Chile | Indigene | Nummer 574 - April 2022 | Wahlen

DIE GRENZEN DER SYMBOLPOLITIK

Chiles neue linke Regierung bemüht sich um einen Neuanfang im Umgang mit den Mapuche

Präsident Gabriel Boric hatte im Wahlkampf eine neue Form des Dialogs mit den Indigenen versprochen, nun versucht seine Regierung, sie zügig umzusetzen. Wie weit diese Reformpolitik gehen kann, ist dabei jedoch unklar, denn erste Schritte haben deutlich gemacht, dass Symbolpolitik im Umgang mit den historischen Forderungen der Mapuche nicht ausreicht. Um sich diesen zu nähern, muss sich die neue Regierung mit mächtigen Wirtschaftssektoren auseinandersetzen, ein heikles Unterfangen.

Von Malte Seiwerth

Neue Signale Präsident Gabriel Boric bei einer indigenen Zeremonie (Foto: Prensa Presidencia, Gobierno de Chile)

Am 15. März 2022, nur vier Tage nach Amtsantritt, reiste die neue Innenministerin Izkia Siches ins Wallmapu, in die Städte Temuco und Ercilla. In der Nähe von Ercilla wollte sie sich mit Marcelo Catrillanca, dem Vater des 2018 von Polizisten erschossenen Camilo Catrillanca, treffen. Bei der Fahrt in die Mapuche-Gemeinde Temucuicui kam die Karawane der Ministerin ins Stocken: Ein brennendes Auto versperrte den Weg und aus der Ferne fielen Schüsse. Die Wagen kehrten um und Siches verschanzte sich mit ihrer Begleitung im Polizeiposten von Ercilla, dort fand schließlich auch das Gespräch mit Catrillanca statt.

Neben dem Besuch der Ministerin hat die neue Regierung in kurzer Zeit bereits weitere Zeichen auf symbolischer Ebene gesetzt: Gabriel Boric nahm anlässlich seiner Amtseinführung neben einem Gottesdienst auch an einer indigenen Zeremonie teil und sprach seitdem von den „Völkern Chiles“. Seine Minister*innen begrüßen derweil teilweise bei Ansprachen in Mapudungun, der Sprache der Mapuche, und benutzen für ihr Gebiet die Eigenbezeichnung Wallmapu. Die neue Ministerin für staatliche Güter, Javiera Toro, sprach gegenüber der Zeitung La Tercera von einer historischen Schuld des Staates und einer Pflicht, Ländereien zurückzugeben – auf welche Ländereien sie sich bezieht und wie das gemacht werden soll, ließ sie dabei noch offen.

Parallel dazu geht der derzeit tagende Verfassungskonvent wichtige Schritte in Richtung einer neuen Beziehung des Staates mit den Indigenen: Ihnen soll zum Teil territoriale und juristische Autonomie gewährt werden und Chile würde fortan als plurinationaler Staat bezeichnet.

Auch in der Sicherheitspolitik gibt es neue Töne: Gleich nach der Amtsübernahme vom 11. März kündigte die neue Regierung an, den bislang geltenden Ausnahmezustand im Wallmapu nicht zu verlängern. Am 26. März endete damit die über zweijährige Militärpräsenz in der sogenannten „Makrozone Süden“, dem Gebiet, in dem sich die Mehrzahl der Aktivitäten von militanten Mapuche-Organisationen konzentriert und das aus der Región de la Araucanía und der Provinz von Arauco besteht. Dieser Landstrich wurde bis zur Eroberung durch die chilenische Armee Ende des 19. Jahrhunderts von Mapuche kontrolliert .

Im März 2020 schickte die rechte Regierung unter Sebastián Piñera erstmals seit der Diktatur wieder Militär in die Region, damals unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung. Als im September 2021 der coronabedingte Ausnahmezustand beendet wurde, bat sie das Parlament um einen speziellen Ausnahmezustand für die besagten Gebiete. Der angebliche Grund war in diesem Fall der „Terrorismus“ von militanten Mapuche-Organisationen. Seit Jahren kommt es im Wallmapu zu Brandanschlägen. Diese treffen meist Forstunternehmen und zum Teil auch Häuser von Siedler*innen, die auf historischem Gebiet der Mapuche ihre Häuser bauen. Hinter den Anschlägen stehen verschiedene militante Organisationen, die längst angekündigt haben, ihre Aktivitäten auch unter Boric fortzusetzen.

