praktisch auf alle möglichen Verbesserungen für Paraguay verzichtet haben. Die Presse und politische Organisationen der Opposition bezeichneten Abdos Verhalten als „Verrat des Staatschefs an der Guaraní-Nation“.
Ausgelöst hatten die Regierungskrise Äußerungen des zurückgetretenen Chefs der staatlichen Energiebehörde ANDE. Pedro Ferreira erklärte gegenüber verschiedenen Medien, dass die brasilianische Regierung Paraguay praktisch erpresst hätte, ein nachteiliges Abkommen über die Vermarktung der Energieüberschüsse des Landes zu unterzeichnen. Nach dem ursprünglichen Vertrag von Itaipú steht Paraguay ein Kontingent der Energie aus dem Kraftwerk zu, das die paraguayische Nachfrage bei weitem übersteigt. Die Überschüsse kann Paraguay verkaufen – aber nur nach Brasilien. Ferreira betonte, dass auf brasilianischer Seite gut unterrichtete Techniker*innen an den Verhandlungen teilnahmen, während auf paraguayischer Seite nur Mitarbeiter*innen des Außenministeriums vertreten waren, die keine angemessenen Kenntnisse von Strompreisen, möglichem Nutzen oder Verkaufsmöglichkeiten auf dem Strommarkt hatten. Es scheint, so Ferreira, als sei der Präsident von schlechten Berater*innen umgeben oder die paraguayische Seite hätte absichtlich einen schlechten Deal abgeschlossen.
Anfangs drehte sich die Kritik vor allem um die offenbar schlechte Beratung, die der Präsident erhalten habe. Ferreira selbst hatte erklärt, Abdo sei nicht über die Einzelheiten unterrichtet gewesen und hätte praktisch blind ein Abkommen unterzeichnet. Doch der Skandal nahm eine andere Dimension an, als Ferreira seine privaten Gespräche mit dem jungen Anwalt José Rodríguez González veröffentlichte. Dieser hätte sich als persönlicher Berater des paraguayischen Vizepräsidenten Hugo Velázquez vorgestellt und explizit verlangt, dass Punkt 6 aus dem Abkommen herausgenommen werde. Dieser Punkt 6 sei allerdings zentral für eine Verbesserung der Vertragsregeln für Paraguay gewesen, denn er hätte es dem Land erlaubt, selbst den überschüssigen Strom in Brasilien zu vermarkten – ein Geschäft, das mit erheblichen Gewinnaussichten verbunden ist. Ohne Punkt 6 obliege der Verkauf des paraguayischen Energieüberschusses hingegen ausschließlich brasilianischen Unternehmen. Dies würde über Verträge zwischen der paraguayischen Energiebehörde ANDE und dem halbstaatlichen brasilianischen Energieunternehmen Eletrobras geregelt werden.

Präsident Bolsonaro Verdacht auf Amtsmissbrauch zur persönlichen Bereicherung // Foto: Isac Nóbrega PR CCBY 2.0

Bereits kurze Zeit später kam heraus, dass im neuen Abkommen sogar vorgesehen war, dass alle Stromverkäufe an ein einziges Unternehmen gehen sollten, welches dann die Vermarktung auf dem liberalisierten brasilianischen Strommarkt realisieren sollte. Dabei handelt es sich um das Unternehmen Leros Comercializadora. Das Skandalöse dabei ist, dass Mitglieder der Familie des brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro im Aufsichtsrat des Unternehmens vertreten sind.
Recherchen von Journalist*innen haben nun gezeigt, dass der Druck, Punkt 6 aus dem Abkommen zu streichen, von Leros Comercializadora ausging. Der Anwalt José Rodríguez González habe somit tatsächlich die Interessen des Unternehmen Leros vertreten, als er im Namen des Vizepräsidenten Hugo Velázquez bei den Verhandlungen mitmischte, so die Medienberichte.
Als die Staatsanwaltschaft sich des Falles annahm, behauptete Rodríguez González, er habe „sein Handy verloren“, auf dem sich die Kommunikation mit dem damaligen ANDE-Chef Ferreira befunden habe.

