AUTONOMIE IN BEWEGUNG

In ganz Lateinamerika gibt es Ansätze „von unten“, die das staatliche Gewaltmonopol herausfordern. Das zweifellos bekannteste Beispiel ist die zapatistische Bewegung. Seit dem Aufstand im Jahr 1994 wurde eine eigene Infrastruktur aufgebaut und eigene Strukturen der Selbstregierung etabliert. Dieses schillernde Beispiel gelebter Autonomie ist bei Weitem nicht das einzige. Vor allem innerhalb indigener Gemeinschaften wird Autonomie schon lange diskutiert, gefordert und gelebt.

Teils werden Autonomie-Prozesse vom Nationalstaat gefördert, etwa in der bolivianischen Verfassung ist das Recht auf indigene Autonomie verankert. Auch die kolumbianische Verfassung sieht unter anderem die Ausübung territorialer Autonomie für indigene Gemeinschaften vor. Der abgelehnte Verfassungsentwurf Chiles hätte für indigene Gemeinschaften „Autonomie und Selbstverwaltung“ innerhalb eines „plurinationalen und interkulturellen Staates“ beinhaltet.

Zudem unterstützen internationale Mechanismen wie die UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker oder die ILO-Konvention 169 die Autonomie-Forderungen indigener Gemeinschaften.
Doch die Umsetzung in die Praxis ist schwierig. Gemeinschaften, die sich auf ihr Recht zur autonomen Kontrolle ihrer Territorien, einem Leben basierend auf den eigenen kulturellen Praktiken berufen, werden daran behindert und mit Repressionen überzogen.

Gleichzeitig wird innerhalb der Gemeinschaften teils kontrovers diskutiert, wie die Autonomierechte ausgelebt werden sollen und in welchem Verhältnis dazu der Nationalstaat stehen sollte.
Die tatsächliche Ausübung von Autonomie steht vielerorts am Anfang oder wird in kleinen Schritten erprobt. An dieser Stelle kann keine auch nur annähernd vollständige Übersicht der verschiedenen Prozesse erfolgen, aber einige wenige Schlaglichter auf weniger bekannte Ansätze sollen in einem Dossier, das sich mit „progressiven Regierungen“ in Lateinamerika beschäftigt, trotzdem nicht fehlen:

Guardias indígenas in Ecuador
Am Atrato-Fluss
In Guna Yala
Mapuche und indigene Autonomie

GUARDIAS INDÍGENAS IN ECUADOR

Ein aktuelles Beispiel für die Ausübung von Autonomie und Selbstbestimmung durch indigene Gemeinschaften in Ecuador sind die sogenannten gemeinschaftlichen Wächter*innen (guardias comunitarias y populares). In einer Stellungnahme der guardias indígenas vom 15. September 2022 wird die Position mehrerer Gemeinschaften in Bezug auf das, was sie als Strategie zur Verteidigung der Gebiete gegen den Extraktivismus und die Intervention der kolonisierenden Lebensweisen bezeichnen, dargestellt: „Auf der Grundlage des Rechts, in den angestammten Gebieten zu regieren und Gesetze zu erlassen, sind wir entschlossen, unsere gemeinschaftliche guardia indígena zu stärken, die aus dem Mandat unserer Ältesten hervorgegangen ist“. In diesem Ansatz wird der Logik des staatlichen Gewaltmonopols teils widersprochen.

Während der Mobilisierungen 2019 war die guardia indígena in den Städten aktiv, um die Selbstverteidigung der Demonstrierenden zu organisieren und auf die staatliche Repression zu reagieren.
Der ehemalige Präsident Lenin Moreno diffamierte in Komplizenschaft mit dem Medienapparat die organisierte Form der Verteidigung und bezeichnete die guardia indígena als Terroristen. Die rassistische Propaganda geht sogar so weit, die Organisationen als bewaffneten Arm von Drogenhändlern zu bezeichnen oder sie als Paramilitärs zu brandmarken. Die Kriminalisierung von autonomen Praktiken kommt nicht nur in Mobilisierungen wie denen vom Oktober 2019 oder Juni 2022 zum Ausdruck, sondern auch im täglichen Leben der Gemeinschaften und in ihrem Kampf gegen Bergbau, Monokultur und Vertreibung, insbesondere im Hochland und im ecuadorianischen Amazonasgebiet.

