LÜGEN TRAGEN UNIFORM
Der Mord an einem Mapuche durch Polizisten stürzt Chile in eine Krise
Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl
„Wir können nicht weiter den falschen Weg der Lügen, des Machtmissbrauchs, des unnötigen Einsatzes von Gewalt und noch weniger den des gleichbleibenden Einsatzes von Waffen gehen“. Was wie die Mahnung einer Menschenrechtsorganisation klingt, ist tatsächlich Teil einer Ansprache, die der Generaldirektor der chilenischen Militärpolizei Carabineros, Hermes Soto, an seine Institution gerichtet hat. Die Töne überraschen sehr und sind Ausdruck einer tiefen politischen Krise, die Chile erfasst hat, seit Carabineros den 24-jährigen Mapuche Camilo Catrillanca ermordet haben.
Am 13. November 2018 verfolgten Carabineros mutmaßliche Autodiebe bis auf das Gebiet der Mapuchegemeinde Temucuicui. Die Gemeinde in der Nähe von Ercilla liegt in der sogenannten „Roten Zone“ in der Provinz Araucanía im Süden Chiles. In dieser „Zone“ ist der Konflikt zwischen Mapuche, die ihr Land zurückfordern, und Großgrundbesitzer*innen sowie Forstunternehmen besonders intensiv. So intensiv, dass die Polizei mit mehr als 2.000 Beamt*innen dauerhaft stationiert ist und Mapuchegemeinden permanent observiert, regelmäßig unter Einsatz von Kriegswaffen durchsucht und insbesondere junge Mapuche schikaniert. Die Gemeinde Temucuicui ist bekannt für ihren Widerstand gegen die Militarisierung der Zone und den fortgesetzten und anhaltenden Landraub durch Großgrundbesitzer*innen und Forstunternehmen.
Camilo Catrillanca war Teil dieser Gemeinde und schon als Jugendlicher politisch aktiv. Am 13. November war er zusammen mit einem 15-Jährigen mit einem Traktor auf dem Weg von der Feldarbeit nach Hause, als Einsatzkräfte des so genannten „Dschungelkommandos“ das Feuer auf ihn eröffneten. Catrillanca starb auf dem Weg ins Krankenhaus und hinterlässt eine sechsjährige Tochter und eine schwangere Frau. Insgesamt sieben Schüsse wurden auf ihn abgegeben, einer von diesen Schüssen traf ihn von hinten in den Nacken. Das „Dschungelkommando“ der Polizei ist eine in Kolumbien und den USA ausgebildete Spezialeinheit, die erst Anfang 2018 eingerichtet wurde. Offiziell ist seine Aufgabe, „den Terrorismus in der Region“ und den Drogenhandel zu bekämpfen, es wird aber vor allem gegen Mapuche eingesetzt.
Direkt nach dem Tod des 24-Jährigen hatte der von Präsident Sebastián Piñera ernannte Chef der Regionalverwaltung der Araucanía, Luis Mayol, öffentlich erklärt, Catrillanca sei wegen Hehlerei vorbestraft und in den Autodiebstahl verwickelt gewesen. Nachdem das polizeiliche Führungszeugnis Catrillancas öffentlich gemacht wurde, aus dem hervorgeht, dass er keinerlei Vorstrafen hatte, geriet Mayol zunehmend unter Druck. Am 20. November trat er schließlich zurück und kam so einer von der christdemokratischen Parlamentsfraktion gegen ihn angestrebten Klage zuvor.
Auch an anderer Stelle wurde deutlich, dass von offizieller Seite gelogen wurde: Mayol und auch Innenminister Andrés Chadwick hatten behauptet, dass die Polizei Videoaufnahmen an die Staatsanwaltschaft übergeben habe. Hochrangige Vertreter des Kommandos hatten in Vernehmungen jedoch angegeben, die Einsatzkräfte hätten gar keine Kameras dabei gehabt. Weitere Ermittlungen ergaben, dass die Videoaufnahmen vernichtet wurden: Einer der Polizisten sagte aus, er habe „private Bilder“ schützen wollen und deswegen die Speicherkarte zerschnitten. Vier Polizisten wurden daraufhin aus dem Dienst entfernt. Gegen sie wird wegen Behinderung der Justiz ermittelt.