Die Diskussionen über das Projekt haben nie aufgehört


Es gibt also ernstzunehmende Hinweise darauf, dass das Geheimabkommen zu Itaipú nicht nur unvorteilhaft für Paraguay ausfällt, sondern dass es auch eine private Vereinbarung zwischen Bolsonaro einerseits und Abdo und Velázquez andererseits beinhaltet, mit dem Ziel, Profit aus dem Verkauf paraguayischen Stroms zu schlagen.
Der Skandal setzt nicht nur Präsident Mario Abdo unter Druck. Im brasilianischen Parlament haben oppositionelle Abgeordnete eine Untersuchung gegen Präsident Jair Bolsonaro wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch eingeleitet. Mitglieder der Arbeiterpartei PT des ehemaligen Präsidenten Inácio Lula da Silva haben bei der Bundesstaatsanwaltschaft eine Untersuchung des Abkommens über Kauf und Verkauf des paraguayischen Energieüberschusses beantragt. Der Antrag, den 24 Abgeordnete unterzeichnet haben, verlangt, dass die schwerwiegenden Vorwürfe gegen den Präsidenten, den Außenminister Ernesto Araújo und den brasilianischen Generaldirektor von Itaipú, Joaquim Silva, aufgeklärt werden.
In Paraguay schlägt der Skandal bereits jetzt größere Wellen. Die Regierung Mario Abdos befindet sich ihrer bislang schwersten Krise. Der paraguayische Kongress hat eine Kommission aus beiden Kammern des Parlaments gebildet, um den Fall zu untersuchen. In der Zwischenzeit hat die paraguayische Regierung erste Schritte unternommen, um Brasilien zu bitten, das Abkommen rückgängig zu machen. Jair Bolsonaro hatte bereits erklärt, dass er einen solchen offiziellen Antrag annehmen würde, weil sein „Freund Marito“ die Sachen gut mache und etwas Hilfe benötige. Unbeabsichtigt verstärkte Bolsonaro mit seiner Wortwahl die Verdächtigungen, er hätte die paraguayische Regierung zu seinen Zwecken beeinflusst.
Trotz aller Bemühungen der Regierung, die Wogen zu glätten, wurde sie von mehreren Rücktritten erschüttert. Der Außenminister Luis Castiglioni, der Botschafter in Brasilien sowie hochrangige Mitarbeiter*innen bei Itaipú und ANDE mussten aufgrund des öffentlichen Drucks ihre Posten aufgeben. Auch María Epifanía González, die das Ministerium für den Kampf gegen Geldwäsche leitete, musste ihr Amt verlassen: Sie ist die Mutter von José Rodríguez González, der mutmaßlich im Auftrag von Leros Comercializadora entscheidend Einfluss auf die Verhandlungen genommen hatte.
Die oppositionelle liberale Fraktion im Parlament beantragte schließlich sogar die Amtsenthebung des paraguayischen Präsidenten Abdo. Noch im Juli hat die Fraktion der Colorados – die ansonsten bei weitem nicht geschlossen hinter Abdo steht – den Antrag abgelehnt. Dies zeigt, dass der Pakt zwischen den innerparteilichen Fraktionen um Mario Abdo und den ehemaligen Präsidenten Horacio Cartes hält. Noch. Viele Analyst*innen halten es für gut möglich, dass er die restlichen fünf Jahre seiner Legislaturperiode nicht im Amt übersteht.

 


