DIE GRENZEN DER SYMBOLPOLITIK

Neue Signale Präsident Gabriel Boric bei einer indigenen Zeremonie (Foto: Prensa Presidencia, Gobierno de Chile)

Am 15. März 2022, nur vier Tage nach Amtsantritt, reiste die neue Innenministerin Izkia Siches ins Wallmapu, in die Städte Temuco und Ercilla. In der Nähe von Ercilla wollte sie sich mit Marcelo Catrillanca, dem Vater des 2018 von Polizisten erschossenen Camilo Catrillanca, treffen. Bei der Fahrt in die Mapuche-Gemeinde Temucuicui kam die Karawane der Ministerin ins Stocken: Ein brennendes Auto versperrte den Weg und aus der Ferne fielen Schüsse. Die Wagen kehrten um und Siches verschanzte sich mit ihrer Begleitung im Polizeiposten von Ercilla, dort fand schließlich auch das Gespräch mit Catrillanca statt.

Neben dem Besuch der Ministerin hat die neue Regierung in kurzer Zeit bereits weitere Zeichen auf symbolischer Ebene gesetzt: Gabriel Boric nahm anlässlich seiner Amtseinführung neben einem Gottesdienst auch an einer indigenen Zeremonie teil und sprach seitdem von den „Völkern Chiles“. Seine Minister*innen begrüßen derweil teilweise bei Ansprachen in Mapudungun, der Sprache der Mapuche, und benutzen für ihr Gebiet die Eigenbezeichnung Wallmapu. Die neue Ministerin für staatliche Güter, Javiera Toro, sprach gegenüber der Zeitung La Tercera von einer historischen Schuld des Staates und einer Pflicht, Ländereien zurückzugeben – auf welche Ländereien sie sich bezieht und wie das gemacht werden soll, ließ sie dabei noch offen.

Parallel dazu geht der derzeit tagende Verfassungskonvent wichtige Schritte in Richtung einer neuen Beziehung des Staates mit den Indigenen: Ihnen soll zum Teil territoriale und juristische Autonomie gewährt werden und Chile würde fortan als plurinationaler Staat bezeichnet.

Auch in der Sicherheitspolitik gibt es neue Töne: Gleich nach der Amtsübernahme vom 11. März kündigte die neue Regierung an, den bislang geltenden Ausnahmezustand im Wallmapu nicht zu verlängern. Am 26. März endete damit die über zweijährige Militärpräsenz in der sogenannten „Makrozone Süden“, dem Gebiet, in dem sich die Mehrzahl der Aktivitäten von militanten Mapuche-Organisationen konzentriert und das aus der Región de la Araucanía und der Provinz von Arauco besteht. Dieser Landstrich wurde bis zur Eroberung durch die chilenische Armee Ende des 19. Jahrhunderts von Mapuche kontrolliert .

Im März 2020 schickte die rechte Regierung unter Sebastián Piñera erstmals seit der Diktatur wieder Militär in die Region, damals unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung. Als im September 2021 der coronabedingte Ausnahmezustand beendet wurde, bat sie das Parlament um einen speziellen Ausnahmezustand für die besagten Gebiete. Der angebliche Grund war in diesem Fall der „Terrorismus“ von militanten Mapuche-Organisationen. Seit Jahren kommt es im Wallmapu zu Brandanschlägen. Diese treffen meist Forstunternehmen und zum Teil auch Häuser von Siedler*innen, die auf historischem Gebiet der Mapuche ihre Häuser bauen. Hinter den Anschlägen stehen verschiedene militante Organisationen, die längst angekündigt haben, ihre Aktivitäten auch unter Boric fortzusetzen.

Das Problem beim Militäreinsatz war allerdings, dass dieser kaum zu einer Reduzierung der Anschläge führte. Vielmehr sorgten die Soldaten für Unsicherheit: Erst im November 2021 schossen sie bei einem Kontrollposten auf die wartende Menge, töteten dabei einen Mapuche und verwundeten dutzende weitere Passant*innen. Angeblich wurden die Soldaten aus dem Hinterhalt angegriffen, Beweise wurden aber nie vorgelegt.

Für den Mapuche Eduardo Curin ist der Rückzug des Militärs ein wichtiges Zeichen. Er sagt am Telefon gegenüber LN: „Die Regierung zeigt damit, dass sie den Konflikt in seiner politischen Dimension angehen will und nicht durch polizeiliche Maßnahmen“. Curin ist Mapuche und Teil der Bewegung Xawn de Temucuicui, die sich nach der Ermordung von Camilo Catrillanca im Jahr 2018 (LN 535) gründete. Doch gelöst ist der Konflikt durch den Abzug des Militärs nicht. Denn eigentlich gehe es um politische und historische Forderungen, die letztmals im Jahr 2018 von der Xawn dem chilenischen Parlament überbracht wurden, so Curin. Geschehen ist seitdem nichts.

Am Tag nach dem gescheitertem Besuch von Izkia Siches sprach die chilenische Onlinezeitung Interferencia mit dem Lonko Víctor Queipul Huaiquil, der indigenen Autorität von Temucuicui. Queipul kritisierte den improvisierten Besuch und machte klar, dass ohne konkrete politische Zusicherungen kein Gespräch stattfinden würde. Auch Curin unterstützt diese Aussagen. „Wir haben im Jahr 2018 klar gemacht, um was es uns geht: Befreiung der politischen Gefangenen, Rückgabe aller Ländereien und eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung begangener Verbrechen“.

Seit den 1990ern läuft in der Araucanía ein Landrückgabeprojekt. Von der Mitte-Links-Koalition Concertación Por la Democracia begonnen, die vor Sebastián Piñera regierte, werden Ländereien gekauft und an Mapuche übergeben, die beweisen können, dass ihnen Ländereien geraubt wurden.

„Die Regierung zeigt, dass sie den Konflikt politisch angehen will“

Der Historiker Martin Correa erklärt gegenüber LN: „Wenn die Regierung von Ländereien spricht, geht es um die Rückgabe der Reservate“. Also Gebiete, in welche die Mapuche nach der Eroberung durch den chilenischen Staat vertrieben wurden, für die sie Besitztitel bekamen, die sogenannten Títulos de Merced. Correa merkt dazu an: „Die Títulos de Merced waren eine Strafe, wie kann eine Strafe die Lösung für einen Konflikt sein?“

Für die Mapuche geht es daher um viel mehr. Correa erzählt, viele Gemeinschaften hätten in ihrem kollektivem Gedächtnis weiterhin Klarheit über ihre ursprünglichen Gebiete. „100 Jahre scheint viel, aber eigentlich sind es nicht mehr als zwei Großväter“. Und so wissen viele Gemeinschaften bis heute, wo sich beispielsweise ihre damaligen Friedhöfe befinden, die inzwischen meist innerhalb von riesigen Forstplantagen liegen. Es müsse also darum gehen, alle ursprünglichen Ländereien zurück zu bekommen.
Das einzige Mal, als sich eine Regierung daran gemacht hat, das Problem der Ländereien grundlegend zu lösen, war während der Landreform unter Salvador Allende, schildert Correa. Damals setzte die Regierung gezielt auf die Rückgabe und den Schutz der Ländereien der Indigenen.

Doch der darauf folgende Militärputsch setzte dem ein Ende. „Die Ländereien wurden für Spottpreise an Forstunternehmen verkauft und die Mapuche ein weiteres Mal vertrieben,“ erzählt Correa. Heute sind die Gebiete erneut in der Hand der lokalen Oligarchie, die nicht nur in politischen Positionen, sondern auch in der Staatsanwaltschaft und in Gerichten vertreten ist. Der Putsch wurde unter anderem ausgelöst, da die Landreform die Basis der chilenischen Oligarchie angriff.