Die Handlungen des Staates stehen im Widerspruch zum Verfassungsauftrag, der Ecuador als plurinationalen Staat und das Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerungen und Nationalitäten anerkennt. Viele staatliche Maßnahmen unterstützen dieses verfassungswidrige Handeln. Das 2011 erlassene Strafgesetzbuch stellt zum ersten Mal Tatbestände wie Terrorismus und Sabotage unter Strafe. Dies wird genutzt, um die Verteidigung der Territorien und Gemeinschaften, die von anderen Kosmovisonen geprägt sind, zu stigmatisieren und kriminalisieren.

Indigene und Afro-Gemeinschaften gründen ihre politische, soziale, spirituelle und wirtschaftliche Organisation auf die Gemeinschaft und der ihr innewohnenden Beziehung zum Territorium. All dies geschieht gegen den Strom, denn die Auferlegung einer neoliberalen Logik standardisiert die Lebensweisen in Richtung einer bestimmten Norm. Diejenigen, die sich ihr widersetzen, werden, wie die Kämpfe gegen Extraktivismus und Ausbeutung zeigen, kooptiert, kriminalisiert oder ermordet.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

AM ATRATO-FLUSS

Eigenes Rechtssubjekt Der Fluss Astrato und seine Nebenflüsse werden von der Verfassung geschützt – bedroht sind sie trotzdem (Foto: Produce1895 via wikimedia commons , CC BY-SA 4.0 )

Der wichtigste Fortschritt in Kolumbien in Bezug auf Territorium und Autonomie kam mit der politischen Verfassung von 1991, aus der der multiethnische und multikulturelle Staat hervorging. Etwa zwei Jahre später wurde das Gesetz 70 als Instrument zur Anerkennung des Rechts auf kollektives Eigentum erlassen. Das Dekret 1745 von 1995 definiert den Gemeinderat als höchste Instanz für die Verwaltung der Gebiete und die Ausübung der Autonomie.

In Kolumbien sind mehr als 5.000.000 Hektar Land im Kollektivbesitz. In der Praxis garantiert die Anerkennung der Autonomie über die kollektiven Territorien jedoch nicht, dass Gemeinschaften diese auch tatsächlich ausüben können. Der Staat kontrolliert die Gebiete mit militärischen und wirtschaftlichen Mitteln. Bergbau, Erdölexploration und Abholzung wird in Regionen vorangetrieben, die eigentlich der Kontrolle der Gemeinderäte unterlägen. Die Anwesenheit bewaffneter Gruppen hat eine Ausweitung des illegalen Koka-Anbaus, Waffen- und Drogenhandels in den Gebieten zur Folge. Drohungen und Morde gegen Führungspersönlichkeiten der Gemeinschaften nehmen zu.

Ein wichtiger Erfolg zur Ausübung der territorialen Autonomie ethnischer Gemeinschaften in Kolumbien ist auch das Urteil T-622 aus dem Jahr 2016. Vorausgegangen war diesem eine Klage, welche Basisorganisationen aus dem Chocó eingereicht hatten, die sich für die Rechte von afrokolumbianischen, Palenquero- und Raizal-Gemeinschaften einsetzen. Im Urteil erkennt das Verfassungsgericht den Fluss Atrato und seine Nebenflüsse als Rechtssubjekt an.

Weiterhin stellt das Urteil schwerwiegende Verletzungen der Rechte auf Leben, Gesundheit, Wasser und Ernährungssicherheit der Gemeinden im Einzugsgebiet des Atrato und seiner Nebenflüsse fest. Verantwortlich für diese Verletzungen sind laut Urteil staatliche Stellen und der illegale Bergbau.