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BRASILIANISCHES TAGEBUCH

18.9. [2016]
Ein Aktivist der Tupi, der Nachkommen der Urbevölkerung im Gebiet des heutigen Brasilien, hatte mich zu einem größeren Treffen der Guarani bei São Paulo eingeladen. […] In einem großen Haus aus Holz, Bambus und Erde (Adobe), dem „Gebetshaus“ oder „Opy“, fand das offizielle Treffen statt. Es waren Guarani Mbyá aus fünf brasilianischen Bundes­staaten anwesend, die über verschiedene Fragen sprachen, über Landrechte, ihre Kultur, und Dokumente an Regierungs­stellen schrieben und ihre interne Organisation regelten.
Verschiedene Leute redeten. Einer von der Gewalt, die in Brasilien gegen die Indigenen passiert. Seit der Ankunft der Portugiesen. Die offizielle Indigenenorganisation FUNAI mache nichts für die Rechte der Indigenen, meinte einer. Immer wieder gab es Beifall und Zwischenrufe: „Añeteeee!!“ was nach meinen Guaranikenntnissen bedeuten musste: „richtig!“ Añete bedeutet „Wahrheit“, wie ich mich von Guaranibüchern aus Paraguay erinnerte.
Einer sagte, die Indigenen hätten immer den Wald („mata“) bewahrt, die Eindringlinge aus Europa aber alles zerstört. Ein anderer, der wie er sagte, 1950 geboren wurde, erzählte, dass er sich an sein Land erinnerte, wie es war, als er erst 6 Jahre alt war; aber jetzt gebe es die mata (Wald) nicht mehr, keinen Fisch im Flusse, kein Wild („caça“) im Wald mehr, nicht mehr, wovon der Guarani sich ernähre.
An einem anderen Tag redeten alle auf Guarani. Da verstand ich nichts außer den Zwischenrufen „Añeteee!“

11.4. [2018]
[…]
In einer U-Bahnlinie in São Paulo höre ich regelmäßig die Durchsage, dass bettelnden Menschen bitte nichts gegeben werden solle. Dies erinnert mich an das Mittelalter, besser gesagt an das 16. Jahrhundert in Europa, als sich das Privateigentum durchsetzte und Massen an Menschen besitzlos wurden und man begann, die Ausgeschlossenen auch noch dafür zu beschuldigen, dass sie arm waren. Auf den Straßen mitten in São Paulo sehe ich schlecht gekleidete Männer, die riesige Wagen mit Müll hinter sich her ziehen. Warum tun sie das in einem Zeitalter, wo es bereits Autos gibt, mit denen man den Müll wegtransportieren kann? Weil das für sie eine Einkommensquelle ist. Die Regierungen von Lula und Dilma Rousseff haben zwar nicht den Neoliberalismus, schon gar nicht den Kapitalismus abgeschafft, sondern nur an „Symptomen“ gearbeitet, Sozialprogramme durchgeführt, die Situation der Menschenrechte in vielen Bereichen verbessert, aber das war besser als die Politik der jetzigen Regierung, die alle Reichtümer Brasiliens an große Unternehmen vermacht. Auch einem Bettler etwas zu geben, ändert scheinbar nur etwas an „Symptomen“; aber auf der anderen Seite bedeutet jede wirkliche Hinwendung zu armen oder unterdrückten und ausgeschlossenen Menschen eine Delegitimierung des Systems, das sie ausschließt, und den konkreten Menschen zu bejahen.


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„UNSERE STIMME NACH EUROPA BRINGEN“

Indigenes Protestcamp 2019 Jedes Jahr findet mit dem Acampamento Terra Livre die größte indigene Versammlung mit tausenden Teilnehmer*innen in Brasilia statt // Foto: Edu Marin / Flickr (CC BY 2.0)

Es sind nun sechs Monate vergangen, seitdem Jair Bolsonaro die Präsidentschaft übernommen hat – hat sich in dieser Zeit die Lebenssituation der Guarani Kaiowá verändert?
Alenir Ximendes: Diese Veränderung findet seit der Regierung des vorherigen Präsidenten Temer statt. Temer hat begonnen, was Bolsonaro jetzt fortsetzt. In den sechs Monaten, in denen Bolsonaro an der Macht ist, haben wir das Gefühl, dass er die Rechte der Guarani Kaiowá zerstört. Und nicht nur unsere Rechte, sondern auch die Rechte der ganzen Gesellschaft mit seinen präsidialen Initiativen zu Bildung, Gesundheit und Altersversorgung.
Janete Ferreira: Die brasilianische Politik war gegenüber indigenen Angelegenheiten niemals wohlwollend. Um etwas zu erreichen, mussten wir indigenen Völker immer Druck auf die Regierungen ausüben und auf die Straße gehen. Auch wenn wir nicht parteipolitisch orientiert sind, sind wir doch ein Volk, das wählt, wir haben Ideen, wir schaffen Neues und wir verteidigen, was uns wichtig ist. Wir machen unsere Politik, die unserer Art zu leben entspringt. Wir sind nicht verpflichtet, die Politik anzunehmen, die von den brasilianischen Politikern kommt, wir haben unsere eigene. Und meistens wird das, was wir wollen, von der brasilianischen Politik nicht akzeptiert, für sie ist das ohne Bedeutung: das Recht auf Land, die Verteidigung der Natur. Sie übersehen dabei, dass wir die Humanität verteidigen, das Leben. Weil ihnen das nichts bedeutet.