Boric muss mit heftigem Widerstand von Seiten der Oligarchie rechnen

Die heutigen Forstplantagen sorgen derweil für immense Umweltprobleme: Die angepflanzten Eucalyptusbäume verschärfen die herrschende Trockenheit, während der massive Einsatz von Pestiziden, unter anderem Glyphosat, die Quellen der anliegenden Bevölkerung verseucht.

Die Concertación versuchte dieses grundlegende Problem durch den Kauf einiger weniger Ländereien zu Marktpreisen zu umgehen. Gleichzeitig wurden militante Mapuche juristisch verfolgt.

Die Rechtsanwältin Karina Riquelme verteidigte bereits in vielen Fällen verfolgte Mapuche. Gegenüber Interferencia spricht sie von einem rassistischen Justizapparat, der Großgrundbesitzer*innen verteidige und Mapuche verfolge. Verschiedene Beispiele der nahen Vergangenheit zeigten, wie die Polizei zum Teil in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Gerichten gezielt Mapuche verfolgte. Im größten Skandal der letzten Jahre, im Fall Huracán, wurden Beweise gefälscht, gezielt Personen überwacht und in Untersuchungshaft gesteckt (LN 526).

Das Rechercheportal Ciper deckte diesen Monat auf, dass im Zusammenhang mit dem Fall Huracán auch Rechtsanwält*innen, Politiker*innen und Kulturschaffende belauscht wurden – Karina Riquelme war selbst unter den Abgehörten.

Derzeit läuft ein Verfahren gegen die Verantwortlichen. Riquelme kritisiert, dass das Gericht die Termine immer wieder verschoben hat und den Verteidigern deutlich mehr Zeit einräumt, als in Fällen, in denen sie Mapuche vor Gericht verteidigt. „Uns wurde im Fall des Angeklagten Celestino Cordova nur 20 Tage Zeit gegeben, um die Akten zu studieren“, sagt sie. Im Fall der Aufklärung von Huracán sind es mehr als zwei Monate.

Riquelme meint, dass aufgrund solcher Fälle jegliches Vertrauen in die Justiz fehle. „In den Augen vieler Mapuche gibt es nur einen Staat und alle seine Institutionen sind Teil des Gleichen“, so Riquelme. Daher gäbe es auch kein Vertrauen in staatliche Akteure, auch wenn sie einer neuen Regierung angehören. Sie vertreten einen Staat, der sie über Jahre unterdrückt hat.

Die Rechtsanwältin warnt daher gegenüber Interferencia: Sofern Boric den Justizapparat reformieren will, müsste er mit heftigem Widerstand seitens der Oligarchie rechnen. Gleichzeitig würde ein „Weiter so“ bei der bisherigen Praxis der Staatsanwaltschaft Annäherungsversuche der Regierung deutlich erschweren oder gar blockieren.

Auch Mapuche Curin bleibt daher kritisch: „Ich glaube nicht, dass ein jahrhundertelanger Konflikt innerhalb von vier Jahren gelöst werden kann.“ Außerdem meint er, dass abseits der symbolischen Schritte ein Konflikt innerhalb der Regierung herrsche: „Es gibt viele Berater, die aus der Concertación stammen und weiterhin deren Logik verfolgen.“ Als Beispiel erwähnt Curin die Aussagen von Innen-Staatssekretär Manuel Monsalve (Sozialistische Partei), der nach dem Vorfall von Ercilla meinte, die Waffenkriminalität mancher Mapuche solle mit aller Härte verfolgt werden und sei nicht Teil der legitimen politischen Forderungen.

Curin verteidigt eben diese Gewalt: „Man hat uns immer wieder Zusagen gemacht und diese nicht erfüllt. Ich kann verstehen, wenn manche zur Erfüllung der Forderungen zu den Waffen greifen“.

So lange die Regierung also nicht auf diese Forderungen eingeht, wird sich die Bewegung der Mapuche weiter radikalisieren und weitere Rufe nach militärischer Repression seitens der Unternehmen nach sich ziehen. Doch um die Forderungen der Mapuche-Bewegung zu erfüllen, braucht es mehr als Ansprachen auf Mapudungun. Während Karina Riquelme von einer Reform des Justizapparats spricht, würde eine Rückgabe der Ländereien auch eine Vertreibung von Siedler*innen und Forstunternehmen bedeuteten – auch hier wäre Widerstand vorprogrammiert. Inwiefern die Regierung diese immense Herausforderung angehen will, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.

„FÜR DAS LEBEN, DAS SIE UNS SCHULDEN“

“Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester” Der 8M-Demonstrationszug auf der Alameda (Foto: Josefa Jiménez)

«Manchmal reicht ein einziger Tag oder ein einziges Symbol aus
um zu verstehen, dass alles politisch ist; dass alles 
äußerst politisch für die Frauen ist. Und dann werden wir
uns vielleicht eines Tages alle wieder treffen und lernen,
wie wir unsere künftigen Alleen füllen.»
Julieta Kirkwood (chilenische Soziologin und
feministische Aktivistin, 1936-1985)

Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie, am 8. März 2022, versammelten wir uns wieder: Tausende von Frauen protestierten in den Straßen Lateinamerikas und füllten die Alleen. In Chile steht dieser 8. März im feministischen Kontext der vergangenen Jahre. Dazu gehört nicht nur die Pandemie, sondern auch die im Oktober 2019 von Schüler*innen begonnene Revolte und der feministische Mai im Jahr 2018, als Studierende ein Ende der sexuellen Belästigung von Frauen und der Vertuschung dieser in den Bildungseinrichtungen forderten (siehe LN 528).

Der März ist in Chile immer ein wichtiger Monat für die Politik und die sozialen Bewegungen, weil nach der Sommerpause Arbeits- und Schulalltag wieder anlaufen. In diesem Jahr begannen gleichzeitig die letzten Tage von Präsident Sebastián Piñera im Amt. Er gilt als der schlechteste Präsident Chiles seit der Rückkehr zur Demokratie.

Die systematischen Menschenrechtsverletzungen, vor allem die Gewalt gegen Studierende, Professor*innen und Arbeiter*innen während der Revolte (siehe LN 547), haben gezeigt, wie unfähig Piñera war, zu regieren. Sie haben außerdem klar gemacht, dass er ökonomische Interessen über das Leben, die Gesundheit, Arbeit, Bildung und Würde stellt. Genau deshalb lautet das Motto, das wir Feministinnen für diesen 8. März gewählt haben: Vamos por la vida que nos deben („Setzen wir uns für das Leben ein, das sie uns schulden“). In diesem Rahmen haben wir unseren Nicht-Präsidenten Piñera am 7. März mit der Aufführung der Performance „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ des chilenischen Kollektivs LasTesis vor dem Präsidentenpalast La Moneda verabschiedet.

