Feminismus | Frauenbewegung | Nummer 549 - März 2020 | Uruguay | Wahlen

OHNE SKRUPEL UMS GANZE

Interview mit dem feministischen Kollektiv Minervas zum Amtsantritt der neuen Regierung

Am 1. März trat der im Oktober gewählte Präsident Louis Lacalle Pou sein Amt an. Nach 15 Jahren Mitte-Links-Regierung der Frente Amplio (FA) wird Uruguay nun wieder von einer Koalition aus dem rechten Lager unter der Führung der Partido Nacional (PN) regiert. Die LN sprachen mit Aktivistinnen vom feministischen Kollektiv Minervas über ihre Einschätzung zur neuen Regierung.

Interview: Caroline Kim
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MARIANA GARCÍA, VICTORIA FURTADO Y DANIELA MASSA
sind compañeras im feministischen Kollektiv Minervas aus Montevideo. Mariana ist zudem bei der Cooperativa Comuna und Victoria beim Kommunikationskollektiv ZUR aktiv. (Foto: privat)


Mit welcher Stimmung blickt ihr dem Regierungswechsel entgegen? Wie wird sich die Situation in Uruguay verändern?
Victoria
: Für uns ist zwar klar, dass uns ein stark verändertes Szenario erwartet, das uns vor neue Herausforderungen stellt. Dennoch ist es auch so, dass die feministische Bewegung des Südens und auch die in Uruguay groß geworden ist, als noch progressive Regierungen an der Macht waren. Klar, das wird sich jetzt nochmal verschärfen durch die rechten und konservativen Diskurse, aber wir waren auch schon vorher auf der Straße. Der Konservatismus ist eine Art zu denken, die es nicht nur in der Rechten gibt, sondern durch die ganze Gesellschaft geht. Also gibt es etwas, das sich ändert und etwas, das bleibt.

Daniela: Die Sorgen, die wir haben, gehen eher in eine Richtung, die unseren konkreten Alltag betrifft. Es gab eine gewisse Sicherheit unter den progressiven Regierungen, nicht so sehr für die Bewegungen, aber für unseren konkreten Alltag als Frauen. Jetzt geht es um neue politische Maßnahmen, Kürzungen, die unser Leben, unsere Arbeit, Ausbildung, Wohnen und unsere Gesundheit betreffen. Das wird sich verschärfen. Es gibt eine allgemeine Anspannung mit der neuen Regierung, aber die feministische Bewegung verläuft eher außerhalb dieser konjunkturellen Veränderungen.

Wie geht ihr damit um?
V:
Wir sind wachsam – eins der Themen für den 8. März wird das Gesetz der Urgente Consideración (deutsch in etwa: Dringende Prüfung) sein, wir nehmen das in unsere politische Analyse auf. Neben den sozialen Ängsten kommt auch eine Angst vor mehr Repression gegenüber den sozialen Bewegungen auf. Aus unserer Erinnerung bedeutet die Rückkehr zur Rechten eine Rückkehr zu Regierungen, die die sozialen Bewegungen unterdrückt haben. Die Angst ist da, aber wir versuchen gemeinsam darüber zu sprechen, wie wir uns davor schützen können, ohne dass dieser Regierungswechsel uns paralysiert.

Uruguay hat ja aktuell eher den Ruf eines moderaten, fortschrittlichen Landes. Kam die Rückkehr zu einer rechten Regierung eher unerwartet oder hat sich das abgezeichnet?
Mariana: Der Vorstoß der Rechten kam nicht unerwartet. Das ist ein Prozess, dessen Kraft sich seit vielen Jahren stärker entfaltet, und nicht nur in den traditionellen rechten Kräften in Uruguay, sondern auch in neuen Gruppen, wie dem Cabildo Abierto (neu gegründete rechtsextreme Partei, Anm.d.Red.). Das war kein Überraschungseffekt, das sind Gruppen, die vorher schon latent unter der Oberfläche der Politik geschlummert haben, daher konnten sie sich auch so schnell organisieren.

D: Die Ideen, die die Rechte verkörpert, waren schon vorher in Umlauf und haben bereits einen Prozess angestoßen, in dem die institutionelle Gewalt zugenommen hat. Jetzt gibt es dafür klare Worte und konkrete Politikprogramme. Aber auch in der vorherigen Regierung der Frente Amplio hatte die Repression schon zugenommen.

