“KEINE KOLLEKTIVE DEBATTE, SONDERN EIN KOLLEKTIVES GEFÜHL”

Sie waren bereits am Verfassungsprojekt der zweiten Regierung Bachelet (2014-2018) beteiligt. Waren die Bedingungen damals besser oder schlechter als während des jüngsten verfassunggebenden Prozesses (2019-2022)?
Im Allgemeinen könnte man denken, jetzt hätte es mehr Möglichkeiten gegeben als damals. Bei Bachelet wusste man ja von Anfang an, dass die Verfassungsreform in Händen des Parlaments ist. Damals ging es immer darum, wenigstens einen Teil der rechten Opposition zu überreden. Man wusste also, dass es schwierig wird.
Im Gegensatz dazu ist der jüngste verfassunggebende Prozess aus einem Sieg entstanden: Das apruebo hatte (beim ersten Referendum im Oktober 2020, Anm. d. Red.) mit über 80 Prozent gewonnen, genauso viele stimmten für eine verfassunggebende Versammlung. Es gab also gute Aussichten. Die Konventsmitglieder haben diese Mehrheit aber verspielt. Sie haben den Gemütszustand der Bevölkerung, der von Ereignissen wie dem estallido (soziale Explosion 2019, Anm. d. Red.) und dann der Pandemie geprägt war, mit einem Kulturwandel verwechselt.

Inwiefern wurde das zum Problem?
Es gab keinen richtigen Wandel, vielmehr ist er noch im Gange. Wenn ein Wandel im Gange ist, können die Dinge sich in die eine oder die andere Richtung entwickeln.
Es verbreiteten sich unnötige Extrempositionen, die viel weiter gingen, als die meisten wollten. Ein Beispiel dafür waren die Vorschläge der Ecoconstituyentes (Konventsmitglieder, deren Hauptziel weitreichender Schutz und Rechte für die Umwelt waren, Anm. d. Red.), die dann im Konvent abgelehnt wurden. Auch wenn der Text an sich gut war, so hat er am Ende nicht berücksichtigt, dass die Rahmenbedingungen sich seit Beginn des verfassunggebenden Prozesses geändert hatten: Die Stimmung in der Bevölkerung hatte sich verändert, und an dieser Stelle war dann das Management der Regierung entscheidend. Und das war ehrlich gesagt ziemlich enttäuschend.

Waren die Stimmen für die neue Verfassung nicht bereits verloren, als Gabriel Boric im Frühjahr 2022 das Präsidentenamt übernahm?
Mit dem estallido und der Pandemie kam es zu einer institutionellen Krise. Mit ihr hatten sich die Grenzen dessen verschoben, worüber diskutiert werden konnte. Damit konnten sich bestimmte Identitäten und Ideen frei entfalten, die vorher nie so große Unterstützung gehabt hätten.
Ein konkretes Beispiel dafür sind die Rechte der Natur (Verankerung der Natur als Rechtssubjekt, Anm. d. Red.). Seit dem estallido wurde viel mehr über die Rechte der Natur gesprochen. Das führte innerhalb des Verfassungskonvents auch kaum zu größeren Schwierigkeiten. In diesem Bereich hat sich der Rahmen des Denkbaren verändert.

Doch außerhalb des Konvents führten einige dieser neuen Ideen zu Schwierigkeiten…
Die erste Runde der Präsidentschaftswahlen war im November 2021, der Verfassungskonvent wurde im Mai gewählt. Zwischen Mai und November hat sich die Stimmung verändert, denn Wandel bringt Angst und Unsicherheit mit sich. Da gibt es immer eine Gegenbewegung, das ist erwartbar in einem solchen Prozess. Das hat man vor allem am Aufstieg der extremen Rechten bei der Präsidentschaftswahl bemerkt: José Antonio Kast als der Kandidat der Ultrarechten, der Opposition und der konservativsten Gruppen der Gesellschaft. Das war ein Warnsignal. Ich glaube, der Verfassungskonvent konnte damit nicht umgehen und wurde von der damaligen Regierung und auch der neuen Regierung stark eingeschränkt.

Aber Kast als Kandidat der Reaktion hat am Ende verloren, oder?
Boric und seine Regierungskoalition haben auch gewonnen, um den verfassunggebenden Prozess zu retten. Hätte Kast gewonnen, wäre er gleich zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber auch nach der Wahl gab es keine Stabilisierung, der Konvent machte weiter, als wäre nichts geschehen.

Inwiefern hat sich dann die Stimmung gegenüber dem Konvent verändert?
Die Leute hassten die Konventsmitglieder nahezu. Ich habe das gemerkt, als ich die Regierung verlassen habe und in eine Schule kam. Die Lehrer stellten die Verfassungsartikel infrage, die der Konvent verabschiedete. Danach war ich zu Forschungszwecken in Concepción, Temuco und Iquique. Die breite Ablehnung der Verfassung dort hat mich überrascht. Und das hatte nichts mit den Inhalten zu tun, sondern mit dem Konvent, die Leute fühlten sich nicht repräsentiert. Denn die Menschen hatten ganz andere Probleme wie Sicherheit und Wirtschaftskrise – und sie kritisierten die Abgehobenheit der Konventsmitglieder.

Wie erklären Sie sich die hohen Stimmanteile des Rechazo im Wallmapu?
Die Regierung ist daran gescheitert, im Süden von Chile einen Dialog herbeizuführen. Daher war das Reden von einer neuen Verfassung mit neuen Institutionen, die uns ermöglichen, die dortigen Probleme in einem neuen Rahmen zu lösen, sehr abstrakt. Deshalb haben die Leute nicht an eine neue Verfassung geglaubt, die etwas ändert. Weder kurz- noch langfristig.

Wie konnten sich Konvent und Bevölkerung so voneinander entfernen?
Ich glaube, dieser verfassunggebende Prozess wurde falsch aufgefasst: Er war keine kollektive Beratung, in der es den Verfassungskonvent gab und eine große öffentliche Debatte mit dem Rest der Gesellschaft. Das hatte mehrere Gründe: die kurze Zeit und die fehlenden Mittel sowie das politische Establishment, das mit der Entwicklung im Konvent nicht einverstanden war. Die staatlichen Institutionen, vor allem das Parlament, waren nicht auf den Konvent abgestimmt. Auch die tonangebenden Medien haben nicht ausgewogen über den Konvent berichtet. Nur wenige Menschen haben die Diskussionen im Konvent verfolgt. Es gab also keine landesweite Debatte, sondern eher ein kollektives Gefühl hinsichtlich des Konvents und des Verfassungsprozesses.

KATERPAUSE

Mit erhobener Faust Die ehemalige Konventsabgeordnete Camila Zárate will weiterhin Druck ausüben (Foto: Caterina Muñoz)

Camila Zárate meint, sie sei erschöpft. „Über ein Jahr während des Verfassungskonvents habe ich so gut wie alles vernachlässigt: Freundschaften, die Familie, selbst die eigene Gesundheit“, erzählt die ehemalige Abgeordnete des Verfassungskonvents. Sie habe ihre volle Aufmerksamkeit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung gewidmet und das zum Teil bis früh in die Morgenstunden. Zárate ist Aktivistin der Bewegung für Wasser und die Territorien, kurz MAT. Sie vertrat die Bewegung im Verfassungskonvent, der von Juli 2021 bis Juni 2022 tagte. Am 4. September 2022 wurde der von ihm vorgelegte Entwurf von 62 Prozent der wählenden Bevölkerung abgelehnt (siehe LN 579). Es war das erste Mal in der chilenischen Geschichte, dass Vertreter*innen sozialer Bewegungen an einer neuen Verfassung mitschreiben konnten – diese Chance ist nun vorbei.

Seit dem 4. September haben die Parteien und die beiden Parlamentskammern wieder die Hoheit über den verfassungsgebenden Prozess. Anders als die Konventsmitglieder nehmen sie sich Zeit und diskutieren nur in unregelmäßigen Abständen über die Form einer neuen Verfassung – bislang jedoch ohne klare Anzeichen auf Einigung. „Nun hat die traditionelle Politik wieder das Zepter übernommen“, meint Zárate konsterniert.

Knapp drei Monate nach der Ablehnung der neuen Verfassung herrscht in Chile Stillstand. Mittlerweile ist der verfassungsgebende Prozess aus der öffentlichen Diskussion fast gänzlich verschwunden. Wie konnte das geschehen? Eigentlich schien der Ablauf nach der Abstimmung bereits klar: Sofern der Verfassungsentwurf abgelehnt werden würde, sollten die Parlamentskammern einen erneuten Anlauf für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung anstoßen. So hatte es Chiles Präsident Gabriel Boric zuvor erklärt. Auch ein Großteil der Gegner*innen des Verfassungsentwurfs waren mit diesem Plan einverstanden. Unter dem Motto „eine, die uns vereint“, warben sie für ein Nein und gleichzeitig dafür, nach der Abstimmung einen neuen verfassungsgebenden Prozess zu beginnen. Wie dieser aussehen sollte, legten sie jedoch nur sehr vage dar.

Gleich nach Bekanntgabe der Wahlresultate rief die Regierungssprecherin Camila Vallejo alle im Parlament vertretenen Parteien zu gemeinsamen Gesprächen auf. Seitdem hat die rechte Opposition versucht, Zeit zu schinden. Am Folgetag der Abstimmung kündigte Francisco Chahuán, Präsident der rechten Partei Renovación Nacional, an, zunächst nicht an den gemeinsamen Sitzungen teilzunehmen. Sie seien zu improvisiert, sagte er gegenüber dem staatlichen Fernsehsender TVN. Erst mehrere Tage danach fand die erste gemeinsame Sitzung statt.

Anschließend wechselten sich öffentliche Mindestforderungen rechter und linker Parteien ab. Während es von der Regierung immer wieder hieß, man sei kurz vor einem Durchbruch der Verhandlungen oder erwarte, bis zu einem gewissen Zeitpunkt zu einer Einigung zu kommen, dementierte die Opposition kurz danach stets jede Behauptung. Nach mehrmaligem Hin und Her haben die Medien mittlerweile aufgehört, über angebliche Einigungen zu informieren.

Mit dem Scheitern des Verfassungsentwurfs ist das bisherige linksreformistische Programm der Regierung Boric weiter unter Druck geraten. Eigentlich hatte die Regierung vor, tiefgreifende Reformen in den Bereichen Renten, Bildung und Gesundheit anzustoßen. Ohne die neue Verfassung wird es allerdings umso schwieriger, diese durchzusetzen. Noch im August hatte Regierungssprecherin Vallejo verkündet: „Die Verfassung von 1980 wirft Grenzen und Hindernisse auf, mit denen es schwierig ist, unser Regierungsprogramm umzusetzen“.

Anfang November stellte die Regierung schließlich den ersten Teil des tiefgreifenden Reformprogramms vor, das im Bereich der Renten die privatisierten Rentenfonds AFP teilweise durch ein „gemischtes System“ ersetzen soll. Mit der Reform sollen die „AFPs verschwinden“, kündigte Präsident Gabriel Boric an. Zukünftig sollen zusätzlich sechs Prozent des Lohns auf Kosten des Arbeitgebers für die Renten abgeführt werden. Ein Teil davon soll weiterhin auf individuelle Sparkonten eingezahlt werden, ein anderer Teil soll in ein staatlich verwaltetes solidarisches Rentensystem fließen. Der Staat soll zudem Mindestrenten in Höhe von umgerechnet etwa 290 Euro zusichern. Bisher zahlten Arbeiter*innen zehn Prozent direkt auf ein individuelles Sparkonto eines AFP ein. Zukünftig soll ein staatlicher Rentenfonds den privaten Akteuren Konkurrenz machen. Zudem sollen alle Einzahlungen über eine staatliche Stelle laufen, die das Geld an den entsprechenden Fonds weiterreicht. Das Ziel sei es, „die Renten der Chilenen zu erhöhen“, so Boric. Durch die Reform würden die kritisierten AFPs in ihrem Handeln eingeschränkt werden. Es wäre der erste Schritt dahin, neue, staatliche und solidarische Akteure im chilenischen Rentensystem zu etablieren.

Das gewerkschaftsnahe Forschungszentrum Fundación Sol jedoch kritisierte die Reform als Augenwischerei. Ein Großteil des eingezahlten Geldes würde weiterhin in private Rentenfonds investiert werden, die seit Jahren rote Zahlen schreiben und diese direkt an die Rentner*innen weitergeben. Der solidarische Anteil des neuen Systems sei viel zu gering. Das Geld würde weiterhin vor allem dazu verwendet werden, die Wirtschaft zu finanzieren, anstatt würdige Renten auszuzahlen, so das Forschungszentrum.

Das bisherige Rentensystem wurde während der Militärdiktatur im Jahr 1980 vom damaligen Arbeitsminister José Piñera eingeführt. Es setzte sich zum erklärten Ziel, die international isolierte Wirtschaft durch Investitionen aus dem Ersparten der Arbeiter*innen in Gang zu bringen.

Der abgelehnte Verfassungsentwurf hätte ein vollständig solidarisches Rentensystem vorgesehen, in dem private Rentenfonds nur noch als Zusatzversicherungen agiert hätten. Die nun vorgeschlagene Reform ist ein Eingeständnis gegenüber den rechten Sektoren, die mit der Kampagne „Con mi plata no“ (zu Deutsch „Nicht mit meinem Geld“) gegen einen solidarischen Rentenfonds kämpfen.

Derweil wirbt der Finanzminister Mario Marcel (Sozialistische Partei) für die zweite große Reform der Regierung. Seit Juli verhandelt Marcel mit verschiedenen Wirtschaftsgremien und in den entsprechenden Parlamentskommissionen über die geplante Steuerreform. Mit dem Ziel, jährlich zusätzlich mindestens zwölf Milliarden Dollar einzunehmen, soll Steuerhinterziehung besser bekämpft sowie ein progressiverer Steuersatz auf Einkommen und Vermögen und höhere Steuern auf Bergbauaktivitäten festgelegt werden. Die geplante Steuerreform wird von internationalen Gremien wie der OECD gelobt. In einem Bericht der Organisation heißt es, Chile brauche eine höhere Steuerlast, um soziale Grundrechte wie Bildung und Gesundheit zu finanzieren. Derzeit liegt die durchschnittliche Steuerbelastung in Chile bei etwa 20 Prozent. In Europa beträgt sie das Doppelte.

Die Reformen der Regierung sind Augenwischerei

Obwohl beide Reformen weit entfernt von einem tiefgreifenden Umbau des chilenischen Wirtschaftssystems sind, läuft die Opposition Sturm gegen sie. Und zweifelt immer wieder öffentlich an, ob sie die Gesetzestexte unterstützen wird. Sowohl bei den Reformen als auch beim erneuten Anlauf für einen verfassunggebenden Prozess befindet sich die Regierung in einer kniffligen Lage. Trotz Aufnahme von Mitte-Links Parteien zum Amtsantritt fehlt dem Präsidenten in der unteren Kammer mit 65 von 155 Sitzen eine Mehrheit. Im Senat sieht es mit gerade einmal 18 von 50 Sitzen kaum besser aus. Ohne die Stimmen der Opposition gibt es also keine Reformen und schon gar keinen weiteren verfassungsgebenden Prozess. Für Letzteren bräuchte es sogar eine Viersiebtelmehrheit.

Die Rechte fühlt sich derweil in ihrer Position bestärkt. Sie fordert, der neue verfassungsgebende Prozess solle in einem eingeschränkten Rahmen durchgeführt werden, bei dem die Einhaltung gewisser Eigentumsrechte, wie etwa das auf Wassernutzung, durch ein Kontrollorgan garantiert wird.

Der rechte Politiker Christian Macaya meint derweil gegenüber LN, „wir dürfen nicht Gefangene unserer eigenen Versprechen sein“. Man solle sich mittlerweile um andere, für ihn wichtigere Themen konzentrieren und den verfassungsgebenden Prozess der Vergangenheit überlassen. Macaya war ein führender Politiker in der Kampagne gegen den Verfassungsentwurf in der Region von Valparaíso.

Die ehemalige Konventsabgeordnete Zárate ist dagegen zuversichtlich: „Ich glaube, es wird eine neue Verfassung geben. Nur wie weit die sozialen Bewegungen an ihr teilnehmen werden, kann ich heute noch nicht sagen“.

Teilweise wird darüber berichtet, dass die Parteien im Parlament langsam mit gemeinsamen Vereinbarungen vorankommen. Ein Zwölf-Punkte-Plan soll einen neuen verfassungsgebenden Prozess leiten und eingrenzen. Dieser steht mittlerweile und legt unter anderem fest, dass die „Symbole des Vaterlandes“ unverändert bleiben, die Souveränität des Landes nicht bei der Bevölkerung, sondern beim Staat liegt, das Privateigentum in „all seinen Formen“ geschützt werden soll und die Erziehungsberechtigten die Freiheit haben sollen, über die Bildung ihrer Kinder zu entscheiden. Auch Punkte wie die Plurinationalität werden in diesem Plan ausdrücklich verboten und ein Recht auf Abtreibung durch ein breit angelegtes „Recht auf Leben“ untersagt.

Vieles ist aber weiterhin unbekannt. Bislang steht aus, ob ein neuer Konvent gewählt werden wird und ob sich Parteiunabhängige wieder in Listen zusammenschließen können, um an der Wahl teilzunehmen. „Trotzdem können wir weiterhin Druck ausüben“, meint Zárate. Es wäre die Rückkehr zur alten Position der sozialen Bewegungen: Man organisiert Demonstrationen, leistet in gewissem Grade Lobbyarbeit, ist aber nicht direkt an der Ausarbeitung von Gesetzen beteiligt.

GABRIEL BORIC UND CHILES NEUE LINKE

Die Erde verteidigen Graffiti in Santiago de Chile gegen Holzraubbau in den Mapuche-Gebieten (Foto: Ute Löhning)

Umweltschutz, Feminismus, soziale Gerechtigkeit: Die Wahlversprechen von Gabriel Boric klangen verheißungsvoll. Nach Jahrzehnten des Neoliberalismus sollte Chile nun endlich die Kehrtwende schaffen. Dies- und jenseits des Atlantiks jubelte die Linke nach seiner Wahl zum Präsidenten im Dezember 2021. Endlich: das Ende der privatisierten Sozialsysteme, der extremen ökonomischen Ungleichheit und des umweltzerstörenden Extraktivismus. Stattdessen: der Anfang einer sozial-, umwelt- und geschlechtergerechten Gesellschaft und die Versöhnung mit den indigenen Bevölkerungsgruppen. So die Hoffnung.

Der jüngste Staatschef der Welt repräsentiert eine neue lateinamerikanische Linke, die mit den AMLOs und Lulas nur wenig und mit den Ortegas und Maduros gar nichts gemein hat. Als ehemaliger Studierendenanführer kommt Boric aus den sozialen Bewegungen. Auch wenn er schon vor einigen Jahren in die institutionelle Politik wechselte, haftet ihm dieses Image noch immer an. Und er macht sich auch wenig Mühe, es abzulegen – im Gegenteil. Statt in den Präsidentenpalast zog er in ein deutlich bescheideneres Haus in einem Mittelschichtsstadtteil Santiagos und auch sein Äußeres ist legerer, als man es sich jemals von einem chilenischen Präsidenten hätte vorstellen können: tätowiert, hemdsärmelig, ungekämmt. Anders als bisherige Präsidenten gibt Boric sich nahbar und sucht den Kontakt mit der Bevölkerung.