Was ist das Ziel Ihrer Reise durch Europa?
A.X.: Wir können uns mit unseren Anliegen nicht an die politischen Repräsentanten wenden, sei es der Präsident, der Gouverneur oder lokale Abgeordnete. Im April sind wir zum jährlichen Protestcamp Acampamento Terra Livre nach Brasília gefahren, wir haben demonstriert, Gespräche mit Politikern geführt und ein gemeinsames Dokument übergeben. Bisher haben wir keine Antwort erhalten, nichts hat sich geändert.
Ende letzten Jahres hat uns eine Delegation der Euopäischen Union besucht. Seitdem haben wir nichts mehr von der EU gehört und es ist kein Bericht erschienen, der unseren Präsidenten unter Druck setzen könnte. Es beunruhigt uns sehr, dass dieser Prozess so langsam ist, denn während wir warten, bleiben die großen Landbesitzer nicht untätig. Wir wollen die Stimme der Indigenen nach Europa bringen, um zu erreichen, dass das Ausland sich ebenfalls dafür verantwortlich fühlt, dass die Rechte der Indigenen in Brasilien respektiert werden.

Denken Sie da zum Beispiel an einen Boykott von brasilianischem Soja, solange die Rechte der Indigenen verletzt werden?
A. X.: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, aber deutsche Firmen exportieren Pestizide in unsere Region, die in Deutschland verboten sind. Sie sagen, dass sie für den Einsatz nicht verantwortlich sind, aber das stimmt nicht. Denn immerhin geht es um die Gesundheit von Menschen. Sie verkaufen in Mato Grosso, was sie in der EU nicht mehr verkaufen dürfen.
J.F.: Die Politik der Regierung Bolsonaro, jetzt noch mehr Pestizide zu erlauben, wird viele Indigene aus unseren Gemeinden töten. Schon jetzt verursachen die Pestizide viele Krankheiten, auch in meiner Familie: Hautausschläge, Übelkeit und Erbrechen, verschiedene Formen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Und wir wissen nicht, welche Heilmittel gegen die Vergiftungen helfen, deshalb müssen wir dann ins Krankenhaus. Gleichzeitig ist unser Land durch die Ackergifte wie eine Wüste, so dass wir gar keine Heilkräuter mehr sammeln können. Also müssen wir auch bei anderen Krankheiten ins Krankenhaus. Und es gibt in unseren sieben Gemeinden nur ein einziges Auto, das Kranke dorthin bringen kann. Es dauert lange, bis es kommt, wenn wir es brauchen, denn die Gemeinden liegen alle zehn Kilometer von einander entfernt.

Foto: Wolfgang Günzel, Weltkulturen Museum Frankfurt

ALENIR XIMENDES TEHOKÁ UND JANETE FERREIRA
Alenir Ximendes Tehoká (rechts) ist Repräsentantin der vier Versammlungen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul und Lehrerin in der Gemeinde Antonio João. Jenete Ferreira (links) ist eine der Führungspersönlichkeiten der Kaiowá aus Guapo’Y Amombai in Mato Grosso do Sul. Beide sind in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv. 