Ausschlaggebend für dieses Ermittlungsergebnis ist die Aussage des 15-jährigen Zeugen, der bei Catrillanca war, als dieser erschossen wurde. „Sie haben mich auf den Boden geworfen und in den Transportpanzer gebracht. Dort hat ein Carabinero die Speicherkarte aus dem Aufnahmegerät genommen und eine neue eingesetzt“, erklärte er. Der Jugendliche wurde schwer misshandelt und festgenommen. Ein Gericht erklärte dies am Tag darauf für illegal und ließ ihn frei. Der Zeuge gab an, den Polizisten, der Catrillanca ermordet hat, identifizieren zu können. Aufgrund der Misshandlungen hat das Nationale Institut für Menschenrechte Klage wegen Folter eingereicht. Die Tortur für den Zeugen war damit nicht vorbei. Obwohl das Gericht Carabineros untersagte, sich dem 15-jährigen zu nähern, wurde er in Ercilla von Beamten mit dem Tod bedroht: „Du bist als nächster fällig!“, wurde ihm zugerufen.
Das Schmierentheater um den Mord an Catrillanca ist noch nicht beendet
Das Schmierentheater um den Mord an Catrillanca war damit allerdings noch lange nicht beendet. Das investigative Nachrichtenportal Ciper hatte Zugriff auf einen geheimen Polizeibericht, der von der mittlerweile aufgelösten geheimdienstlichen Spezialeinheit der Militärpolizei (UIOE) erstellt worden war. Aufgelöst werden musste sie, nachdem ihr nachgewiesen wurde, dass sie im Fall der sogenannten „Operación Huracán“ massiv Beweise gefälscht hatte, um Mapuche-Anführer zu kriminalisieren und in Haft zu bringen (siehe LN 526).
Aus dem Bericht geht hervor, dass Catrillanca, dem keinerlei konkrete Straftaten zugeordnet werden, im Visier der Polizei war, weil er sich seit seiner Jugend aktiv für die Rechte der Mapuche und gegen die Militarisierung der indigenen Gemeinden eingesetzt hatte. Er wird dabei, neben sechs anderen prominenten Mapuche wie seinem Großvater Juan Catrillanca oder Mijael Carbone, der „Alianza Territorial Mapuche“ (ATM) zugeordnet, von der die Sicherheitsbehörden behaupten, sie gehöre zu den „für die Gewalt in der Araucanía verantwortlichen Gruppen“. Catrillanca und andere werden als „Ziele“ definiert, die es zu beschatten und zu verfolgen gelte. Die ATM ist eine der wenigen Mapuche-Organisationen, die noch zum Dialog mit dem Staat bereit sind.
Die Stoßrichtung des Berichts ist für die weiteren erwähnten Mapuche klar: „Was sie damit erreichen wollen, ist, die Mapuche-Bewegung zu stigmatisieren. Sie wollen sie mit Straftaten in Verbindung bringen und den Kampf diskreditieren“, so Mijael Carbone gegenüber Ciper. Und es erklärt sich auch, warum der mittlerweile zurückgetretene Chef der Regionalverwaltung, Luis Mayol, behauptet hatte, der Ermordete sei wegen Hehlerei vorbestraft. Vermutlich hatte er Zugang zu dem Bericht, in dem Catrillanca mit einem anderen Mapuche-Aktivisten in Verbindung gebracht wird, dem – nicht gerichtsfest – eben diese Straftat vorgeworfen wird.
Wurde zu Beginn von Seiten der Carabineros behauptet, es habe vor den Schüssen auf Catrillanca ein Feuergefecht gegeben und die Carabineros hätten in einer Notsituation gehandelt, hat sich auch diese Behauptung als dreiste Lüge erwiesen. Gegen die vom Dienst suspendierten Carabineros Carlos Alarcón, Raúl Ávila Morales, Braulio Valenzuela Aránguiz und Patricio Sepúlveda Muñoz wird wegen ihrer Beteiligung am Mord an Catrillanca ermittelt. Bei deren erstem Haftprüfungstermin vor Gericht wurden nicht zerstörte Videoaufnahmen des Einsatzes gezeigt, auf denen ganz klar zu sehen ist, dass es die Polizisten waren, die das Feuer auf Catrillanca eröffneten.