Von Anfang an war eine gewisse Enttäuschung jedoch insofern vorprogrammiert, als Borics Regierung sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann: Sein linkes Parteienbündnis Apruebo Dignidad verfügt lediglich über 37 von 155 Abgeordneten sowie über 6 von 50 Senator*innen. Boric sah sich daher genötigt, die Basis seiner Regierung zu verbreitern. Infolge nahm er Mitte-Links-Parteien der ehemaligen Concertación (mit Ausnahme der Christdemokrat*innen) in seine Regierung auf. Als „Socialismo Democrático“ spielen diese Parteien eine zunehmend wichtige Rolle in der Regierung. Doch selbst dieses Bündnis hat keine eigene Parlamentsmehrheit und ist darauf angewiesen, mit anderen Kräften Kompromisse zu finden, im Senat sogar mit den Mitte-Rechts-Parteien.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform, die Boric und Finanzminister Mario Marcel bereits im Juli präsentierten. Marcel war zuvor Direktor der chilenischen Zentralbank und an allen Regierungen der Concertación beteiligt. Seine Ernennung brachte Boric reichlich Kritik ein, die Steuerreform mag jedoch manche überraschen. Laut Regierung hätten 97 Prozent der Steuerzahler*innen keine Erhöhungen zu befürchten, diese würden nur die oberen drei Prozent treffen. Das klingt nach wenig, laut dem Weltungleichheitsbericht 2022 verfügt das einkommensstärkste Prozent der Haushalte in Chile jedoch über rund 50 Prozent und die wohlhabendsten zehn Prozent sogar über mehr als 80 Prozent des Reichtums. Zentrale Bestandteile der geplanten Reform sind eine höhere Besteuerung von Vermögen, Kapitaleinkommen und hohen Einkommen, die Bekämpfung von Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die Einführung von Abgaben für den Kupferbergbau.

Im laufenden Gesetzgebungsverfahren könnte außerdem eine Finanztransaktionssteuer hinzukommen. Mittlere Einkommen sollen durch Freibeträge für Mieten oder Pflege entlastet werden. Ein leicht reduzierter Steuersatz für Unternehmen soll Investitionen fördern.

Geplant ist, durch die Reform das Steueraufkommen um rund 12 Millionen US-Dollar (4 Prozent des BIP) zu erhöhen und so gut die Hälfte von Borics Regierungsprogramm zu finanzieren. Das aktuelle Aufkommen von 21 Prozent des BIP sei zu wenig, um die nötigen Sozialausgaben, etwa in den Bereichen Gesundheit und Bildung, zu tätigen, meint auch die OECD. Dort hält man die geplante Reform für „ambitioniert, aber machbar“. Nun wird es darauf ankommen, die nötigen Mehrheiten dafür zu gewinnen.

Eines der ersten Projekte der neuen Regierung ist eine Steuerreform Eine Ahnung, in welche Richtung die Politik von Gabriel Boric gehen wird, gibt der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr 2023. Geplant sind Mehrausgaben in Höhe von 4,2 Prozent. Ein Schwerpunkt sind Investitionen in die „Infrastruktur für wirtschaftliche Entwicklung“ und in die Schaffung von Arbeitsplätzen. Ein zweiter Schwerpunkt ist die öffentliche Sicherheit. Der Fokus liegt hier auf zusätzlichen Mitteln für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, unter anderem durch die uniformierte Polizei Carabineros, die wegen Menschenrechtsverbrechen während der Proteste 2019 des estallido social (der „sozialen Explosion“) in der Kritik stehen. Dritter Schwerpunkt ist die soziale Sicherheit mit Mehrausgaben von 8 Prozent, etwa für Investitionen in die Bildungsinfrastruktur, Gesundheitsversorgung und Sozialhilfen. Nach einem durch und durch linken Projekt klingt das zwar nicht, dafür aber nach einem mehrheitsfähigen.

Und Mehrheiten im Kongress sind für Boric überlebenswichtig, das gilt auch für die für seine Regierung zentrale Rentenreform. Nachdem das Gesetzgebungsverfahren auf die Zeit nach dem Verfassungsplebiszit verschoben wurde, kommt nun wieder Bewegung in die Sache: Medienberichten zufolge soll das bisherige System der privaten Rentenfonds (AFP) abgeschafft und durch ein öffentliches System ersetzt werden – eine der Hauptforderungen des estallido social. Die Regierung kündigte an, die Reform noch im Oktober 2022 in den Kongress einzubringen. Aber auch hier ist die Regierung auf Zustimmung aus der Opposition und möglicherweise auf Kompromisse angewiesen.

Auch außenpolitisch gibt sich Boric kompromissbereit. Immer wieder betont er in Interviews die Notwendigkeit einer stärkeren regionalen Integration und des Brückenbauens – ob zum linken Evo Morales in Bolivien oder zum rechten Guillermo Lasso in Ecuador. Gleichzeitig kritisierte er wiederholt entschieden Menschenrechtsverletzungen der autoritären Regime von Daniel Ortega in Nicaragua, Nicolás Maduro in Venezuela und Miguel Diaz-Canel in Kuba. Diese deutliche Beanstandung der Politik anderer linker Regierungen der Region bringt ihm einerseits Kritik ein, verleiht ihm aber auch Glaubwürdigkeit und spricht dafür, dass er nicht in das alte Rechts-Links-Schema passt, sondern einen neuen Typus progressiver Regierung vertritt.

Die privaten Rentenfonds sollen abgeschafft werden

Am Transpazifischen Partnerschaftsabkommen TPP-11 entzündet sich der neueste Konflikt innerhalb der Regierung. Die Parteien von Apruebo Dignidad lehnen es aufgrund seiner umstrittenen Mechanismen zur Konfliktlösung mittels Schiedsgerichten ab, auch Boric stimmte als Abgeordneter einst dagegen. Die Parteien des Socialismo Democrático befürworten jedoch die Ratifizierung. Anstatt eine Ablehnung des Abkommens in seiner Koalition durchzusetzen, versucht Boric nun, in Nebenabreden zum Abkommen die Konfliktlösungsmechanismen abzumildern, um ihm zustimmen zu können – ein weiteres Zeichen seiner Kompromissbereitschaft. Bei dem absehbaren Ringen um Kompromisse hatte die neue Regierung eigentlich auf Rückenwind durch die neue Verfassung gehofft – und dies auch öffentlich erklärt, denn die neoliberale Verfassung von Pinochet steht vielen ihrer politischen Ziele im Wege. Mit der Ablehnung des Verfassungsentwurfs im Plebiszit ist es mit dieser Hoffnung nun vorbei. Zudem ist Boric politisch geschwächt, denn seine Regierung und die Verfassung wurden allgemein als miteinander verbunden wahrgenommen.

Boric war nur wenige Wochen im Amt, da begann eine rechte Kampagne, den Verfassungsentwurf –und damit auch ihn und seine Regierung – erfolgreich und nachhaltig zu diskreditieren. Diese lancierte Falschbehauptungen über künftig angeblich unsichere Renten, enteignete Wohnungen oder kollabierende Krankenhäuser. Gleichzeitig lenkten die rechten Medien den Fokus auf seinen vermeintlichen Schwachpunkt: die Sicherheitspolitik. Meldungen über gestiegene Kriminalität in den Großstädten häuften sich, während die Polizei nach Ermittlungen in Sachen Polizeigewalt Boric misstrauisch gegenüberstand. Die neue Regierung ist somit von Anfang an in der Defensive und muss reagieren, anstatt sich auf eigene politische Projekte konzentrieren zu können. Da nur begrenzt politisches Kapital zur Verfügung steht, muss sie sich überlegen, für welche Anliegen sie dieses am besten einsetzt. Die Befreiung der politischen Gefangenen des estallido social gehörte beispielsweise nicht dazu. Das Innenministerium trat weiterhin als Klägerin gegen Gefangene der Proteste auf, Teile der Regierung halten die Gefangenen nun für normale Straftäter*innen. Und nach dem neuen Haushaltsentwurf wird nun eben sogar jene Polizei finanziell aufgestockt, die für illegale Verhaftungen und die massive Polizeigewalt verantwortlich ist.

Auch in der Causa Mapuche hält Boric nicht sein Wort. Im Wahlkampf hatte er noch angekündigt, den von seinem Vorgägner Piñera verhängten Ausnahmezustand in der Region Araucanía nicht verlängern zu wollen. Angesichts von sich häufenden Meldungen über dortige Zusammenstöße und Straßenblockaden sah er sich aber schließlich doch dazu gezwungen, wenn auch die Rolle des Militärs dabei auf die Sicherung der Straßen begrenzt wurde. Das brachte seiner Regierung den ersten internen Streit ein, da die linken Parteien die Verlängerung eigentlich nicht mittragen wollten. Stattdessen verspricht Boric nun höhere Investitionen in den Plan Buen Vivir für bessere Lebensbedingungen in den südchilenischen, indigen geprägten Regionen – und erweckt damit den Eindruck, die misslungene Politik seiner Vorgänger*innen im Umgang mit den Forderungen der Mapuche fortzuführen.

“Confort” ist alle Nach dem Misserfolg des Verfassungsreferendums macht die Pinochet-Verfassung der bekannten Klopapiermarke Confort leider noch keine Konkurrenz (Foto: Ute Löhning)

Um die Verfassung noch zu retten, bewegte Boric die Mitte-Links-Parteien in letzter Minute dazu, für den Fall der Annahme Abschwächungen der Verfassung zuzusagen – ein weiteres Zugeständnis an die Rechte. Es half jedoch nichts, der Ausgang des Referendums zwang ihn zu noch mehr Kompromissbereitschaft. Er ersetzte seinen Weggefährten Giorgio Jackson im Kabinett durch die Bachelet-Vertraute Ana Lya Uriarte und berief mit Carolina Tohá eine Veteranin der Concertación zur Innenministerin, in Chile der wichtigste Kabinettsposten. So setzt sich ein Prozess fort, der schon mit seiner Unterschrift unter die Verfassungsvereinbarung 2019 sichtbar begonnen hatte: Boric ist mit der Zeit immer moderater geworden. Inzwischen erscheint er vielen Linken immer mehr als Wiedergeburtshelfer der Concertación, eine Art Bachelet 2.0.

Auf der einen Seite scheint die Abkehr von linken Positionen innerhalb kürzester Zeit – Boric ist erst ein halbes Jahr im Amt – darauf hinzuweisen, dass die anfänglichen Hoffnungen in seine Regierung womöglich überhöht waren. Eine Rolle dabei mag auch die geringe Regierungserfahrung von Borics Bündnis Apruebo Dignidad, vieler seiner Minister*innen und des Präsidenten selbst spielen, der noch im Jahr 2020 versicherte, sich für die Übernahme des höchsten politischen Amtes nicht bereit zu fühlen. Andererseits befindet er sich bei all seinen politischen Entscheidungen in mehr oder weniger vorhersehbaren Zwangslagen: einerseits die Pandemie, andererseits Wirtschaftskrise und Inflation infolge des kurz vor seiner Amtsübernahme begonnenen Kriegs in der Ukraine. Nicht zuletzt schränken die fehlenden politischen Mehrheiten den Handlungsspielraum der Regierung ein. Der aktuelle Kontext ist geprägt durch eine Sicherheits- und Wirtschaftskrise, mit sinkenden Einkommen und dem Verlust von Arbeitsplätzen, die anhaltende Bedrohung durch Corona, die Unsicherheit im Zusammenhang mit Kriminalität und Drogenhandel etwa durch Gruppen des organisierten Verbrechens wie dem Tren de Aragua, sowie den Herausforderungen durch die hohe Migration, vor allem aus Venezuela. Der Vergleich mit Michelle Bachelet hinkt insofern, als dass die Ex-Präsidentin mit vielen Problemen in diesem Ausmaß nie konfrontiert war und mit ihren Parteienbündnissen Concertación und Nueva Mayoría stets über parlamentarische Mehrheiten verfügte.

Es bleibt also zu hoffen, dass Boric und seine Regierung die immensen Herausforderungen bewältigen, ohne dabei durch ständige Kompromisse völlig die Glaubwürdigkeit zu verlieren. Denn besonders in Chile gibt es für Politiker*innen weder lange Schonfristen noch mildernde Umstände.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

ES GEHT VON VORNE LOS

Es hat nicht gereicht Kundgebung von Verfassungsbefürworter*innen (Foto: Lucas Benavente)

Es war die große Chance, das autoritäre und neoliberale Erbe der Diktatur (1973-1990) abzuschütteln: Nach der breiten Protestbewegung, die Chile ab Oktober 2019 erfasst hatte, stimmten bei einem Referendum im Oktober 2020 rund 78 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Diese sollte die aktuelle, 1980 verfasste und nicht demokratisch legitimierte Verfassung ablösen. Denn darin ist das unter Diktator Augusto Pinochet eingeführte neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell festgeschrieben.

Doch es kam anders als linke Kräfte erwartet hatten. 62 Prozent stimmten für das Rechazo („Ich lehne ab“) und damit gegen die Annahme des Verfassungsentwurfs, nur 38 Prozent für das Apruebo („Ich stimme zu“). In allen 16 Regionen Chiles ergibt sich ein einheitliches Bild, lediglich in acht Kommunen gewann das Apruebo. Denn auch diejenigen, auf die sich die Verfassungsbefürworter*innen gestützt hatten, und die im Dezember 2021 bei der Stichwahl um die Präsidentschaft entscheidend waren für den Sieg Gabriel Borics gegen den extrem rechten José Antonio Kast, stimmten nun überwiegend gegen die neue Verfassung: die unter 33-Jährigen, die Frauen. Bei der Aufschlüsselung nach sozio-ökonomischem Status wird deutlich, dass die schwächsten Sektoren am stärksten für das Rechazo stimmten, mit bis zu 75 Prozent.

Bei dem Referendum herrschte Wahlpflicht. Die Wahlbeteiligung lag bei 86 Prozent, im Gegensatz zu 40 bis maximal 57 Prozent bei den Wahlen 2020 und 2021. Das Wahlverhalten derjenigen, die nie zuvor gewählt hatten, war schwer kalkulierbar. „Wir haben es nicht geschafft, die ärmsten Sektoren der Gesellschaft zu erreichen“, sagt Manuela Royo, Sprecherin der Umweltschutzorganisation MODATIMA. „Dabei hätten sie von den sozialen Rechten profitiert.“

Im Vorfeld des Referendums hatten Umfragen und Prognosen bereits einen Vorsprung des Rechazo vorhergesagt. Jedoch legte das Apruebo-Lager im Wahlkampf einige große Kundgebungen hin, zuletzt kamen am 1. September rund 500.000 Menschen zur Kundgebung auf der Alameda, der zentralen Promenade Santiagos zusammen. Zu zwei Wahlkampfveranstaltungen des Rechazo kamen derweil nur jeweils einige Hundert Personen.

Medienkampagne mit Fake News und ökonomischer Überlegenheit

„Der Verfassungskonvent stand weiter links als der Querschnitt der Bevölkerung“, sagt Karina Nohales, Sprecherin der feministischen Dachorganisation 8M. Die Rechte habe sich in dem Gremium nicht durchsetzen können. Sie habe die Kampagne gegen den Verfassungsentwurf schon zu Beginn der Arbeit des Konvents gestartet. Währenddessen waren die linken und unabhängigen Kräfte noch mit der Ausarbeitung der Artikel beschäftigt.

(Foto: Ute Löhning)

Die mediale Übermacht der Werbekampagne gegen die neue Verfassung war in Printmedien, im Rundfunk und im Internet erdrückend. Dabei traten die führenden Köpfe der rechten Parteien kaum in Erscheinung. Stattdessen warben politisch nicht vorbelastete Personen mit Schlagworten wie Inklusion und Liebe für das Rechazo. Zum Repertoire der Kampagne gehörte aber auch der massive Einsatz von Drohungen gegen meist weibliche Konventsmitglieder und von Fake News. „Fast alle Falschmeldungen über Mitglieder des Verfassungskonvents und über Artikel des Verfassungsentwurfs, die wir gesammelt haben, sind der Rechazo-Kampagne zuzuordnen“, sagt der Kommunikationswissenschaftler Marcelo Santos von der Universidad Diego Portales in Santiago. „Das Ziel ist es, negative Emotionen hervorzurufen, Verwirrung und Angst zu schaffen“, so Santos. Niemand solle mehr eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus besitzen dürfen, war einer der mächtigsten Mythen des Rechazo. Obwohl Artikel 78 des Verfassungsentwurfs das Recht auf Privateigentum garantierte und Verfassungsbefürworter*innen solchen Falschaussagen entgegentraten, war die Verunsicherung der Bevölkerung nicht mehr einzufangen und die linken Kräfte waren mit Abwehrkämpfen beschäftigt.

Radio- und Fernsehkanäle sind privat finanziert und gehören oft großen Unternehmen. 75 Prozent der Wahlwerbung stammte aus dem Rechazo-Lager, allen voran von Angehörigen der reichsten Familien Chiles. Im Netz kursierten unzählige gut gemachte Videos von rechten Organisationen und Thinktanks. Darunter finden sich auch die von der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung geförderten Instituto Res Publica und Fundación IdeaPaís und die von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützte Fundación para el Progreso, die Thinktanks Horizontal und Libertad y Desarrollo.

Starke Ablehnung rief bei vielen Menschen auch das im Verfassungsentwurf festgeschriebene Konzept der Plurinationalität hervor. Dieses sollte Chile als einheitlichen, unteilbaren Staat definieren, der aber die Rechte der zehn indigenen Gemeinschaften Chiles auf Land, Sprache und Selbstbestimmung garantierte. Auch hierzu gab es ein Set von Falschaussagen, zum Beispiel, dass die nationalen Symbole wie Flagge, Wappen und Hymne verboten werden sollten, und dass Chile in mehrere Einzelstaaten zerfallen würde. Die Rechazo-Kampagne verstärkte nationalistische Gefühle, indem Indigene als Gefahr für die nationale Identität dargestellt wurden, erklärt auch Kommunikationswissenschaftler Santos. Diese mischen sich mit anti-kommunistischen oder allgemein anti-linken Positionen.

Viele können mit Plurinationalität nichts anfangen

So sagt Felipe Nuñez, Teilnehmer einer Pro-Rechazo-Kundgebung am 1. September: „Chile kann nicht nach verschiedenen Ethnien geteilt werden. Das Projekt der neuen Verfassung bedroht die Lebensweise aller Chilenen. Sie zwingt uns ein System auf, das vom Foro de São Paulo und der Grupo Puebla entwickelt wurde, aber nicht zu unserem Land passt.“ Diesen lateinamerikanischen Linksbündnissen wird vorgeworfen, hinter linken Protestbewegungen zu stehen.

Foto: Ute Löhning

Eine Umfrage des Investigativmediums CIPER unter 120 Bewohner*innen sozio-ökonomisch schwacher Sektoren Santiagos sowie eine Studie des Instituts Feedback zeigen als erste Auswertungen nach der Wahl, dass viele Rechazo-Wähler*innen vor allem Angst hatten, sie würden durch die Annahme der neuen Verfassung ihre Wohnung oder in die privaten Rentenfonds eingezahlte Gelder verlieren, oder Chile als Staat würde geteilt werden.

Doch auch die mangelnde Kommunikation des Verfassungskonvents wird kritisiert. Dieses paritätisch mit Männern und Frauen besetzte Gremium, in dem indigene Gruppen reservierte Sitze hatten und in das soziale Bewegungen über partei-unabhängige Listen Einzug hielten, arbeitete den Entwurf für die neue Verfassung zwischen Juli 2021 und Juli 2022 aus. Die Sitzungen wurden zwar im Internet übertragen, doch es war schwer, den abstrakten Debatten zu folgen.

Die Konventsmitglieder seien zu wenig nach außen gegangen, sagt der Journalist Leonel Yañez Uribe. „Sie haben eine sehr technische Sprache verwendet, wie sie sonst auch von Politikern verwendet wird und sie haben sich auch institutionalisiert.“Die Identifikation mit den in Chile mit großer Skepsis betrachteten politischen Parteien und der Regierung Boric war ein weiterer Faktor für die Ablehnung der Arbeit des Verfassungskonvents. Der von Anfang an festgelegte Wechsel der Präsidentschaft des Konvents nach einem halben Jahr von den eloquenten und integrativen Elisa Loncón (Präsidentin) und Jaime Bassa (Vizepräsident) an die weniger erfahrenen María Elisa Quinteros und Gaspar Domínguez in einer holprigen Wahl mit sieben Wahlgängen Anfang 2022 habe der Vermittlung nicht gutgetan, erklärt Yañez. Zur Delegitimierung des Gremiums trugen auch Skandale bei, wie die Wahl des Konventsmitglieds Rodrigo Rojas Vade, der zur spendenbasierten Finanzierung seines Wahlkampfs eine Krebserkrankung vortäuschte und später sein Amt niederlegen musste.