Da der Atrato-Fluss somit als Rechtssubjekt anerkannt ist, muss der Staat seinen Schutz, die Erhaltung und Instandhaltung sowie Wiederherstellung garantieren. Dafür verantwortlich sind zwei „Wächter“ (guardianes), gestellt von der Regierung und den Gemeinschaften. Sie stehen in direkter Verbindung mit den Basisorganisationen und gemeinsam wurde ein System der Entscheidungsfindung geschaffen, in dem die Organisationen über Autonomie bei der Umsetzung des Urteils sowie einen Mechanismus zur Überwachung und Rechenschaftspflicht der Aktivitäten verfügen.

Trotz der Fortschritte gibt es noch viele Herausforderungen, welche die Anwendung des Urteils erschweren. Nach sechs Jahren sind die Gemeinschaften noch immer mit einer besorgniserregenden Situation aufgrund der vielen Menschenrechtsverletzungen konfrontiert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

IN GUNA YALA

Mola-Kunsthandwerk der Guna Tradition und Tourismus verbinden – eine der Herausforderungen für autonome indigene Strukturen (Foto: Lupo Cordero für Proyecto Nativo)

In Panama gibt es sechs indigene Autonomiegebiete, die zusammen etwa ein Viertel des Staatsgebietes einnehmen. Drei davon gehören zur Gruppe der Guna, je eines zu den Gruppen der Ngäbe-Buglé, der Emberá und der Naso. Das älteste Autonomiegebiet ist Guna Yala, ein etwa 200 Kilometer langer Streifen der karibischen Küste Panamas mit vorgelagerten Inseln, der erst seit einigen Jahren durch eine Straße mit dem Rest des Landes verbunden ist.

Bereits Kolumbien hatte 1870 ein ausgedehntes Autonomiegebiet der Guna anerkannt, dessen Status aber mit der Unabhängigkeit Panamas 1903 zunächst wieder erlosch. Im Jahr 1925 gab es nach territorialen Konflikten sowie Diskriminierungen und Misshandlungen seitens der vor Ort stationierten Polizeikräfte einen bewaffneten Aufstand der Guna, der schließlich zur offiziellen Anerkennung des Guna-Territoriums führte.
Kern der Selbstverwaltung sind zwei Versammlungen: der allgemeine, politische Kongress (Congreso general guna, CGG) sowie der spirituelle Kulturkongress (Congreso general de la cultura guna). Der CGG besteht aus Abgesandten aller Gemeinden und trifft politische Entscheidungen, die für alle Gemeinden verbindlich sind. Jedem Dorf sowie dem Gebiet als Ganzes stehen ein Sagla bzw. mehrere Saglagan (Plural) als politische und spirituelle Autoritäten vor. Der CGG hat einen Generalsekretär sowie verschiedene Sekretariate, etwa für die Verteidigung des Territoriums, für Information oder für Tourismus. Jede Gemeinde hat zusätzlich eigene Regeln.

Wirtschaftliche Interessen haben wie in vielen indigenen Gebieten stets zu Konflikten mit Staat und Unternehmen geführt. Ihre Autonomie und die geographische Abgeschiedenheit haben den Guna bisher jedoch dabei geholfen, sich erfolgreich gegen Großprojekte wie Staudämme oder Minen zu wehren. Herausforderungen für die Autonomie gibt es trotzdem. Der Bau der ersten Straße in das Gebiet wurde von den Einheimischen etwa mit dem Ziel vorangetrieben, Panama-Stadt schneller erreichen zu können. Mit der Straße kamen viele Tourist*innen, die zwar neue Verdienstmöglichkeiten, aber auch Müll und Umweltschäden brachten und auch die traditionelle Selbstversorger*innenwirtschaft störten. Ein Gleichgewicht zwischen Landwirtschaft und Tourismus wurde hier nicht von Anfang an mitgedacht.

Der Staat investiert zwar in Infrastruktur wie Schulen, Krankenstationen oder Wasserleitungen, für Projekte zur Stärkung ihrer Autonomie oder Kultur sind die Guna jedoch meist auf das Einwerben zusätzlicher Mittel angewiesen, etwa bei Entwicklungsbanken oder Botschaften. Gelungen ist ihnen dies etwa für die derzeit ablaufende, schrittweise Einführung zweisprachigen Unterrichts an den Schulen.