 

Hat die Repression gegen die indigenen Gemeinden in ihrer Region in den letzten sechs Monaten zugenommen?
A.X.: Die Situation war schon vorher sehr schlecht, es gibt sehr viel Gewalt in unserer Region. Viele Guarani Kaiowá werden ermordet und es wird als „Unfall“ getarnt. Meistens sind es Viehtransporter, die die Menschen auf der Straße einfach überfahren. Das ist wirklich sehr schmerzhaft für die Familien, weil sie die Körper ihrer Angehörigen meistens nicht einmal mehr sehen können und die Blutflecken auf den Straßen nicht beseitigt werden. Sie werden getötet wie Tiere. Und wir haben niemanden, an den wir uns wenden und um Hilfe bitten können.
J.F.: Das sind keine „Unfälle“, in den retomadas (s. Infokasten, Anm. d. Red.) werden viele Menschen aus Hass oder Wut getötet. Wenn sie alleine auf der Straße sind – umso besser. In den Medien heißt es dann, die Opfer wären betrunken gewesen oder hätten Drogen genommen. Aber wenn wir uns die Fälle anschauen, dann ist das sehr unwahrscheinlich. Und die staatlichen Organe interessiert das überhaupt nicht. Ohne konkrete Fakten wie ein Foto oder ein Handyvideo können wir gar nichts machen. Die Polizei untersucht die Fälle nicht, denn meistens sind sie Familienangehörige, Freunde oder sonstwie mit den Mördern verbandelt.

Sie sind beide in der Frauenorganisation Kuñangue Aty Guasu aktiv, wie ist die Situation der Frauen der Guarani Kaiowá in Mato Grosso do Sul?
J. F.: Es ist für Frauen besonders schwierig an den Orten, an denen sie keinen Zugang zu irgendetwas haben, zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung oder Bildung. Dort, wo sie keine Form der Unterstützung erhalten, auch nicht für ihre Kinder. Oft werden sie auch in Krankenhäusern nicht richtig behandelt und sterben. Indigene Frauen aus den retomadas werden als Invasorinnen betrachtet, sie verdienen keine Aufmerksamkeit und keine Unterstützung.
Und viele Frauen verstehen es nicht, für sich zu sprechen, zu diskutieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Sie bleiben in ihrer vertrauten Umgebung, in ihrem Haus, sie sprechen nicht öffentlich. Kuñangue Aty Guasu ist eine Gruppe von Frauen, die andere Frauen dabei unterstützt, lauter zu sprechen, Mut zu haben und mit allem fertig zu werden.

Sie leben in zwei unterschiedlichen Regionen, die rund 200 Kilometer von einander entfernt sind. Wie verläuft jeweils in Ihrer Region der Prozess der Anerkennung der indigenen Territorien? Welche Erwartungen haben Sie in Bezug auf die Politik von Bolsonaro, wird er alle Demarkierungen stoppen können?
A.X.: Der Prozess der Demarkierung ist in unserer Region doch schon gestoppt worden! Seit 2005 passiert gar nichts. Und in vielen indigenen Gemeinden ist es genauso. Insofern erwarten wir gar nichts von diesem Präsidenten. Bolsonaro hat ja sehr deutlich gemacht, dass er nicht vorhat, irgendetwas zu tun. Aber das kann sich auch ändern – durch Druck aus dem Ausland. Wenn sie in den ausländischen Medien darüber berichten, wie er die Indigenen behandelt, wie er die Guarani Kaiowá in ihrem eigenen Bundesstaat abwertet, dann ist das schlecht für ihn. Deshalb bitten wir hier um Hilfe.
J.F.: Wir erwarten keinen guten Willen von Bolsonaro, um unser Land zu demarkieren. Die Anerkennung der indigenen Territorien war immer ein sehr langsamer Prozess und so haben sie uns dazu gebracht, selbst die Demarkierung durchzuführen. Eigentlich haben sie die retomadas provoziert. Sie sprechen über „Eindringen in Privatbesitz“, aber eigentlich hätten die Behörden die Probleme mit den lokalen Landbesitzern lösen  müssen. In vielen Fällen haben die Behörden die Konflikte zwischen den Indigenen und den lokalen Landwirten erst entstehen lassen. Sie nähren Streit und Hass in allen nicht-indigenen Familien. Das Interesse an den Demarkierungen ist indigen, es ist kein staatliches Interesse. Das Land sichert unser Überleben, wir nehmen uns nur das, was uns gehört. Wir fordern von diesem Präsidenten, dass er uns endlich die Dokumente über unser traditionelles Land ausstellt.