Am Nachmittag des 8. März stehe ich auf der Alameda, der zentralen Verkehrsader von Santiago de Chile. Die Demonstration soll um 17.30 Uhr losgehen und vier Kilometer von der Plaza Dignidad bis zur Straße Echaurren ziehen. Schon um 16 Uhr sind in dieser Gegend der Stadt Hunderte Frauen verschiedener Generationen auf den Straßen. Zuvor haben einige von ihnen vor Frauengefängnissen demonstriert, darunter auch Fabiola von der Frauenkooperative Manos Libres. Sie erzählt: „Am 6. März haben wir mit unterschiedlichsten feministischen Organisationen zum dritten Mal zu einer Kundgebung vor dem Frauengefängnis von San Joaquín aufgerufen. Es ging uns auch um eine dringende basisfeministische Positionierung gegen den Kapitalismus, die Gewalt des Staates und die politische Verfolgung aller, die kämpfen. Denn das Gefängnissystem ist ein patriarchales System und der Kampf hört erst dann auf, wenn wir alle frei sind“. Andere Frauen, die sich für das Recht auf ein Wohnen in Würde einsetzen, haben Straßen blockiert. Feministische Gruppen verteilen Zeitungen und Infomaterial über den 8. März und geschlechtsspezifische Gewalt. Unterschiedlichste Frauen demonstrieren an diesem Tag gemeinsam für ein Ende der sexualisierten patriarchalen Gewalt.

„Wir sind als Frauen und Arbeiterinnen zu dieser 8. März-Demo gekommen“, erzählt Verónica González. Sie ist Teil der Versammlung selbstorganisierter Arbeiterinnen des chilenischen Statistikinstituts INE. „Wir alle erleben die Ungerechtigkeiten, die es in unserem Land, in unserer Gesellschaft gibt. Dazu gehören zum Beispiel die ungleich verteilte Care-Arbeit und die daraus folgende doppelte Arbeitsbelastung für Frauen. Wir als Angestellte des Statistikinstituts wissen, welche Bedeutung eine geschlechtsspezifische Perspektive auf unsere Arbeit hat: Wir selbst erstellen Statistiken über Prekarisierung und die Feminisierung bestimmter Arten von Arbeit.“

Die wichtigsten Forderungen, die von den Universitätsbesetzungen im feministischen Mai 2018 und von der Revolte 2019 ausgingen, werden auch an diesem 8. März auf die Straßen getragen. Sie lauten: „Abtreibung ja, Abtreibung nein, das entscheide ich“, „Wir brauchen dringend eine feministische und queere Erziehung“, „Nein heißt Nein (No es No)! Welchen Teil hast du nicht verstanden, das N oder das O?“ und „Piñera soll sterben, nicht meine Freundin“.

Feministischer Druck auf die Institutionen – von innen und außen

Die Revolte von 2019 hat in Chile einen historischen Prozess angestoßen, bis hin zur Erarbeitung einer neuen Verfassung. Wir Feministinnen haben uns erstmals an einem solchen Prozess beteiligt und etwas historisch Neues geschaffen: Wir nehmen an diesem institutionellen Prozess von innen und von außen teil – auf der Straße und im Verfassungskonvent. „In diesem Jahr haben wir gemeinsam mit Vertreterinnen im Verfassungskonvent demonstriert“, erzählt Javiera Manzi von der feministischen Dachorganisation Coordinadora 8M. „Die Demo wurde damit gleichzeitig zum Auftakt unserer Kampagne für die Annahme der neuen Verfassung im Plebiszit. Elisa Loncon (Vertreterin im Verfassungskonvent, Anm. d. Übers.) hat den Demonstrierenden zugerufen: „für ein entschlossenes und überzeugtes Ja (Apruebo) im Abschlussplebiszit!“ Dieser Meilenstein der feministischen Bewegung ist auch Ausdruck des Wunsches, sich überall zu erheben: auf den Straßen, in Prozessen wie dem für eine neue Verfassung und in allen jenen Räumen, die wir schon heute einnehmen, um die staatlichen Strukturen zu verändern“, so Manzi.

Gleichzeitig musste die feministische Bewegung im vergangenen Jahr bereits gewonnene Rechte verteidigen. José Antonio Kast, ein patriarchaler, frauenhassender und machistischer Politiker, hat versucht, uns diese Rechte im Laufe des Wahlkampfes um die Präsidentschaft abzusprechen. Zum Beispiel wollte er das Ministerium für Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter abschaffen. Um zu verhindern, dass Kast Präsident wird, setzten wir uns zusammen mit anderen sozialen Bewegungen für den Kandidaten Gabriel Boric ein, der nun am 11. März das Präsidentenamt angetreten hat. Mit ihm ist Antonia Orellana als Frauenministerin in die Regierung eingezogen. Sie ist aktive Feministin und war lange im chilenischen Netzwerk gegen Gewalt gegen Frauen (siehe LN 549) aktiv. 

Der feministische Wandel entrinnt uns, wenn er nicht in der neuen Verfassung verankert wird

Es ist wichtig, all diese Entwicklungen im Hinterkopf zu haben, um über diesen 8. März in Chile, die Politik und ihre Zerbrechlichkeit zu sprechen. Ereignisse, die auch von den feministischen Bewegungen und ihren jahrelangen Kämpfen beeinflusst werden. Doch heute sind wir ein aktiver und hoffnungsvoller Teil institutioneller Prozesse geworden. In diesen sehen wir winzig kleine Schritte eines strukturellen geschlechtergerechten und antikapitalistischen Wandels. Ein Wandel, mit dem wir das Leben bekommen, das sie uns schulden. Auch die Ernennung von Antonia Orellana zur Ministerin ist ein kleiner Schritt. Trotz der Differenzen, die unseren Feminismen innewohnen, macht sie Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Doch als feministische Bewegung heißt es, wachsam zu bleiben. „Zum 8. März gab es eine breite Mobilisierung. Das freut uns, denn es ist eine Art, zu zeigen, dass unsere Erfahrungen ernst genommen werden. So erreichen wir auch die neue Regierung, die sich selbst feministisch nennt“, meint auch Verónica González. Trotz allem: Auf der Straße, in den Haushalten, in Schulen und auf der Arbeit erfahren Frauen weiterhin Gewalt. Sie werden objektifiziert, für häusliche Arbeiten nicht bezahlt, man überlässt ihnen allein die Verantwortung für die Kinder und die Alten, während man weiterhin willkürlich über die Freiheit ihrer Körper entscheidet. Alle unsere zukünftigen institutionellen Erfolge sind also nur Schritte eines tiefgründigen feministischen Wandels. Und der droht uns durch die Finger zu entrinnen, wenn er nicht in der neuen Verfassung verankert wird.

Die Demonstration zum 8. März kommt in der Straße Echaurren zu ihrem Höhepunkt. Frauen und Queers gestalten zusammen mit vielen Künstler*innen die Abschlusskundgebung mit Reden, Performances und Musik. Camila Astorga von der feministischen Gruppe La Rebelión del Cuerpo ist zufrieden: „Seit der riesigen Demo im Jahr 2020, also noch vor Beginn der Pandemie, haben wir es nicht mehr geschafft, so viele Menschen, so viele Frauen zum 8. März auf die Straße zu bringen. Das war sehr gut, wunderschön und kraftvoll.“ Sie bemängelt nur, dass nach der Demo Frauen angegangen wurden: „Für die nächsten Demos sollten wir daher mit anderen Kollektiven sprechen und eine Art Sicherheitsgruppe organisieren, um uns zu schützen und auf Aggressionen reagieren zu können“, so die Aktivistin.

Die Zeit vergeht, der 8. März bleibt zurück, aber der feministische Kampf geht weiter und wir schreiben unsere Geschichte fort. Schon eine Woche später, am 15. März, entscheidet der chilenische Verfassungskonvent, freie, legale und kostenlose Schwangerschaftsabbrüche als grundlegendes Recht in der Verfassung zu verankern. Chile könnte damit das erste Land weltweit werden, das dieses Recht explizit in der Verfassung festhält. Die Chilen*innen müssen den Verfassungstext noch im Plebiszit annehmen. Aber wir haben Vertrauen. Vertrauen in uns, in die Veränderungen und darin, uns erneut auf den Straßen zu versammeln, wie wir es die letzten Jahre jeden 8. März getan haben und weiterhin tun werden – für das Leben, das sie uns schulden.