Das Problem beim Militäreinsatz war allerdings, dass dieser kaum zu einer Reduzierung der Anschläge führte. Vielmehr sorgten die Soldaten für Unsicherheit: Erst im November 2021 schossen sie bei einem Kontrollposten auf die wartende Menge, töteten dabei einen Mapuche und verwundeten dutzende weitere Passant*innen. Angeblich wurden die Soldaten aus dem Hinterhalt angegriffen, Beweise wurden aber nie vorgelegt.

Für den Mapuche Eduardo Curin ist der Rückzug des Militärs ein wichtiges Zeichen. Er sagt am Telefon gegenüber LN: „Die Regierung zeigt damit, dass sie den Konflikt in seiner politischen Dimension angehen will und nicht durch polizeiliche Maßnahmen“. Curin ist Mapuche und Teil der Bewegung Xawn de Temucuicui, die sich nach der Ermordung von Camilo Catrillanca im Jahr 2018 (LN 535) gründete. Doch gelöst ist der Konflikt durch den Abzug des Militärs nicht. Denn eigentlich gehe es um politische und historische Forderungen, die letztmals im Jahr 2018 von der Xawn dem chilenischen Parlament überbracht wurden, so Curin. Geschehen ist seitdem nichts.

Am Tag nach dem gescheitertem Besuch von Izkia Siches sprach die chilenische Onlinezeitung Interferencia mit dem Lonko Víctor Queipul Huaiquil, der indigenen Autorität von Temucuicui. Queipul kritisierte den improvisierten Besuch und machte klar, dass ohne konkrete politische Zusicherungen kein Gespräch stattfinden würde. Auch Curin unterstützt diese Aussagen. „Wir haben im Jahr 2018 klar gemacht, um was es uns geht: Befreiung der politischen Gefangenen, Rückgabe aller Ländereien und eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung begangener Verbrechen“.

Seit den 1990ern läuft in der Araucanía ein Landrückgabeprojekt. Von der Mitte-Links-Koalition Concertación Por la Democracia begonnen, die vor Sebastián Piñera regierte, werden Ländereien gekauft und an Mapuche übergeben, die beweisen können, dass ihnen Ländereien geraubt wurden.

„Die Regierung zeigt, dass sie den Konflikt politisch angehen will“

Der Historiker Martin Correa erklärt gegenüber LN: „Wenn die Regierung von Ländereien spricht, geht es um die Rückgabe der Reservate“. Also Gebiete, in welche die Mapuche nach der Eroberung durch den chilenischen Staat vertrieben wurden, für die sie Besitztitel bekamen, die sogenannten Títulos de Merced. Correa merkt dazu an: „Die Títulos de Merced waren eine Strafe, wie kann eine Strafe die Lösung für einen Konflikt sein?“

Für die Mapuche geht es daher um viel mehr. Correa erzählt, viele Gemeinschaften hätten in ihrem kollektivem Gedächtnis weiterhin Klarheit über ihre ursprünglichen Gebiete. „100 Jahre scheint viel, aber eigentlich sind es nicht mehr als zwei Großväter“. Und so wissen viele Gemeinschaften bis heute, wo sich beispielsweise ihre damaligen Friedhöfe befinden, die inzwischen meist innerhalb von riesigen Forstplantagen liegen. Es müsse also darum gehen, alle ursprünglichen Ländereien zurück zu bekommen.
Das einzige Mal, als sich eine Regierung daran gemacht hat, das Problem der Ländereien grundlegend zu lösen, war während der Landreform unter Salvador Allende, schildert Correa. Damals setzte die Regierung gezielt auf die Rückgabe und den Schutz der Ländereien der Indigenen.

Doch der darauf folgende Militärputsch setzte dem ein Ende. „Die Ländereien wurden für Spottpreise an Forstunternehmen verkauft und die Mapuche ein weiteres Mal vertrieben,“ erzählt Correa. Heute sind die Gebiete erneut in der Hand der lokalen Oligarchie, die nicht nur in politischen Positionen, sondern auch in der Staatsanwaltschaft und in Gerichten vertreten ist. Der Putsch wurde unter anderem ausgelöst, da die Landreform die Basis der chilenischen Oligarchie angriff.