V: Der Cabildo Abierto, dieser ultrakonservativste Teil der Gesellschaft, hatte schon vorher Macht im Land. Er hatte seine eigenen Organisationen im Staat und im Militär und auch verantwortungsvolle Posten in der Regierung der FA. Das einzige, was sie noch nicht hatten, war eine Partei, die man wählen konnte und jetzt haben sie die. Die Überraschung ist, dass sie in den ersten Wahlen elf Abgeordnete und drei Senatorensitze gewonnen haben, nur sechs Monate nach ihrer Gründung. Die Teile der Gesellschaft, die sie unterstützen, haben sonst die traditionellen Parteien gewählt, wie die Colorado-Partei oder die Partido Nacional. Das bedeutet, dass die traditionellen Parteien nun ihren Interessen nicht mehr genügen.

Warum koalieren die traditionellen Parteien mit der extremen Rechten?
D: Strategie. Die Partido Nacional wusste seit Mitte des Jahres durch Umfragen, dass sie alleine die Präsidentschaft nicht würde gewinnen können, die traditionellen Parteien waren zerstritten. Daher die Strategie, alle rechten Kräfte zu vereinen, das hat funktioniert und für Aufmerksamkeit gesorgt. Nach dem ersten Wahlgang hieß es: ‚Jetzt alle auf Linie und alle an Bord! Alle für die Regierung!‘ Es war sehr klar, was das Ziel war.

V: Uruguay war immer schon ein konservatives Land. In diesen Jahren der progressiven Regierungen wurde das Soziale etwas mehr in den Vordergrund gerückt. Aber weder auf der wirtschaftlichen Ebene, noch auf der kulturellen ist es zu grundlegenden Veränderungen gekommen: kein neues Wirtschaftsmodell, keine wirkliche Kulturdebatte. Die konservativen Stimmen haben immer den Diskurs bestimmt und diese Grundstimmung ist eher stärker geworden, jetzt sind sie sichtbarer. Der Feminismus ist die einzige Bewegung, die es geschafft hat, mit ein paar Dingen zu brechen und sie zu hinterfragen, im Rest der Linken ist das nicht passiert. Es gab gar nicht das Ziel, in diesen Jahren des Progressismus, irgendetwas tiefgehend zu verändern oder neue gemeinsame Werte aufzubauen, die nicht auf einer individualistischen, neoliberalen Konsumlogik basieren.

Um welche Diskurse und Ideen der konservativen Kreise geht es vor allem?
V: Typische konservative Diskurse, zum Beispiel das, was sie „Genderideologie“ nennen. Diskurse, die an die traditionelle Rolle der Frau in der Familie als Mutter appellieren, aber auch eine unternehmerische Vorstellung von öffentlicher Verwaltung und Aussagen über die Diktatur, die gewaltsam Verschwundenen, die Menschenrechte, die den Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Relevanz absprechen wollen. Im jetzigen Wahlkampf ging es zudem viel um das Thema Kriminalität und auch um das Versprechen von mehr Sicherheit und einer „harten Hand“.

Was hat die neue Regierung als Erstes vor?
D: Eine der ersten Maßnahmen, die die neue Regierung angekündigt hat, ist ein Paket mit dem Namen „Ley de Urgente Consideración“, das bereits Teil der Wahlkampagne war, dessen Inhalt jedoch bis vor Kurzem nicht veröffentlicht wurde. Ds Gesetz hat fast 500 Artikel, es ist ein Maßnahmenpaket, das ganz verschiedene Sachverhalte und Bereiche zugleich betrifft.

M: Dringend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dafür ein Mechanismus eingesetzt wird, mit dem diese 500 Artikel innerhalb der ersten drei Monate der Regierung verabschiedet werden, nur 45 Tage für jede Kammer des Parlaments. Die Regierung beginnt also mit einem starken Schachzug. Man könnte sich fragen, welche Dinge so dringend sein könnten, dass sie am ersten Tag der Regierung behandelt werden müssen – ganz klar ist jedoch, dass das nicht 500 Artikel sein können. Es ist auch der Versuch der Regierung, das Maßnahmenpaket direkt zu verabschieden, bevor es Brüche und Mei-nungsverschiedenheiten in der Koalition gibt. Wenn das in den nächsten Jahren passiert, sind zumindest diese Maßnahmen, die sie einst zusammengeführt haben, schon mal verabschiedet.

