Ein Wahlsieg gegen den „Pakt der Korrupten“

Mit 58 Prozent der abgegebenen Stimmen gewann der 64-jährige Arévalo am 20. August die Stichwahl gegen Sandra Torres von der sozialdemokratischen UNE-Partei, die bereits zum dritten Mal in der entscheidenden Runde den Kürzeren zog. Der gewählte Präsident hat einen berühmten Nachnamen. Juan José Arévalo, sein Vater, war der erste Präsident des sogenannten demokratischen Frühlings ab 1944 im Amt. Zehn Jahre später, 1954, putschte das Militär auf Betreiben des United Fruit Bananenkonzerns mit CIA-Unterstützung gegen Arévalos Nachfolger Jacobo Árbenz. Juan José Arévalo und seine Frau emigrierten nach Uruguay, wo Bernardo Arévalo im Exil geboren wurde. Die Familie lebte danach in Venezuela, Mexiko und Chile, bis Arévalo Mitte der 80er Jahre zum Ende der Militärdiktatur nach Guatemala zurückkehrte und zunächst im Außenministerium arbeitete.

Es dürfte sein Kampf gegen Guatemalas notorischen „Pakt der Korrupten“ sein, der Bernardo Arévalo nun den Sieg brachte. Bei diesem Pakt handelt es sich um ausgedehnte Netzwerke aus Politik, Justiz und Armee, aus Beamten- und Unternehmertum, die bereits seit der Militärdiktatur existieren. Ein Viertel des Haushalts soll nach Schätzungen jedes Jahr veruntreut werden. Auch deswegen weist die größte Volkswirtschaft Zentralamerikas dramatische Ungleichheit auf, mit völlig unzureichender Grundversorgung, insbesondere in den ländlichen, indigen geprägten Regionen.

Als 2015 die unter Expräsident Berger ins Land geholte Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit und Korruption in Guatemala (CICIG) zusammen mit der guatemaltekischen Generalstaatsanwaltschaft unter Thelma Aldana den großen „La Linea“-Korruptionsskandal bis in höchste Regierungskreise aufdeckte, demonstrierte auch Arévalo für die Absetzung des damaligen Präsidenten Otto Pérez Molina und seiner Vizepräsidentin Roxana Baldetti. Aus den Protesten formierte sich die Gruppe Semilla, aus der 2017 die von Arévalo geführte Partei Movimiento Semilla wurde.

Bei den Wahlen im Juni wurde Semilla zur drittstärksten Kraft im neuen Kongress, Bernardo Arévalo zog völlig überraschend mit dem zweithöchsten Stimmenanteil in die Stichwahl ein. Das Ergebnis ließ beim korrupten guatemaltekischen Establishment offensichtlich alle Alarmglocken schrillen. Neun rechtsgerichtete Parteien, darunter die bisherige Regierungspartei Vamos fochten das Ergebnis wegen angeblicher „Unregelmäßigkeiten“ und „Wahlbetrug“ durch Semilla an. Guatemalas Generalstaatsanwaltschaft unter ihrer wegen Korruption verschrienen Chefin Consuelo Porras hatte sogar erfolglos versucht, Semilla nachträglich suspendieren zu lassen.

Auf den neuen Präsidenten und seine Regierung warten nun riesige Herausforderungen. Eines seiner wichtigsten Wahlversprechen war die Korruptionsbekämpfung durch ein spezielles Antikorruptionskabinett. Arévalo kündigte an, den Rücktritt von Generalstaatsanwältin Consuelo Porras zu fordern, die für die Strafverfolgung von Dutzenden Journalist*innen und Antikorruptionsrichter*innen verantwortlich ist. Vor allem dieser Teil des Wahlprogramms dürfte auf den verbissenen Widerstand des mächtigen Paktes der Korrupten treffen. Da Arévalo einer feindlichen Kongressmehrheit und korrupten Strukturen in Justiz und Verwaltung gegenübersteht, muss er auf die breite und lautstarke Unterstützung aus der Gesellschaft zählen, um hier eine Zeitenwende herbeizuführen.