Junge Guna nehmen die Struktur des CGG zuweilen als anfällig für Korruption wahr, zudem sind politische Entscheidungsfindungen bei den Guna traditionell Männersache. Es werden Stimmen laut, die dies nicht mehr als zeitgemäß empfinden. Der Wandel braucht vermutlich etwas Zeit.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

MAPUCHE UND INDIGENE AUTONOMIE

Foto: Periódico Resumen via Flickr (CC BY-NC 2.0)

Innerhalb der Mapuche-Gemeinden auf chilenischem Staatsgebiet gibt es verschiedene Konzepte rund um das Thema Autonomie. All diese können jedoch aufgrund der restriktiven chilenischen Gesetzgebung, die jeden Anflug von Autonomie im Rahmen eines zentralistischen Einheitsstaates unterdrückt, in der Praxis nur schwer umgesetzt werden. Da es keine einheitliche Vertretung der Mapuche gibt, gibt es auch keinen Konsens wie Autonomie umgesetzt werden sollte.

Im Rahmen der Verfassungsdebatte wurde auch in der chilenischen Öffentlichkeit über das Konzept der Plurinationalität diskutiert. Diese Debatte war jedoch für viele Mapuche lebensfern und wurde darüber hinaus an den Wahlurnen abgelehnt. Das Konzept stellte lediglich einen institutionellen Ausweg dar, um das Recht der indigenen Bevölkerungen anzuerkennen, ihr Schicksal als „Nation“ zu bestimmen.

Ein weiterer Vorschlag stammt von der Organisation Wallmapuwen, die in der Vergangenheit versucht hat, sich als politische Partei zu etablieren. Wallmapuwen schlägt regionale Autonomien vor, in denen die Mapuche auf der Grundlage von Regionalparlamenten vertreten sein könnten. Der Versuch eine politische Kraft zu werden scheiterte jedoch.

Gänzlich außerhalb staatlicher Institutionen verfolgen Organisationen wie die Coordinadora Arauco-Malleco (CAM) de-facto-Landrückgewinnungs-Prozesse mittels Besetzungen von angestammten Territorien, die von Unternehmen bewirtschaftet, bzw. von Siedlern bewohnt waren. Dieses Vorgehen bedeutet, über die Ausübung „territorialer Kontrolle“, das Land in einen produktiven Raum zu verwandeln, der auf den Traditionen der Mapuche basiert und somit die „Entwicklung“ des Territoriums neu definiert. Zusammengefasst argumentiert die CAM, dass es ohne Territorium keine echte Autonomie geben kann.

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“DAS GRUNDGESETZ SCHÜTZT UNSER LAND”

BLAS LÓPEZ
ist Soziologe und war von 2011 bis 2013 Generalsekretär des allgemeinen Kongresses der Guna. Derzeit ist er Mitglied der Kommission, die den Umzug seiner Gemeinde Gardi Sugdub von einer Insel auf das Festland organisiert.

(Foto: privat)


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Wie ist die politische Autonomie und Selbstverwaltung der Guna organisiert?

Im Jahr 1925 gab es nach einer Phase von Diskriminierungen und Misshandlungen seitens des Staates Panama einen bewaffneten Aufstand der Guna, in dessen Folge der Staat unser Volk und unser Territorium Guna Yala offiziell anerkannte. Die jetzige Selbstverwaltungsstruktur des Gebietes gibt es seit 1972 und wurde von den Guna in einem Grundgesetz (Ley fundamental) festgehalten. Dieses wird jedoch nicht vom Staat anerkannt, weil es teilweise im Konflikt zu nationalen Gesetzen steht, etwa was die natürlichen Ressourcen betrifft.

Wie sieht die Selbstverwaltungsstruktur konkret aus?

Kern der Selbstverwaltung sind zwei Versammlungen, der allgemeine Kongress (Congreso general guna, CGG) sowie der Kulturkongress (Congreso general de la cultura guna, CGCG), der spiritueller Natur ist. Der CGG tagt zweimal pro Jahr, besteht aus Abgesandten aller 49 Gemeinden und trifft die politischen Entscheidungen, welche die Gemeinden dann umsetzen müssen. Beide Kongresse haben mehrere traditionelle Repräsentanten, die Sagla dummagan. Der CGG hat einen Generalsekretär, er hat außerdem verschiedene Sekretariate geschaffen, etwa für die Verteidigung des Territoriums, für Information, für Tourismus. Jede Gemeinde hat zusätzlich eine eigene Ordnung mit Regeln.