Neben der politischen Rechten bezog auch die Gruppierung Los Amarillos („Die Gelben“) Position gegen den aktuellen Verfassungsentwurf. Sie speiste sich aus Teilen der Christdemokratie und aus anderen im Zentrum zu verortenden Parteien. Sie lehnen eine neue Verfassung nicht grundsätzlich ab und warben mit dem Slogan „Esa no“ („Diese nicht“).

Nach der Ablehnung des aktuellen Verfassungsentwurfs will die Regierung Boric einen neuen verfassunggebenden Prozess anstoßen und beruft sich auf das überwältigende Votum jener 78 Prozent, die vor zwei Jahren dafür gestimmt hatten, eine neue Verfassung zu schreiben. Voraussichtlich wird ein neuer Verfassungskonvent aus den Reihen der Abgeordneten gebildet, diesmal ohne die Beteiligung von partei-unabhängigen Personen aus den sozialen Bewegungen.

„Bald werden wir wieder aufstehen“

Derweil steht die Regierung nach dem deutlichen Votum gegen den Verfassungsentwurf selbst unter Druck. Denn sie hatte den verfassunggebenden Prozess unterstützt.
Am 6. September kam es zu einer lange erwarteten Umbildung der Regierung, mit der diese sich durch weitere Kompromisse mit dem Mitte-inks-Spektrum der ehemaligen Concertación stabilisieren will. Wichtigster Punkt: Carolina Tohá, früher Ministerin unter Präsidentin Michelle Bachelet, löst Izkia Siches als Innenministerin ab. Giorgio Jackson, bisher Leiter des Präsidialamtes, wird Sozialminister. Seinen früheren Posten übernimmt eine enge Vertraute Bachelets: Ana Lya Uriarte.

Währenddessen protestieren Schüler*innen in der Woche nach dem Referendum täglich im Zentrum Santiagos: für gute und kostenlose Bildung und für die Freilassung der politischen Gefangenen der Revolte. Die Polizei ging mit Tränengas gegen sie vor und verhaftete bereits mehrere Personen, darunter auch Minderjährige. Inzwischen rufen auch die Studierendenvereinigungen zu Demos auf. Das Bündnis sozialer Bewegungen für die neue Verfassung erklärte schon am Abend nach dem verlorenen Referendum, es gehe dabei um eine Wahlniederlage, aber nicht um die Niederlage eines in die Zukunft gerichteten Projekts: „Bald werden wir wieder aufstehen. Denn kein Bedürfnis, keine Notwendigkeit, kein soziales Problem, das zu diesem politischen Prozess geführt haben, wurde mit der heutigen Entscheidung gelöst.“

WARTEN AUF DIE FREIHEIT

Foto: Vanessa Rubilar

Verónica Verdugo ist erschöpft. Eigentlich ist sie eine energische Frau, aber ihr Körper drückt Trauer und Enttäuschung aus. Seit mehr als zwei Jahren kämpft sie für die Freilassung jener, die während der Massenproteste, die im Oktober 2019 anfingen, gefangen genommen worden sind, unter anderem auch ihr Sohn. Der Aufstand sollte der Anfang einer neuen Geschichtsschreibung in Chile sein. Teil dieser neuen Ära ist die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, über die am 4. September abgestimmt wird. Außerdem setzte sich bei den Wahlen im Dezember eine linksreformistische Regierung durch, die von den ehemaligen Sprecher*innen der Studierenden Giorgio Jackson, Camila Vallejo und dem heutigen Präsidenten Gabriel Boric geführt wird. Alle versprachen, dass mit ihnen der Neoliberalismus in Chile begraben werde und die Menschenrechtsverletzungen der vorherigen Regierung ein Ende finden würden. Aber vier Monate nach Amtsantritt ist die Stimmung getrübt. Es fehlen konkrete Reformen, mehr als 200 Menschen sind im Zuge der Massenproteste noch immer inhaftiert, und auch die Gewalt konnte im Land noch nicht gestoppt werden.

Es sind vor allem Frauen, die sich im Zentralgebäude der chilenischen Industriegewerkschaft in Santiago an einem Abend Ende Mai treffen. Sie planen die nächsten Schritte, um die Gefangenen freizubekommen. Aber ihre Stimmung ist getrübt, denn noch immer klagen sie über viele Dutzende, die bis heute im Gefängnis sitzen, ein Großteil in Präventivhaft. Meistens wird ihnen Brandstiftung oder Plünderung vorgeworfen, oft ohne schwerwiegende Beweise. Familienangehörige beschuldigen die Staatsanwaltschaft, die Präventivhaft als Mittel der politischen Repression einzusetzen. Da solche Prozesse sich in Chile über Jahre hinziehen, sprach Verónica Verdugo sich im vergangenen Jahr zusammen mit Parlamentarier*innen der heutigen Regierung für ein Amnestiegesetz aus.

Damals hoffte Verdugo, dass das Gesetz bis Ende 2021 verabschiedet werden würde. Doch auf dem Weg veränderten Parlamentarier*innen der Mitte-Parteien die Vorlage so stark, dass kaum eine Person aus dem Gefängnis entlassen worden wäre. Auch ihr 21-jähriger Sohn Nicolas Rios nicht. Er saß über ein halbes Jahr in U-Haft, danach mehr als ein Jahr in Hausarrest und wurde im Februar schließlich entlassen. Das Verfahren gegen ihn – er soll angeblich Molotowcocktails geworfen haben – dauert noch immer an. Die Beweislage gegen ihn ist dünn. Es gibt einzig Aussagen von Polizist*innen.

Seit Nicolas Rios ins Gefängnis kam, drehte sich das Leben seiner Mutter nur noch um seine Freilassung. Einst glaubte sie, die Tortur habe mit der neuen Regierung ein Ende. Doch dem ist nicht so. „Die Regierung hat uns verraten“, meint sie. „Als wir im Sommer einen Hungerstreik durchführten, hat uns Giorgio Jackson besucht und versprochen, die neue Regierung würde nicht mehr als Klägerin auftreten. Aber das stimmt nicht.“

Enttäuscht von der Regierung Der Rechtsanwalt Oscar Castro vor dem obersten Gerichtshof in Santiago de Chile (Foto: Vanessa Rubilar)

Auch der Rechtsanwalt Oscar Castro ist von der neuen Regierung enttäuscht. Er hat mehrere Gefangene der Massenproteste verteidigt und ist gleichzeitig Mitkläger wegen Menschenrechtsverletzungen gegen den ehemaligen rechten Präsidenten Sebastián Piñera. Castro ist davon überzeugt, dass in Chile politische Haft angewandt werde und es der neuen Regierung am Willen fehle, diese anhaltende Ungerechtigkeit zu stoppen.

Er erzählt, dass er mehrere Personen verteidigt habe, die eine U-Bahnstation angezündet haben sollen. „Videoaufnahmen zeigten eindeutig, wie meine Klienten gegen die Drehkreuze der Station treten, aber diese nicht in Brand stecken. Auf den gleichen Aufnahmen ist eine dritte Person zu sehen, die, ohne vermummt zu sein, Feuer zündet.“ Die Staatsanwaltschaft habe sich aber nie um diese dritte Person gekümmert. In Castros Fall, der noch unter Piñera verhandelt wurde, traten sowohl die staatliche U-Bahn als auch das Innenministerium als Klägerin auf. Nach mehr als 18 Monaten in U-Haft sprach das Gericht die Angeklagten frei. „Niemand wird diesen Aufenthalt im Gefängnis entschädigen“, sagt Castro. „Die Personen haben unheimlich viele Probleme, ihr Leben wieder aufzubauen.“

Neben Anklagen gegen Protestierende seien Verfahren gegen brutale Polizist*innen und Militärs kaum vorangebracht worden, kritisiert der Anwalt zudem. Auch mit der neuen Regierung habe es keine Veränderung gegeben. „Die neue Regierung hätte vom ersten Tag an die Staatsanwaltschaft anweisen können, ihre Praxis zu ändern oder gar die Führungspersonen aus Zeiten der Regierung Piñera auszuwechseln“, kritisiert er. Stattdessen agiere das Innenministerium weiterhin als Klägerin gegen Gefangene der Proteste und obwohl während der Wahlkampagne von politischen Gefangenen gesprochen wurde, hält nun ein Großteil der Koalition die Gefangenen für normale Straftäter*innen.

Die Stimmung ist getrübt Seit den Massenprotesten sind noch immer mehr als 200 Menschen inhaftiert (Foto: Vanessa Rubilar)

Nach knapp drei Monaten Amtszeit hält Castro viele Amtshandlungen für längst überfällig. Neben dem Auswechseln wichtiger Führungspersonen hätte ein Dekret aus Zeiten der Diktatur aufgehoben werden können, das Demonstrationen nur mit Bewilligung der militarisierten Polizei, Carabineros de Chile, zulässt. Castro sagt, dass einer Institution, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, noch immer diese Aufgabe überlassen werde, sei beschämend. Auch fehlen bis heute konkrete Zusagen für eine Wiedergutmachung nach unrechtmäßigen Haftstrafen, ebenso wie Gefolterte und die mehr als 400 Personen, die durch Polizei und Militärschüsse blind wurden, auf eine Entschädigung warten.

Der Kritik ist sich die neue Regierung durchaus bewusst. Sie kündigte am 25. Mai eine „Agenda für Menschenrechte“ an. Gemeinsam mit der Staatssekretärin für Menschenrechte, Haydee Oberreuter, erklärte der Präsident, es gehe ihm um „Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen“ während der Massenproteste. Mit Oberreuter hat die Regierung eine langjährige Aktivistin ins Amt geholt. Sie wurde während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet festgenommen und gefoltert, wobei sie ihr ungeborenes Kind verlor. Seitdem kämpft die Aktivistin für eine rechtliche Verfolgung der Verantwortlichen.

Noch fällt diese Agenda der Regierung denkbar unkonkret aus. Zwar zeigt sie sich gewillt, die rechtliche Verfolgung voranzutreiben und will auch zwei Kommissionen gründen: Eine zur Wiedergutmachung und eine zweite, um Maßnahmen zur Verhinderung erneuter Menschenrechtsverletzungen vorzubereiten. Für Castro ist das aber zu wenig. „Noch hat die Regierung nichts gemacht“, meint er. „Sie liebt das Symbolische, und darin ist sie gut. Boric und seine Leute glauben, dass Sprache eine neue Realität schaffen würden. Doch so ist es eben nicht.“

Denn längst gibt es neue Gewalttaten. „Wir erleben derzeit eine Kollaboration zwischen kriminellen Banden und der Polizei“, sagt Castro und spricht damit die Vorfälle vom 1. Mai an. Als es bei der Demonstration zum Arbeiter*innen-Kampftag zu Ausschreitungen kam, griffen bewaffnete Straßenhändler*innen die Demonstrierenden und die anwesende Presse mit Schlagstöcken, Messern und Schusswaffen an. Eine Fotografin wurde dabei erschossen. Verheerend sei gewesen, dass die Polizei nicht eingegriffen und sich zudem mit den kriminellen Banden verständigt habe, meint Castro. „Hierbei handelt es sich um Menschenrechtsverletzungen, bei denen externe Gruppen beauftragt werden, Gewalt durchzuführen“, ist sich der Anwalt sicher. Die Regierung verurteilte daraufhin zwar die Gewalt und bedauerte den Tod der Journalistin. Doch sie kritisierte mit keinem Wort das Handeln der Polizei. Eine angeordnete interne Untersuchung blieb folgenlos. Auch organisierte Schüler*innen beklagen, dass es bei ihren Demonstrationen zu ähnlichen Vorfällen gekommen sei.

Gerne hätten wir die Meinung der Subsekretärin für Menschenrechte zu diesem Thema eingeholt. Ein bereits zugesagtes Interview wurde allerdings drei Stunden vor dem Treffen abgesagt. Man habe vergessen, beim Außenministerium um Erlaubnis zu bitten, lautete die Begründung. Diese Praxis ist bei Interviews mit der ausländischen Presse durchaus üblich. Die Pressesprecherin lehnte es daraufhin ab, einen neuen Interviewtermin zu finden. Bei Fragen rund um Menschenrechtsverletzungen schweigt sich die aktuelle Regierung derzeit aus. Es bleiben nur offizielle, beschwichtigende Statements.

Im Haus der Gewerkschaft treffen sich Familienangehörige der Gefangenen mit dem kommunistischen Abgeordneten Borris Barrera, der Verständnis für das Verhalten der Regierung zeigt. „Sie ist sich bewusst, dass sie nicht nur für diese Initiative, sondern für alle Reformprojekte keine Mehrheiten in den beiden Parlamentskammern hat.“ Die ursprüngliche Regierungskoalition Apruebo Dignidad besitzt in der unteren Kammer lediglich ein Drittel der Sitze und in der Oberen gerade einmal sechs von 50 Sitzen. Genau deshalb musste sie schon zu Beginn der Regierung Parteien der ehemaligen Mitte-Links Koalition Concertación in ihr eigenes Bündnis aufnehmen. Doch noch immer fehlt eine Mehrheit in den Kammern, so dass die christdemokratische Partei das Zünglein auf der Waage ist. Deren Vertreter*innen sind zum Teil mächtige Unternehmer*innen und schwanken politisch zwischen linken und rechten Positionen. Barrera sagt, man plane eine tiefgreifende Rentenreform, ein neues universelles Gesundheitssystem und eine Steuerreform. Für diese Reformen müsse man den Oppositionsparteien positive Signale senden, um sie davon zu überzeugen, zumindest für einen Teil der Projekte zu stimmen. Bei der Freilassung der Gefangenen klappe das aber nicht. Zu sehr sind sie mittlerweile durch die Medien als Verbrecher*innen gebrandmarkt.

Barrera gibt sich solidarisch mit den Familienangehörigen. „Ich gehöre jenem Sektor innerhalb der Regierungskoalition an, der überzeugt von der Freilassung ist und weiterhin Druck ausüben wird.“ Schließlich seien diese Menschen in einem Kontext gefangenen genommen worden, der die heutigen Reformen überhaupt erst ermöglicht habe. Der politische Kampf sei richtig gewesen, meint er. Unabhängig von den damit im Zusammenhang gebrachten Straftaten.

Teil des gesellschaftlichen Wandels in Chile soll eine neue Verfassung sein, die mittlerweile ausgearbeitet ist. Im Gegensatz zu den Parlamentskammern hatte die Regierungskoalition im Verfassungskonvent eine deutliche Mehrheit. In ihr sind viele der Reformen verankert, welche die Regierung durchsetzen will. Doch auch hier ist Barrera skeptisch. „Und wer setzt die Verfassungsartikel um?“, fragt er rhetorisch. „Das sind die Parlamentskammern, und hier fehlt uns erneut die Mehrheit.“

Mittlerweile ist aber selbst der Beschluss der Verfassung gefährdet. Umfragen sprechen von einer knappen Mehrheit für jene, die bei der endgültigen Abstimmung am 4. September die neue Verfassung ablehnen. Verónica Verdugo betrübt diese Aussicht: „Man muss jetzt dafür kämpfen, dass zumindest sie angenommen wird.“ Der Abgeordnete Barrea glaubt, die Entscheidung über die neue Verfassung sei für die Regierung ohnehin eine Frage über Leben und Tod. Ohne sie sei gar kein Wandel möglich, die Regierung würde scheitern, und für die nächste Amtsperiode würde das nichts Gutes bedeuten. Angesichts dieses Szenarios ist die Freilassung der Gefangenen nicht mehr das größte Problem in Chile.

DIE GRENZEN DER SYMBOLPOLITIK

Neue Signale Präsident Gabriel Boric bei einer indigenen Zeremonie (Foto: Prensa Presidencia, Gobierno de Chile)

Am 15. März 2022, nur vier Tage nach Amtsantritt, reiste die neue Innenministerin Izkia Siches ins Wallmapu, in die Städte Temuco und Ercilla. In der Nähe von Ercilla wollte sie sich mit Marcelo Catrillanca, dem Vater des 2018 von Polizisten erschossenen Camilo Catrillanca, treffen. Bei der Fahrt in die Mapuche-Gemeinde Temucuicui kam die Karawane der Ministerin ins Stocken: Ein brennendes Auto versperrte den Weg und aus der Ferne fielen Schüsse. Die Wagen kehrten um und Siches verschanzte sich mit ihrer Begleitung im Polizeiposten von Ercilla, dort fand schließlich auch das Gespräch mit Catrillanca statt.

Neben dem Besuch der Ministerin hat die neue Regierung in kurzer Zeit bereits weitere Zeichen auf symbolischer Ebene gesetzt: Gabriel Boric nahm anlässlich seiner Amtseinführung neben einem Gottesdienst auch an einer indigenen Zeremonie teil und sprach seitdem von den „Völkern Chiles“. Seine Minister*innen begrüßen derweil teilweise bei Ansprachen in Mapudungun, der Sprache der Mapuche, und benutzen für ihr Gebiet die Eigenbezeichnung Wallmapu. Die neue Ministerin für staatliche Güter, Javiera Toro, sprach gegenüber der Zeitung La Tercera von einer historischen Schuld des Staates und einer Pflicht, Ländereien zurückzugeben – auf welche Ländereien sie sich bezieht und wie das gemacht werden soll, ließ sie dabei noch offen.

Parallel dazu geht der derzeit tagende Verfassungskonvent wichtige Schritte in Richtung einer neuen Beziehung des Staates mit den Indigenen: Ihnen soll zum Teil territoriale und juristische Autonomie gewährt werden und Chile würde fortan als plurinationaler Staat bezeichnet.

Auch in der Sicherheitspolitik gibt es neue Töne: Gleich nach der Amtsübernahme vom 11. März kündigte die neue Regierung an, den bislang geltenden Ausnahmezustand im Wallmapu nicht zu verlängern. Am 26. März endete damit die über zweijährige Militärpräsenz in der sogenannten „Makrozone Süden“, dem Gebiet, in dem sich die Mehrzahl der Aktivitäten von militanten Mapuche-Organisationen konzentriert und das aus der Región de la Araucanía und der Provinz von Arauco besteht. Dieser Landstrich wurde bis zur Eroberung durch die chilenische Armee Ende des 19. Jahrhunderts von Mapuche kontrolliert .

Im März 2020 schickte die rechte Regierung unter Sebastián Piñera erstmals seit der Diktatur wieder Militär in die Region, damals unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung. Als im September 2021 der coronabedingte Ausnahmezustand beendet wurde, bat sie das Parlament um einen speziellen Ausnahmezustand für die besagten Gebiete. Der angebliche Grund war in diesem Fall der „Terrorismus“ von militanten Mapuche-Organisationen. Seit Jahren kommt es im Wallmapu zu Brandanschlägen. Diese treffen meist Forstunternehmen und zum Teil auch Häuser von Siedler*innen, die auf historischem Gebiet der Mapuche ihre Häuser bauen. Hinter den Anschlägen stehen verschiedene militante Organisationen, die längst angekündigt haben, ihre Aktivitäten auch unter Boric fortzusetzen.

Das Problem beim Militäreinsatz war allerdings, dass dieser kaum zu einer Reduzierung der Anschläge führte. Vielmehr sorgten die Soldaten für Unsicherheit: Erst im November 2021 schossen sie bei einem Kontrollposten auf die wartende Menge, töteten dabei einen Mapuche und verwundeten dutzende weitere Passant*innen. Angeblich wurden die Soldaten aus dem Hinterhalt angegriffen, Beweise wurden aber nie vorgelegt.

Für den Mapuche Eduardo Curin ist der Rückzug des Militärs ein wichtiges Zeichen. Er sagt am Telefon gegenüber LN: „Die Regierung zeigt damit, dass sie den Konflikt in seiner politischen Dimension angehen will und nicht durch polizeiliche Maßnahmen“. Curin ist Mapuche und Teil der Bewegung Xawn de Temucuicui, die sich nach der Ermordung von Camilo Catrillanca im Jahr 2018 (LN 535) gründete. Doch gelöst ist der Konflikt durch den Abzug des Militärs nicht. Denn eigentlich gehe es um politische und historische Forderungen, die letztmals im Jahr 2018 von der Xawn dem chilenischen Parlament überbracht wurden, so Curin. Geschehen ist seitdem nichts.