“DE FACTO EINE GROSSE KOALITION”

Hier soll sich bald einiges ändern Chiles neuer Präsident Boric bei seinem Vorgänger Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma)

Bei dieser Stichwahl habe Chile den pinochetismo zum zweiten Mal abgewählt, meint die chilenische Politologin Marta Lagos. „Es passierte zweimal in der Geschichte: am 5. Oktober 1988 und am 19. Dezember 2021“, so Lagos in einem Interview mit dem argentinischen Sender AM 750. Der Wahlsieg des Linkskandidaten Boric habe also das „Nein“ zu Pinochet von 1988 bestätigt. Denn Borics Kontrahent José Antonio Kast, ein bekennender Anhänger der Pinochet-Diktatur, war bei der Wahl im Dezember fast zwölf Prozentpunkte hinter Borics Ergebnis von 56 Prozent der Stimmen zurückgeblieben.

Mitte Januar hat der gewählte Präsident Boric das Kabinett vorgestellt, mit dem er am 11. März sein Amt antreten will. Bei der Vorstellung im Nationalmuseum für Naturgeschichte beschrieb er die Vielfältigkeit des Regierungsteams: Es handele sich um eine Gruppe „mit politischer Pluralität, unterschiedlichen Standpunkten und einer starken Präsenz von Unabhängigen und Aktivisten politischer Parteien“. Vielfalt gebe es auch unter den vertretenen Regionen und Generationen.

Nach Ansicht der Politologin Lagos war Boric bei der Benennung des künftigen Kabinetts mutig. „Was er getan hat, war vor einem Monat noch undenkbar“, so die Gründerin der Nichtregierungsorganisation Latinobarometro. Borics Team habe stets argumentiert, dass eine Erneuerung erforderlich wäre, um die Fehler der traditionellen Mitte-Links-Koalition Concertación auszubügeln. Denn seit seiner Zeit als führender Aktivist der Studierendenbewegung galt Boric als Kritiker der Concertación, die die Jahrzehnte nach der Pinochet-Diktatur politisch geprägt hatte. Doch nun bezieht er Vertreter*innen der Seite ein, die er zuvor angegriffen hatte. Mit der Entscheidung habe Boric „de facto eine große Koalition gebildet – so, wie parlamentarische Regierungen eben gemacht werden“, erklärt die Analystin Lagos.

Da Boric mit dem Wahlversprechen angetreten ist, das während der Diktatur eingeführte neoliberale Modell abzulösen, wird er bei der Umsetzung von Strukturreformen sehr wahrscheinlich viel Gegenwind erhalten. Seine Regierungsziele beinhalten die Einführung eines öffentlichen Rentensystems und einer universellen Kranken-
versicherung, eine Reform des Streikrechts, eine Steuerreform zur Finanzierung sozialer Projekte, mehr Anerkennung für Care-Arbeit und eine Strukturreform der Militärpolizei Carabineros: „Wir werden Schritt für Schritt alle von uns vorgeschlagenen Änderungen vornehmen, weil wir davon überzeugt sind, dass die große Mehrheit der Chilenen strukturelle Änderungen fordert“, sagte er am Tag des Wahlsiegs. 

Zehn Jahre nach den Protesten von Studierenden sitzen mehrere Aktivist*innen in der Regierung


Tatsache ist, dass Boric Allianzen mit dem traditionellen Mitte-links-Lager benötigt, um Mehrheiten in den zwei Kammern des Nationalkongresses zu erreichen. Borics Wahlbündnis Apruebo Dignidad hat in der Abgeordnetenkammer nur 37 von 155 Sitzen und im Senat fünf von 50 Sitzen. Durch die Berufung parteiunabhängiger Minister*innen und Vertreter*innen von Parteien außerhalb des Bündnisses erweitert der künftige Präsident nun seine Koalition. Dazu gehören die Sozialistische Partei (PS), die Partei für Demokratie (PPD), Radikale Partei (PR) und Liberale Partei (PL).

„Die Zusammensetzung dieses Kabinetts ist in mehrfacher Hinsicht etwas Außergewöhnliches“, meint die chilenische Psychoanalytikerin Constanza Michelson. Es gehe vor allem darum, „das Ende einer Phase von Kämpfen zu besiegeln, in der der Feminismus am Rande der Macht stand, um nun an die Macht zu kommen“, so Michelson in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página 12. Mehrere Schlüsselressorts werden künftig Frauen übernehmen: Die Außenpolitik leitet ab März die parteiunabhängige Rechtsanwältin Antonia Urrejola. Verteidigungsministerin wird, fast 50 Jahre nach dem Militärputsch von 1973, die Allende-Enkelin Maya Fernández, die für die Sozialistische Partei in der Hauptstadtregion in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde. Von Ministerinnen geführt werden außerdem die Ressorts für Arbeit und Soziales sowie Gesundheit und auch Bergbau: Die designierte Ministerin Marcela Hernando Pérez (PR) soll zwei wichtige Vorhaben in Bezug auf die Bergbaupolitik umsetzen, wie das chilenische Onlinemedium El Ciudadano berichtete. Zum einen die Einführung einer Steuer im Kupferbergbau, die Zusatzeinnahmen im Umfang von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts einbringen soll. Zum anderen die Gründung eines staatlichen chilenischen Lithiumunternehmens, bei dem die Interessen betroffener Gemeinden im Mittelpunkt stehen.

Mit der Benennung der parteiunabhängigen Klimatologin und Mitautorin des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats, Maisa Rojas, hat Boric eine Expertin in Sachen Klimawandel für das Amt der Umweltministerin benannt. Rojas‘ Nominierung deutet an, dass der Kampf gegen die Klimakrise – wie schon im Wahlkampf angekündigt – künftig einen hohen Stellenwert haben könnte. Im Interview mit The Guardian kündigte die Klimawissenschaftlerin, die die chilenische Regierung bereits bei der COP25 beraten hat, grundlegende Veränderungen an: „Wir müssen uns mit den strukturellen Elementen unserer Gesellschaft befassen, was auch bedeutet, dass wir unseren Pfad der Entwicklung ändern müssen.“

Auch drei der fünf Positionen im comité político (innerer Entscheidungszirkel im Kabinett, Anm. d. Red.) – Inneres, Finanzen, Frauen, Regierungssprecher*in und Generalsekretariat der Präsidentschaft – werden ab dem 11. März Frauen leiten. Als wichtigster Kabinettsposten gilt in Chile das Innenministerium. Diese Rolle fällt nun zum ersten Mal einer Frau zu, der künftigen Innen- und Sicherheitsministerin Izkia Siches. Sie leitete Borics Wahlkampagne und war von 2017 bis 2021 Vorsitzende des Berufsverbands der Ärzt*innen. Die künftige Ministerin für Frauen und Geschlechtergleichheit ist die Feministin und Journalistin Antonia Orellana von der Convergencia Social (CS), Gabirel Borics Partei. Karina Nohales, Vertreterin der feministischen Dachorganisation Coordinadora Feminista 8M, begrüßte ihre Benennung auf Twitter: „Sie ist eine engagierte Feministin, die sich für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, für das Recht auf legale, freie und sichere Abtreibung und würdevolle Arbeitsbedingungen einsetzt.“

59 Prozent sind laut Umfragen mit dem Kabinett Boric zufrieden

Neuer Finanzminister wird der bisherige Chef der chilenischen Zentralbank, der parteiunabhängige Mario Marcel, der bereits an allen Regierungen der Concertación beteiligt war. Seine Ernennung löste bei Vertreter*innen sozialer Bewegungen ungläubiges Entsetzen und Unverständnis aus. Für Luis Mesina aus der No+AFP-Bewegung, die das derzeitige chilenische Rentenversicherungssystem ablösen will, stellt die Ernennung Marcels eine Wiederbelebung der 2017 abgewählten Concertación dar. „Dafür haben die Wähler*innen nicht gestimmt, sie wollen Veränderungen“, betont er. Auch Ramón López, ehemaliger Wirtschaftsberater von Daniel Jadue (Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei), kritisierte die Personalentscheidung und die Botschaft dahinter scharf: So behaupte die Regierung, tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen zu befürworten, benenne dann jedoch einen Finanzminister, der sich alledem widersetze. „Wo bleibt die Glaubwürdigkeit?“, fragt sich López.