 


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REGIERUNG UND MOB AUF ANGRIFF


Fürchtet einen Genozid an den indigenen Völkern Brasiliens Sônia Guajajara (Foto Senado Federal, Flickr CC BY 2.)

Bereits im Januar stiegen die gewalttätigen Übergriffe in indigenen Territorien deutlich an. Der Indigenenmissionsrat CIMI und das Observatorium „De Olho nos Ruralistas“, die Menschenrechtsverstöße gegen Indigene und das Vorgehen des brasilianischen Agrobusiness dokumentieren, zählten für die ersten drei Wochen der Regierung Bolsonaro allein acht Angriffe. Sie trafen die vier indigenen Völker der Uru Eu Wau Wau, Arara, Xavante und der Guarani Mbyá in den Bundesstaaten Rondônia, Pará, Maranhão und Mato Grosso. Außerdem wurden Siedlungen und Zeltstädte der indigenen Guarani-Kaiowá in Mato Grosso do Sul durch paramilitärische Milizen bedroht und beschossen.
In Mato Grosso wurde am 5. Januar der 38-jährige Kleinbauer Eliseu Queres von Pistoleiros erschossen. Queres wohnte zusammen mit 200 weiteren Familien auf einer Landbesetzung mi Munizip von Colniza, im Norden des Bundesstaats von Mato Grosso. Das Gelände ist eigentlich in staatlichem Besitz, wurde aber vom früheren Gouverneur des Bundesstaats, Silval Barbosa, und einem weiteren Landespolitiker illegal in Besitz genommen. Später wurde das Land, da es landwirtschaftlich nicht genutzt wurde, von Kleinbäuerinnen und -bauern besetzt, um es im Rahmen der Agrarreform der familiären Landwirtschaft zuzuführen. Eliseu Queres war zusammen mit anderen in der Nacht auf dem Weg, um Wasser zu holen, als sie aus dem Hinterhalt von Pistoleiros beschossen wurden, wie die Landpastorale CPT berichtet. Neun weitere Personen wurden verletzt; fünf von ihnen so schwer, dass sie weiterhin auf der Intensivstation behandelt werden müssen.

„Der Präsident verglich unsere Lebensweise in unseren traditionellen Territorien mit Tieren im Zoo.”

Bei den bewaffneten Übergriffen auf Xavante-Indigene im indigenen Territorium Marãiwatsédé im Bundesstaat Mato Grosso beriefen sich die Eindringlinge auf den mit Bolsonaro verbündeten Politiker Nelson Barbudo der PSL. Dieser fordert seit 2012, den Status des indigenen Territoriums Marãiwatsédé als geschütztes Gebiet abzuerkennen und dessen Aneignung durch Farmer*innen zu ermöglichen. In Südbrasilien, im Bundesstaat Rio Grande do Sul, wurden Guarani auf ihrem Gebiet Ponta do Arado von Unbekannten beschossen und ihnen befohlen, binnen weniger Tage das Gebiet zu räumen; andernfalls würden sie getötet.  „Keinen Zentimeter mehr demarkiertes Land“ wolle er den Indigenen zugestehen, so hatte Bolsonaro vor der Wahl verkündet. Nach der Wahl übertrug er die Entscheidungshoheit über Demarkationen indigenen und Quilombola-Landes an das Agrarministerium. Ministerin wurde Tereza Cristina, die als „Muse des Agrargiftes“ bekannte Vorsitzende der Agrarindustrie im brasilianischen Nationalkongress. Die Indigenenbehörde FUNAI wurde in dem von Damares Alves unterstellten Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte eingegliedert. Alves ist evangelikale Pfarrerin, Verfechterin der sogenannten „Schule ohne Partei“ und der Bekämpfung der „Geschlechterideologie“. Bolsonaro selbst erklärte, er wolle den Indigenen helfen, ihrer „Rückständigkeit“ zu entkommen und sich als vollwertige Brasilianer*innen zu integrieren. Dies will er dadurch erreichen, dass indigene Territorien für die wirtschaftliche Inwertsetzung durch Landwirtschaft und Bergbau freigegeben werden – und Indigene daran „verdienen“ könnten, zum Beispiel durch Verpachtungen. „Diese Gerede von Bolsonaro und seinem Team über indigene Völker ist rückwärtsgewandt und behandelt uns respektlos, unsere Geschichte, unsere Abstammung!“, protestierten 200 indigene Frauen aus dem Gebiet des unteren Tapajós-Flusses in Amazonien in einer gemeinsamen Erklärung, die sie Mitte Januar veröffentlichten. Die indigenen Frauen hatten sich versammelt, um über die neuen Angriffe der Bolsonaro-Regierung auf ihre Lebensweise und ihre Gebiete zu debattieren. Ihr Urteil fiel harsch aus: „Der Präsident verglich unsere Lebensweise in unseren traditionellen Territorien mit Tieren im Zoo, die in einem Käfig gefangen seien. Er macht absurde Aussagen über unsere Lebensweise und über unsere Wünsche als brasilianische Bürgerinnen.“