Am Tag nach dem gescheitertem Besuch von Izkia Siches sprach die chilenische Onlinezeitung Interferencia mit dem Lonko Víctor Queipul Huaiquil, der indigenen Autorität von Temucuicui. Queipul kritisierte den improvisierten Besuch und machte klar, dass ohne konkrete politische Zusicherungen kein Gespräch stattfinden würde. Auch Curin unterstützt diese Aussagen. „Wir haben im Jahr 2018 klar gemacht, um was es uns geht: Befreiung der politischen Gefangenen, Rückgabe aller Ländereien und eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung begangener Verbrechen“.

Seit den 1990ern läuft in der Araucanía ein Landrückgabeprojekt. Von der Mitte-Links-Koalition Concertación Por la Democracia begonnen, die vor Sebastián Piñera regierte, werden Ländereien gekauft und an Mapuche übergeben, die beweisen können, dass ihnen Ländereien geraubt wurden.

„Die Regierung zeigt, dass sie den Konflikt politisch angehen will“

Der Historiker Martin Correa erklärt gegenüber LN: „Wenn die Regierung von Ländereien spricht, geht es um die Rückgabe der Reservate“. Also Gebiete, in welche die Mapuche nach der Eroberung durch den chilenischen Staat vertrieben wurden, für die sie Besitztitel bekamen, die sogenannten Títulos de Merced. Correa merkt dazu an: „Die Títulos de Merced waren eine Strafe, wie kann eine Strafe die Lösung für einen Konflikt sein?“

Für die Mapuche geht es daher um viel mehr. Correa erzählt, viele Gemeinschaften hätten in ihrem kollektivem Gedächtnis weiterhin Klarheit über ihre ursprünglichen Gebiete. „100 Jahre scheint viel, aber eigentlich sind es nicht mehr als zwei Großväter“. Und so wissen viele Gemeinschaften bis heute, wo sich beispielsweise ihre damaligen Friedhöfe befinden, die inzwischen meist innerhalb von riesigen Forstplantagen liegen. Es müsse also darum gehen, alle ursprünglichen Ländereien zurück zu bekommen.
Das einzige Mal, als sich eine Regierung daran gemacht hat, das Problem der Ländereien grundlegend zu lösen, war während der Landreform unter Salvador Allende, schildert Correa. Damals setzte die Regierung gezielt auf die Rückgabe und den Schutz der Ländereien der Indigenen.

Doch der darauf folgende Militärputsch setzte dem ein Ende. „Die Ländereien wurden für Spottpreise an Forstunternehmen verkauft und die Mapuche ein weiteres Mal vertrieben,“ erzählt Correa. Heute sind die Gebiete erneut in der Hand der lokalen Oligarchie, die nicht nur in politischen Positionen, sondern auch in der Staatsanwaltschaft und in Gerichten vertreten ist. Der Putsch wurde unter anderem ausgelöst, da die Landreform die Basis der chilenischen Oligarchie angriff.

Boric muss mit heftigem Widerstand von Seiten der Oligarchie rechnen

Die heutigen Forstplantagen sorgen derweil für immense Umweltprobleme: Die angepflanzten Eucalyptusbäume verschärfen die herrschende Trockenheit, während der massive Einsatz von Pestiziden, unter anderem Glyphosat, die Quellen der anliegenden Bevölkerung verseucht.

Die Concertación versuchte dieses grundlegende Problem durch den Kauf einiger weniger Ländereien zu Marktpreisen zu umgehen. Gleichzeitig wurden militante Mapuche juristisch verfolgt.

Die Rechtsanwältin Karina Riquelme verteidigte bereits in vielen Fällen verfolgte Mapuche. Gegenüber Interferencia spricht sie von einem rassistischen Justizapparat, der Großgrundbesitzer*innen verteidige und Mapuche verfolge. Verschiedene Beispiele der nahen Vergangenheit zeigten, wie die Polizei zum Teil in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Gerichten gezielt Mapuche verfolgte. Im größten Skandal der letzten Jahre, im Fall Huracán, wurden Beweise gefälscht, gezielt Personen überwacht und in Untersuchungshaft gesteckt (LN 526).

Das Rechercheportal Ciper deckte diesen Monat auf, dass im Zusammenhang mit dem Fall Huracán auch Rechtsanwält*innen, Politiker*innen und Kulturschaffende belauscht wurden – Karina Riquelme war selbst unter den Abgehörten.

Derzeit läuft ein Verfahren gegen die Verantwortlichen. Riquelme kritisiert, dass das Gericht die Termine immer wieder verschoben hat und den Verteidigern deutlich mehr Zeit einräumt, als in Fällen, in denen sie Mapuche vor Gericht verteidigt. „Uns wurde im Fall des Angeklagten Celestino Cordova nur 20 Tage Zeit gegeben, um die Akten zu studieren“, sagt sie. Im Fall der Aufklärung von Huracán sind es mehr als zwei Monate.

Riquelme meint, dass aufgrund solcher Fälle jegliches Vertrauen in die Justiz fehle. „In den Augen vieler Mapuche gibt es nur einen Staat und alle seine Institutionen sind Teil des Gleichen“, so Riquelme. Daher gäbe es auch kein Vertrauen in staatliche Akteure, auch wenn sie einer neuen Regierung angehören. Sie vertreten einen Staat, der sie über Jahre unterdrückt hat.

Die Rechtsanwältin warnt daher gegenüber Interferencia: Sofern Boric den Justizapparat reformieren will, müsste er mit heftigem Widerstand seitens der Oligarchie rechnen. Gleichzeitig würde ein „Weiter so“ bei der bisherigen Praxis der Staatsanwaltschaft Annäherungsversuche der Regierung deutlich erschweren oder gar blockieren.

Auch Mapuche Curin bleibt daher kritisch: „Ich glaube nicht, dass ein jahrhundertelanger Konflikt innerhalb von vier Jahren gelöst werden kann.“ Außerdem meint er, dass abseits der symbolischen Schritte ein Konflikt innerhalb der Regierung herrsche: „Es gibt viele Berater, die aus der Concertación stammen und weiterhin deren Logik verfolgen.“ Als Beispiel erwähnt Curin die Aussagen von Innen-Staatssekretär Manuel Monsalve (Sozialistische Partei), der nach dem Vorfall von Ercilla meinte, die Waffenkriminalität mancher Mapuche solle mit aller Härte verfolgt werden und sei nicht Teil der legitimen politischen Forderungen.

Curin verteidigt eben diese Gewalt: „Man hat uns immer wieder Zusagen gemacht und diese nicht erfüllt. Ich kann verstehen, wenn manche zur Erfüllung der Forderungen zu den Waffen greifen“.

So lange die Regierung also nicht auf diese Forderungen eingeht, wird sich die Bewegung der Mapuche weiter radikalisieren und weitere Rufe nach militärischer Repression seitens der Unternehmen nach sich ziehen. Doch um die Forderungen der Mapuche-Bewegung zu erfüllen, braucht es mehr als Ansprachen auf Mapudungun. Während Karina Riquelme von einer Reform des Justizapparats spricht, würde eine Rückgabe der Ländereien auch eine Vertreibung von Siedler*innen und Forstunternehmen bedeuteten – auch hier wäre Widerstand vorprogrammiert. Inwiefern die Regierung diese immense Herausforderung angehen will, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.

„FÜR DAS LEBEN, DAS SIE UNS SCHULDEN“

“Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester” Der 8M-Demonstrationszug auf der Alameda (Foto: Josefa Jiménez)

«Manchmal reicht ein einziger Tag oder ein einziges Symbol aus
um zu verstehen, dass alles politisch ist; dass alles 
äußerst politisch für die Frauen ist. Und dann werden wir
uns vielleicht eines Tages alle wieder treffen und lernen,
wie wir unsere künftigen Alleen füllen.»
Julieta Kirkwood (chilenische Soziologin und
feministische Aktivistin, 1936-1985)

Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie, am 8. März 2022, versammelten wir uns wieder: Tausende von Frauen protestierten in den Straßen Lateinamerikas und füllten die Alleen. In Chile steht dieser 8. März im feministischen Kontext der vergangenen Jahre. Dazu gehört nicht nur die Pandemie, sondern auch die im Oktober 2019 von Schüler*innen begonnene Revolte und der feministische Mai im Jahr 2018, als Studierende ein Ende der sexuellen Belästigung von Frauen und der Vertuschung dieser in den Bildungseinrichtungen forderten (siehe LN 528).

Der März ist in Chile immer ein wichtiger Monat für die Politik und die sozialen Bewegungen, weil nach der Sommerpause Arbeits- und Schulalltag wieder anlaufen. In diesem Jahr begannen gleichzeitig die letzten Tage von Präsident Sebastián Piñera im Amt. Er gilt als der schlechteste Präsident Chiles seit der Rückkehr zur Demokratie.

Die systematischen Menschenrechtsverletzungen, vor allem die Gewalt gegen Studierende, Professor*innen und Arbeiter*innen während der Revolte (siehe LN 547), haben gezeigt, wie unfähig Piñera war, zu regieren. Sie haben außerdem klar gemacht, dass er ökonomische Interessen über das Leben, die Gesundheit, Arbeit, Bildung und Würde stellt. Genau deshalb lautet das Motto, das wir Feministinnen für diesen 8. März gewählt haben: Vamos por la vida que nos deben („Setzen wir uns für das Leben ein, das sie uns schulden“). In diesem Rahmen haben wir unseren Nicht-Präsidenten Piñera am 7. März mit der Aufführung der Performance „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ des chilenischen Kollektivs LasTesis vor dem Präsidentenpalast La Moneda verabschiedet.

Am Nachmittag des 8. März stehe ich auf der Alameda, der zentralen Verkehrsader von Santiago de Chile. Die Demonstration soll um 17.30 Uhr losgehen und vier Kilometer von der Plaza Dignidad bis zur Straße Echaurren ziehen. Schon um 16 Uhr sind in dieser Gegend der Stadt Hunderte Frauen verschiedener Generationen auf den Straßen. Zuvor haben einige von ihnen vor Frauengefängnissen demonstriert, darunter auch Fabiola von der Frauenkooperative Manos Libres. Sie erzählt: „Am 6. März haben wir mit unterschiedlichsten feministischen Organisationen zum dritten Mal zu einer Kundgebung vor dem Frauengefängnis von San Joaquín aufgerufen. Es ging uns auch um eine dringende basisfeministische Positionierung gegen den Kapitalismus, die Gewalt des Staates und die politische Verfolgung aller, die kämpfen. Denn das Gefängnissystem ist ein patriarchales System und der Kampf hört erst dann auf, wenn wir alle frei sind“. Andere Frauen, die sich für das Recht auf ein Wohnen in Würde einsetzen, haben Straßen blockiert. Feministische Gruppen verteilen Zeitungen und Infomaterial über den 8. März und geschlechtsspezifische Gewalt. Unterschiedlichste Frauen demonstrieren an diesem Tag gemeinsam für ein Ende der sexualisierten patriarchalen Gewalt.

„Wir sind als Frauen und Arbeiterinnen zu dieser 8. März-Demo gekommen“, erzählt Verónica González. Sie ist Teil der Versammlung selbstorganisierter Arbeiterinnen des chilenischen Statistikinstituts INE. „Wir alle erleben die Ungerechtigkeiten, die es in unserem Land, in unserer Gesellschaft gibt. Dazu gehören zum Beispiel die ungleich verteilte Care-Arbeit und die daraus folgende doppelte Arbeitsbelastung für Frauen. Wir als Angestellte des Statistikinstituts wissen, welche Bedeutung eine geschlechtsspezifische Perspektive auf unsere Arbeit hat: Wir selbst erstellen Statistiken über Prekarisierung und die Feminisierung bestimmter Arten von Arbeit.“

Die wichtigsten Forderungen, die von den Universitätsbesetzungen im feministischen Mai 2018 und von der Revolte 2019 ausgingen, werden auch an diesem 8. März auf die Straßen getragen. Sie lauten: „Abtreibung ja, Abtreibung nein, das entscheide ich“, „Wir brauchen dringend eine feministische und queere Erziehung“, „Nein heißt Nein (No es No)! Welchen Teil hast du nicht verstanden, das N oder das O?“ und „Piñera soll sterben, nicht meine Freundin“.

Feministischer Druck auf die Institutionen – von innen und außen

Die Revolte von 2019 hat in Chile einen historischen Prozess angestoßen, bis hin zur Erarbeitung einer neuen Verfassung. Wir Feministinnen haben uns erstmals an einem solchen Prozess beteiligt und etwas historisch Neues geschaffen: Wir nehmen an diesem institutionellen Prozess von innen und von außen teil – auf der Straße und im Verfassungskonvent. „In diesem Jahr haben wir gemeinsam mit Vertreterinnen im Verfassungskonvent demonstriert“, erzählt Javiera Manzi von der feministischen Dachorganisation Coordinadora 8M. „Die Demo wurde damit gleichzeitig zum Auftakt unserer Kampagne für die Annahme der neuen Verfassung im Plebiszit. Elisa Loncon (Vertreterin im Verfassungskonvent, Anm. d. Übers.) hat den Demonstrierenden zugerufen: „für ein entschlossenes und überzeugtes Ja (Apruebo) im Abschlussplebiszit!“ Dieser Meilenstein der feministischen Bewegung ist auch Ausdruck des Wunsches, sich überall zu erheben: auf den Straßen, in Prozessen wie dem für eine neue Verfassung und in allen jenen Räumen, die wir schon heute einnehmen, um die staatlichen Strukturen zu verändern“, so Manzi.

Gleichzeitig musste die feministische Bewegung im vergangenen Jahr bereits gewonnene Rechte verteidigen. José Antonio Kast, ein patriarchaler, frauenhassender und machistischer Politiker, hat versucht, uns diese Rechte im Laufe des Wahlkampfes um die Präsidentschaft abzusprechen. Zum Beispiel wollte er das Ministerium für Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter abschaffen. Um zu verhindern, dass Kast Präsident wird, setzten wir uns zusammen mit anderen sozialen Bewegungen für den Kandidaten Gabriel Boric ein, der nun am 11. März das Präsidentenamt angetreten hat. Mit ihm ist Antonia Orellana als Frauenministerin in die Regierung eingezogen. Sie ist aktive Feministin und war lange im chilenischen Netzwerk gegen Gewalt gegen Frauen (siehe LN 549) aktiv. 

Der feministische Wandel entrinnt uns, wenn er nicht in der neuen Verfassung verankert wird

Es ist wichtig, all diese Entwicklungen im Hinterkopf zu haben, um über diesen 8. März in Chile, die Politik und ihre Zerbrechlichkeit zu sprechen. Ereignisse, die auch von den feministischen Bewegungen und ihren jahrelangen Kämpfen beeinflusst werden. Doch heute sind wir ein aktiver und hoffnungsvoller Teil institutioneller Prozesse geworden. In diesen sehen wir winzig kleine Schritte eines strukturellen geschlechtergerechten und antikapitalistischen Wandels. Ein Wandel, mit dem wir das Leben bekommen, das sie uns schulden. Auch die Ernennung von Antonia Orellana zur Ministerin ist ein kleiner Schritt. Trotz der Differenzen, die unseren Feminismen innewohnen, macht sie Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Doch als feministische Bewegung heißt es, wachsam zu bleiben. „Zum 8. März gab es eine breite Mobilisierung. Das freut uns, denn es ist eine Art, zu zeigen, dass unsere Erfahrungen ernst genommen werden. So erreichen wir auch die neue Regierung, die sich selbst feministisch nennt“, meint auch Verónica González. Trotz allem: Auf der Straße, in den Haushalten, in Schulen und auf der Arbeit erfahren Frauen weiterhin Gewalt. Sie werden objektifiziert, für häusliche Arbeiten nicht bezahlt, man überlässt ihnen allein die Verantwortung für die Kinder und die Alten, während man weiterhin willkürlich über die Freiheit ihrer Körper entscheidet. Alle unsere zukünftigen institutionellen Erfolge sind also nur Schritte eines tiefgründigen feministischen Wandels. Und der droht uns durch die Finger zu entrinnen, wenn er nicht in der neuen Verfassung verankert wird.

Die Demonstration zum 8. März kommt in der Straße Echaurren zu ihrem Höhepunkt. Frauen und Queers gestalten zusammen mit vielen Künstler*innen die Abschlusskundgebung mit Reden, Performances und Musik. Camila Astorga von der feministischen Gruppe La Rebelión del Cuerpo ist zufrieden: „Seit der riesigen Demo im Jahr 2020, also noch vor Beginn der Pandemie, haben wir es nicht mehr geschafft, so viele Menschen, so viele Frauen zum 8. März auf die Straße zu bringen. Das war sehr gut, wunderschön und kraftvoll.“ Sie bemängelt nur, dass nach der Demo Frauen angegangen wurden: „Für die nächsten Demos sollten wir daher mit anderen Kollektiven sprechen und eine Art Sicherheitsgruppe organisieren, um uns zu schützen und auf Aggressionen reagieren zu können“, so die Aktivistin.

Die Zeit vergeht, der 8. März bleibt zurück, aber der feministische Kampf geht weiter und wir schreiben unsere Geschichte fort. Schon eine Woche später, am 15. März, entscheidet der chilenische Verfassungskonvent, freie, legale und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche als grundlegendes Recht in der Verfassung zu verankern. Chile könnte damit das erste Land weltweit werden, das dieses Recht explizit in der Verfassung festhält. Die Chilen*innen müssen den Verfassungstext noch im Plebiszit annehmen. Aber wir haben Vertrauen. Vertrauen in uns, in die Veränderungen und darin, uns erneut auf den Straßen zu versammeln, wie wir es die letzten Jahre jeden 8. März getan haben und weiterhin tun werden – für das Leben, das sie uns schulden.

“DE FACTO EINE GROSSE KOALITION”

Hier soll sich bald einiges ändern Chiles neuer Präsident Boric bei seinem Vorgänger Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma)

Bei dieser Stichwahl habe Chile den pinochetismo zum zweiten Mal abgewählt, meint die chilenische Politologin Marta Lagos. „Es passierte zweimal in der Geschichte: am 5. Oktober 1988 und am 19. Dezember 2021“, so Lagos in einem Interview mit dem argentinischen Sender AM 750. Der Wahlsieg des Linkskandidaten Boric habe also das „Nein“ zu Pinochet von 1988 bestätigt. Denn Borics Kontrahent José Antonio Kast, ein bekennender Anhänger der Pinochet-Diktatur, war bei der Wahl im Dezember fast zwölf Prozentpunkte hinter Borics Ergebnis von 56 Prozent der Stimmen zurückgeblieben.

Mitte Januar hat der gewählte Präsident Boric das Kabinett vorgestellt, mit dem er am 11. März sein Amt antreten will. Bei der Vorstellung im Nationalmuseum für Naturgeschichte beschrieb er die Vielfältigkeit des Regierungsteams: Es handele sich um eine Gruppe „mit politischer Pluralität, unterschiedlichen Standpunkten und einer starken Präsenz von Unabhängigen und Aktivisten politischer Parteien“. Vielfalt gebe es auch unter den vertretenen Regionen und Generationen.

Nach Ansicht der Politologin Lagos war Boric bei der Benennung des künftigen Kabinetts mutig. „Was er getan hat, war vor einem Monat noch undenkbar“, so die Gründerin der Nichtregierungsorganisation Latinobarometro. Borics Team habe stets argumentiert, dass eine Erneuerung erforderlich wäre, um die Fehler der traditionellen Mitte-Links-Koalition Concertación auszubügeln. Denn seit seiner Zeit als führender Aktivist der Studierendenbewegung galt Boric als Kritiker der Concertación, die die Jahrzehnte nach der Pinochet-Diktatur politisch geprägt hatte. Doch nun bezieht er Vertreter*innen der Seite ein, die er zuvor angegriffen hatte. Mit der Entscheidung habe Boric „de facto eine große Koalition gebildet – so, wie parlamentarische Regierungen eben gemacht werden“, erklärt die Analystin Lagos.