Doch auch zwei bekannte Gesichter aus der Studierendenbewegung hat Boric ins Kabinett geholt. Regierungssprecherin wird Camila Vallejo (Kommunistische Partei), Präsidentschaftssekretär wird Giorgio Jackson von der Partei Revolución Democrática, neben der CS die führende Partei im Parteienbündnis Frente Amplio. Beide Personen führten mit Boric die studentischen Proteste von 2011 und 2012 an, die bis dahin größten Demonstrationen in Chile seit Ende der Diktatur. Ihre nun zehn Jahre alten Forderungen nach bezahlbarem Studium für alle und ihre Kritik am privatisierten Bildungssystem sind noch heute aktuell. Als Mitglieder der neuen Regierung haben die drei ehemaligen Aktivist*innen nun die Möglichkeit, sie in die Tat umzusetzen.

Die künftigen Minister für Wohnen und Urbanistik (Carlos Montes), Verkehr und Telekommunikation (Juan Carlos Muñoz) sowie für Öffentliche Baumaßnahmen (Juan Carlos García) gelten alle als Experten auf ihrem Gebiet. Laut dem Magazin The Clinic seien die Erwartungen an diese Minister daher besonders hoch. García fordert etwa, das Zugnetz zu erweitern und die verschiedenen Verkehrsträger besser zu koppeln.

Mit Borics Wahlsieg und Kasts Niederlage erhält außerdem der aktuelle verfassunggebende Prozess Rückenwind. Für das Regierungsmandat Borics wird die Unterstützung des Verfassungskonvents eine wichtige Etappe zu Beginn der Amtszeit sein. Seine Präsidentschaft könnte den verfassunggebenden Prozess stützen. Bis Juli 2022 soll im Verfassungskonvent eine progressive, neue Verfassung erarbeitet werden. Wenn die Mehrheit der chilenischen Wähler*innen dafür stimmt, wird die alte Verfassung, ein Erbe aus Diktaturzeiten, nach vier Jahrzehnten abgelöst. Boric hat angekündigt, die Unabhängigkeit der Arbeit des Verfassungskonvents zu sichern und besuchte seine Mitglieder bereits kurz nach der Wahl, um ihnen seine Unterstützung auszusprechen.

Mit der Wahl Borics hat die Mehrheit der Chilen*innen gezeigt, dass sie sich entschlossen gegen den pinochetismo stellen. Eine Woche, nachdem der gewählte Präsident sein Regierungskabinett vorgestellt hatte, veröffentlichte das private chilenische Meinungsforschungsinstitut Cadem aktuelle Umfrageergebnisse. Demnach bewerteten 59 Prozent der Befragten die Personalauswahl als positiv. Es sind sieben Punkte mehr als beim vergangenen Kabinett Piñera (2018) und sogar 30 Punkte mehr als beim Kabinett Bachelet II (2014). Die Hoffnung der Bevölkerung auf einen Wandel scheint also da zu sein. Ob das Regierungsteam es schaffen wird, politische Mehrheiten zu erhalten und gleichzeitig seiner Linie, mit den Relikten der Vergangenheit aufzuräumen, treu zu bleiben? Die nächsten vier Jahre werden das zeigen.

OHNE SKRUPEL UMS GANZE

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MARIANA GARCÍA, VICTORIA FURTADO Y DANIELA MASSA
sind compañeras im feministischen Kollektiv Minervas aus Montevideo. Mariana ist zudem bei der Cooperativa Comuna und Victoria beim Kommunikationskollektiv ZUR aktiv. (Foto: privat)


Mit welcher Stimmung blickt ihr dem Regierungswechsel entgegen? Wie wird sich die Situation in Uruguay verändern?
Victoria
: Für uns ist zwar klar, dass uns ein stark verändertes Szenario erwartet, das uns vor neue Herausforderungen stellt. Dennoch ist es auch so, dass die feministische Bewegung des Südens und auch die in Uruguay groß geworden ist, als noch progressive Regierungen an der Macht waren. Klar, das wird sich jetzt nochmal verschärfen durch die rechten und konservativen Diskurse, aber wir waren auch schon vorher auf der Straße. Der Konservatismus ist eine Art zu denken, die es nicht nur in der Rechten gibt, sondern durch die ganze Gesellschaft geht. Also gibt es etwas, das sich ändert und etwas, das bleibt.

Daniela: Die Sorgen, die wir haben, gehen eher in eine Richtung, die unseren konkreten Alltag betrifft. Es gab eine gewisse Sicherheit unter den progressiven Regierungen, nicht so sehr für die Bewegungen, aber für unseren konkreten Alltag als Frauen. Jetzt geht es um neue politische Maßnahmen, Kürzungen, die unser Leben, unsere Arbeit, Ausbildung, Wohnen und unsere Gesundheit betreffen. Das wird sich verschärfen. Es gibt eine allgemeine Anspannung mit der neuen Regierung, aber die feministische Bewegung verläuft eher außerhalb dieser konjunkturellen Veränderungen.

Wie geht ihr damit um?
V:
Wir sind wachsam – eins der Themen für den 8. März wird das Gesetz der Urgente Consideración (deutsch in etwa: Dringende Prüfung) sein, wir nehmen das in unsere politische Analyse auf. Neben den sozialen Ängsten kommt auch eine Angst vor mehr Repression gegenüber den sozialen Bewegungen auf. Aus unserer Erinnerung bedeutet die Rückkehr zur Rechten eine Rückkehr zu Regierungen, die die sozialen Bewegungen unterdrückt haben. Die Angst ist da, aber wir versuchen gemeinsam darüber zu sprechen, wie wir uns davor schützen können, ohne dass dieser Regierungswechsel uns paralysiert.

Uruguay hat ja aktuell eher den Ruf eines moderaten, fortschrittlichen Landes. Kam die Rückkehr zu einer rechten Regierung eher unerwartet oder hat sich das abgezeichnet?
Mariana: Der Vorstoß der Rechten kam nicht unerwartet. Das ist ein Prozess, dessen Kraft sich seit vielen Jahren stärker entfaltet, und nicht nur in den traditionellen rechten Kräften in Uruguay, sondern auch in neuen Gruppen, wie dem Cabildo Abierto (neu gegründete rechtsextreme Partei, Anm.d.Red.). Das war kein Überraschungseffekt, das sind Gruppen, die vorher schon latent unter der Oberfläche der Politik geschlummert haben, daher konnten sie sich auch so schnell organisieren.

D: Die Ideen, die die Rechte verkörpert, waren schon vorher in Umlauf und haben bereits einen Prozess angestoßen, in dem die institutionelle Gewalt zugenommen hat. Jetzt gibt es dafür klare Worte und konkrete Politikprogramme. Aber auch in der vorherigen Regierung der Frente Amplio hatte die Repression schon zugenommen.