Gleichzeitig will seine Regierung massiv in das öffentliche Bildungs- und Gesundheitssystem investieren sowie Hunger und Unterernährung bekämpfen. Die dafür erforderlichen über 20 Milliarden Euro könnten sogar in großen Teilen zur Verfügung stehen, wenn es denn bei der Korruptionsbekämpfung tatsächlich erhebliche Fortschritte gibt. Ausgemacht ist dies jedoch nicht. Denn diejenigen, die jetzt fürchten müssen, jahrzehntelange Privilegien und Einnahmen zu verlieren, werden wenig unversucht lassen, um Bernardo Arévalos Pläne zu blockieren, im Kongress, in den Institutionen, sogar politische Gewalt gilt vielen in Guatemala nicht ausge-*schlossen. Dennoch ist Arévalos Sieg eine der wenigen positiven Nachrichten, über die sich die meisten Menschen in Guatemala in den letzten Jahren freuen durften.

Petro setzt auf die Straße

Nationaler Entwicklungsplan vorgestellt Präsident Gustavo Petro auf der Plaza Núñez in Bogotá (Foto: Departamento Naional de Planeación via Flickr , CC BY 2.0)

Das hollywoodreife Happy End der Rettung von vier indigenen Kindern kam für Kolumbiens Präsidenten Gustavo Petro wie gerufen. Anfang Juni wurden die Vermissten im Amazonasregenwald nach der intensiven Suchaktion „Operation Hoffnung“ gefunden, äußerlich unverletzt. 40 Tage zuvor, am 1. Mai, war die Propellermaschine abgestürzt, in der sie sich in Begleitung ihrer Mutter befanden. Die Geschwister – ein Junge und drei Mädchen im Alter von einem bis 13 Jahren – überlebten als einzige Passagiere inmitten des fast undurchdringlichen Dschungels. Petro, der die gute Nachricht per Twitter verkündete, erklärte euphorisch gegenüber der Presse: „Heute haben wir einen magischen Tag erlebt, voller Freude.“ Die Geretteten bezeichnete er als „Kinder Kolumbiens“.

Die Rettung ist für den Präsidenten eine der wenigen Erfolgsmeldungen der vergangenen Wochen. Seine Regierung befindet sich nach etwas weniger als einem Jahr im Amt in einer Krise. Dies wird besonders an den stockenden Reformvorhaben deutlich. Weder das Gesundheits- noch das Rentensystem konnten bisher verändert werden. Ebenso wenig geht es bei der Arbeitsreform voran, deren vorläufiges Scheitern Petro am 20. Juni per Twitter als „sehr ernst“ bezeichnete. Die Ablehnung durch das Parlament zeige, „dass der Wille zum Frieden und Sozialpakt bei den Mächtigen in der Wirtschaft nicht vorhanden ist. Die Kapitaleigner und die Medien haben es geschafft, den Kongress gegen die Würde der arbeitenden Bevölkerung in Stellung zu bringen.“

Petro hatte sein Amt im August des vergangenen Jahres mit großen Plänen angetreten. Laut Wahlprogramm will seine Regierung soziale Ungerechtigkeiten, Rassismus und andere Diskriminierungsformen bekämpfen, das Gesundheits-, Bildungs- und Rentensystem verbessern, die Umwelt schützen und aus der Förderung fossiler Energieträger aussteigen. Zudem soll dem vom jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt gebeutelten Land endlich zu Frieden verholfen werden. Um das weitreichende Programm anzugehen, schmiedete Petros Parteienbündnis Pacto Histórico eine Koalition, der auch Vertreterinnen der sogenannten Mitte und Konservative angehörten. Der Pacto Histórico selbst verfügt nur über rund 25 Prozent der Sitze im Parlament.