Welche Bedeutung haben Natur und Biodiversität für die Guna?

Eine sehr wichtige, die Guna bewahren sie seit jeher. Sie haben eine Beziehung zur Natur, auch in spiritueller Hinsicht, und leben täglich mit Erde und Meer. Eine entscheidende Bindefunktion haben dabei traditionelle Rituale, der CGCG sowie der Ortsvorsteher Sagla als politische und spirituelle Autorität, der im Dorfversammlungshaus täglich in einer religiösen Form des Gesangs daran erinnert, wie wichtig die Liebe zur Natur ist. Dann wird bei uns seit einigen Jahren ein zweisprachiger Unterricht umgesetzt, wofür auch Lernmaterial zu unserer Kosmovision in unserer eigenen Sprache entwickelt wurde. Das alles festigt uns in unserer Beziehung zur Natur. Und es gibt konkrete Regeln wie beispielsweise jährlich ein dreimonatiges Fangverbot für Langusten, Schildkröten und Meeresfrüchte, damit sich die Bestände erholen können.

Werden solche Regeln gut befolgt?

Zunächst gibt es eine soziale Kontrolle solcher Regeln. Das Fangverbot ist den meisten Fischern und auch den professionellen Händlern bekannt, dagegen gibt es kaum Verstöße. Der CGG ernennt für diese Zeit etwa Inspekteure in jedem Hafen, die dann den Fang konfiszieren und ins Meer zurückwerfen. Die Leute wissen, dass sie nichts verkaufen können, also fangen sie auch kaum, allenfalls mal für sich selbst. Andere Beispiele sind Müllentsorgung in der Umwelt oder dass Korallen aus dem Meer zur Vergrößerung der bewohnten Inseln und zum Schutz gegen den steigenden Meeresspiegel verwendet werden, was langfristig das marine Ökosystem schädigt und daher unerwünscht ist. Das machen die Leute aus Gründen des praktischen Überlebens, es hat nichts mit unserer Kultur zu tun. Je nach Ausmaß eines Verstoßes kann der CGG Geldstrafen verhängen.

Wie gehen die Guna mit Einflüssen von außen um, etwa mit Projekten und dem Tourismus?

Besuche von Touristen oder Wissenschaftlern sind im Prinzip willkommen, solange sie unsere Kultur respektieren. Externe Investitionen in Projekte sind nur möglich, wenn sie zum Vorteil der Guna geschehen, dafür muss man beim CGG einen Antrag stellen. Das Grundgesetz besagt, dass nur Guna Land in Guna Yala erwerben dürfen (Anm. d. Red.: im Jahr 2005 begonnene Verhandlungen mit der Regierung zur Aufweichung dieses Grundsatzes wurden von den Guna abgebrochen, siehe LN 387/388). Es gab viele Anfragen, um in Unterkünfte für Touristen zu investieren, aber nach einer schlechten Erfahrung, infolge derer ein von externen Geldgebern finanziertes Hotel vom CGG geschlossen wurde, dürfen touristische Einrichtungen und Dienstleistungen nur noch von Guna bereitgestellt werden. Vor einigen Jahren wurde dann die erste Straße nach Guna Yala eröffnet. An ihr hatten neben der Regierung auch die Bewohner ein Interesse, da die Reise von Panama-Stadt nach Guna Yala per Schiff oder Flugzeug teuer war. In das durch die Straße erschlossene Dorf Gardi Sugdub, in dem ich wohne, kommen nun viele Touristen.

Welche Folgen hatte das für das Leben dort?