V: Der Cabildo Abierto, dieser ultrakonservativste Teil der Gesellschaft, hatte schon vorher Macht im Land. Er hatte seine eigenen Organisationen im Staat und im Militär und auch verantwortungsvolle Posten in der Regierung der FA. Das einzige, was sie noch nicht hatten, war eine Partei, die man wählen konnte und jetzt haben sie die. Die Überraschung ist, dass sie in den ersten Wahlen elf Abgeordnete und drei Senatorensitze gewonnen haben, nur sechs Monate nach ihrer Gründung. Die Teile der Gesellschaft, die sie unterstützen, haben sonst die traditionellen Parteien gewählt, wie die Colorado-Partei oder die Partido Nacional. Das bedeutet, dass die traditionellen Parteien nun ihren Interessen nicht mehr genügen.

Warum koalieren die traditionellen Parteien mit der extremen Rechten?
D: Strategie. Die Partido Nacional wusste seit Mitte des Jahres durch Umfragen, dass sie alleine die Präsidentschaft nicht würde gewinnen können, die traditionellen Parteien waren zerstritten. Daher die Strategie, alle rechten Kräfte zu vereinen, das hat funktioniert und für Aufmerksamkeit gesorgt. Nach dem ersten Wahlgang hieß es: ‚Jetzt alle auf Linie und alle an Bord! Alle für die Regierung!‘ Es war sehr klar, was das Ziel war.

V: Uruguay war immer schon ein konservatives Land. In diesen Jahren der progressiven Regierungen wurde das Soziale etwas mehr in den Vordergrund gerückt. Aber weder auf der wirtschaftlichen Ebene, noch auf der kulturellen ist es zu grundlegenden Veränderungen gekommen: kein neues Wirtschaftsmodell, keine wirkliche Kulturdebatte. Die konservativen Stimmen haben immer den Diskurs bestimmt und diese Grundstimmung ist eher stärker geworden, jetzt sind sie sichtbarer. Der Feminismus ist die einzige Bewegung, die es geschafft hat, mit ein paar Dingen zu brechen und sie zu hinterfragen, im Rest der Linken ist das nicht passiert. Es gab gar nicht das Ziel, in diesen Jahren des Progressismus, irgendetwas tiefgehend zu verändern oder neue gemeinsame Werte aufzubauen, die nicht auf einer individualistischen, neoliberalen Konsumlogik basieren.

Um welche Diskurse und Ideen der konservativen Kreise geht es vor allem?
V: Typische konservative Diskurse, zum Beispiel das, was sie „Genderideologie“ nennen. Diskurse, die an die traditionelle Rolle der Frau in der Familie als Mutter appellieren, aber auch eine unternehmerische Vorstellung von öffentlicher Verwaltung und Aussagen über die Diktatur, die gewaltsam Verschwundenen, die Menschenrechte, die den Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Relevanz absprechen wollen. Im jetzigen Wahlkampf ging es zudem viel um das Thema Kriminalität und auch um das Versprechen von mehr Sicherheit und einer „harten Hand“.

Was hat die neue Regierung als Erstes vor?
D: Eine der ersten Maßnahmen, die die neue Regierung angekündigt hat, ist ein Paket mit dem Namen „Ley de Urgente Consideración“, das bereits Teil der Wahlkampagne war, dessen Inhalt jedoch bis vor Kurzem nicht veröffentlicht wurde. Ds Gesetz hat fast 500 Artikel, es ist ein Maßnahmenpaket, das ganz verschiedene Sachverhalte und Bereiche zugleich betrifft.

M: Dringend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dafür ein Mechanismus eingesetzt wird, mit dem diese 500 Artikel innerhalb der ersten drei Monate der Regierung verabschiedet werden, nur 45 Tage für jede Kammer des Parlaments. Die Regierung beginnt also mit einem starken Schachzug. Man könnte sich fragen, welche Dinge so dringend sein könnten, dass sie am ersten Tag der Regierung behandelt werden müssen – ganz klar ist jedoch, dass das nicht 500 Artikel sein können. Es ist auch der Versuch der Regierung, das Maßnahmenpaket direkt zu verabschieden, bevor es Brüche und Mei-nungsverschiedenheiten in der Koalition gibt. Wenn das in den nächsten Jahren passiert, sind zumindest diese Maßnahmen, die sie einst zusammengeführt haben, schon mal verabschiedet.

D: Dieses Gesetz ist eigentlich das Regierungsprogramm. Während der Wahlkampagne gab es kein konkretes Programm, nur ein paar lose Ideen. Das Gesetz behandelt Soziales und Kürzungen in Bildung, Gesundheit und Wohnen, bis hin zu Minderheitenrechten, die eigentlich gesetzlich garantiert waren… Ein Mischmasch von unzähligen Artikeln, bei denen es zumeist um Kürzungen von Ressourcen und Rechten geht.

Könnt ihr noch ein paar Beispiele dafür geben, welche Bereiche das Gesetz betrifft?
V: Die Themen sind so zahlreich, dass wir dafür eigentlich ein eigenes Interview machen müssten. Es ist aber ganz klar ein neoliberaler Vorstoß ohne Skrupel. Es geht um die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, Änderungen im Zugang zu Land, mehr Gewicht für die privaten Institutionen in der Bildung, um Bestimmungen, die Repression bei Demonstrationen ermöglichen, größere Macht für Geheimdienste, wobei es auch um Ermittlungen in Bezug auf die „innere Sicherheit“ geht, also z.B. für die Organisation von Demonstrationen, um Änderungen zur Aushandlung von Tarifen und Arbeitsbedingungen, Änderungen in den Gesetzen, welche die Medien regulieren im Sinne unternehmerischer Interessen, und vieles mehr. Auch die designierten Minister der neuen Regierung tragen zu dem Gefühl bei, dass die neue Regierung ohne Skrupel sein wird. Viele ihrer Namen sind bekannt durch frühere Posten in anderen rechten Regierungen, durch Korruptionsanklagen, mit einer belasteten Vergangenheit. Es kommen nicht fünf lange Jahre einer langsamen Rechtsentwicklung, nein. Das ist eine Bombe. Alles wird sehr schnell gehen, es geht ums Ganze, ohne Skrupel. Für uns in den sozialen Organisationen bedeutet das, dass wir alle Kampagnen gegen das Gesetz auffahren müssen. Das zerstreut unsere Energien, weil es so viele Themen berührt – es macht viele Fronten gleichzeitig auf. Ich glaube, das ist auch intendiert.

Was wollt ihr jetzt dagegen tun? Der 8. März wird ja die erste große Demo unter der neuen Regierung sein…
D: Es gab die Idee, die Route der Demo zu ändern und zur Torre Ejecutiva, dem Präsidentensitz, zu laufen, aber wir haben uns entschieden, die gleiche Route wie immer zu machen.

V: Das hat damit zu tun, dass unsere Forderungen nicht nur an die Präsidentschaft gerichtet sind, sondern an die gesamte Gesellschaft, es geht um das gesamte System. Das Patriarchat drückt sich ja nicht nur in der Regierung aus, deswegen war uns wichtig, jetzt ganz explizit die Route beizubehalten, um damit einer Perspektive Ausdruck zu geben, die über die Forderungen an den Staat hinausgeht. Wir blenden natürlich nicht aus, dass der Staat eine Rolle spielt, und dass es jetzt eine rechte Regierung gibt, aber jenseits davon geht es uns auch darum, dass wir selbst Dinge aufbauen und uns nicht nur etwas entgegenstellen. Daher auch das Festhalten an der Route. Wir wollen nicht alle Forderungen der Bewegung an die Präsident- schaft richten. Die Bewegung ist viel mehr als das, in dem, was sie anklagt und auch in dem, was sie erschafft.