Doch lange hielt die Regierungskoalition nicht. Ende April kündigte Petro das Bündnis auf, nachdem der Streit um die geplante Gesundheitsreform eskaliert war. Umsetzen konnte die Linksregierung bis dahin vor allem zwei große Vorhaben: Im November des vergangenen Jahres stimmte das Parlament der Steuerreform zu. Laut dem damaligen Finanzminister José Antonio Ocampo ist diese die „progressivsten Steuerreform der Geschichte Kolumbiens“. Die Neuregelung sieht unter anderem eine stärkere Besteuerung Vermögender und von Konzernen, die fossile Brennstoffe fördern, vor. Sie erzeugte heftigen Widerstand, der bis heute in Form von Verfassungsklagen anhält. Ebenfalls im November 2022 schuf die Legislative mit dem „Gesetz für den totalen Frieden“ die Basis für weitreichende Friedensverhandlungen mit unterschiedlichsten bewaffneten Akteuren im Land.

Dass Petro die Regierungskoalition platzen ließ, wurde von Beobachterinnen gemeinhin als „Radikalisierung“ des Präsidenten interpretiert. Statt Kompromisse zu suchen, wolle Petro zukünftig mit ihm politisch Nahestehenden regieren, hieß es. Die spanische Tageszeitung El País schrieb am 26. Juni, also zwei Monate nach Beendigung der Koalition, der Staatschef habe seinen Diskurs „radikalisiert“, „die Linke“ ins Kabinett geholt und „die Basis mobilisiert“, während er zu Beginn seiner Amtszeit noch „versöhnlich“ auf Verhandlungen gesetzt habe. Tatsächlich tauschte Petro gleich sieben Ministerinnen aus. Die neu nominierten Ressortchefinnen gelten als Vertraute des Präsidenten. Begleitet wurden die Veränderungen im Kabinett von Appellen Petros an die Basis, ab sofort verstärkt die Unterstützung seiner Regierung zu mobilisieren. Er erklärte, seine Regierung werde die „sozialen Reformen des Wandels“ durchsetzen. Dafür sei unter anderem eine Bauernbewegung notwendig, „die sich in Würde erhebt“.

In Kolumbien wird immer deutlicher, dass die Regierungsmacht nicht automatisch bedeutet, auch über die Macht im Land zu verfügen. Von Beginn an war Petro den Angriffen der Rechten ausgesetzt, die diese mittlerweile verstärkt hat. Seit Ende Mai warnt der Präsident vor der Möglichkeit eines „sanften Putsches“ gegen ihn. Auch fast 400 internationale Politikerinnen und Intellektuelle unterzeichneten einen offenen Brief, in dem sie vor der Gefahr eines Staatsstreichs in Kolumbien warnen. In dem Anfang Juni veröffentlichten und von der „Progressiven Internationale“ initiierten Schreiben heißt es: „Die traditionellen Mächte des Landes setzen die geballte institutionelle Macht der Regulierungsbehörden, der Medienkonglomerate und der Justiz des Landes ein, um die Reformen (der Regierung Petro, Anm. d. Red.) zu stoppen, ihre Unterstützenden einzuschüchtern, ihre Führung zu stürzen und ihr Image auf der internationalen Bühne zu diffamieren.“

Den Kräften hinter den Angriffen gehe es darum, „eine Ordnung wiederherzustellen, die von extremer Ungleichheit, Umweltzerstörung und staatlich geförderter Gewalt geprägt ist“, heißt es weiter in dem offenen Brief. Konkret werden das Büro der Generalinspektion unter der Leitung von Margarita Cabello und die Generalstaatsanwaltschaft unter der Leitung von Francisco Barbosa genannt, die „aktiv Mitglieder des Pacto Histórico ins Visier“ nähmen. Derzeit laufen mehrere Verfahren gegen Politikerinnen des Pacto Histórico, zum Beispiel gegen den Senator Wilson Arias. Cabello, Justizministerin unter dem rechten Expräsidenten Iván Duque, versucht Arias aus dem Senat zu entfernen. Sie wirft ihm vor, der Senator habe sich während der Protestwelle 2021 gegen Polizeigewalt ausgesprochen.