Der Tourismus hat das Leben dort vollkommen verändert, er ist nicht Teil unserer Kultur und wir waren darauf nicht vorbereitet. Jetzt müssen wirauf ihn reagieren. Einerseits werden die neuen Verdienstmöglichkeiten durch den Tourismus von den meisten positiv gesehen. Viele Einwohner arbeiten jetzt als Führer oder bringen Touristen zu den Unterkünften, von denen es in der Umgebung etwa 30 gibt. Andererseits bestellen immer weniger Leute dort ihre Felder, wodurch sie keine Selbstversorger mehr sind, so wie es heute noch in den meisten anderen Dörfern ist. Die Straße führte auch zu einem Müllproblem und zur Abholzung von Wald, welche wiederum Bäche austrocknet und im Sommer zu Wasserknappheit führt. Tourismus und Landwirtschaft sollten eigentlich zwei sich ergänzende Bausteine sein, dafür wird aber eine neue Strategie gebraucht, denn bisher machen die Touristen hier vor allem Strandurlaub und kommen nur wenig in die Dörfer. Es gibt daher Ideen zu Agrotourismus, das heißt wir könnten den Gästen zeigen, wie wir traditionell unser Land bestellen.

Gibt es sonst Konflikte mit externen Akteuren?

Mit der Regierung hat es immer gewisse Spannungen gegeben. Guna Yala ist eine Goldgrube für den Tourismus, und wirtschaftliche Interessen führen zu Konflikten mit Staat und Unternehmen. Aktuell gibt es etwa einen Konflikt um schon immer von den Guna genutzte Gebiete, die bei der Anerkennung des Territoriums aber nicht einbezogen worden. Dort vergibt der Staat nun Landtitel an Unternehmen, und der CGG klagt dagegen vor dem interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Weitere Konflikte drehen sich derzeit um ein Stromkabel, welches durch unser Land verlegt werden soll, oder um eine von uns erhobene Maut für Autos und Boote, die laut einiger Verkehrsunternehmen und der Regierung nicht rechtens sei. Der CGG wehrt sich auch hier juristisch und gründet jetzt ein eigenes Verkehrsunternehmen. Von Großprojekten mit enormen Auswirkungen wie Bergbau oder Staudämmen sind wir nicht betroffen. Wenn Unternehmen kommen wollten, um unser Land auszubeuten, hat der CGG diese bisher immer stoppen können.

Was gibt es für Projekte in Guna Yala und wie werden sie organisiert?

Der Staat investiert in Schulen, Krankenstationen und Wasserleitungen. Der CGG sowie kommunale NGOs unterhalten einige kleine Projekte, etwa zur Wiedergewinnung bestimmter Pflanzensamen oder zum Wiederanbau des Kakaos, der spirituelle und zeremonielle Bedeutung für die Guna hat. Die Finanzierung solcher Projekte erfolgt zum Beispiel durch die Weltbank. Meine Gemeinde Gardí Sugdub ist dabei, als Reaktion auf die durch den Klimawandel sowie die Korallenschäden bedingten Überschwemmungen auf das Festland umzuziehen. Die Gemeinde hat diese
Initiative selbst ergriffen, auch weil sie an der Straße viel Land besitzt, auf dem das neue Dorf gebaut werden soll.

Sollte die Selbstverwaltung weiterentwickelt werden?

Ja, wir brauchen mehr vorausschauende Planung im Sinne eines Regionalplans, um dies dann auf einzelne Projekte anwenden zu können: Wie stellen wir uns unsere Zukunft in 20, 30 Jahren vor? Welcher Tourismus passt zu uns? Wir müssen aber auch den CGG selbst strukturell erneuern. Ich nehme etwa bei den lokalen Amtsträgern einen Rückgang des Selbstbewusstseins wahr, wir müssen sie stärken. Das gilt auch für die Frauen, die in unserer Kosmovision eine wichtige Rolle spielen und schon heute in vielen Funktionen für den CGG arbeiten. Er muss sich aber noch weiter öffnen, denn Frauen und Männer sollten die Entscheidungen gemeinsam treffen. In den Gemeinden passiert das zum Teil schon, aber die Organisation der Frauen ist nicht überall gleich stark. Schließlich ist die Realität der jungen Guna eine besondere: sie studieren, nutzen das Internet und haben eine andere Perspektive, was manchmal auch Kritik gegenüber dem CGG bedeutet. Der CGG ist nicht perfekt, aber unser Territorium und damit die Autonomie sind die Stärke unseres Volkes, sie sind für unsere Identität und den Schutz der Natur sehr wichtig. Wir sollten weiter an ihrer Verbesserung arbeiten.