Da Boric mit dem Wahlversprechen angetreten ist, das während der Diktatur eingeführte neoliberale Modell abzulösen, wird er bei der Umsetzung von Strukturreformen sehr wahrscheinlich viel Gegenwind erhalten. Seine Regierungsziele beinhalten die Einführung eines öffentlichen Rentensystems und einer universellen Kranken-
versicherung, eine Reform des Streikrechts, eine Steuerreform zur Finanzierung sozialer Projekte, mehr Anerkennung für Care-Arbeit und eine Strukturreform der Militärpolizei Carabineros: „Wir werden Schritt für Schritt alle von uns vorgeschlagenen Änderungen vornehmen, weil wir davon überzeugt sind, dass die große Mehrheit der Chilenen strukturelle Änderungen fordert“, sagte er am Tag des Wahlsiegs. 

Zehn Jahre nach den Protesten von Studierenden sitzen mehrere Aktivist*innen in der Regierung


Tatsache ist, dass Boric Allianzen mit dem traditionellen Mitte-links-Lager benötigt, um Mehrheiten in den zwei Kammern des Nationalkongresses zu erreichen. Borics Wahlbündnis Apruebo Dignidad hat in der Abgeordnetenkammer nur 37 von 155 Sitzen und im Senat fünf von 50 Sitzen. Durch die Berufung parteiunabhängiger Minister*innen und Vertreter*innen von Parteien außerhalb des Bündnisses erweitert der künftige Präsident nun seine Koalition. Dazu gehören die Sozialistische Partei (PS), die Partei für Demokratie (PPD), Radikale Partei (PR) und Liberale Partei (PL).

„Die Zusammensetzung dieses Kabinetts ist in mehrfacher Hinsicht etwas Außergewöhnliches“, meint die chilenische Psychoanalytikerin Constanza Michelson. Es gehe vor allem darum, „das Ende einer Phase von Kämpfen zu besiegeln, in der der Feminismus am Rande der Macht stand, um nun an die Macht zu kommen“, so Michelson in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página 12. Mehrere Schlüsselressorts werden künftig Frauen übernehmen: Die Außenpolitik leitet ab März die parteiunabhängige Rechtsanwältin Antonia Urrejola. Verteidigungsministerin wird, fast 50 Jahre nach dem Militärputsch von 1973, die Allende-Enkelin Maya Fernández, die für die Sozialistische Partei in der Hauptstadtregion in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde. Von Ministerinnen geführt werden außerdem die Ressorts für Arbeit und Soziales sowie Gesundheit und auch Bergbau: Die designierte Ministerin Marcela Hernando Pérez (PR) soll zwei wichtige Vorhaben in Bezug auf die Bergbaupolitik umsetzen, wie das chilenische Onlinemedium El Ciudadano berichtete. Zum einen die Einführung einer Steuer im Kupferbergbau, die Zusatzeinnahmen im Umfang von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts einbringen soll. Zum anderen die Gründung eines staatlichen chilenischen Lithiumunternehmens, bei dem die Interessen betroffener Gemeinden im Mittelpunkt stehen.

Mit der Benennung der parteiunabhängigen Klimatologin und Mitautorin des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats, Maisa Rojas, hat Boric eine Expertin in Sachen Klimawandel für das Amt der Umweltministerin benannt. Rojas‘ Nominierung deutet an, dass der Kampf gegen die Klimakrise – wie schon im Wahlkampf angekündigt – künftig einen hohen Stellenwert haben könnte. Im Interview mit The Guardian kündigte die Klimawissenschaftlerin, die die chilenische Regierung bereits bei der COP25 beraten hat, grundlegende Veränderungen an: „Wir müssen uns mit den strukturellen Elementen unserer Gesellschaft befassen, was auch bedeutet, dass wir unseren Pfad der Entwicklung ändern müssen.“

Auch drei der fünf Positionen im comité político (innerer Entscheidungszirkel im Kabinett, Anm. d. Red.) – Inneres, Finanzen, Frauen, Regierungssprecher*in und Generalsekretariat der Präsidentschaft – werden ab dem 11. März Frauen leiten. Als wichtigster Kabinettsposten gilt in Chile das Innenministerium. Diese Rolle fällt nun zum ersten Mal einer Frau zu, der künftigen Innen- und Sicherheitsministerin Izkia Siches. Sie leitete Borics Wahlkampagne und war von 2017 bis 2021 Vorsitzende des Berufsverbands der Ärzt*innen. Die künftige Ministerin für Frauen und Geschlechtergleichheit ist die Feministin und Journalistin Antonia Orellana von der Convergencia Social (CS), Gabirel Borics Partei. Karina Nohales, Vertreterin der feministischen Dachorganisation Coordinadora Feminista 8M, begrüßte ihre Benennung auf Twitter: „Sie ist eine engagierte Feministin, die sich für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, für das Recht auf legale, freie und sichere Abtreibung und würdevolle Arbeitsbedingungen einsetzt.“

59 Prozent sind laut Umfragen mit dem Kabinett Boric zufrieden

Neuer Finanzminister wird der bisherige Chef der chilenischen Zentralbank, der parteiunabhängige Mario Marcel, der bereits an allen Regierungen der Concertación beteiligt war. Seine Ernennung löste bei Vertreter*innen sozialer Bewegungen ungläubiges Entsetzen und Unverständnis aus. Für Luis Mesina aus der No+AFP-Bewegung, die das derzeitige chilenische Rentenversicherungssystem ablösen will, stellt die Ernennung Marcels eine Wiederbelebung der 2017 abgewählten Concertación dar. „Dafür haben die Wähler*innen nicht gestimmt, sie wollen Veränderungen“, betont er. Auch Ramón López, ehemaliger Wirtschaftsberater von Daniel Jadue (Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei), kritisierte die Personalentscheidung und die Botschaft dahinter scharf: So behaupte die Regierung, tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen zu befürworten, benenne dann jedoch einen Finanzminister, der sich alledem widersetze. „Wo bleibt die Glaubwürdigkeit?“, fragt sich López.

Doch auch zwei bekannte Gesichter aus der Studierendenbewegung hat Boric ins Kabinett geholt. Regierungssprecherin wird Camila Vallejo (Kommunistische Partei), Präsidentschaftssekretär wird Giorgio Jackson von der Partei Revolución Democrática, neben der CS die führende Partei im Parteienbündnis Frente Amplio. Beide Personen führten mit Boric die studentischen Proteste von 2011 und 2012 an, die bis dahin größten Demonstrationen in Chile seit Ende der Diktatur. Ihre nun zehn Jahre alten Forderungen nach bezahlbarem Studium für alle und ihre Kritik am privatisierten Bildungssystem sind noch heute aktuell. Als Mitglieder der neuen Regierung haben die drei ehemaligen Aktivist*innen nun die Möglichkeit, sie in die Tat umzusetzen.

Die künftigen Minister für Wohnen und Urbanistik (Carlos Montes), Verkehr und Telekommunikation (Juan Carlos Muñoz) sowie für Öffentliche Baumaßnahmen (Juan Carlos García) gelten alle als Experten auf ihrem Gebiet. Laut dem Magazin The Clinic seien die Erwartungen an diese Minister daher besonders hoch. García fordert etwa, das Zugnetz zu erweitern und die verschiedenen Verkehrsträger besser zu koppeln.

Mit Borics Wahlsieg und Kasts Niederlage erhält außerdem der aktuelle verfassunggebende Prozess Rückenwind. Für das Regierungsmandat Borics wird die Unterstützung des Verfassungskonvents eine wichtige Etappe zu Beginn der Amtszeit sein. Seine Präsidentschaft könnte den verfassunggebenden Prozess stützen. Bis Juli 2022 soll im Verfassungskonvent eine progressive, neue Verfassung erarbeitet werden. Wenn die Mehrheit der chilenischen Wähler*innen dafür stimmt, wird die alte Verfassung, ein Erbe aus Diktaturzeiten, nach vier Jahrzehnten abgelöst. Boric hat angekündigt, die Unabhängigkeit der Arbeit des Verfassungskonvents zu sichern und besuchte seine Mitglieder bereits kurz nach der Wahl, um ihnen seine Unterstützung auszusprechen.

Mit der Wahl Borics hat die Mehrheit der Chilen*innen gezeigt, dass sie sich entschlossen gegen den pinochetismo stellen. Eine Woche, nachdem der gewählte Präsident sein Regierungskabinett vorgestellt hatte, veröffentlichte das private chilenische Meinungsforschungsinstitut Cadem aktuelle Umfrageergebnisse. Demnach bewerteten 59 Prozent der Befragten die Personalauswahl als positiv. Es sind sieben Punkte mehr als beim vergangenen Kabinett Piñera (2018) und sogar 30 Punkte mehr als beim Kabinett Bachelet II (2014). Die Hoffnung der Bevölkerung auf einen Wandel scheint also da zu sein. Ob das Regierungsteam es schaffen wird, politische Mehrheiten zu erhalten und gleichzeitig seiner Linie, mit den Relikten der Vergangenheit aufzuräumen, treu zu bleiben? Die nächsten vier Jahre werden das zeigen.

DIE SOZIALEN BEWEGUNGEN UND DIE REGIERUNG BORIC

Boric wird Präsident Nach seiner Wahl müssen sich die sozialen Bewegungen neu positionieren (Foto: Diego Reyes)

Herr Grez, Sie beobachten die sozialen Kämpfe in Chile seit vielen Jahren. Wo stehen die Bewegungen nach dem Wahlsieg von Gabriel Boric?
Der hohe Stimmenanteil von knapp 56 Prozent und der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung vor allem in den ärmeren Schichten zeigen, dass seine Kandidatur bei einem großen Teil der Bevölkerung Hoffnung auf Veränderungen geweckt hat. Zwar gibt es darunter einen bedeutenden Prozentsatz von Linken, die ihn widerwillig gewählt haben, weil sie Boric neben der Gefahr, die von Kast ausging, für das „kleinere Übel“ hielten. Dennoch verkörpert er bis jetzt die Sehnsucht nach Wandel und der Überwindung des neoliberalen Modells. Das hat sich schon während des Wahlkampfes nicht nur in persönlichen Äußerungen, sondern auch in vielen Erklärungen sozialer Organisationen gezeigt.

Was bedeutet das konkret für die Zukunft der sozialen Bewegungen?
Vieles deutet darauf hin, dass die Organisationen und Bewegungen nun einige Zeit in Erwartungshaltung verharren werden. Noch ist nicht abzusehen, ob Borics Amtsantritt ihre Mobilisierungs- kraft hemmen oder im Gegenteil beflügeln wird – etwa um Druck auf die neue Regierung auszuüben, ihre Wahlversprechen schnell und umfassend zu erfüllen. Die Arbeit des Verfassungs-*konvents (siehe Artikel S. 6), der in einem großen Teil des Landes ebenfalls Hoffnungen geweckt hat, könnte ähnlichen Einfluss auf das weitere Handeln der Bewegungen haben.

Welche Rolle spielt die Zusammensetzung der neuen Regierung?
Das Verhalten bestimmter politischer Akteure ist ein wichtiger Faktor. Die Kommunistische Partei etwa hat Einfluss auf gesellschaftliche Organisationen, insbesondere auf die Gewerkschaften. Aus früheren Regierungsbeteiligungen der Partei wissen wir jedoch, dass sie die Kämpfe der Bevölkerung entweder einzudämmen oder zu beleben versucht – je nach politischer Situation und Auseinandersetzungen innerhalb der Regierungskoalition. So war es während der Regierungen von González Videla (1946-1952), Allende (1970-1973) und Bachelet (2006-2010 & 2014-2018). Ähnlich dürfte es auch jetzt sein.

Auf große Teile der Bevölkerung haben parteipolitische Akteure aber wenig Einfluss. Vor allem auf diejenigen nicht, die am stärksten unter dem neoliberalen System leiden: prekär und informell Beschäftigte, Selbstständige (cuentapropistas), Men- schen in extremer Armut, Mapuche, Migranten und andere. Es gibt keine Garantie dafür, dass die neue Regierung diesen Teil der Gesellschaft zufriedenstellen wird. Daher ist es denkbar, dass ihre Mobilisierungen, die auch radikalisierte und außerinstitutionelle Formen annehmen können, weitergehen werden. Einige Mapuche-Gemeinschaften und -organisationen haben bereits angekündigt, dass es keinen „Waffenstillstand” mit der Regierung von Boric geben wird. Das deutet darauf hin, dass es in Wallmapu, das die Strategen des chilenischen Nationalstaates euphemistisch als Macrozona Sur bezeichnen, weiterhin zu Auseinandersetzungen kommen wird.

Wird sich für diese Gruppen etwas ändern?
Ein Faktor, der die Basisorganisation mittelfristig fördern könnte – wenn auch stärker reguliert und kontrolliert – ist eine versprochene Reform des Streikrechts. Borics Programm zufolge sollen Streiks und Tarifverhandlungen künftig auch nach Produktionszweigen möglich sein, bisher waren nur firmeninterne Tarifverhandlungen zulässig. Diese und andere Faktoren mit noch unklaren Auswirkungen deuten auf ein komplexes und unvorhersehbares Szenario hin, insbesondere vor dem Hintergrund der anhaltenden gravierenden sozialen Probleme. Das konkrete Handeln der politischen Akteure wird also entscheidend sein. Denn nach den allgemeinen Aufforderungen an die Bewegungen, Boric bei der Wahl zu unterstützen und möglichst „keine Wellen zu schlagen“, ist die Frage aus ihrer Sicht jetzt nicht mehr, wie die Menschen Boric unterstützen werden, sondern, wie Boric ihre Kämpfe unterstützt und die Forderungen zu ihrer Zufriedenheit erfüllt.

Was kommt nach dem aktuellen Verharren in Erwartungshaltung?
Ich glaube, die sozialen Kämpfe werden in einigen Monaten, wenn Borics Gnadenfrist – wie sie die Präsidenten zu Beginn ihrer Amtszeit oft begleitet – verflogen ist, ihren gewohnten Lauf nehmen und ungelöste Widersprüche unweigerlich an die Oberfläche bringen. Genaueres vorherzusehen ist unmöglich. Denn wir wissen weder, wie handlungsfähig diese Kämpfe sein werden, noch, inwieweit die Regierung Boric Repression einsetzen wird, um soziale Forderungen einzudämmen. Daher müssen die Bewegungen ihre Autonomie bewahren und sich auf allen Ebenen stärken. Die schwierigen vor uns liegenden Zeiten erfordern es.

Wie hat der verfassungsgebende Prozess die Mobilisierung beeinflusst?
Mit der sogenannten Vereinbarung für den sozialen Frieden und die neue Verfassung vom 15. November 2019 wollte die politische Klasse die Macht der Revolte auf einen harmlosen Weg lenken, nämlich den eines verfassungsgebenden Prozesses, der vom Parlament geregelt wird. So wurde eine gänzlich freie und souveräne verfassungsgebende Versammlung verhindert, die die wichtigsten Interessen, die das neoliberale Modell aufrechterhalten, gefährdet hätte. (Der Verfassungskonvent ist in dem Sinne nicht frei und souverän, da Entscheidungen eine Zweidrittel­mehrheit benötigen und er internationale Abkommen nicht antasten darf, die das Parlament verabschiedet hat – beispielsweise Freihandels­abkommen, Anm. d. Red.). Mit dem Abkommen war die erste Phase der Revolte vom 18. Oktober 2019 zu Ende gegangen. Im Großen und Ganzen hat dieses politische Manöver die erhofften Ergebnisse erbracht: Es ist gelungen, viele Menschen zu demobilisieren, die glaubten, dass der ihnen angebotene verfassungsgebende Prozess ihren Wünschen entsprechen würde. Aber es reichte nicht aus, um zu der gewünschten „Normalität“ zurückzukehren.

Stattdessen gingen die Proteste weiter …
Ja, am 8. März 2020 zum Internationalen Frauentag erreichten sie ihren Höhepunkt. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Chile veranlasste die Regierung jedoch, den Ausnahmezustand zu verhängen, der von Quarantänen, einer Ausgangssperre im ganzen Land und anderen Maßnahmen begleitet wurde, die zur Demobilisierung beitrugen. Zu Beginn des Frühjahrs, als die pandemische Lage sich etwas entspannte, belebte die Aussicht auf das Plebiszit am 25. Oktober 2020, das den verfassungsgebenden Weg genauer bestimmen sollte, die sozialen Mobilisierungen insbesondere in politischer Hinsicht wieder.

Der 25. Oktober war ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Institutionalisierung des Konflikts und des verfassungsgebenden Prozesses, wie in der Vereinbarung vom 15. November vorgesehen. Die Bemühungen, Energien und Ressourcen zahlreicher Aktivisten, Versammlungen, Räte und sozialer Organisationen, die in diesem neuen Kontext reaktiviert wurden, konzentrierten sich hauptsächlich auf die Kampagne zur Wahl der Delegierten für den Verfassungskonvent. Aus heutiger Perspektive können wir erkennen, dass die Revolte Mitte März 2020 erlosch. Dazu hatten das Abkommen vom 15. November, dann die Folgen der Pandemie, die eigene Zersplitterung und die politischen Beschränkungen geführt. Stattdessen wurde nun ein von der politischen Klasse geregelter und kontrollierter verfassungsgebender Prozess umgesetzt.

Werden die Bewegungen an die Revolte von 2019 anknüpfen können?
Nach Borics Wahl könnte der gegenwärtige Zeitpunkt als Beginn einer neuen Phase der Mobilisierungen nach der Revolte betrachtet werden – mit allen Unklarheiten und Unsicherheiten, die eine solche Definition mit sich bringt. Denn obwohl die Revolte schon vor einiger Zeit zu Ende gegangen ist, sind viele der subjektiven Elemente des sogenannten octubrismo (Ethos und Erzählung der ersten Tagen der Revolte im Oktober 2019, Anm. d. Übers.) in der Vorstellung, in den Sehnsüchten und politischen Ausdrucksformen noch immer präsent. Zwar gibt es Proteste zu bestimmten Themen – für die Freiheit der politischen Gefangenen des Aufstands sowie für verschiedene wirtschaftliche und soziale Forderungen. Aber sie sind nicht mehr Teil der Revolte.

Welche Rolle spielten die Wahlen in diesem Zusammenhang?
Die zahlreichen Wahlen des vergangenen Jahres (zum Verfassungskonvent, Gouverneurs-, Kommunal-, Parlaments- und Regionalratswahlen) haben zur „Normalisierung“ und Institutionalisierung der Konflikte beigetragen. Auch die Präsidentschaftswahl 2021 hat, trotz ihrer Dramatik, nichts geändert. Die Revolte war nicht in der Lage, eine eigene Alternative aufzustellen, die es ihr ermöglicht hätte, in diesem Wahlkampf autonom aufzutreten. Der einzige Aspekt, in dem sich der octubrismo hier zeigt, ist das bemerkenswerte Wahlergebnis von Fabiola Campillai zur Senatorin in Santiago (die Fabrikarbeiterin Campillai, die durch den Beschuss mit einer Tränengaskartusche der Polizei ihr Augenlicht verloren hat, wurde im November 2021 als unabhängige Kandidatin zur Senatorin gewählt, Anm. d. Red.).

Auch wenn es nicht möglich ist, den Verlauf weiterer Mobilisierungen vorherzusagen, so ist doch sicher, dass die kommenden Proteste nicht als Teil der Revolte vom Oktober 2019 betrachtet werden können, sondern als Teil eines neuen Kontextes, der, wie ich vermute, über das Plebiszit über die neue Verfassung hinaus andauern wird. Doch der gesamte verfassungsgebende Prozess wird von den politischen Kräften des „Abkommens für sozialen Frieden und die neue Verfassung“ vom 15. November 2019 kontrolliert.

SCHOCKSTARRE ODER WANDEL

“Nein zum Faschismus von Kast” Proteste gegen den extrem rechten Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast in Chile (Foto: Ute Löhning)

Für viele Chilen*innen ist es ein Schock. Die Schatten der Diktatur unter General Augusto Pinochet (1973-1990) scheinen nochmals aufzuleben. „Wir haben eine verdammte Angst“, sagt Isabel Aguilera Anfang Dezember am Rande einer Kundgebung, die sie und andere Anwohner*innen im Santiaguiner Stadtteil Ñuñoa organisiert haben und zu der etwa 500 Personen zusammengekommen sind. „Weil Kast so viele Stimmen erhalten hat, müssen wir der Ultrarechten etwas entgegensetzen und Gabriel Boric im zweiten Wahlgang unterstützen“, erklärt die Aktivistin.