Juristische Angriffe und mediale Schmutzkampagne gegen Petro

Begleitet werden diese juristischen Angriffe von einer Schmutzkampagne gegen die Regierung, bei der die Medien eine fundamentale Rolle spielen. Besonders aktiv ist die weit nach rechts abgedriftete Wochenzeitschrift Semana, die (vermeintliche) Skandale direkt konstruiert. Andere Themen wie kompromittierende Aussagen ehemaliger Paramilitärs über Verstrickungen des Staates in schwerste Menschenrechtsverletzungen, die Reformpläne der Regierung oder die Friedensverhandlungen mit der größten noch aktiven Guerillaorganisation „Nationale Befreiungsbewegung“ (ELN) werden hingegen unterschlagen. Auf die Kritik Petros an der diffamierenden Berichterstattung reagieren Vertreterinnen rechter Medien mit lautem Gezeter, die Pressefreiheit sei in Gefahr. Angesichts der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit im Parlament versuchen Petro und sein Pacto Histórico auf der einen Seite, Verbündete für einzelne Vorhaben in anderen Parteien zu gewinnen. Auf der anderen Seite setzen sie wegen der zunehmenden Angriffe von Rechts auf die Unterstützung der Straße. Am 7. Juni rief der Präsident zu Massendemonstrationen „zur Verteidigung des Reformkurses“ der Regierung auf. Gegenüber dem Fernsehen erklärte er, der Kongress solle wissen, „dass die vorgelegten Reformen keine Laune des Präsidenten der Republik sind, sondern die Wünsche und der Lebenswille des gesamten kolumbianischen Volkes“. Zudem rief er die Bevölkerung dazu auf, „Volksversammlungen“ (asambleas populares) einzuberufen um die Regierungsvorhaben zu diskutieren – ein Vorschlag, der von der rechten Presse in antikommunistischer Manier als „radikal“ diffamiert wurde.

Gerade die Friedensverhandlungen mit der ELN könnten der Regierung die Möglichkeit bieten, ihre Verankerung in der Gesellschaft zu stärken. Am 9. Juni unterzeichneten Petro und Vertreter nnen der Guerilla in der kubanischen Hauptstadt Havanna einen sechsmonatigen bilateralen Waffenstillstand – wodurch sich der Präsident dazu hinreißen ließ, ein Ende des bewaffneten Konflikts für das Jahr 2025 zu prophezeien. Obwohl der Waffenstillstand offiziell erst am 3. August in Kraft treten sollte, kündigten sowohl das Zentralkommando der Guerilla als auch die Regierung an, bereits ab dem 6. Juli auf offensive Aktionen zu verzichten. Mehrere militärische Scharmützel zwischen ELN und kolumbianischen Streitkräften Ende Juni und Anfang Juli zeigen jedoch, dass die bilaterale Waffenruhe kein Selbstläufer werden wird. Am 10. August sollen die Friedensverhandlungen in der venezolanischen Hauptstadt Caracas mit der vierten Runde fortgesetzt werden.

Deutlich weniger Beachtung in der Presse fand das ebenfalls am 6. Juni unterzeichnete Abkommen über die Beteiligung der kolumbianischen Zivilgesellschaft an den Verhandlungen, was besonders der Guerilla im Friedensprozess von Beginn an ein zentrales Anliegen war. Die Übereinkunft sieht vor, dass am 25. Juli ein Nationales Komitee für die zivilgesellschaftliche Beteiligung einberufen wird, das aus Vertreter*innen ethnischer Gruppen, Gewerkschaften, sozialer Bewegungen und anderer Organisationen und Institutionen besteht. Es soll Vorschläge aus der Bevölkerung sammeln und systematisieren, um diese anschließend in die Verhandlungen einbringen. Ziel ist es, „die Ursache für den politischen, sozialen, ökologischen und bewaffneten Konflikt zu identifizieren und zu untersuchen, um umfassende Lösungen zu formulieren“. Nimmt die Regierung diese Vorschläge ernst, könnte die Unterstützung durch soziale Bewegungen weiter wachsen. Angesichts fehlender parlamentarischer Mehrheiten braucht sie diese in Zukunft noch mehr.