„DIE FRAUEN LASSEN SICH NICHT MEHR ZUM SCHWEIGEN BRINGEN“

Mariana Yegros: Die argentinische Sängerin befindet sich gerade auf Europatournee // Foto: Guilhem Canal

Im März haben Sie Ihr neues Album Suelta herausgebracht. Können Sie uns etwas zu Ihrem neuen Album erzählen und zu dem Prozess, aus dem heraus es entstanden ist?
Ich habe zwei Jahre lang an dem Album gearbeitet, gemeinsam mit unserem gewohnten Produzenten King Coya. Unterstützt wurden wir dabei von Jori Collignon von der niederländischen Band Skip & Die sowie von Eduardo Cabra von Calle 13. Cabra ist ein großartiger Musiker, ich bewundere ihn sehr und hatte große Lust, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Lieder komponiere ich gemeinsam mit Daniel Martin und King Coya. Diesmal gibt es auch mehr von mir komponierte Lieder.

Ihr Stil ist als Digital Cumbia bekannt. Repräsentiert diese Bezeichnung die Vielfalt Ihrer Musik?
Digital Cumbia? Nein, überhaupt nicht! Das bringt mich immer zum Lachen. Ich werde auch die Königin des Nu Cumbia genannt. Ich erwidere darauf immer, dass es in meiner ganzen Discographie nur eine Cumbia gibt, nämlich „Viene de mi“. Meine Musik basiert auf anderen lateinamerikanischen Rhythmen, dem Chamamé, dem Carnavalito, der Saya, dem Rap. Es gibt gibt vielfältige Einflüsse in jedem Lied. Die Cumbia ist eine davon, aber nicht alles. Das neue Album enthält nicht eine Cumbia, es ist verrückt, dass mich die Leute darüber definieren. Wahrscheinlich, da „Viene de mi“ mein bekanntestes Lied ist. Nicht einmal „Linda la Cumbia“ ist eine Cumbia, ich habe es so genannt, um zu sehen, wer wirklich zuhört und wer Ahnung von Cumbia hat.

Manche bezeichnen Sie als Repräsentantin der weiblichen Cumbia und nennen Sie Königin der Cumbia, weil Sie eine Frau sind, der es gelang, in einer überwiegend von Männern dominierten Musikszene erfolgreich zu sein. Wie fühlen Sie sich in dieser Rolle? Glauben Sie, dass diese Betonung von Ihrer Musik ablenkt?
Nein, ich empfinde das nicht so. Es stimmt, dass vor allem in Argentinien, wo 2013 mein erstes Album erschien, nicht viele Sängerinnen bekannt waren. Dennoch habe ich das Gefühl, dass der Kern dieser Bezeichung eher mit der Cumbia selbst zu tun hat und weniger damit, dass ich eine Frau bin. Ich sage dazu, dass ich die Königin der NO Cumbia und nicht die der Nu Cumbia bin. Dass sie mich Königin nennen, finde ich ganz lustig.

Können Sie kurz erklären, woher die Idee kam, Folklore und elektronische Musik zu verbinden?
Meine Verbindung zur Folklore kommt von meinen Eltern. Mein Vater hörte viel Chamamé, meine Mutter Cumbia. Ich wuchs mit dieser Art von Musik auf, sie lief in den Barrios, wo die Arbeiter diese Lieder hörten. Meine Eltern kommen aus Misiones, an der Grenze zu Brasilien und Paraguay, und sind mit zwanzig Jahren auf der Suche nach Arbeit nach Buenos Aires gezogen. Dort wurde ich geboren, hatte also schon immer Kontakt mit den Traditionen, den Wurzeln meiner Eltern. In der Hauptstadt kam ich später in Kontakt zu modernen Klängen, daraus ergab sich die Frage, wie meine Wurzeln, die Folklore, mit diesen urbanen Klängen verknüpft werden können. King Coya ist da ein Spezialist und wichtiger Referent in Argentinien. Seit 30 Jahren mischt er elektronische Musik mit Folklore, er war einer der ersten, der das gemacht hat. Es ist ein großes Glück, mit ihm zusammenzuarbeiten. King Coya kümmert sich jetzt um die musikalische Produktion, er begleitet uns auch auf der Tour und hört von außen zu. Daraus entsteht eine Homogenität, eine natürliche Harmonie zwischen der Folklore und der elektronischen Musik.

Was möchten Sie mit dieser Mischung vermitteln?
Eine der wichtigsten Botschaften ist, unsere Musik zu unterstützen, sie aus unserem Land zu tragen, damit die Leute sie kennenlernen. Der Chamamé ist zum Beispiel ein wenig bekannter Rhythmus. Ich erkläre manchmal, wie man ihn tanzt, wie er klingt, wovon er handelt. Es ist sehr melancholische Musik, es geht um die verstorbene Mutter, um die verlorene Liebe, sehr traurig und gleichzeitig sehr tanzbar. Das hat auch mit meinen Wurzeln zu tun, mein Vater zum Beispiel ist sehr melancholisch. Wir haben diese Wesensart in Argentinien, der Tango zum Beispiel zeugt von totaler Zerrissenheit, damit identifizieren wir uns sehr. Mir ist wichtig, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass auch junge Leute ihren Zugang zur Folklore finden, sie tanzen und als etwas eigenes empfinden können. Wenn du nur einen Chamamé hörst, sagst du, ach nein, das ist Musik, die mein Großvater mag, aber wenn es mit für jungen Menschen vertrauten Klängen gemischt ist, führt es dazu, dass unsere Musik erhalten bleibt, und damit unsere Tradition.

Sie haben damit begonnen, musikalische Einflüsse aus dem Nordwesten Argentiniens und andiner Musik in der Provinz Buenos Aires zu singen. Jetzt tragen Sie diese musikalischen Traditionen auf andere Kontinente, wo das Publikum sie in einer vollkommen anderen Umgebung hört. Bemerken Sie einen unterschiedlichen Effekt, den Ihre Musik an den verschiedenen Orten, an denen Sie auftreten, auslöst?
Für mich ist sogar jede Stadt eine eigene Welt. Jedes Mal, wenn wir spielen, bemerken wir einen Unterschied. In Frankreich zum Beispiel, wo wir sehr oft auftreten, erkennen wir die Unterschiede im Publikum: In der Bretagne etwa sind die Leute sehr leidenschaftlich und wenn sie dich mögen, drehen sie durch. In Deutschland haben wir eines unserer ersten Konzerte 2013 in einem kleinen Ort gespielt. Wir waren das erste Mal in Europa, niemand kannte unsere Lieder, und Deutschland hat mit unserer Musik nicht viel zu tun. Aber die Leute sind durchgedreht und haben zu getanzt, und uns zum Tanzen aufgefordert. Es passieren manchmal so verrückte Dinge an unerwarteten Orten. Es sind immer wieder Überraschungen. Man kann nicht sagen, dass es dieses eine Land gibt, was dieses und jenes vermittelt, es hängt vom Moment ab, von der Situation.