Die Musikerinnen Isabel und Tita Parra, die Ende November mit über 1.000 Künstler*innen ihre Unterstützung für Boric ausgesprochen hatten, singen bei der Kundgebung Lieder aus der Zeit der Diktatur. Das Publikum – alt wie jung – singt und klatscht mit. Balconeras werden verteilt, das sind Transparente, die aus Fenstern oder Balkonen gehängt werden können, mit der Aufschrift „Zusammen für den Wandel – Boric Presidente“.

Insgesamt fiel das Ergebnis der Wahlen im November deutlich konservativer aus als das des Verfassungsreferendums im Oktober 2020 und der Wahl zum Verfassungskonvent im Mai 2021, bei der linke, feministische, ökologische und oftmals parteiunabhängige Kandidat*innen stark abschnitten (Siehe LN 564). Dass Kast und seine Republikanische Partei so viele Stimmen bekommen haben, sei „nicht nur eine Reaktion auf die soziale Protestbewegung, sondern vor allem auf die Erfolge der feministischen Bewegung“, meint Isabel Aguilera, „aber wir Feministinnen machen weiter“. Tatsächlich würde der bekennende Katholik Kast Abtreibungen selbst nach einer Vergewaltigung oder bei Lebensgefahr für Mutter oder Kind ebenso wie die kürzlich im Kongress beschlossene gleichgeschlechtliche Ehe gerne wieder verbieten.

Die feministische Bewegung hat sich nach der ersten Wahlrunde schnell (re-)organisiert. Bei einer „Asamblea Feminista“ haben Ende November rund 5.000 Feministinnen – teils in Präsenz, teils online – über weitere Schritte diskutiert. Um feministische Errungenschaften der letzten Jahre zu verteidigen und weiter auszubauen, wollen sie unbedingt verhindern, dass Kast Chiles neuer Präsident wird. Anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November zogen Tausende Feministinnen bereits mit „Nein zum Nazi“ Sprechchören und antifaschistischen Transparenten durch Santiago.

José Antonio Kast ist Sohn des 1950 nach Chile eingewanderten früheren Offiziers der deutschen Wehrmacht Michael Kast, der seit 1942 auch Mitglied der NSDAP war. Das belegen Recherchen des chilenischen Journalisten Mauricio Weibel, der kritisiert, dass Kast Junior die Rolle seines Vaters im NS-Regime verharmlost und dessen Parteimitgliedschaft bestritten hatte.

Bis heute bewahrt der extrem Rechte auch seine inhaltliche Nähe zu Ex-Diktator Augusto Pinochet. Er stellt die Legitimität von Urteilen gegen Militärs der Diktatur infrage, wie etwa im Fall des wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten chilenischen Ex-Offiziers Miguel Krassnoff. Bis 2016 war Kast Mitglied der Pinochet-treuen Partei UDI. 2019 gründete er die Republikanische Partei und den Thinktank Republikanische Ideen, der die „Ideen der Rechten“ repräsentieren soll. Kast ist Anhänger des neoliberalen Wirtschaftsmodells, das sein älterer Bruder Miguel als Vertreter der ökonomischen Schule der „Chicago Boys“ nach dem Putsch 1973 in Chile mit eingeführt hatte: als Minister unter Pinochet und Chef der chilenischen Zentralbank.

Kast ist gut vernetzt mit dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und dessen Sohn Eduardo. Nach Angaben der brasilianischen Zeitung O Globo fungiert der deutsch-chilenische Wirtschaftsingenieur Sven von Storch als Berater in internationalen Fragen für José Antonio Kast. Von Storch, der selbst wenig in der Öffentlichkeit auftritt, steht nach eigenen Angaben in regelmäßigem Austausch mit dem ultrarechten US-Ideologen Steve Bannon und orientiert sich an extrem rechten Bewegungen in Lateinamerika und Europa. Er ist der Ehemann der stellvertretenden Bundessprecherin der AfD, Beatrix von Storch, und Betreiber der Nachrichten- und Kommentarseite Freie Welt.

Punkten kann der 55 Jahre alte Rechtsanwalt Kast auch mit einem Diskurs von Sicherheit und autoritärer Ordnung. Damit spricht er breite Teile der chilenischen Bevölkerung und deren Ängste vor Narco- oder Bandenkriminalität an. Im gleichen Atemzug hetzt er gegen die Protestbewegung seit 2019: „Falls die Linke an die Macht kommen sollte, gibt es keinen Weg mehr zurück. Dann werden sich Wut und Gewalt ausbreiten. Das sind die politischen Methoden der Linken“, verkündet Kast und droht: „Das werden wir ihnen nie wieder erlauben“.

Kast verzerrt den ursprünglichen Sinn des Nunca Más (Nie Wieder), mit dem die Diktatur abgeschlossen und ihre Wiederholung für immer verhindert werden sollte und instrumentalisiert es gegen seine politischen Gegner: „Um es ganz klar zu sagen: Gabriel Boric und die Kommunistische Partei wollen die Vandalen begnadigen“, sagt er in der landesweit ausgestrahlten offiziellen Ansprache am Abend nach dem ersten Wahlgang: „Sie treffen sich mit Terroristen und Mördern. Sie wollen die Grenzen für den Handel schließen und unser Land in Instabilität, Hass und Zerstörung halten. Das muss aufhören.“

Bei vielen Chilen*innen verfängt auch dieses Zerrbild, dass Chile unter einem Präsidenten Boric wirtschaftliche Instabilität drohe und es sich zu einem zweiten Venezuela entwickeln würde. Ein venezolanisches Paar, das seit fünf Jahren in Chile lebt, ist zu Kasts Wahlkampfabschluss gekommen: „Hier leben wir viel besser“, sagt der Chemiker Manuel Chivit. Er erklärt: „Wir haben Venezuela vor allem aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und finden es richtig, eine klare, rechte Position einzunehmen gegen das, was wir in Venezuela gelebt haben“. Tatsächlich verdienen einige Sektoren der chilenischen Bevölkerung gut bis sehr gut, für die Mehrheit gilt das allerdings nicht.

Für die Forderungen der sozialen Proteste seit 2019, den Ausbau der sozialen Infrastruktur und des Gemeinwohls steht Gabriel Boric als Präsidentschaftskandidat des Bündnisses von Frente Amplio und der kommunistischen Partei. „Seit heute stehen wir vor einer Herausforderung und einer enormen Verantwortung“, sagt der gerade mal 35 Jahre alte ehemalige Studierendenführer Boric in seiner Rede nach dem ersten Wahlgang: „Wir haben die Aufgabe, für die Demokratie zu streiten, und für eine Gesellschaft, die inklusiv und gerecht ist, und die allen ein Leben in Würde ermöglicht“. Es gebe keine Zeit zu verlieren, ergänzt er: „Wir müssen den Klimawandel aufhalten, die Umwelt schützen, das Recht auf Wasser für alle sichern. Für uns und die folgenden Generationen“.

Zwar gelten radikaleren Teilen der Protestbewegung Boric und die Frente Amplio als zu etabliert. In Anbetracht der knappen Kräfteverhält- nisse zwischen Boric und Kast fordern viele Linke allerdings, diesen Konflikt momentan zurückzustellen. „Boric muss auch den verfassungsgebenden Prozess verteidigen“, sagt Isabel Aguilera. Denn Kast ist bereits mehrfach als Gegner einer neuen Verfassung aufgetreten, die der Verfassungskonvent derzeit schreibt und über deren Inkraftsetzung die Bevölkerung Mitte 2022 abstimmen soll. Gleichzeitig fahren die Republikanische Partei und andere Organisationen, die sich rund um die „Patriotische Widerstandsbewegung“ (MRP) assoziieren, unter dem Motto „Chile retten“ eine mediale Delegitimierungskampagne gegen den Verfassungskonvent und dessen Vorsitzende, die Mapuche-Vertreterin Elisa Loncón. Zwar kann ein Präsident diesen Prozess nicht aussetzen, durch Delegitimierung jedoch empfindlich behindern.

Ein breites Spektrum von Mitte-Links- und christdemokratischen Parteien hat daher für die Stichwahl inzwischen zur Wahl Borics aufgerufen. Die knapp 13 Prozent der Wähler*innen, die im ersten Wahlgang für Sebastián Sichel aus dem Lager des aktuellen Präsidenten Piñera gestimmt hatten, dürften im Dezember für Kast stimmen. Diejenigen, die den in den USA lebenden drittplatzierten Franco Parisi gewählt hatten, sind schwerer einzuschätzen. So wie Parisi selbst Alimente für seine Kinder nicht zahlt und deshalb in den USA (erfolglos) Asyl beantragt und Chile während des ganzen Wahlkampfs nicht einmal betreten hat, scheinen auch seine Anhänger*innen – immerhin zwölf Prozent der Wähler*innen – ein Lebenskonzept zu favorisieren, das auf bedingungslosen Profit und Konsumorientierung setzt.

Am 21. November haben nur 47 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben – zwar mehr als 2017 und doch weniger als erwartet. Allemal ist es ein Ausdruck der weit verbreiteten Parteien- und Wahlverdrossenheit. Isabel Aguilera will vor der knappen Stichwahl am 19. Dezember „von Tür zu Tür gehen“, um die Menschen in der Nachbarschaft anzusprechen. Denn für sie ist es eine Schlüsselfrage, „diejenigen zu erreichen, die nicht gewählt haben“.

HAUPTSACHE NICHT PIÑERA

In Santiago Wahlhelferin erklärt einem Wähler den Wahlzettel (Fotos: David Rojas Kienzle)

Die Überraschung war perfekt. Beatriz Sánchez von der Frente Amplio (FA) konnte im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Chile am 19. November 20,3 Prozent der Wähler*innen für sich gewinnen. Überraschend war dies vor allem, da ihr in den letzten Wahlumfragen 8,5 Prozent der Stimmen vorausgesagt wurden. Der konservative Kandidat Sebastian Piñera, der bereits von 2010 bis 2014 Präsident war, musste eine herbe Schlappe hinnehmen, hatten er und sein Team doch damit gerechnet schon im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen zu bekommen. Am Ende waren es aber landesweit „nur“ 36,6 Prozent, womit ein zweiter Wahlgang notwendig wird. Alejandro Guillier, vom linksliberalen Bündnis Fuerza Nueva Mayoría, dem auch die amtierende Präsidentin Michelle Bachelet angehört, konnte Beatriz Sánchez nur knapp hinter sich lassen und erreichte 22,7 Prozent, womit er und Sebastián Piñera sich im zweiten Wahlgang am 17. Dezember gegenüberstehen.

Auch bei den Parlamentswahlen konnte die FA Erfolge verbuchen. 20 der 155 Sitze im Kongress sind nun mit Abgeordneten des im Januar 2017 gegründeten Parteienbündnisses besetzt. Das konservative Bündnis Chile Vamos kommt auf 72 Sitze, hat damit aber keine Mehrheit. Die aktuelle linksliberale Regierungskoalition kam auf 43. Nach den Wahlen entbrannte eine intensive Debatte um die Qualität der Wahlumfragen. Noch am Wahlabend erklärte die Kandidatin der FA: „Ich frage mich, ob wir bei realistischen Umfragen im zweiten Wahlgang gelandet wären.“ In diesem zweiten Wahlgang wird die entscheidende Frage sein, ob Guillier die Wähler*innen des FA dazu bewegen kann für ihn bzw. vor allem gegen Piñera zu stimmen. Guillier steht für eine Fortführung der Politik Michelle Bachelets, die in ihrer sich dem Ende zuneigenden Amtszeit kleine Reformen in den zentralen Fragen der chilenischen Politik gemacht hat. Die Bilanz der amtierenden Präsidentin ist aber dennoch durchwachsen und ihre Zustimmungswerte befanden sich in den vergangenen Monaten konstant niedrig bei um die 30 Prozent. Antreten durfte sie nach zwei Amtszeiten aus Verfassungsgründen ohnehin nicht mehr.

“Ich gehe nicht wählen, ich will mich nicht zum Komplizen dieses Systems machen.”

Vielen Chilen*innen, vor allem den in sozialen Bewegungen organisierten, gingen die Reformen der vergangenen Jahre nicht weit genug: Die Regierung hat es nicht geschafft, die in Chile extrem teure universitäre Bildung kostenlos zu machen oder auch nur breiteren Schichten zugänglicher, Abtreibungen sind nur im Falle von Vergewaltigungen, Lebensgefahr der Mutter oder wenn der Fötus nicht überleben würde legal und das fondsbasierte Rentensystem AFP, das für viele Chilen*innen zu Altersarmut führt, ist unverändert. „Wir wollen keine Reformen der AFP, wir wollen es komplett ändern. Das Rentensystem, das wir heute haben, ist ein Scherz, ein Geschäft,“ so Vilma Álvarez vom Komitee La Granja No + AFP. Auch der Caso Caval genannte Korruptionsskandal um Bachelets Sohn Sebastián Dávalos hat für erhebliche Vertrauensverluste gesorgt, auch in die schon lange angeschlagene Regierungskoalition. „Politisch gesehen war die Präsidentschaft Michelle Bachelet sehr schlecht“, meint auch der Buchhändler Ernesto Córdova, 54.

Die Wahlbeteiligung lag erwartet niedrig bei 46,7 Prozent. Die Gründe dafür sind vielfältig, teilweise politisches Desinteresse, teilweise aber auch Ablehnung des politischen Systems, das auf der von der Militärdiktatur 1981 verabschiedeten Verfassung beruht. „Ich gehe nicht wählen, ich will mich nicht zum Komplizen dieses Systems machen. Ich will, dass sich die Unzufriedenheit in Chile zeigt“, meint Roberto Gómez Ponce, 60, der einen Schlüsseldienst auf der Alameda, der Santiago de Chile durchkreuzenden Hauptstraße, betreibt. „Egal wer am Ende gewinnt, ändern wird sich innerhalb dieses Systems nichts“« Auch die Frustration mit der aktuellen Regierungskoalition, die mit einer Unterbrechung zwischen 2010 bis 2014 seit dem Ende der Militärdiktatur ununterbrochen die Regierung stellte, dürfte nicht dazu beitragen, Alejandro Guillier viele Stimmen zu bringen.
Unter anderem wegen der gefühlten Stagnation der Parteienpolitik mit dem Duopol von konservativen und linksliberalen Kräften hatte sich Anfang 2017 die FA als Bündnis 14 linker und liberaler Parteien und Organisationen gegründet. Federführend waren dabei Anführer*innen der Studierendenbewegung von 2011. Für den zweiten Wahlgang hat sich die FA dazu entschieden, keine Wahlempfehlung für Alejandro Guillier abzugeben, betont aber, dass Piñera ein Rückschritt sei (siehe Interview in dieser Ausgabe).

“Egal wer am Ende gewinnt, ändern wird sich innerhalb dieses Systems nichts.”

Eine der stärksten Kräfte innerhalb des Bündnisses, die Izquierda Autónoma, hat ihre Unterstützung an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, u.a.: Schaffung einer kostenlosen öffentlichen Bildung, Abschaffung des fondsbasierten Rentensystems, die Schaffung von Branchengewerkschaften und eines echten Streikrechts, die Schaffung einer öffentlichen Krankenversicherung, Einführung eines Rechts auf Abtreibung sowie die Anerkennung von Trans*Personen. Auch Revolución Democratica, eine weitere starke Kraft innerhalb des Bündnisses entschloss sich dazu, die Unterstützung an diese Bedingungen zu knüpfen. Zweifel bleiben dennoch bestehen. Gabriel Boric, einer der Anführer der Studierendenbewegung von 2011 und eine der prominentesten Figuren der FA, stellte öffentlich die Frage, ob Guillier ein Fortschritt sei. Guillier entgegnet dieser Kritik: „Man macht nicht immer was man möchte, man macht was man kann und die Fortschritte, die in Chile gemacht wurden, sind bemerkenswert“ und sagt über den FA: „Sie sollten weder ihr Land noch die Anstrengungen ihrer Eltern geringschätzen.“

Dennoch scheint der Druck von links auf die Nueva Mayoría langsam Erfolge zu zeigen.
„Wir werden das CAE (Studienkredite mit Staatsbürgschaft, Anm. d. A.) abschaffen. Wir werden aber auch den verschuldeten Familien helfen, die die Kredite nicht zurückzahlen können und für die die CAE-Schulden ein Alptraum sind. Wir werden auch das Monopol der AFP beenden“, so erklärte Guillier auf einer Versammlung vor Anhänger*innen in Santiago. Mit diesem Reformankündigungen bleibt er allerdings weit hinter den Forderungen aus den sozialen Bewegungen und der FA zurück.

Polizist*innen vor einem Wahlbüro in Peñalolen, Santiago de Chile

Der Kandidat der Konservativen, Sebastián Piñera, hingegen macht im Wahlkampf vor allem damit von sich reden, dass er sich in eine Opferrolle begibt und im Stile europäischer Rechtspopulist*innen provoziert, um dann wieder zurückzurudern. So beklagt er, dass Teile der Regierung sich in den Wahlkampf einmischen würden und dass sein Gegenkandidat sich „aggressiv, sehr gewalttätig und diskreditierend“ verhalte. Gleichzeitig wird von konservativer Seite herbeigeschworen, dass mit Guillier Zustände „wie in Venezuela“ Einkehr halten würden. Die absurdeste Spitze war, als Piñera am 3. Dezember öffentlich erklärte, dass es im ersten Wahlgang für Guillier und Sánchez vormarkierte Wahlzettel gegeben habe. Nachdem er diese Behauptung weder belegen konnte noch justiziabel machen wollte, ruderte er mit seinen Anschuldigungen zurück und relativierte sie, genauso, wie bei den Anschuldigungen an die Regierung und dem Venezuela-Vergleich. Inhaltlich bewegt sich Piñera, einer der reichsten Chilenen, der sein Vermögen noch in der Militärdiktatur angehäuft hat, dahin wo der Wind weht. Kündigte er noch vor dem ersten Wahlgang an, mit ihm werde es keine kostenlose Bildung geben, da er nicht Politik für diejenigen mache, die am lautesten schreien, hat er sich nun bereit erklärt, die kostenlose Bildung auszubauen.
Auch wenn er sich mit politischen Inhalten zurückhält, bleibt bei vielen Chilen*innen die Sorge, dass Piñera die kleinen Fortschritte der Regierung Michelle Bachelets zurückdrehen wird. Unter anderem deswegen richten sich viele Organisationen vor allem gegen den Ex-Präsidenten. „Wir glauben, dass (Sebastián Piñera) ein unverschämter Kandidat ist, der seit Jahren gegen das Recht auf Bildung ist und sagt, dass Bildung ein Konsumgut sei“, so Daniel Andrade, Präsident der einflussreichen Föderation der Studierenden der Universidad de Chile FeCh. Auch deswegen hat der Studierendendachverband Confech dazu aufgerufen, „Piñera am 17. Dezember zu besiegen“. Ob dies gelingen wird, ist noch völlig offen. Umfragen sehen einen Vorsprung von zwei Prozent bei Piñera. Angesichts der Diskrepanz zwischen Wahlvorhersage und Wahlentscheidung im ersten Wahlgang twitterte Beatriz Sánchez allerdings: „Ich glaube ihnen weder heute … noch werde ich das morgen tun.“

 

TIEFE GRÄBEN

2017 ist Wahljahr in Chile. Am 19. November wird ein*e neue*r Präsident*in gewählt, und auch das Parlament sowie ein Großteil des Senats werden neu besetzt. Dabei ist völlig unklar, wer diesmal das Rennen macht: Wird es zum zweiten Mal seit Ende der Diktatur 1990 eine Regierung des Mitte-rechts-Bündnisses Chile Vamos geben, kann sich die Mitte-links-Koalition Nueva Mayoría durchsetzen oder eventuell sogar ein*e unabhängige*r Kandidat*in? Eine Vielzahl an Bewerber*innen hat sich bereits in Stellung gebracht. In den Vorwahlen im Juli könnte es heiße Debatten geben, denn die sozialen Probleme im Land sind groß und die Gräben, die sich zwischen Gesellschaft und politischer Klasse aufgetan haben, sind tief.