OHNE SKRUPEL UMS GANZE

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MARIANA GARCÍA, VICTORIA FURTADO Y DANIELA MASSA
sind compañeras im feministischen Kollektiv Minervas aus Montevideo. Mariana ist zudem bei der Cooperativa Comuna und Victoria beim Kommunikationskollektiv ZUR aktiv. (Foto: privat)


Mit welcher Stimmung blickt ihr dem Regierungswechsel entgegen? Wie wird sich die Situation in Uruguay verändern?
Victoria
: Für uns ist zwar klar, dass uns ein stark verändertes Szenario erwartet, das uns vor neue Herausforderungen stellt. Dennoch ist es auch so, dass die feministische Bewegung des Südens und auch die in Uruguay groß geworden ist, als noch progressive Regierungen an der Macht waren. Klar, das wird sich jetzt nochmal verschärfen durch die rechten und konservativen Diskurse, aber wir waren auch schon vorher auf der Straße. Der Konservatismus ist eine Art zu denken, die es nicht nur in der Rechten gibt, sondern durch die ganze Gesellschaft geht. Also gibt es etwas, das sich ändert und etwas, das bleibt.

Daniela: Die Sorgen, die wir haben, gehen eher in eine Richtung, die unseren konkreten Alltag betrifft. Es gab eine gewisse Sicherheit unter den progressiven Regierungen, nicht so sehr für die Bewegungen, aber für unseren konkreten Alltag als Frauen. Jetzt geht es um neue politische Maßnahmen, Kürzungen, die unser Leben, unsere Arbeit, Ausbildung, Wohnen und unsere Gesundheit betreffen. Das wird sich verschärfen. Es gibt eine allgemeine Anspannung mit der neuen Regierung, aber die feministische Bewegung verläuft eher außerhalb dieser konjunkturellen Veränderungen.

Wie geht ihr damit um?
V:
Wir sind wachsam – eins der Themen für den 8. März wird das Gesetz der Urgente Consideración (deutsch in etwa: Dringende Prüfung) sein, wir nehmen das in unsere politische Analyse auf. Neben den sozialen Ängsten kommt auch eine Angst vor mehr Repression gegenüber den sozialen Bewegungen auf. Aus unserer Erinnerung bedeutet die Rückkehr zur Rechten eine Rückkehr zu Regierungen, die die sozialen Bewegungen unterdrückt haben. Die Angst ist da, aber wir versuchen gemeinsam darüber zu sprechen, wie wir uns davor schützen können, ohne dass dieser Regierungswechsel uns paralysiert.

Uruguay hat ja aktuell eher den Ruf eines moderaten, fortschrittlichen Landes. Kam die Rückkehr zu einer rechten Regierung eher unerwartet oder hat sich das abgezeichnet?
Mariana: Der Vorstoß der Rechten kam nicht unerwartet. Das ist ein Prozess, dessen Kraft sich seit vielen Jahren stärker entfaltet, und nicht nur in den traditionellen rechten Kräften in Uruguay, sondern auch in neuen Gruppen, wie dem Cabildo Abierto (neu gegründete rechtsextreme Partei, Anm.d.Red.). Das war kein Überraschungseffekt, das sind Gruppen, die vorher schon latent unter der Oberfläche der Politik geschlummert haben, daher konnten sie sich auch so schnell organisieren.

D: Die Ideen, die die Rechte verkörpert, waren schon vorher in Umlauf und haben bereits einen Prozess angestoßen, in dem die institutionelle Gewalt zugenommen hat. Jetzt gibt es dafür klare Worte und konkrete Politikprogramme. Aber auch in der vorherigen Regierung der Frente Amplio hatte die Repression schon zugenommen.