„Das ist keine Regierung, das ist ein Angriff!“, kommentierte auch der bekannte brasilianische Philosoph und Kolumnist Vladimir Safatle die bisherigen Entscheidungen der neuen Regierung. Kurz zuvor hatte Staatsminister Onyx Lorenzoni, die rechte Hand Bolsonaros, eine rasche „Säuberung“ der Verwaltung in die Wege geleitet. Die Maßnahme zielt auf Anhänger linker Parteien, insbesondere der oppositionellen Arbeiterpartei, die von 2003 bis 2016 die Regierung stellte. Mitarbeiter*innen in den Ministerien, die mit der Regierung ideologisch nicht auf einer Linie liegen, sollten entlassen werden, sagte Lorenzoni wenige Tage nach Amtsantritt seines Chefs. Ziel sei es, „die sozialistischen und kommunistischen Ideen“ aus den Ministerien zu verbannen. Regierungsvertreter erklärten, auch die Vergabe wissenschaftlicher Stipendien werde zukünftig nach einer ideologischen Überprüfung der Kandidat*innen erfolgen. Auch die Landlosenbewegung MST, die Landpastorale CPT und der Indigenenmissionsrat CIMI stehen im Visier der neuen Regierung in Brasília. Für den Präsidenten des neu geschaffenen Ministerialsekretariats für Grund-und-Boden-Eigentumsfragen, Luiz Antônio Nabhan Garcia, sind MST, CPT und CIMI allesamt kriminell, die MST-Schule „eine Fabrik für Diktatoren“, die es schnell zu schließen gelte.

Ziel sei es, „die sozialistischen und kommunistischen Ideen“ aus den Ministerien zu verbannen.

Angesichts der zunehmenden Zahl an gewalttätigen Übergriffen auf Indigene und Landlose, politisch flankiert durch eine reaktionären Umbau der staatlichen Strukturen, um die Agrarindustrie im Land zu stärken, mehren sich die Stimmen der Betroffenen, die auf internationaler Ebene eine harsche Reaktion einfordern. Sônia Guajajara vom landesweiten Zusammenschluss der indigenen Völker Brasiliens, APIB, forderte schon Ende Dezember einen internationalen Boykott der Produkte der brasilianischen Agrarindustrie. Da die EU eine der größten Abnehmerinnen brasilianischer Agrarprodukte sei, so Guajajara, „muss die EU für die sozialen und umweltbelastenden Konsequenzen ihrer Handelspolitik geradestehen und folgerichtig Produkte boykottieren, die aus Konfliktgebieten kommen, wie Soja aus dem mittleren Westen Brasiliens“. Andernfalls würde „die EU sich dem Genozid an Völkern und Kulturen gegenüber blind stellen“, so Guajajara.


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