Das Vertrauen in die Regierung ist verschwunden.

Klar ist, dass Michelle Bachelet nicht erneut antreten kann, da die chilenische Verfassung keine direkte Wiederwahl zulässt. Selbst wenn sie es könnte, wäre ihre Wiederwahl mehr als fraglich: Ihre Zustimmungsrate von lediglich 20 Prozent (bei Amtsantritt 2014 noch rund 53 Prozent) liegt sogar unter der von Ex-Präsident Sebastián Piñera, der aufgrund seiner harten Haltung zu den Bildungsprotesten 2011 äußerst unbeliebt war. Das Vertrauen in die Regierung ist verschwunden – dabei wurden durchaus einige wichtige Reformen durchgesetzt. So beispielsweise die Abschaffung des binominalen Wahlrechts, das als Überbleibsel der Diktatur zur Bildung der zwei großen Parteienblöcke führte und somit das politische System des Landes nachhaltig lähmte.

Weiterhin wurden Veränderungen am Bildungssystem, eine der Forderung der Studierendenbewegungen 2011, sowie ein Gesetz zur Lockerung des Abtreibungsverbotes angestoßen. Auch die Finanzierung von teuren Medikamenten wurde durch ein Gesetz erleichtert, womit das chronisch unzureichende Gesundheitssystem entlastet wurde.

Die Autonome Bewegung sieht sich als Alternative zum Blocksystem der Parteien.

Doch all diese Errungenschaften der aktuellen Regierung scheinen zu verblassen. Einer der Gründe dafür ist der Korruptionsfall um Sebastián Dávalos, den Sohn Bachelets. Dieser soll seinen Einfluss ausgenutzt haben, um einen Kredit in Millionenhöhe für das Unternehmen Caval zu erwirken, welches zu 50 Prozent seiner Ehefrau Natalia Compagnon gehörte. Mit diesen Geldern wurden von Caval mehrere Grundstücke zur Bebauung in der Nähe der Stadt Rancagua erworben. Nun war Michele Bachelet zwar nicht direkt in diesen Fall verwickelt, doch dass sie von diesem Deal nichts wusste, glaubte ihr kaum jemand. Es wurde ihr außerdem zum Verhängnis, dass das politische Klima in Chile ohnehin durch mehrere bereits zuvor ans Licht gekommene Korruptionsfälle angeschlagen war (LN 491). Viele Vertreter*innen der politischen Elite des Landes, das einst als eines von wenigen Staaten Lateinamerikas von der Korruption weitgehend verschont geblieben schien, haben über Jahre in die eigene Tasche gewirtschaftet.. Etwa im Fall Penta, durch den Spendenzahlungen des gleichnamigen Unternehmens an Mitglieder der rechten Partei Unabhängige Demokratische Union (UDI) aufgedeckt wurden. Im Gegenzug wurden gefälschte Rechnungen ausgestellt, über die die Spenden steuerlich geltend gemacht wurden. Ähnlich, aber mit einer viel größeren Tragweite, war der Fall um das Bergbauunternehmen Soquimich, bei dem Bestechungsvorwürfe gegenüber Politikern fast aller großen Parteien erhoben wurden.

Kein Wunder also, dass sich einige in Bachelets Regierungsbündnis von ihrer Politik distanzieren. So der ehemalige Präsident Ricardo Lagos von der Partei für Demokratie (PPD), der in einem Radiointerview unter anderem die Einführung des hauptstädtischen Verkehrssystems Transantiago während der ersten Amtszeit Bachelets (2006–2010) kritisierte – dabei wurde das System hauptsächlich unter seiner Präsidentschaft (2000-2006) konzipiert. Auch José Miguel Insulza von der Christdemokratischen Partei (PDC), der sich einen Namen als Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gemacht hat, griff die Präsidentin frontal an, wobei er auf den Prozess der Verfassungsgebung unter Bürgerbeteiligung abzielte, der im September 2015 begonnen wurde. Beiden, sowohl Lagos als auch Insulza, werden Ambitionen auf das höchste Amt im Land nachgesagt.

Von dieser Seite des politischen Grabens, der das Land seit 27 Jahren durchzieht, droht ihnen Gefahr von Alejandro Guillier. Der 63-jährige aus Antofagasta, der als Unabhängiger im Senat sitzt, dabei allerdings von der Radikalen und Sozialdemokratischen Partei (PRSD) und somit von der Nueva Mayoría unterstützt wird, ist seit langem als Radiomoderator und Journalist bekannt. Auf ihm ruhen die Hoffnung derer, die zwar auf die marktwirtschaftliche Politik der Linken vertrauen, sich aber dennoch frischen Wind wünschen. Diesen will der charismatische Guillier bieten, der von sich selbst sagt, dass er ein Politiker des „Übergangs“ sei; von der bisherigen Politik seit dem Ende der Diktatur zu einer neuen, jungen Politik, die ihre Anfänge in der Student*innenbewegung von 2011 hat. Guillier führt die Umfragen noch vor Lagos und Insulza an und hat seine Kandidatur Mitte Januar offiziell angekündigt.

Für Chile Vamos hat sich Sebastián Piñera als Kandidat positioniert und erfreut sich momentan einer hohen Beliebtheit – in einigen Umfragen führt er sogar noch vor Guillier. Zwar wird ein endgültiger Kandidat erst in Vorwahlen bestimmt, doch gibt es bei den konservativen Parteien noch weniger erfolgsversprechende Politiker* innen als bei der Nueva Mayoría. Es scheint, als wäre der Einzige, der Piñera noch gefährlich werden könnte, er selber, denn auch er ist in einen Skandal verwickelt: Während seiner Amtszeit als Präsident 2010 investierte das Unternehmen Bancard, das seiner Familie gehört, in ein peruanisches Fischereiunternehmen. Dies ist deshalb brisant, weil genau zu diesem Zeitpunkt der Grenzverlauf zwischen Chile und Peru vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verhandelt wurde und Piñera somit über Insiderwissen verfügte. Das allein wird ihn vermutlich nicht die Kandidatur kosten, aber bis zur Wahl ist es noch lang, und schon ist die Rede von einer „Büchse der Pandora“, die sich durch diesen Fall geöffnet habe und noch mehr Verwicklungen zutage fördern könnte.

Die Verbindungen zwischen Politik und Geschäft ist nichts Neues in dem Land, das als Musterkind des Neoliberalismus gilt. Relativ neu ist die Korruption und die Verwicklung von Spitzenpolitiker* innen. Die andauernden Enthüllungen bestätigen den Bürger*innen nur einmal mehr, dass sich die Elite des Landes hauptsächlich um sich selbst kümmert. Bei vielen Themen – beispielsweise dem in der Diktatur privatisierten Rentensystem AFP, das immer wieder zu landesweiten Protesten führt (LN 507/508), oder dem unter Piñera eingeführten Fischereigesetz, das viele Fischer in die Prekarität treibt – fühlen sie sich im Stich gelassen. Auch bei Arbeitskämpfen wie den wochenlangen Streiks im Baumarkt Sodimac oder in der öffentlichen Verwaltung tritt die Politik bestenfalls als Unterstützerin der Arbeitgeberseite auf. Vielleicht ruht darauf die Popularität Guilliers, der sagt, dass „sich die Verbindung zwischen der politischen Klasse und den Menschen“ aufgelöst hat und somit ausspricht, was viele denken. Das Resultat sind entweder Proteste, die wie bei der letzten „No+AFP“-Demonstration am 4. November immer wieder in Gewalt enden, oder Resignation, wie sie sich in der niedrigen Wahlbeteiligung von lediglich 35 Prozent bei den letzten Kommunalwahlen manifestierte.

Die Ursachen für diese tiefen Gräben zwischen Gesellschaft und politischer Klasse sind weitreichend. Oft werden die wirtschaftspolitischen und sozialstaatlichen Maßnahmen während der Pinochet-Diktatur für diesen Bruch verantwortlich gemacht. Dies stimmt nur zum Teil, denn diese Maßnahmen hätten durch linke Regierungsmehrheiten seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 reformiert werden können. Vielmehr sind es die Bedingungen der Transition von Diktatur zur Demokratie selber, in denen viele die Gründe der Probleme des Landes wie Ungleichheit, gesellschaftlicher Zerfall, Urbanisierung, fehlender Gemeinsinn begründet sehen.

So spricht der Politikwissenschaftler Daniel Mansuy in seinem Mitte 2016 erschienenen Buch Nos fuimos quedando en silencio von der „Agonie der Transition“: das Erbe der Diktatur in Form des neoliberalen Marktmodells, eingerahmt in die Verfassung, führte zur Erstarrung der Politik und der Beibehaltung des Status Quo. Während die Mitte-links-Regierungen sich mit punktuellen Reformen zufrieden gaben, Markt und Politikmodell allerdings unangetastet ließen, verblieben die Mitte-rechts-Bündnisse durch das binominale Wahlsystem, welches ihnen ein proportionales Gleichgewicht garantierte, in einer passiven Opposition. Politiker*innen aller parlamentarischen Parteien profitierten davon, es herrschte ein „ewiger Konsens“. Diese Agonie ist der Grund dafür, dass die politische Elite „die Fähigkeit verloren hat, dem Gemeinwohl des Landes zu dienen“. Als möglichen Ausweg skizziert Mansuy unter anderem die Schaffung von bürgernahen „repräsentativen Institutionen“, welche „in der einen oder anderen Form eine Verbindung mit dem Alltagsleben bewahren“.

In diese Kerbe schlägt auch der Abgeordnete Gabriel Boric, wenn er sagt, dass „die heutige politische Krise ihre Wurzeln in der Trennung zwischen institutioneller Politik und der Gesellschaft“ habe. Die Verantwortung für die heutigen Probleme Chiles liege nicht nur bei der Pinochet-Diktatur, sondern auch bei den Regierungen der Transition, denn die Beibehaltung des ökonomischen und politischen Modells war eine „klare politische Entscheidung“. Es ist der 30-jährige Boric, der für die Region Magallanes in Südchile im Parlament sitzt und 2011 als einer der Anführer der Studierendenbewegung bekannt wurde, der für Hoffnung sorgt. Seine Autonome Bewegung (Movimiento Autonomista) ist in das breite Bündnis linker und unabhängiger Parteien Frente Amplio eingebettet und könnte eine der Institutionen sein, die Mansuy meint. Die Bewegung sieht sich als Alternativmodell zu dem als „Duopol“ bezeichneten Blocksystem, und mit dieser bewussten Abgrenzung sollen die Mehrheiten angesprochen werden, die sich von der bisherigen Politik ausgeschlossen fühlen. So distanziert sich Boric auch von Alejandro Guillier, mit dem ihn inhaltlich viel verbindet, dessen Unterstützung durch die Nueva Mayoría er allerdings für den falschen Weg hält. Einen eigenen Kandidaten hat das Bündnis bisher nicht ernannt, allerdings wird erwartet, dass dies in den nächsten Monaten geschieht.

Obwohl die Bewegung noch am Anfang steht, konnte sie bereits erste Erfolge erzielen: Boric’ Einzug in das Parlament 2013, die Wahl von drei Stadträt*innen in Antofagasta, Ñuñoa und Punta Arenas sowie der Sieg von Jorge Sharp bei der Bürgermeisterwahl in Valparaíso im Oktober 2016. Diese Wahl steht paradigmatisch für das Vorhaben der Bewegung: Der 31-jährige Sharp, der wie Boric aus dem äußersten Süden Chiles stammt, setzte sich überraschend deutlich mit 54 Prozent der Stimmen gegen die Kandidaten der beiden großen Parteiblöcke durch. Paradigmatisch ist auch das Motto der Kampagne: „Mit sauberen Händen holen wir Valparaíso zurück“; ein Slogan, der auf die undurchsichtigen Machenschaften der politischen Elite anspielt. Sein Vorhaben, die Ausgaben der Stadt zu senken und in notwendige Sozialmaßnahmen umzuleiten, begann er gleich nach Amtsantritt, indem er einen Vertrag für die Beleuchtung der Plaza Victoria im Zentrum der Stadt kündigte. Dieser wurde von seinem Vorgänger José Castro von der UDI für umgerechnet 385.000 Euro abgeschlossen – zu viel, urteilte die neu gewählte Stadtverwaltung und ließ einen neuen Vertrag für etwa ein Drittel der ursprünglichen Kosten abschließen. Neben dem Ziel der massiven Kostensenkungen kündigte Sharp an, mit Referenden, Versammlungen und Diskussionsveranstaltungen den Bürger*innen mehr Beteiligung am politischen Prozess zu ermöglichen. Die Erwartungen sind hoch, und es lässt sich nicht sagen, ob sich dieser Erfolg in der zweitgrößten Stadt bei den Wahlen im November wiederholen lässt. Weder Sharp noch Boric werden die über Jahrzehnte entstandenen Gräben im Land komplett schließen können, aber sie können, wie Sharp sagt, „frischen Sauerstoff, und somit ein Element der Hoffnung und der Erneuerung, in die politische Szene einführen“.

„WIR BRAUCHEN EIN NEUES GESELLSCHAFTSMODELL“


Fotos: Felipe Valenzuela

Sie sind einer der Hauptakteure der Autonomen Bewegung. Was waren die Gründe für die Schaffung einer linken Bewegung außerhalb des Parteienbündnisses Neue Mehrheit, der Nueva Mayoría?
Gabriel Boric: Wir glauben, dass die alten Wahrheiten, die dem duopolistischen Blocksystem Leben eingehaucht haben, Risse bekommen. Dieses System ist ein Produkt von Widersprüchen, die sich nicht länger verschweigen
lassen. Die traditionelle Politik ist in einen Wettbewerb um die Macht verfallen, welcher schmamlos durch große Unternehmer finanziert wird und immer mehr in die Illegalität verfällt. Außerhalb dieser Elite organisiert sich nun die Bürgerschaft, die immer weniger auf Rufe nach dem Motto „Die Nueva Mayoría nicht zu wählen bedeutet, eine Stimme für die Rechten“ hört. Die Herausforderung, die wir angenommen haben, ist es, der Empörung eine Stimme zu geben und in eine neue linke Politik umzusetzen, die regierungsfähig ist und gleichzeitig die Ansprüche der Mehrheiten widerspiegelt.

Gibt es bereits irgendein Vorbild für die Autonome Bewegung? Und was ist das spezifische Merkmal, das diese zum „chilenischen Modell“ macht?
Die Autonome Bewegung ist eine politische Strömung, die Elemente des Marxismus und des Anarchismus aufgreift. Sie fördert die Konstruktion einer partizipativen Demokratie, die über eine reine „Repräsentativität“ hinausgeht, strebt eine Horizontalität zwischen Staat und Gesellschaft an und berücksichtigt lokale Besonderheiten. Dabei werden „prefigurative“ Praktiken betont, also Praktiken, die eine angestrebte
Gesellschaft vorwegnehmen, ohne dabei zu erwarten, dass dieser Wandel unbedingt stattfindet. Das theoretische Fundament der Autonomen Bewegung liegt in den Werken von Gramsci und Negri.
In Chile trat diese Strömung erstmalig in den 1990er Jahren mit SurDa auf, einer universitären Gruppierung, die sich unter anderem auf die Erfahrungen der Bewegung der Revolutionären Linken (MIR) und der Unidad Popular bezog. Aber es wäre ein Fehler, lediglich auf die Vergangenheit der chilenischen Linken zu schauen. Wir beobachten auch Podemos in Spanien, die Frente Amplio in Uruguay und Bewegungen in verschiedenen anderen lateinamerikanischen Ländern. Dabei wollen wir deren Taktiken nicht einfach kopieren, sondern die Initiativen berücksichtigen, die wir in unserem eigenen Kontext anwenden können. Ich glaube, dass es von diesen Bewegungen viel zu lernen gibt, aber bereits der peruanische Intellektuelle Mariátegui sagte: „Kein Abklatsch und keine Kopie, sondern heroische Neuschaffung“.

Der Sieg von Jorge Sharp bei den Bürgermeisterwahlen in Valparaíso ist ein großer Erfolg für die Autonome Bewegung. Was waren die Hauptgründe für diesen Wahlsieg?
Die Einwohner Valparaísos haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, ihren Unmut zu kanalisieren und in ein politisches Programm umzusetzen. Wir haben im Juli 2016 in einer Organisation namens La Matriz, in der viele Bewegungen und unabhängige Nachbarschaftsgruppierungen vereinigt sind, Vorwahlen abgehalten. So schafften wir eine zutiefst demokratische Alternative, die die Sehnsüchte und Nöte der Einwohner von Valparaíso erkannten und aus der sich somit ein Raum für die zukünftige Veränderung Chiles ergibt.

Was sind die größten Probleme des Landes, denen diese neue Bewegung gegenübersteht?
Wir müssen entscheidende Schritte unternehmen, um nicht nur die dringende Umverteilung des Reichtums zu erlangen, sondern auch, um der Logik des Kaufens und Verkaufens zu entgehen. Dabei liegt die Priorität auf den
Sozialrechten, welche heute im Namen eines falschen „freien Marktes“ verletzt werden. Um diesen Wandel leisten zu können, müssen wir auf jeden Fall wieder Eigentümer unserer natürlichen Ressourcen sein und die
Fertigungsindustrie wieder aufbauen, die wir einst hatten. Es braucht sicher einen langen Atem, um unser Land zu einem freundlicheren und gerechteren Ort zu machen; mehr, als ich als Einzelner leisten kann. Es ist daher wichtig, dass gemeinschaftlich erarbeitete Vorschläge zustande kommen. Wir müssen aufhören zu erwarten,
dass die, die jahrzehntelang regiert haben, freiwillig diesen Wandel einleiten. Und anstatt in Hoffnungslosigkeit zu verfallen, sollten wir uns zusammensetzen, diskutieren und uns organisieren. Die Apathie der Massen, die sich durch die extrem niedrige Beteiligungen bei Wahlen ausdrückt, ist gerade das Ziel der dominierenden
Klasse. Für diesen Zweck werden wir einen offenen Parteitag abhalten, bei dem alle interessierten Personen teilnehmen können. Es ist egal, ob diese nun in einer Partei sind oder unabhängig oder bereits zu unserer Bewegung gehören. Wir wollen uns treffen, um gemeinsam zu diskutieren und zu handeln.

Die Autonome Bewegung ist explizit links. Wenn diese aber alle Bürger*innen ansprechen soll, dann muss sie auch mit Menschen sprechen, die nicht unbedingt eine linke Perspektive haben. Wie würden Sie auf diese Bürger zugehen?
Wir müssen dazu in der Lage sein, mit Kräften außerhalb der Linken zu sprechen: mit ökologischen Bewegungen, Bürgervereinigungen etc. Auch ist unser Aufstieg als politische Kraft nur außerhalb der Nueva Mayoría möglich. Wir wollen alle Sektoren einladen, die denken, dass wir über den Markt hinausblicken sollten,
um einen Modus zu definieren, in dem wir zusammenleben wollen. Der Markt kennt weder Schutz, noch Vorsicht, noch Rechte, noch Gerechtigkeit, noch Gleichheit. Letztlich brauchen wir ein neues Gesellschaftsmodell, und wir
glauben, dass sich viele an seiner Errichtung beteiligen werden, wenn wir erst politische Reife erlangt haben und Regierungsfähigkeit anbieten können.

Was ist Ihre Vision von einer emanzipatorischen Politik, die Rechte von marginalisierten Gruppen wie den indigenen Völkern, Homosexuellen, Migrant*innen oder auch Frauen einschließt?
Das herrschende neoliberale System hat unser soziales Gewebe zerstört und ist Feind der Vielfalt. Unsere indigenen Völker werden täglich Opfer von Landraub und Schikanen, und sie werden als Hürde für den „Fortschritt“ gesehen, oder genauer gesagt: für große Energie und Bergbauprojekte. Die Frauen und Homosexuellen wiederum sind das Ziel von inhärenter Gewalt in einer patriachalischen Gesellschaft, die das Maskuline verherrlicht und dieses über jede andere Form des Seins stellt. Am verletztlichsten aber sind die Immigranten, denn sie haben schlechteren Zugang zu Informationen und Kontakten, so dass sie das Risiko tragen, ausgebeutet und betrogen zu werden. Aber es gibt noch mehr Bereiche, die dafür bestraft werden, nicht „kompetitiv“ im Sinne der neoliberalen Logik zu sein: Schuldner, die Kredite für den Bau von Eigenheimen aufgenommen haben, Rentner, Studenten oder auch Kommunen, denen die Interessen von Konzernen aufgezwungen werden. Sie alle wollen ihre eigene Stimme, aber es ist wichtig, dass all diese Stimmen zusammen eine sehr starke Stimme bilden, die nicht mehr ignoriert werden kann.