V: Der Cabildo Abierto, dieser ultrakonservativste Teil der Gesellschaft, hatte schon vorher Macht im Land. Er hatte seine eigenen Organisationen im Staat und im Militär und auch verantwortungsvolle Posten in der Regierung der FA. Das einzige, was sie noch nicht hatten, war eine Partei, die man wählen konnte und jetzt haben sie die. Die Überraschung ist, dass sie in den ersten Wahlen elf Abgeordnete und drei Senatorensitze gewonnen haben, nur sechs Monate nach ihrer Gründung. Die Teile der Gesellschaft, die sie unterstützen, haben sonst die traditionellen Parteien gewählt, wie die Colorado-Partei oder die Partido Nacional. Das bedeutet, dass die traditionellen Parteien nun ihren Interessen nicht mehr genügen.

Warum koalieren die traditionellen Parteien mit der extremen Rechten?
D: Strategie. Die Partido Nacional wusste seit Mitte des Jahres durch Umfragen, dass sie alleine die Präsidentschaft nicht würde gewinnen können, die traditionellen Parteien waren zerstritten. Daher die Strategie, alle rechten Kräfte zu vereinen, das hat funktioniert und für Aufmerksamkeit gesorgt. Nach dem ersten Wahlgang hieß es: ‚Jetzt alle auf Linie und alle an Bord! Alle für die Regierung!‘ Es war sehr klar, was das Ziel war.

V: Uruguay war immer schon ein konservatives Land. In diesen Jahren der progressiven Regierungen wurde das Soziale etwas mehr in den Vordergrund gerückt. Aber weder auf der wirtschaftlichen Ebene, noch auf der kulturellen ist es zu grundlegenden Veränderungen gekommen: kein neues Wirtschaftsmodell, keine wirkliche Kulturdebatte. Die konservativen Stimmen haben immer den Diskurs bestimmt und diese Grundstimmung ist eher stärker geworden, jetzt sind sie sichtbarer. Der Feminismus ist die einzige Bewegung, die es geschafft hat, mit ein paar Dingen zu brechen und sie zu hinterfragen, im Rest der Linken ist das nicht passiert. Es gab gar nicht das Ziel, in diesen Jahren des Progressismus, irgendetwas tiefgehend zu verändern oder neue gemeinsame Werte aufzubauen, die nicht auf einer individualistischen, neoliberalen Konsumlogik basieren.

Um welche Diskurse und Ideen der konservativen Kreise geht es vor allem?
V: Typische konservative Diskurse, zum Beispiel das, was sie „Genderideologie“ nennen. Diskurse, die an die traditionelle Rolle der Frau in der Familie als Mutter appellieren, aber auch eine unternehmerische Vorstellung von öffentlicher Verwaltung und Aussagen über die Diktatur, die gewaltsam Verschwundenen, die Menschenrechte, die den Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Relevanz absprechen wollen. Im jetzigen Wahlkampf ging es zudem viel um das Thema Kriminalität und auch um das Versprechen von mehr Sicherheit und einer „harten Hand“.

Was hat die neue Regierung als Erstes vor?
D: Eine der ersten Maßnahmen, die die neue Regierung angekündigt hat, ist ein Paket mit dem Namen „Ley de Urgente Consideración“, das bereits Teil der Wahlkampagne war, dessen Inhalt jedoch bis vor Kurzem nicht veröffentlicht wurde. Ds Gesetz hat fast 500 Artikel, es ist ein Maßnahmenpaket, das ganz verschiedene Sachverhalte und Bereiche zugleich betrifft.