D: Dieses Gesetz ist eigentlich das Regierungsprogramm. Während der Wahlkampagne gab es kein konkretes Programm, nur ein paar lose Ideen. Das Gesetz behandelt Soziales und Kürzungen in Bildung, Gesundheit und Wohnen, bis hin zu Minderheitenrechten, die eigentlich gesetzlich garantiert waren… Ein Mischmasch von unzähligen Artikeln, bei denen es zumeist um Kürzungen von Ressourcen und Rechten geht.

Könnt ihr noch ein paar Beispiele dafür geben, welche Bereiche das Gesetz betrifft?
V: Die Themen sind so zahlreich, dass wir dafür eigentlich ein eigenes Interview machen müssten. Es ist aber ganz klar ein neoliberaler Vorstoß ohne Skrupel. Es geht um die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, Änderungen im Zugang zu Land, mehr Gewicht für die privaten Institutionen in der Bildung, um Bestimmungen, die Repression bei Demonstrationen ermöglichen, größere Macht für Geheimdienste, wobei es auch um Ermittlungen in Bezug auf die „innere Sicherheit“ geht, also z.B. für die Organisation von Demonstrationen, um Änderungen zur Aushandlung von Tarifen und Arbeitsbedingungen, Änderungen in den Gesetzen, welche die Medien regulieren im Sinne unternehmerischer Interessen, und vieles mehr. Auch die designierten Minister der neuen Regierung tragen zu dem Gefühl bei, dass die neue Regierung ohne Skrupel sein wird. Viele ihrer Namen sind bekannt durch frühere Posten in anderen rechten Regierungen, durch Korruptionsanklagen, mit einer belasteten Vergangenheit. Es kommen nicht fünf lange Jahre einer langsamen Rechtsentwicklung, nein. Das ist eine Bombe. Alles wird sehr schnell gehen, es geht ums Ganze, ohne Skrupel. Für uns in den sozialen Organisationen bedeutet das, dass wir alle Kampagnen gegen das Gesetz auffahren müssen. Das zerstreut unsere Energien, weil es so viele Themen berührt – es macht viele Fronten gleichzeitig auf. Ich glaube, das ist auch intendiert.

Was wollt ihr jetzt dagegen tun? Der 8. März wird ja die erste große Demo unter der neuen Regierung sein…
D: Es gab die Idee, die Route der Demo zu ändern und zur Torre Ejecutiva, dem Präsidentensitz, zu laufen, aber wir haben uns entschieden, die gleiche Route wie immer zu machen.

V: Das hat damit zu tun, dass unsere Forderungen nicht nur an die Präsidentschaft gerichtet sind, sondern an die gesamte Gesellschaft, es geht um das gesamte System. Das Patriarchat drückt sich ja nicht nur in der Regierung aus, deswegen war uns wichtig, jetzt ganz explizit die Route beizubehalten, um damit einer Perspektive Ausdruck zu geben, die über die Forderungen an den Staat hinausgeht. Wir blenden natürlich nicht aus, dass der Staat eine Rolle spielt, und dass es jetzt eine rechte Regierung gibt, aber jenseits davon geht es uns auch darum, dass wir selbst Dinge aufbauen und uns nicht nur etwas entgegenstellen. Daher auch das Festhalten an der Route. Wir wollen nicht alle Forderungen der Bewegung an die Präsident- schaft richten. Die Bewegung ist viel mehr als das, in dem, was sie anklagt und auch in dem, was sie erschafft.

WAHLEN IN URUGUAY

Luis Lacalle Pou der rechtskonservativen Partei Partido Nacional hatte sich in der Stichwahl am 24. November äußerst knapp gegen den Kandidaten des Mitte-Links Bündnisses Frente Amplio, Daniel Martínez, durchgesetzt. Martínez war als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen (39 zu 28 Prozent), seine Stimmen reichten jedoch nicht für die notwendige Mehrheit. Die Stichwahl gewann Lacalle Pou durch die vorab eingegangene Koalition, die Coalición Multicolor, mit konservativen, traditionellen Parteien und der rechtsextremen Cabildo Abierto. Eine Analyse der Wahlen in Urguay ist im Vorwahlbericht “Museum der großen Neuheiten” von Diego Castro nachzulesen, erschienen in der LN 545.

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