„WIR BRAUCHEN EIN NEUES GESELLSCHAFTSMODELL“


Fotos: Felipe Valenzuela

Sie sind einer der Hauptakteure der Autonomen Bewegung. Was waren die Gründe für die Schaffung einer linken Bewegung außerhalb des Parteienbündnisses Neue Mehrheit, der Nueva Mayoría?
Gabriel Boric: Wir glauben, dass die alten Wahrheiten, die dem duopolistischen Blocksystem Leben eingehaucht haben, Risse bekommen. Dieses System ist ein Produkt von Widersprüchen, die sich nicht länger verschweigen
lassen. Die traditionelle Politik ist in einen Wettbewerb um die Macht verfallen, welcher schmamlos durch große Unternehmer finanziert wird und immer mehr in die Illegalität verfällt. Außerhalb dieser Elite organisiert sich nun die Bürgerschaft, die immer weniger auf Rufe nach dem Motto „Die Nueva Mayoría nicht zu wählen bedeutet, eine Stimme für die Rechten“ hört. Die Herausforderung, die wir angenommen haben, ist es, der Empörung eine Stimme zu geben und in eine neue linke Politik umzusetzen, die regierungsfähig ist und gleichzeitig die Ansprüche der Mehrheiten widerspiegelt.

Gibt es bereits irgendein Vorbild für die Autonome Bewegung? Und was ist das spezifische Merkmal, das diese zum „chilenischen Modell“ macht?
Die Autonome Bewegung ist eine politische Strömung, die Elemente des Marxismus und des Anarchismus aufgreift. Sie fördert die Konstruktion einer partizipativen Demokratie, die über eine reine „Repräsentativität“ hinausgeht, strebt eine Horizontalität zwischen Staat und Gesellschaft an und berücksichtigt lokale Besonderheiten. Dabei werden „prefigurative“ Praktiken betont, also Praktiken, die eine angestrebte
Gesellschaft vorwegnehmen, ohne dabei zu erwarten, dass dieser Wandel unbedingt stattfindet. Das theoretische Fundament der Autonomen Bewegung liegt in den Werken von Gramsci und Negri.
In Chile trat diese Strömung erstmalig in den 1990er Jahren mit SurDa auf, einer universitären Gruppierung, die sich unter anderem auf die Erfahrungen der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) und der Unidad Popular bezog. Aber es wäre ein Fehler, lediglich auf die Vergangenheit der chilenischen Linken zu schauen. Wir beobachten auch Podemos in Spanien, die Frente Amplio in Uruguay und Bewegungen in verschiedenen anderen lateinamerikanischen Ländern. Dabei wollen wir deren Taktiken nicht einfach kopieren, sondern die Initiativen berücksichtigen, die wir in unserem eigenen Kontext anwenden können. Ich glaube, dass es von diesen Bewegungen viel zu lernen gibt, aber bereits der peruanische Intellektuelle Mariátegui sagte: „Kein Abklatsch und keine Kopie, sondern heroische Neuschaffung“.

Der Sieg von Jorge Sharp bei den Bürgermeisterwahlen in Valparaíso ist ein großer Erfolg für die Autonome Bewegung. Was waren die Hauptgründe für diesen Wahlsieg?
Die Einwohner Valparaísos haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, ihren Unmut zu kanalisieren und in ein politisches Programm umzusetzen. Wir haben im Juli 2016 in einer Organisation namens La Matriz, in der viele Bewegungen und unabhängige Nachbarschaftsgruppierungen vereinigt sind, Vorwahlen abgehalten. So schafften wir eine zutiefst demokratische Alternative, die die Sehnsüchte und Nöte der Einwohner von Valparaíso erkannten und aus der sich somit ein Raum für die zukünftige Veränderung Chiles ergibt.