M: Dringend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dafür ein Mechanismus eingesetzt wird, mit dem diese 500 Artikel innerhalb der ersten drei Monate der Regierung verabschiedet werden, nur 45 Tage für jede Kammer des Parlaments. Die Regierung beginnt also mit einem starken Schachzug. Man könnte sich fragen, welche Dinge so dringend sein könnten, dass sie am ersten Tag der Regierung behandelt werden müssen – ganz klar ist jedoch, dass das nicht 500 Artikel sein können. Es ist auch der Versuch der Regierung, das Maßnahmenpaket direkt zu verabschieden, bevor es Brüche und Mei-nungsverschiedenheiten in der Koalition gibt. Wenn das in den nächsten Jahren passiert, sind zumindest diese Maßnahmen, die sie einst zusammengeführt haben, schon mal verabschiedet.

D: Dieses Gesetz ist eigentlich das Regierungsprogramm. Während der Wahlkampagne gab es kein konkretes Programm, nur ein paar lose Ideen. Das Gesetz behandelt Soziales und Kürzungen in Bildung, Gesundheit und Wohnen, bis hin zu Minderheitenrechten, die eigentlich gesetzlich garantiert waren… Ein Mischmasch von unzähligen Artikeln, bei denen es zumeist um Kürzungen von Ressourcen und Rechten geht.

Könnt ihr noch ein paar Beispiele dafür geben, welche Bereiche das Gesetz betrifft?
V: Die Themen sind so zahlreich, dass wir dafür eigentlich ein eigenes Interview machen müssten. Es ist aber ganz klar ein neoliberaler Vorstoß ohne Skrupel. Es geht um die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, Änderungen im Zugang zu Land, mehr Gewicht für die privaten Institutionen in der Bildung, um Bestimmungen, die Repression bei Demonstrationen ermöglichen, größere Macht für Geheimdienste, wobei es auch um Ermittlungen in Bezug auf die „innere Sicherheit“ geht, also z.B. für die Organisation von Demonstrationen, um Änderungen zur Aushandlung von Tarifen und Arbeitsbedingungen, Änderungen in den Gesetzen, welche die Medien regulieren im Sinne unternehmerischer Interessen, und vieles mehr. Auch die designierten Minister der neuen Regierung tragen zu dem Gefühl bei, dass die neue Regierung ohne Skrupel sein wird. Viele ihrer Namen sind bekannt durch frühere Posten in anderen rechten Regierungen, durch Korruptionsanklagen, mit einer belasteten Vergangenheit. Es kommen nicht fünf lange Jahre einer langsamen Rechtsentwicklung, nein. Das ist eine Bombe. Alles wird sehr schnell gehen, es geht ums Ganze, ohne Skrupel. Für uns in den sozialen Organisationen bedeutet das, dass wir alle Kampagnen gegen das Gesetz auffahren müssen. Das zerstreut unsere Energien, weil es so viele Themen berührt – es macht viele Fronten gleichzeitig auf. Ich glaube, das ist auch intendiert.

Was wollt ihr jetzt dagegen tun? Der 8. März wird ja die erste große Demo unter der neuen Regierung sein…
D: Es gab die Idee, die Route der Demo zu ändern und zur Torre Ejecutiva, dem Präsidentensitz, zu laufen, aber wir haben uns entschieden, die gleiche Route wie immer zu machen.

V: Das hat damit zu tun, dass unsere Forderungen nicht nur an die Präsidentschaft gerichtet sind, sondern an die gesamte Gesellschaft, es geht um das gesamte System. Das Patriarchat drückt sich ja nicht nur in der Regierung aus, deswegen war uns wichtig, jetzt ganz explizit die Route beizubehalten, um damit einer Perspektive Ausdruck zu geben, die über die Forderungen an den Staat hinausgeht. Wir blenden natürlich nicht aus, dass der Staat eine Rolle spielt, und dass es jetzt eine rechte Regierung gibt, aber jenseits davon geht es uns auch darum, dass wir selbst Dinge aufbauen und uns nicht nur etwas entgegenstellen. Daher auch das Festhalten an der Route. Wir wollen nicht alle Forderungen der Bewegung an die Präsident- schaft richten. Die Bewegung ist viel mehr als das, in dem, was sie anklagt und auch in dem, was sie erschafft.

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