Boric muss mit heftigem Widerstand von Seiten der Oligarchie rechnen

Die heutigen Forstplantagen sorgen derweil für immense Umweltprobleme: Die angepflanzten Eucalyptusbäume verschärfen die herrschende Trockenheit, während der massive Einsatz von Pestiziden, unter anderem Glyphosat, die Quellen der anliegenden Bevölkerung verseucht.

Die Concertación versuchte dieses grundlegende Problem durch den Kauf einiger weniger Ländereien zu Marktpreisen zu umgehen. Gleichzeitig wurden militante Mapuche juristisch verfolgt.

Die Rechtsanwältin Karina Riquelme verteidigte bereits in vielen Fällen verfolgte Mapuche. Gegenüber Interferencia spricht sie von einem rassistischen Justizapparat, der Großgrundbesitzer*innen verteidige und Mapuche verfolge. Verschiedene Beispiele der nahen Vergangenheit zeigten, wie die Polizei zum Teil in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaft und Gerichten gezielt Mapuche verfolgte. Im größten Skandal der letzten Jahre, im Fall Huracán, wurden Beweise gefälscht, gezielt Personen überwacht und in Untersuchungshaft gesteckt (LN 526).

Das Rechercheportal Ciper deckte diesen Monat auf, dass im Zusammenhang mit dem Fall Huracán auch Rechtsanwält*innen, Politiker*innen und Kulturschaffende belauscht wurden – Karina Riquelme war selbst unter den Abgehörten.

Derzeit läuft ein Verfahren gegen die Verantwortlichen. Riquelme kritisiert, dass das Gericht die Termine immer wieder verschoben hat und den Verteidigern deutlich mehr Zeit einräumt, als in Fällen, in denen sie Mapuche vor Gericht verteidigt. „Uns wurde im Fall des Angeklagten Celestino Cordova nur 20 Tage Zeit gegeben, um die Akten zu studieren“, sagt sie. Im Fall der Aufklärung von Huracán sind es mehr als zwei Monate.

Riquelme meint, dass aufgrund solcher Fälle jegliches Vertrauen in die Justiz fehle. „In den Augen vieler Mapuche gibt es nur einen Staat und alle seine Institutionen sind Teil des Gleichen“, so Riquelme. Daher gäbe es auch kein Vertrauen in staatliche Akteure, auch wenn sie einer neuen Regierung angehören. Sie vertreten einen Staat, der sie über Jahre unterdrückt hat.

Die Rechtsanwältin warnt daher gegenüber Interferencia: Sofern Boric den Justizapparat reformieren will, müsste er mit heftigem Widerstand seitens der Oligarchie rechnen. Gleichzeitig würde ein „Weiter so“ bei der bisherigen Praxis der Staatsanwaltschaft Annäherungsversuche der Regierung deutlich erschweren oder gar blockieren.

Auch Mapuche Curin bleibt daher kritisch: „Ich glaube nicht, dass ein jahrhundertelanger Konflikt innerhalb von vier Jahren gelöst werden kann.“ Außerdem meint er, dass abseits der symbolischen Schritte ein Konflikt innerhalb der Regierung herrsche: „Es gibt viele Berater, die aus der Concertación stammen und weiterhin deren Logik verfolgen.“ Als Beispiel erwähnt Curin die Aussagen von Innen-Staatssekretär Manuel Monsalve (Sozialistische Partei), der nach dem Vorfall von Ercilla meinte, die Waffenkriminalität mancher Mapuche solle mit aller Härte verfolgt werden und sei nicht Teil der legitimen politischen Forderungen.

Curin verteidigt eben diese Gewalt: „Man hat uns immer wieder Zusagen gemacht und diese nicht erfüllt. Ich kann verstehen, wenn manche zur Erfüllung der Forderungen zu den Waffen greifen“.

So lange die Regierung also nicht auf diese Forderungen eingeht, wird sich die Bewegung der Mapuche weiter radikalisieren und weitere Rufe nach militärischer Repression seitens der Unternehmen nach sich ziehen. Doch um die Forderungen der Mapuche-Bewegung zu erfüllen, braucht es mehr als Ansprachen auf Mapudungun. Während Karina Riquelme von einer Reform des Justizapparats spricht, würde eine Rückgabe der Ländereien auch eine Vertreibung von Siedler*innen und Forstunternehmen bedeuteten – auch hier wäre Widerstand vorprogrammiert. Inwiefern die Regierung diese immense Herausforderung angehen will, wird sich in den kommenden Monaten zeigen.

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