MONOKULTUR ALS BRANDBESCHLEUNIGER

„Santa Olga ist abgebrannt,” der Bürgermeister der Gemeinde Constitución ringt um Fassung, als er die Nachricht in den frühen Morgenstunden des 26. Januars im Interview mit Radio Cooperativa überbringt. Der 5000- Einwohner*innen-Ort existiert nicht mehr, 1000 Häuser sind abgebrannt. Die Vernichtung des Ortes in der südlichen Region Maule markierte einen traurigen Höhepunkt der Katastrophe, zu der Präsidentin Michelle Bachelet erklärt, dass man „etwas diesen Ausmaßes nie zuvor in der Geschichte Chiles” gesehen habe. Bereits Anfang Januar gab es vermehrt Waldbrände in verschiedenen Regionen, in der Hafenstadt Valparaiso verbrannten mehr als 200 Häuser. Doch die Nachrichten verheerender, sich schnell ausbreitender Flächenbrände kamen am 17. Januar aus Pumanque in der Region O’Higgens, 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile. Innerhalb von zwei Tagen breitete sich das Feuer mit rasender Geschwindigkeit aus und geriet außer Kontrolle. Bald standen auch weite Teile der Regionen Maule, Bío Bío und La Araucanía in Flammen.

1600 Häuser wurden zerstört, mehr als 7000 Menschen sind betroffen.

Die Medienberichte zeigten ein Inferno, das selbst tausende Feuerwehrkräfte mit schwerem Gerät und zahlreiche Löschhelikoptern angesichts immer neuer Brandherde nicht unter Kontrolle bekamen. Erfolge bei der Löschung der größten Brände erzielten schließlich der sogenannte Super Tanker aus den USA mit einem 73000-Liter-Tank sowie El Luchín – das von Russland entsendete Löschflugzeug Ilyushin Il- 76.

Die Meldungen aus Pumanque führten zu einer Welle der Solidarität: Unzählige Freiwillige halfen, in dezentralen Anlaufstellen wurden Spenden gesammelt, Autokorsos brachten Hilfe zu den betroffenen Orten, Notunterkünfte wurden gebaut. Auch die internationale Hilfe kam schnell. Argentinien, Brasilien, Venezuela, Mexiko, Peru und andere lateinamerikanische Länder entsendeten Löschbrigaden. Expert*innen, Flugzeuge und Geld kamen aus Nordamerika, Südkorea, Japan, Frankreich und Deutschland. Erst Anfang Februar gab es offiziell keine neuen Brandherde mehr, doch noch immer waren nicht alle Brände gelöscht. Ein Fläche von 400.000 Hektar, so groß wie Baden-Württemberg, verbrannte innerhalb von zwei Wochen. Über 1600 Häuser zerstörten die Flammen, elf Menschen starben. Mehr als 7000 Menschen sind von der derzeitigen Katastrophe betroffen. Am heftigsten wüteten die Feuer in den Regionen, die ohnehin schon zu den ärmsten des Landes zählen.

Viele Waldbrände werden von Menschenhand verursacht: Entweder vorsätzlich oder fahrlässig. Die Fahndung nach vermeintlichen Brandstifter* innen begann schnell. Die Polizei konnte mehr als 40 Personen verhaften. Laut Präsidentin Bachelet könne bei einigen der Festgenommenen vorsätzliche Brandstiftung nicht ausgeschlossen werden.

Auch die Elektrizitätswerke sollen eine Mitschuld an den Bränden tragen. Der Staatsanwalt der Region O’Higgins, Emiliano Arias, geht davon aus, dass sich 15 Prozent der Brände in der Region durch Defekte an Leitungen entzündeten. Er leitete ein Verfahren gegen die Compañía General de Electricidad (CGE) ein. Sechs Mitarbeiter eines Subunternehmers der CGE wurden vorläufig festgenommen, weil sie während der Reparaturen an einer Stromleitung in Pumanque die Brände entzündet haben sollen. Parallel dazu wurde ein Verfahren gegen einen leitenden Angestellten eingeleitet. Das Unternehmen stritt jegliche Verantwortung ab.

Die rechts-konservative Opposition überschüttete indes die amtierende sozialdemokratische Regierung mit Schuldzuweisungen. Ex-Präsident Sebastian Piñera, der bei den Präsidentschaftsvorwahlen für das rechts-konservative Parteienbündnisses Vamos Chile kandidieren wird, leitete mitten in der Katastrophe den Wahlkampf ein: Über Twitter kritisierte er das angeblich zu späte Handeln der Regierung, suggerierte Unfähigkeit im Katastrophenschutz und beklagte den angeblichen Ausschluss von oppositionellen Bürgermeistern bei der Katastrophenbekämpfung. Weitere Angriffe kamen von Bürgermeistern und Senatoren der Opposition. Rückendeckung kam hingegen vom früheren sozialdemokratischen Präsidenten Ricardo Lagos und sogar vom linken Abgeordneten Gabriel Boric, der twitterte: „Das ist nicht der Moment für politische Spielchen. Die Präsidentin hat meine ganze Unterstützung bei der Bekämpfung der Katastrophe.”

Trotz der demonstrativ unter Beweis gestellten Handlungsfähigkeit und den zugesagten Soforthilfen in Millionenhöhe spitzen die Brände die Regierungskrise weiter zu. Die ohnehin schon schlechten Umfragewerte von Bachelet sanken laut den wöchentlichen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Cadem nochmal um einige Prozentpunkte auf nur noch 19 Prozent Zustimmung.

Umwelt-Expert*innen, unabhängige Medien und soziale Bewegungen sehen, entgegen der institutionellen Politik und großen Medien, einen anderen Hauptgrund für die Ausbreitung der Waldbrände: Die expansive monokulturelle Bewirtschaftung mit Pinien und Eukalyptusbäumen, die native Baumarten über Jahrzehnte größtenteils verdrängt haben. Die Bäume gelten als Brandbeschleuniger, die Feuer überleben können. Zudem saugen sie Wasser auf und lassen Böden errodieren. Die durch den Klimawandel ansteigenden Temperaturen, die zunehmende Desertifikation und die hohe Brennbarkeit der Bäume führen zu sich schnell ausbreitenden großen Flächenbränden. Die Baumplantagen in Chile bestehen inzwischen zu fast 70 Prozent aus Pinien und zu über 20 Prozent aus Eukalyptusbäumen – und konzentrieren sich in den Regionen, die am stärksten von den Bränden betroffen sind. Bereits im November 2016 haben die Bewohner*innen dieser Regionen öffentlich den starken Rückgang des Wassers beklagt.

Die expansive monokulturelle Bewaldung ist im Dekret 701 gesetzlich verankert. Das 1974 während der Diktatur verabschiedete Dekret schreibt die staatliche Förderung expansiver Baumpflanzung durch steuerliche Vergünstigungen und staatliche Subventionen fest. Die größten Profiteure sind die beiden großen Unternehmensgruppen und Familienclans Matte und Angelini, die zusammen zwei Millionen Hektar Land besitzen. Eukalyptus und Pinien wachsen schnell und lassen sich zu Zellulose verwerten. Der Absatz von Zellulose ist enorm gestiegen, Chile belegt weltweit den neunten Platz. Die Hauptexporteure von Zellulose in Chile sind Angelini mit dem Tochterunternehmen Arauco und Matte mit dem Unternehmen CMPC. An der Bekämpfung der Waldbrände beteiligten sich die Unternehmen erst Ende Januar nach einem Krisentreffen mit der Präsidentin.

Allerdings formiert sich Protest gegen die Protegierung des Forstwirtschaftsmonopols. Ein breites Bündnis aus mehr als hundert Organisationen fordert die Abschaffung des Dekrets 701, ein Ende der Privilegierung der Großunternehmen und eine gründliche Untersuchung der Verantwortung der großen Forstunternehmen für die Brände. Ende Januar übergaben Sprecher* innen des Bündnisses einen offenen Brief an die Regierung, in dem auch die Untersuchung von möglichen Brandstiftungen durch die Unternehmen selbst, etwa um Versicherungssummen zu kassieren, gefordert wird. Aus dem Bündnis wird auch institutionelle Kritik an der Forstbehörde Conaf laut, die zwar dem Agrarminsterium zugeordnet, aber privatrechtlich organisiert ist. Gefordert werden dagegen staatliche Programme, die grundlegend den Schutz der Umwelt garantieren.

Präsidentin Bachelet versprach Anfang Februar per Twitter eine Gesetzesvorlage einzubringen. um eine staatliche Forstbehörde zu schaffen und die Conaf, die auch wegen fragwürdigen Auftragsvergaben kritisiert wird, zu ersetzen. Ob ihr dies in den acht Monaten bis zu den Wahlen gelingen wird, bleibt fraglich.

Die Folgen der Katastrophe und der Wiederaufbau werfen zudem weitere grundsätzliche Probleme auf. Das Zentrum für Sozioökonomische Auswirkungen von Umweltpolitik (CESIP) fordert, die Folgen der Brände hinsichtlich verschiedener sozialer Aspekte, wie zum Beispiel den Anstieg ländlicher Armut, zu analysieren um entsprechende politische Maßnahmen ergreifen zu können. „In den Gebieten, die am stärksten betroffen sind, bildet der Zugang zu natürlichen Ressourcen einen großen Teilen der sozioökonomische Lebensgrundlage,” so die CESIP. Doch kurz vor den Wahlen braucht es schnelle Versprechen: Michelle Bachelet kündigte an, Santa Olga innerhalb eines Jahres wiederaufbauen zu wollen und benannte eine Person für die Koordination. Abgesehen von der geringen Erfolgsaussicht des Unterfangens zeigt sich darin die Fortsetzung einer Politik, die ihre Aufgabe lediglich darin sieht, die Menschen mit einem „Dach über dem Kopf” zu versorgen. Diese Aufgabe wird in Chile mittels staatlicher Subventionen an private Bauunternehmen delegiert – auch dies ein Erbe der Diktatur. Die Erfahrungen aus dem Erdbeben 2010 und den weitgehend folgenlos gebliebenen Kämpfen für einen gerechten Wiederaufbau zeigen, dass diese Politik die ohnehin zunehmenden sozialen Probleme noch weiter zu verschärfen droht.

ROTE ERDE

Mitte Dezember fuhr der 13-jährige Isaías mit seinem Fahrrad die Straße von Collipulli in der südchilenischen Region La Araucanía entlang. Mit ihm unterwegs war sein Bruder, der 17-jährige Brandon. Collipulli ist Mapudungún, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie rote Erde – wenig später wurde der Name bittere Realität. Ein Stück weiter die Straße runter trafen sie auf eine Gruppe Polizist*innen, die gerade dabei war, die Insassen eines Fahrzeugs zu kontrollieren. Einer der Polizisten hielt Isaías fest, der erschreckt zu schreien begann. Sein Bruder Brandon kam dazu, aber der Polizist hielt auch ihn fest, warf ihn zu Boden und schoss ihm aus einem halben Meter Entfernung mit einer Schrotflinte Kaliber 12 in den Rücken. Normalerweise ist ein Schuss aus dieser Entfernung tödlich, wochenlang musste Brandon im Krankenhaus behandelt werden.

Der Polizist Cristian Rivera, der auf Brandon geschossen hat, ist nach wie vor im Dienst. Von seinen Kolleg*innen wird er gedeckt, bei der Polizei spricht man von einem Unfall. Brandons Mutter, Ada Huentecol, glaubt das nicht. „Ich habe eine Erklärung verlangt und sie sagten mir, es sei ein Unfall gewesen. Aber wieso haben sie denn auf ihn geschossen, wenn er schon am Boden lag? Meine Söhne sind keine Verbrecher. Ich bin wirklich wütend!“ Das Institut für Menschenrechte in Chile (INDH) erstattete im Januar Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

Die Liste der gewaltsamen „Zwischenfälle“ in jüngster Zeit ist lang. Die Territorien der indigenen Mapuche, die ihre Autonomie südlich des Bío-Bío-Flusses über die gesamte Kolonialzeit bewahren konnten, wurden erst in der sogenannten „Pacificación de La Araucanía“ 1861 von Chile besetzt. Damals verteilte der Staat das Land an weiße Siedler*innen. Viele Mapuche verlangen, dass der chilenische Staat ihrem Volk gegenüber seine historische Schuld begleicht. Von den verschiedenen Regierungen Chiles fühlten sie sich immer wieder hintergangen. Bei den vielen lokalen Konflikten geht es meist um die Rückgabe oder Schutz von indigenem Territorium, das sich heute in Privatbesitz befindet und für die Energie-, Forst- und Agrarwirtschaft genutzt wird oder genutzt werden soll. Neben Demonstrationen und Protesten versuchen die Mapuche ihren Forderungen auch mit Landbesetzungen und Brandanschlägen auf Fahrzeuge und Maschinen der Unternehmen Nachdruck zu verleihen. Die Regierungen reagierten darauf mit Repression, sodass sich der Konflikt zusehends verschärfte.

Das Institut für Menschenrechte erstattete Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

In jüngster Zeit häufen sich wieder die Zwischenfälle: In Ercilla stürmten Ende Januar über hundert Polizist*innen mit gepanzerten Fahrzeugen, die Tränengas versprühten, eine Mapuche-Gemeinde während einer kulturellen Feier. Für die Aktion gab es keinen richterlichen Beschluss. Die Polizist*innen schossen auf die Anwesenden und nahmen elf Personen fest, darunter fünf Minderjährige und zwei Neugeborene, wie ein anwesender Reporter von werken.cl berichtete.

In Freire, südlich der Stadt Temuco, nahmen Sicherheitskräfte Mitte Januar bei einer weiteren Personenkontrolle drei Mapuche-Frauen wegen Störung der öffentlichen Ordnung fest, eine von ihnen war minderjährig. Die Anwältin der Frauen, Manuela Royo, erklärte gegenüber Radio Villa Francia, Polizist*innen hätten die drei geschlagen, beleidigt und ihre Waffen auf sie gerichtet, auch nach der Festnahme, im Inneren des Polizeiautos: „Die Situation dort war extrem gewalttätig, die Polizisten wollten insbesondere der Jüngsten Angst einjagen. Auch die Informationen über ihren Aufenthaltsort wurden über mehrere Stunden zurückgehalten. Die Frauen wurden mittags festgenommen und tauchten erst wieder gegen 18 Uhr auf der Polizeistelle in Temuco auf. Die Polizei hat sie geschlagen und einer der Frauen den Arm umgedreht, das verstehen wir ganz klar als Folter.“

In Tirúa, etwa 150 Kilometer westlich von Collipulli in der Region Bío Bío schossen Polizisten Ende Dezember auf ein Fahrzeug mit einer Gruppe unbewaffneter Mapuche. Zwei der Insassen wurden von den Kugeln getroffen und schwer verletzt. Nach Angaben von Radio Villa Francia behauptet die Polizei, das Auto hätte trotz Aufforderung der Beamt*innen nicht gehalten, woraufhin diese das Feuer eröffnet hätten. Isaac Neculqueo, Präsident der indigenen Gemeinschaft, versicherte jedoch das Gegenteil: „So eine Polizeikontrolle hat niemals stattgefunden, die Polizisten haben aus dem fahrenden Auto geschossen und sind dann abgehauen.”

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Durch die hohe Polizeipräsenz und die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer. Laut einem Polizeibericht des vergangenen Jahres sind allein in der Region La Araucanía knapp 1400 Polizist*innen stationiert und 50 gepanzerte sowie über 90 halbgepanzerte Fahrzeuge im Einsatz. Neben den ständigen Personenkontrollen werden auch geheimdienstliche Aktionen durchgeführt und raumbezogene Datenverarbeitungssysteme wie Radaranlagen, Drohnen, Flugzeuge und Helikopter eingesetzt. Mit dem Schutz der Bevölkerung hat das erhöhte Polizeiaufgebot jedoch nichts zu tun. Es dient in erster Linie dem Schutz von Unternehmen. Im Süden Chile existieren 77 große Forstindustrieanlagen in drei Regionen: 47 in Los Ríos, sieben in La Araucanía und 23 in Bío Bío. 15 stehen unter dauerhaftem Polizeischutz. Neun davon gehören zu Forestal Mininco. Das Unternehmen ist Teil der Matte-Gruppe. Matte ist eine der einflussreichsten Familien Chiles. Der Konzern steht unter  dem Verdacht der Korruption und Preisabsprache und gilt als wichtiger Akteur, der maßgeblich den Konflikt mit den Mapuche polarisiert.

Durch die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer.

Auch juristisch geht der chilenische Staat gegen die Indigenen des Landes vor. Ein emblematischer Fall ist der der Machi (Heilerin und religiös-spirituelle Autorität) Francisca Linconao, die sich neun Monate in Untersuchungshaft befand. Ihr wird vorgeworfen, an einem Brandanschlag auf das Anwesen der Familie Luchsinger im Januar 2013 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Großgrundbesitzer*innen Werner Luchsinger-Mackay und seine Frau Vivianne Mackay ums Leben kamen. Das Ehepaar befand sich seit Jahren in direkter Konfrontation mit den indigenen Gemeinden der Zone, Francisca Linconao war daran jedoch nicht beteiligt. Sie streitet ab, etwas mit den Geschehnissen zu tun zu haben und die Beweislage gibt ihr recht. Die Beweise, die die Staatsanwaltschaft vorbrachte, waren nicht nur nicht ausreichend, sondern stützten sich auch auf falsche und unter Folter erbrachte Zeugenaussagen. Im Umfeld der Machi glaubt man, dass man sie mit dem Fall in Verbindung bringen will, um Rache dafür zu nehmen, dass sie sich seit Jahren unermüdlich für die Rückgabe ehemalig indigenen Territoriums an die Mapuche-Gemeinden einsetzt. Und sie ist kein Einzelfall: 2014 wurde bereits der Machi Celestino Córdova im Fall Luchsinger-Mackay nach einseitigen Ermittlungen und einer zweifelhaften Beweislage wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Dass auch die Machi Francisca Linconao trotz mangelnder Beweise einem so langen Freiheitsentzug ausgesetzt wurde, liegt am chilenischen Anti-Terror-Gesetz aus Diktaturzeiten. Es räumt der Staatsanwaltschaft umfangreiche Möglichkeiten bezüglich Ermittlung und Anklage ein, wenn es sich um des Terrorismus Verdächtige handelt. „In der Region Araucanía herrscht ein anderes Recht. Eines, das auf Mapuche und ihre Anführer*innen angewendet wird und demzufolge die Staatsanwaltschaft keine Beweise für begangene Verbrechen vorlegen muss, um Angeklagte einsperren zu lassen. Es reicht, sie anzuklagen. Der Angeklagte und seine Verteidigung müssen dann die Unschuld des Angeklagten beweisen. “Verkehrte Welt“, schrieb der unabhängige Abgeordnete und Mitglied der Menschenrechtskommission Gabriel Boric in einem offenen Brief.

Bereits vor drei Jahren verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof (CIDH) den chilenischen Staat für begangene Menschenrechtsverletzungen am Volk der Mapuche. Die chilenischen Gerichte hätten das Legalitätsprinzip und das Recht auf Unschuldsvermutung in mindestens acht Fällen verletzt, so der Gerichtshof in San José, Costa Rica. Dennoch erlebt die Machi Francisca Linconao heute wieder genau das. Zwar konnte sie mit einem 14-tägigen Hungerstreik kürzlich bewirken, dass die vorbeugende Haft in einen Hausarrest umgewandelt wurde, aber der eigentliche Prozess steht noch aus. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes scheint keinerlei Effekt gehabt zu haben.

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