Was sind die größten Probleme des Landes, denen diese neue Bewegung gegenübersteht?
Wir müssen entscheidende Schritte unternehmen, um nicht nur die dringende Umverteilung des Reichtums zu erlangen, sondern auch, um der Logik des Kaufens und Verkaufens zu entgehen. Dabei liegt die Priorität auf den
Sozialrechten, welche heute im Namen eines falschen „freien Marktes“ verletzt werden. Um diesen Wandel leisten zu können, müssen wir auf jeden Fall wieder Eigentümer unserer natürlichen Ressourcen sein und die
Fertigungsindustrie wieder aufbauen, die wir einst hatten. Es braucht sicher einen langen Atem, um unser Land zu einem freundlicheren und gerechteren Ort zu machen; mehr, als ich als Einzelner leisten kann. Es ist daher wichtig, dass gemeinschaftlich erarbeitete Vorschläge zustande kommen. Wir müssen aufhören zu erwarten,
dass die, die jahrzehntelang regiert haben, freiwillig diesen Wandel einleiten. Und anstatt in Hoffnungslosigkeit zu verfallen, sollten wir uns zusammensetzen, diskutieren und uns organisieren. Die Apathie der Massen, die sich durch die extrem niedrige Beteiligungen bei Wahlen ausdrückt, ist gerade das Ziel der dominierenden
Klasse. Für diesen Zweck werden wir einen offenen Parteitag abhalten, bei dem alle interessierten Personen teilnehmen können. Es ist egal, ob diese nun in einer Partei sind oder unabhängig oder bereits zu unserer Bewegung gehören. Wir wollen uns treffen, um gemeinsam zu diskutieren und zu handeln.

Die Autonome Bewegung ist explizit links. Wenn diese aber alle Bürger*innen ansprechen soll, dann muss sie auch mit Menschen sprechen, die nicht unbedingt eine linke Perspektive haben. Wie würden Sie auf diese Bürger zugehen?
Wir müssen dazu in der Lage sein, mit Kräften außerhalb der Linken zu sprechen: mit ökologischen Bewegungen, Bürgervereinigungen etc. Auch ist unser Aufstieg als politische Kraft nur außerhalb der Nueva Mayoría möglich. Wir wollen alle Sektoren einladen, die denken, dass wir über den Markt hinausblicken sollten,
um einen Modus zu definieren, in dem wir zusammenleben wollen. Der Markt kennt weder Schutz, noch Vorsicht, noch Rechte, noch Gerechtigkeit, noch Gleichheit. Letztlich brauchen wir ein neues Gesellschaftsmodell, und wir
glauben, dass sich viele an seiner Errichtung beteiligen werden, wenn wir erst politische Reife erlangt haben und Regierungsfähigkeit anbieten können.

Was ist Ihre Vision von einer emanzipatorischen Politik, die Rechte von marginalisierten Gruppen wie den indigenen Völkern, Homosexuellen, Migrant*innen oder auch Frauen einschließt?
Das herrschende neoliberale System hat unser soziales Gewebe zerstört und ist Feind der Vielfalt. Unsere indigenen Völker werden täglich Opfer von Landraub und Schikanen, und sie werden als Hürde für den „Fortschritt“ gesehen, oder genauer gesagt: für große Energie und Bergbauprojekte. Die Frauen und Homosexuellen wiederum sind das Ziel von inhärenter Gewalt in einer patriachalischen Gesellschaft, die das Maskuline verherrlicht und dieses über jede andere Form des Seins stellt. Am verletztlichsten aber sind die Immigranten, denn sie haben schlechteren Zugang zu Informationen und Kontakten, so dass sie das Risiko tragen, ausgebeutet und betrogen zu werden. Aber es gibt noch mehr Bereiche, die dafür bestraft werden, nicht „kompetitiv“ im Sinne der neoliberalen Logik zu sein: Schuldner, die Kredite für den Bau von Eigenheimen aufgenommen haben, Rentner, Studenten oder auch Kommunen, denen die Interessen von Konzernen aufgezwungen werden. Sie alle wollen ihre eigene Stimme, aber es ist wichtig, dass all diese Stimmen zusammen eine sehr starke Stimme bilden, die nicht mehr ignoriert werden kann.

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