In Ihrem Lied „Sube la presión“ singen Sie „Me enteré que el arte no sólo es belleza” („Ich habe gelernt, dass Kunst nicht nur Schönheit ist“). Was kann Kunst sonst noch alles sein?
Das Lied ist von Daniel Martín, er hat es geschrieben und dabei an mich gedacht. In allen Liedern, die er für mich macht, versetzt er sich in mich und in meine Geschichte hinein. Deswegen beginnt das Lied mit den Zeilen „Yo soy mujer, hijita de la calle“ („Ich bin eine Frau, eine Tochter der Straße“). Es handelt davon, aus einer Gegend zu sein, in der man Kinder barfuß die Straßen entlanglaufen sehen kann, die nichts zu essen haben. Und plötzlich fliegt man um die Welt und kann überall Sushi essen gehen. Ich hatte das Glück, zu reisen und viele unterschiedliche Orte kennenlernen zu dürfen. So bekommt man einen globalen Blick auf die Welt und merkt, dass einige Menschen Hunger haben, während es anderen gut geht. In dem Vers „Ich habe gemerkt, dass Kunst nicht nur Schönheit ist“ findet sich das wieder, einerseits das Glück, durch meine Musik reisen zu dürfen und Orte außerhalb Argentiniens kennenzulernen. Andererseits bedeutet es, seine Koffer zu verlieren, mal zu spät zu kommen, wenig zu schlafen… Man muss viel arbeiten und opfern, um eine Show von neunzig Minuten zu ermöglichen, selbst wenn man darauf mal keine Lust hat. Diese Seite des Künstlerseins ist eben nicht nur schön.

Auf deinem Album findet sich auch das Lied „Tenemos voz“, eine feministische Hymne, die von der Stärke der Frauen handelt. Die feministische Bewegung in Argentinien hat jüngst viel Sichtbarkeit erlangt, und immer mehr Fälle von sexuellem Missbrauch und sogar Vergewaltigungen durch zahlreiche argentinische Musiker kommen plötzlich ans Licht. Auch ein ehemaliger Musiker von Ihnen ist angeschuldigt worden, missbräuchlich und gewalttätig gewesen zu sein. Wir sind uns bewusst, dass Sie als Sängerin nicht die Verantwortung für die Taten der Männer tragen, die mit Ihnen zusammenarbeiten. Wie gehen Sie mit dieser Entwicklung um?
Dieses Thema ist für mich, so wie für die meisten anderen Frauen wahrscheinlich auch, sehr wichtig. In Argentinien und Lateinamerika insgesamt gab es in letzter Zeit plötzlich eine große Revolution, würde ich sagen. Die Frauen lassen sich jetzt nicht mehr zum Schweigen bringen. In Argentinien stirbt jeden Tag eine Frau durch Übergriffe, Missbrauch oder Vergewaltigung, und das macht mich sehr betroffen. Natürlich bin ich mit so etwas nicht einverstanden. Wenn ich zum Beispiel vom Ausland aus sehe, dass es am 8. März in Argentinien Demonstrationen gibt, wäre ich sehr gerne dabei. „Tenemos voz“ ist meine Art und Weise, zu der Bewegung aus der Distanz etwas beizutragen. Deswegen habe ich mit Soom T zusammengearbeitet, einer schottischen Sängerin mit indischem Ursprung, einer sehr starken Stimme, die außerdem politisch und sozial sehr aktiv ist. Es war mir wichtig, dass sie dabei ist. „Tenemos voz“ ist eine Hymne, die die Nachricht verbreiten soll, dass wir nicht mehr schweigen werden und eine Stimme haben. In Bezug auf die Anschuldigung gegen einen meiner ehemaligen Musiker: Leider kann man nicht mit Sicherheit feststellen, ob diese wahr sind oder nicht. Es wurde ein rechtliches Verfahren mit Anwälten begonnen, die sich dem Thema angenommen haben. Weil mein Name in diesem Zusammenhang gefallen ist, habe ich beschlossen, nicht weiter mit dem angeschuldigten Musiker zu arbeiten, bis der Fall geklärt ist und es Beweise für seine Unschuld gibt. Oft beschuldigen Menschen andere und können dann nicht beweisen, dass wahr ist, was sie sagen.

Es ist auch oft der Fall, dass Frauen nicht geglaubt wird, obwohl die Beweislage erdrückend ist, oder dass es eine Zumutung oder manchmal sogar unmöglich ist, Beweise vorzulegen.
Ja natürlich, das stimmt. Weil ich ja nicht dabei war, kann ich es nicht wissen und mir keine Meinung bilden. Er soll sein Problem lösen, und solange die Anschuldigung besteht, möchte ich nicht, dass er mit der Band in Verbindung gebracht wird. Wenn es wirklich stimmt, was gegen diesen Musiker gesagt wird, bin ich selbstverständlich nicht damit einverstanden. Sollte die Frau irgendwann aussagen, dass sie gelogen hat, ändere ich meine Meinung, aber sonst nicht.

 

MACHT, MEUTE UND MILIZEN

(Foto: Senado Federal /Flickr CC bY 2.0)

Nur zwei Tage ist die Regierung Bolsonaro im Amt und schon hagelt es Nominierungen, Rückzüge von Nominierten, Ankündigungen des Präsidenten, der zwanzig Minister und zwei Ministerinnen, Rücknahmen von Ankündigungen, sich widersprechende Statements verschiedener Regierungsmitglieder, Dekrete, Reform- und Gesetzesvorlagen – ein wahrer Hagelsturm schlechter Nachrichten für Demokratie und Menschenrechte.

Auch einen ersten echten Skandal gab es bereits am Tag 18 der Präsidentschaft: War Bolsonaro im Wahlkampf immer mit seinen beiden Söhnen Flávio und Eduardo als Kämpfer gegen die Korruption aufgetreten, werden nun anonyme Bareinzahlungen auf das Konto von Flávio in seiner Zeit als Abgeordneter in Rio de Janeiro untersucht. Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen seinen ehemaligen Berater, Fabrício Queiroz, wegen ungewöhnlicher Finanztransaktionen, eine davon ging an die neue First Lady. Doch es kommt noch schlimmer: Fabrício Queiroz hat Verbindungen zum mutmaßlichen Auftragsmörder der linken Stadtverordneten Marielle Franco, der aus den sogenannten „Milizen“ stammt. Aktuell werden auch Verbindungen von Flávio Bolsonaro zu den Milizen bekannt. Und dieser verschiebt erfolgreich seine Aussage zu Queiroz auf nach dem 1.2.2019, wenn er als Senator bereits parlamentarische Immunität genießt.

Mit Jean Wyllys (PSOL) hat am 24. Januar offiziell der erste linke Abgeordnete des Kongresses das Land verlassen. Der offen schwule Aktivist erhielt zuletzt so massive Todesdrohungen, dass er – im Gegensatz zu einem offiziellen Statement der Regierung – um sein Leben fürchten musste. Der Präsident twitterte sofort: „ein großer Tag“, was allgemein als Verhöhnung von Wyllys aufgefasst wurde. Weniger spektakulär, aber nicht weniger bedrohlich ist die zunehmende Gewalt auf dem Land und in den indigenen Gebieten. Die „Inwertsetzung“ Amazoniens ist ein zentrales Projekt der Regierung Bolsonaro. Sie wurde propagandistisch vorbereitet und wird jetzt durch Repression und nackte Gewalt, eine Schwächung indigener und Umweltschutz-Organisationen, Gesetze und Investionen in die Wege geleitet. Bei so etwas immer gerne mit dabei: große deutsche Unternehmen, die die Amtsübernahme Bolsonaros sehr positiv beurteilten.

Vier kurze Artikel loten auf den folgenden Seiten die Abgründe der brasilianischen Politik unter Bolsonaro aus. „Es ist die Zeit des Trauergesangs auf die Neue Republik“ Brasiliens, wie der bekannte Philosoph Vladimir Safatle vor wenigen Tagen feststellte…

 

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