Nach diesen ganzen Veröffentlichungen bekam der Fall von Catrillanca noch eine weitere Wende. In einem auf sozialen Netzwerken veröffentlichten Video erklärte einer der am Mord beteiligten Polizisten, Carlos Alarcón, dass er und weitere Angeklagte zu Falschaussagen gezwungen worden seien. Alarcón, der zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft in einer Polizeistation in Temuco war, hat mittlerweile nachgelegt: In einem der Tageszeitung La Tercera zugespielten Protokoll einer Aussage vor der Staatsanwaltschaft erklärte er, dass der Anwalt Cristián Inostroza Quiñiñir und der Chef der Spezialeinheiten der Carabineros in der Araucanía, Manuel Valdivieso, den Angeklagten gesagt hätten, was sie auszusagen hätten und dass sie die Filmaufnahmen vernichten sollten. An diesen Absprachen war nach Angaben von Ciper auch ein extra aus Santiago eingeflogener General der Carabineros, Christian Franzani, beteiligt. Dieser wurde genau wie die zuvor genannten Funktionäre aus dem Dienst entlassen.
Dass all diese Verstrickungen öffentlich geworden sind, lässt tief blicken in eine ohnehin von Skandalen erschütterte Institution. Korruption, Vorwürfe wegen Folter und sogar der Verkauf von Maschinenpistolen an Drogengangs kommen seit Monaten immer wieder ans Licht. Selbst Präsident Sebastián Piñera sah sich zwischenzeitlich gezwungen, auf einer Pressekonferenz zu fordern, dass die Carabineros „rechtsstaatlich und nach den Gesetzen“ zu handeln und zu ermitteln hätten.
Der Mord an Camilo Catrillanca könnte nun der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Seit Jahrzehnten klagen Menschenrechtsaktivist*innen immer wieder die maßlose Gewalt der Carabineros an. Seit dem Ende der Militärdiktatur wurden bereits 15 Mapuche unter fragwürdigen Umständen ermordet. Und in den Fällen, in denen Carabineros die Schüsse abgaben, hat keiner der Mörder jemals einen Fuß ins Gefängnis gesetzt.
An der Trauerfeier für Camilo Catrillanca nahmen über 5.000 Menschen teil. Seitdem er ermordet wurde, vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo in Chile demonstriert wird. Im Wochenrhythmus gibt es neue Berichte von Polizeigewalt und Misshandlungen durch Polizist*innen. Laut einer Umfrage von Anfang Dezember denken inzwischen 64 Prozent der Chilen*innen, dass das Verhalten der Carabineros weder ethisch noch transparent ist. Der Druck der öffentlichen Meinung, der Druck auf der Straße und die immer neuen öffentlichen Skandale lassen ein „weiter so“ immer unwahrscheinlicher erscheinen. Bisher übt sich die Regierung allerdings in Scheinmanövern. So wurde das Dschungelkommando medienwirksam aufgelöst, tatsächlich wurden die Beamten lediglich aus Ercilla abgezogen und nach Temuco und Tirua verlegt. Andere Spezialkräfte übernehmen jetzt deren Rolle. Und auch das meist klammheimlich vollzogene Stühlerücken innerhalb der Carabineros reicht nicht mehr aus, um die Proteste zu befrieden. Die Familie von Camilo Catrillanca fordert, wie viele der Demonstrierenden, ein Ende der Militarisierung der Araucanía sowie den Rücktritt von Innenminister Chadwick und dem Carabineros Generaldirektor Hermes Soto. „Wir sind schockiert darüber, wie polizeiliche und politische Stellen das Land mit immer absurderen und widersprüchlicheren Erklärungen hinters Licht zu führen versuchen“, so die Familie in einer Mitteilung. Medienwirksame Schuldeingeständnisse und Beteuerungen, in Zukunft werde alles besser, reichen schon lange nicht mehr.